Eine Reise durch die Geschichte des Versandhandels
Liebe Leserinnen und liebe Leser, liebe Freundinnen und Freunde der Stiftung Historische Museen Hamburg,
unsere Gegenwart ist eine Zeit voller Unsicherheiten und stellt uns mit einer gefühlt stark wachsenden Dynamik vor immer neue Herausforderungen im öffentlichen wie im privaten Leben. Zuweilen kann es da ebenso lehrreich wie kraftspendend sein, den Blick vorübergehend einmal von den tagespolitischen Ereignissen und den Fragen an die Zukunft abzuwenden und sich stattdessen damit zu befassen, wie bestimmte Erscheinungen unserer heutigen Welt entstanden sind und welche Krisen auf dem Weg dahin schon überstanden oder besser noch positiv bewältigt wurden. Herangehensweisen solcher Art bilden auch den Kern unseres aktuellen Ausstellungsprogramms, das wir Ihnen mit den Beiträgen der aktuellen Ausgabe näherbringen möchten.
Das Museum der Arbeit widmet sich in der Ausstellung „Dein Paket ist da!“ der Geschichte und der gegenwärtigen Entwicklung eines Phänomens, mit dem wohl jeder von uns schon zu tun hatte: dem Versandhandel. In unseren Titelgeschichten betrachten wir zum einen gemeinsam mit dem kuratorischen Team die einzelnen Ausstellungsstationen, an denen die Besuchenden erfahren, was für ein komplexes Netzwerk an Akteuren benötigt wird, bevor das erwünschte Produkt vor unsere Haustür gelangt. Und zum anderen erwartet Sie eine persönliche Erzählung darüber, inwiefern die Versandkataloge von Otto, Quelle und Neckermann in der DDR als eine Art Schaufenster in die westliche Warenwelt dienten.
Im Altonaer Museum lädt die aktuelle FotoAusstellung „Deutschland um 1980“ anhand von zehn sehr unterschiedlichen Positionen zu einer Zeitreise in das von Auf und Umbrüchen geprägte Jahrzehnt von 1975 bis 1985 ein. Das haben wir in diesem Heft zum Anlass genommen, den Fokus auf die eigene Stadt zu lenken und verschiedene Zeitzeuginnen und Akteure dieser Jahre zu fragen, welche Ereignisse in ihren Augen eigentlich in Hamburg zu Beginn der 1980erJahre von Bedeutung waren. In der jüngst eröff
neten Schau „Altona – Theresienstadt. Die Lebenswege von Leon Daniel Cohen und Käthe StarkeGoldschmidt“ zeigt das Altonaer Museum zudem anhand der Rekonstruktion der Biografien von zwei Altonaer Jüdinnen und Juden, welche Lücken die nationalsozialistische Verfolgungsund Vernichtungspolitik in der Erinnerungsgeschichte an das einstige jüdische Leben in Altona hinterlassen haben. Der Bericht über die Vorbereitungen der Ausstellung macht zugleich die mit diesen Lücken verbundenen kuratorischen Herausforderungen deutlich.
Dass es auch beim Ursprung des Hamburger Stadtwappens einer Neubewertung bedarf, zeigt mein Kollege Rainer Maria Weiss aus dem Archäologischen Museum Hamburg vor dem Hintergrund der jüngsten Erkenntnisse bei den Untersuchungen zur sogenannten Bischofsburg, der bekanntesten Grabungsstätte im Zentrum der Stadt. Seine archäologische Spurensuche ist zugleich ein sehr gutes Beispiel dafür, dass unsere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte zunächst häufig eine von Plausibilitätserwägungen geleitete Detektivarbeit ist. Aber genau das macht sie auch so spannend.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und eine schöne Vorweihnachtszeit,
Ihr Hans-Jörg Czech Direktor und Vorstand der SHMH
INHALT
TITEL
12 VERSANDHANDEL Eine Ausstellung mit Zukunftsblick im Museum der Arbeit NEWS
6 RÜCKBLICKE Historische Fotografien und was sie erzählen
8 NEUIGKEITEN Aktuelle Meldungen rund um die SHMH
82 FUNDSTÜCK Außergewöhnliche Objekte und ihre Geschichte
MUSEEN
24 HAMBURG UM 1980 Sechs Menschen berichten von bewegten Zeiten
38 ALTONA – THERESIENSTADT Lebenswege von Leon Daniel Cohen und Käthe Starke-Goldschmidt
44 DAS 18. JAHRHUNDERT im zukünftigen Museum für Hamburgische Geschichte
STIFTUNG
48 FLACHBAUTEN Interview mit den Georg-Koppmann-Preisträgern für Hamburger Stadtfotografie
52 GESCHICHTSVERMITTLUNG Aktuelle Perspektiven und Herausforderungen
56 WAS MACHT EIGENTLICH … Jan Stute vom Deutschen Hafenmuseum
58 FÜNF FRAGEN AN … Isabelle Christiani und Nicole Tiedemann-Bischop
STADTGESCHICHTEN
60 HAMBURGER STADTWAPPEN Auf archäologischer Suche nach seinem Ursprung
66 KATRIN SEDDIG Hamburger Autorin mit Witz, Charme und Intellekt
70 MODEHAUS ROBINSOHN Jüdische Kaufleute am Neuen Wall vor, während und nach der NS-Zeit
SERVICE
76 PROGRAMM
81 ADRESSEN/IMPRESSUM
KÄFER MIT SCHLEIFE
Kurz vor Weihnachten 1959 dokumentiert der Fotograf Hermann Tiede den Schauraum des Autohändlers Raffay + Co am Hamburger Ballindamm: Das neue Käfer-Modell präsentiert sich vor tannenbegrünter Kulisse, während eine Modelleisenbahn durch das Winterwunderland eines Miniatur-VWWerks in Wolfsburg zuckelt. „3000 Volkswagen – Tag für Tag“ steht auf dem kleinen Banner: Das „Wirtschaftswunder“ ist in vollem Gange. 1894 stellte Richard von Raffay die „Benzinkutsche“ in Hamburg vor und begründete eine AutohandelDynastie mit festem Platz in der Stadtgeschichte – auch wenn sein Betrieb 2010 zum Tochterunternehmen von Volkswagen wurde.
Neues aus der Stiftung, dem Programm der Häuser und Lektüretipps zum Museumsbesuch
Ein Blick in die Zukunft?
So könnte die neue ständige Ausstellung des Museums für Hamburgische Geschichte einmal aussehen
PLANUNGEN VORGESTELLT
MUSEUM FÜR HAMBURGISCHE GESCHICHTE
Das Museum für Hamburgische Geschichte bereitet sich aktuell auf eine umfangreiche bauliche und inhaltliche Modernisierung vor und hat dafür seit Beginn dieses Jahres den Besucherbetrieb eingestellt. Gemeinsam mit Kultursenator Carsten Brosda und SprinkenhofGeschäftsführer Jan Zunke haben SHMHVorstand HansJörg Czech und Museumsdirektorin Bettina Probst im September auf einem gut besuchten Pressetermin die konkreten Planungen vorgestellt. Bis Ende 2028 soll das größte deutsche Stadtmuseum in neuem Glanz erstrahlen und dabei komplett barrierefrei und energieeffizienter werden. Im Rahmen der baulichen Maßnahmen werden erweiterte Flächen für zukünftige Sonderausstellungen sowie eine neue Gastronomie mit Öffnung zur angrenzenden Parkanlage Planten un Blomen entstehen. Kernbestandteil der inhaltlichen Modernisierung ist eine neu gestaltete ständige Ausstellung zur hamburgischen Geschichte, die sich über drei Geschosse und rund 5000 Quadratmeter erstrecken wird. Ziel dieser Neukonzeption ist es, die Entwicklung Hamburgs von der Stadtgründung bis in die Gegenwart mit Bezug
auf aktuelle Fragestellungen zu vermitteln und diese gemeinsam mit den Besucherinnen und Besuchern zu diskutieren. Insgesamt stehen dank der Unterstützung durch die Freie und Hansestadt Hamburg und der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien 101 Millionen Euro für die Modernisierung zur Verfügung. Architekt und Objektplaner für die Modernisierung des Gebäudes ist das Büro Hoskins Architects aus Berlin und Glasgow. Die Neugestaltung der Ausstellung wird vom Gestaltungsbüro jangled nerves aus Stuttgart geplant und umgesetzt. Wer wissen möchte, was während der Modernisierung hinter den Kulissen passiert, sollte dem Museum auf Instagram folgen oder kann sich über die Website des Museums informieren: @museum_hamburgische_geschichte shmh.de/hinter-den-kulissen-mhg
LEITER DES SPEICHERSTADTMUSEUMS GEEHRT
SPEICHERSTADTMUSEUM
Henning Rademacher, der Gründer und langjährige Leiter des Speicherstadtmuseums, ist anlässlich seines 80. Geburtstages für sein unermüdliches Engagement vom Hamburger Senat mit der Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes in Silber ausgezeichnet worden. Der 1944 geborene Rademacher kann auf eine bewegte und vielfältige Karriere zurückblicken. Nach dem Beginn seiner beruflichen Laufbahn als Nautiker erwarb er 1971 das Kapitänspatent und schloss anschließend ein Studium der Volkswirtschaft ab. 1981 war er zudem Mitbegründer des Hamburger Buchladens „Männerschwarm“, der Pionierarbeit für die LGBTQ+Szene in der Stadt leistete. Seine Berufung fand Rademacher ab 1987 vor allem aber in der Hafen und Schifffahrtsgeschichte. Nach einer erfolgreichen Bewerbung um ein Volontariat im Museum der Arbeit übernahm er die Sonderausstellung „Speicherstadt – Baudenkmal und Arbeitsort seit 100 Jahren“, die das Museum seit 1988 in Block R der Speicherstadt zeigte, und machte daraus mit dem Speicher
stadtmuseum seine eigene privat geführte Außenstelle. Trotz vieler Herausforderungen, wie dem Umzug des Museums im Jahr 2011 in den Block L und den Auswirkungen der CoronaPandemie, gelang es Rademacher, das Museum kontinuierlich weiterzuentwickeln. Von der Eröffnung im Jahr 1995 bis heute konnte das Museum fast 1,5 Millionen Besucher begrüßen und verzeichnete jährlich mehr als 50.000 Gäste.
ADVENTSANGEBOTE
Feierliche Übergabe: Kultursenator Carsten Brosda, der geehrte Henning Rademacher und HansJörg Czech, Direktor und Vorstand der SHMH
Zur Einstimmung in die Adventszeit lädt die SHMH zu verschiedenen Events ein. Am ersten Adventswochenende (29.11. bis 1.12.) können die Besucher des Ökologischen Weihnachtsmarkts im Museum der Arbeit an zahlreichen Kunsthandwerksständen Weihnachtsschmuck und nachhaltige Geschenkideen entdecken. Am 7. und 8.12. lädt das Altonaer Museum dazu ein, beim Sternebasteln, Siebdrucken und Perlensticken selbst Weihnachtsgeschenke zu gestalten. Begleitet werden die Angebote von einem Programm des Saxophonorchesters der Akademie Hamburg für Musik und Kultur und von Auftritten der Erzählerinnen des Märchenforums Hamburg. Die Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg bringen am 1. und 12.12. die passende winterliche Stimmung ins Jenisch Haus. Weitere Informationen zu den jeweiligen Öffnungszeiten und Eintrittspreisen unter: www.shmh.de
LESENSWERT
nicht nur nach dem Museumsbesuch
DIE LAUTESTE SAUNA DER STADT
Das Logo ist eine der wichtigsten Adressen für Rockmusik in Hamburg. 1974 in einem der typischen Flachbauten an der Grindelallee eröffnet, hat dort – von Udo Lindenberg bis Queens of the Stone Age – schon das Who’s who der internationalen Musikszene auf der Bühne gestanden. Wegen seiner überschaubaren Größe und dadurch besonderen Atmosphäre gilt der Club vielen als die lauteste Sauna der Stadt. Zum 50. Geburtstag haben der Autor Alf Burchardt und der Fotograf Bernd Jonkmanns einen Band mit 200 Abbildungen zusammengestellt. Happy Birthday, Logo!
LOGO. Ein Hamburger Club seit 1974, Junius Verlag, 176 Seiten, 24 Euro
EIN WAHRZEICHEN WIRD ERKLÄRT
Seit 2015 zählen der Lagerhauskomplex der Speicherstadt und das Chilehaus zum UNESCOWelterbe. Die expressionistische BacksteinIkone des Architekten Fritz Höger ist Deutschlands bekanntestes Kontorhaus und gilt als Meilenstein der Baugeschichte. Von 1922 bis 1924 im Auftrag des „Salpeterbarons“ Henry B. Sloman erbaut, steht das stadtbildprägende Gebäude mit seiner viel zitierten SchiffsbugSpitze für die hanseatische Moderne. Auf Grundlage von dokumentarischen Recherchen stellen der Autor und Lichtkünstler Michael Batz und der Architekturhistoriker Gert Kähler zum 100. Jubiläum des Chilehauses erstmals eine Chronologie seiner Nutzung zusammen.
Michael Batz, Gert Kähler, Chilehaus Story, 100 Jahre einer Hamburger Legende, Dölling und Galitz Verlag, 296 Seiten, 34 Euro
DAS BUCH ZUR AUSSTELLUNG
In der FotoAusstellung „Deutschland um 1980“ widmet sich das Altonaer Museum dem von Umbrüchen und Aufbrüchen geprägten Jahrzehnt von 1975 bis 1985. Anhand zehn unterschiedlicher Positionen lädt die Schau zur Reise in eine Vergangenheit ein, deren Herausforderungen und Veränderungen trotz Unterschieden in Mode, Musik und Design doch Ähnlichkeiten zu unserer Gegenwart aufweisen. Das Buch zur Ausstellung versammelt neben einem facettenreichen Bildteil einige Essays zur vertiefenden Lektüre.
Deutschland um 1980. Fotografien aus einem fernen Land, Hirmer Verlag, 256 Seiten, 39,90 Euro, erhältlich im Shop des Altonaer Museums
EIN FLUSS WIRD BESICHTIGT
Die Elbe als wirtschaftliche Lebensader ist der Grundpfeiler für Hamburgs maritime Identität. Seit der Deutschen Einheit verbindet der Fluss aber auch wieder die beiden einst getrennten Staatsgebiete und ist zum gesamtdeutschen Strom geworden. Der Autor Burkhard Müller hat den Fluss von der Quelle im heutigen Tschechien bis zur Mündung in die Nordsee bereist und dabei bekannte sowie vergessene Gegenden besucht. Sein kenntnis und anekdotenreiches Porträt erkundet die Geschichte der wichtigsten Orte entlang des Flusses und lässt die Menschen, die an ihm leben, zu Wort kommen. Ein kulturhistorischer Reiseführer der ganz besonderen Art.
Burkhard Müller, Die Elbe, Porträt eines Flusses, Rowohlt Verlag, 304 Seiten, 26 Euro
HAMBURGS KOLONIALE SPUREN
Als Hafen und Wirtschaftsmetropole war Hamburg vor allem zum Ende des 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht Teil kolonialer Strukturen rund um den Globus. Im Stadtbild finden sich bis heute zahlreiche bauliche Spuren, die daran erinnern. Der Stadtführer der Historikerin Anna Prochotta stellt die Schauplätze von Hamburgs kolonialer Vergangenheit vor und bietet anhand von vier Stadtteilrundgängen und zwei Radtouren Zugang zu einem Kapitel der Stadtgeschichte, dessen Aufarbeitung gerade erst begonnen hat.
Anna Prochotta, Koloniales Hamburg, Ein Stadtführer, Junius Verlag, 288 Seiten, 24 Euro
MUSEUM ZUM ANFASSEN
Kreative und spielerische Zugänge zu den Sammlungen der Museen gehören längst zum Standard musealer Vermittlungsformate. Der Museumsdienst Hamburg wartet seit Neuestem jedoch mit einem ganz besonderen Angebot auf: inklusive Führungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten und deren Freunde, bei denen alle Sinne zum Einsatz kommen. Unter dem Motto „Museum zum Anfassen“ führen in insgesamt neun Hamburger Museen und Gedenkstätten speziell geschulte Kulturvermittlerinnen in einfacher Sprache durch die jeweiligen Ausstellungen. Ein Materialkoffer mit speziellen Objekten zum Riechen, Hören und Ertasten ermöglicht den Teilnehmenden dabei ganz eigene sinnliche Erlebnisse. Die Schwerpunkte der Rundgänge bilden Themen wie Naturschutz, Freundschaft, Schifffahrt und Globalisierung. Aufgrund einer Förderung der Behörde für Kultur und Medien, der Hildegard und Horst RöderStiftung und der Stiftung Kulturglück können die Führungen noch bis zum 31.12.2024 zu stark ermäßigten Preisen gebucht werden. Weitere Informationen unter: museumsdienst-hamburg.de
Erlebnis mit allen Sinnen: Beim „Museum zum Anfassen“ gibt es verschiedene Themenschwerpunkte, wie etwa den Naturschutz
MEISTERHAFTE STRIPPENZIEHER
JENISCH HAUS
Das Marionettentheater Thomas Zürn ist bereits seit Jahren ein Höhepunkt in der Wintersaison des Jenisch Hauses. Vom 14. Dezember bis zum 16. März wird das Ensemble um den als „Geppetto des Nordens“ bekannten Holzbildhauer wieder Kinder und Erwachsene mit beliebten Stücken wie „Der Gestiefelte Kater“, „Wind in den Weiden“ und „Der Kleine Prinz“ verzaubern. Unter den Produktionen, die im historischen Ambiente des klassizistischen Landhauses von eigens dafür komponierter Musik begleitet werden, ist auch das Stück „Danse Antigrav – Über das Marionettentheater“, das sich auf spielerische Weise mit dem philosophischen PuppenspielEssay von Heinrich von Kleist aus dem Jahr 1810 auseinandersetzt. Für Schulklassen und KindergartenGruppen können Sondervorstellungen vereinbart werden. Informationen zum Spielplan und zu den Tickets unter: marionetten-spieler.de
Zauberhaftes Schauspiel mit kunstvollen Puppen, hier: Der Kleine Prinz
< Stapel über Stapel: Dieser Pakethaufen wirft im Museum der Arbeit mindestens zwei große Fragen auf – nach den ökologischen Faktoren des Versandhandels und den physisch herausfordernden Arbeitsbedingungen von Lieferanten
> Was haben das BGB, Helene Fischer und Batterien gemeinsam? Sie alle gehören zu den absoluten Top-Sellern im Onlinehandel
ZWISCHEN KATZENSTREU UND HELENE FISCHER
Der Versandhandel zählt zu den am stärksten wachsenden Wirtschaftssegmenten in Deutschland. Die aktuelle Ausstellung im Museum der Arbeit beleuchtet die Hintergründe dieses komplexen Phänomens und zeigt, was alles passieren muss, bevor das Wunschprodukt an die Haustür kommt
Text: Julika Pohle Fotos: Jérome Gerull
Ein absolutes Kultprodukt und mittlerweile auch ein Klassiker der Fahrradgeschichte: das Bonanzarad
> Vom Gitterwagen über das Fließband bis zum nächsten
Ablageort: Bei dieser Installation können sich die Ausstellungsbesucher in die Rolle von Arbeitenden in einem Logistikzentrum versetzen
Die Zehntklässlerinnen, die sich an einem verregneten Vormittag die aktuelle Sonderausstellung im Museum der Arbeit ansehen, wurden als Kinder des digitalen Zeitalters lange nach dem Aussterben der Versandhauskataloge geboren. Ohne Nostalgie also, dafür mit offensichtlicher Freude an der Exotik des Unmodernen, blättern die Mädchen kichernd in den historischen Broschüren von Quelle, Neckermann, Otto und Co., die zur Ansicht in der Schau „Dein Paket ist da! Shoppen auf Bestellung“ ausliegen. Die Generation Z ist es gewohnt, Kaufentscheidungen auf der Basis von Bildern zu treffen – und steht damit in einer langen Tradition. Das Phänomen Versandhandel existiert in Deutschland seit 1876 und ging am Ende des letzten Jahrtausends nahtlos in die digitale Variante Online-Versand über.
„Menschen kaufen Dinge, die sie nur als Bild kennen. Sie überweisen Geld an Anbieter, die sie nicht persönlich kennen. Und sie vertrauen da-
rauf, dass ein paar Tage später ein Paket mit dem Wunschprodukt ankommt. Ihre Bestellung setzt ein Räderwerk in Bewegung, in dem viele Menschen arbeiten. Dass das seit fast 150 Jahren funktioniert, ist doch sensationell“, sagt Sandra Schürmann, die zusammen mit Florian Schütz die Ausstellung eingerichtet hat. Die beiden Kuratoren wollen einerseits das Interesse für eine der wirtschaftlichen Grundlagen unserer heutigen Lebensweise wecken. Andererseits sollen auch die Hintergründe des Distanzhandels offengelegt und bewusst gemacht werden.
Dabei geht es darum, die Rolle des Einzelnen im großen Ganzen zu reflektieren. „Dazu gehört auch, sich über sein eigenes Konsumverhalten Gedanken zu machen“, sagt Schütz. „Das Nachdenken über Sinn und Unsinn von Konsum und Kaufentscheidungen wollen wir aber nicht mit dem didaktischen Zeigefinger provozieren, sondern es ergibt sich automatisch aus den Infos,
die sich finden lassen.“ Indem die Schau den Versandhandel in vier Kapiteln als komplexes Netzwerk vorstellt, zu dem nicht nur Käufer und Verkäufer (Konsument und Unternehmen) sondern auch Logistik und Zustellung gehören, mischt sie sich ein in den gesellschaftlichen Diskurs über Arbeits- und Produktionsbedingungen sowie Umweltschutz und Klimawandel.
INTERAKTIVITÄT UND IDENTIFIKATION
Die Bewusstmachung gelingt durch Identifikation, die durch Exponate, Texttafeln und Mitmachangebote möglich wird. Leicht schlüpft der Museumsbesucher eingangs in eine bestens vertraute Rolle: Die des Konsumenten. Wie viel und was bestellen wir eigentlich? Im Jahr 2023 hat durchschnittlich jeder Deutsche 50 Pakete auf Bestellung erhalten, zu den Topsellern der letzten 25 Jahre zählen etwa das Bürgerliche Gesetzbuch oder Helene-Fischer-Tonträger. Doch wie zufrieden sind wir mit unseren Erwerbungen? Die Besucher gestalten die Schau mit. In den Fächern eines großen Regals können sie eigene Fehlkäufe vorstellen – zu sehen sind bereits eine Schafsmaske aus Plastik und ein pinkfarbener FitnessHula-Hoop-Reifen – oder an einer Wand notieren, welche Anschaffungen ihnen so peinlich sind, dass sie nur online gemacht werden: „Pokémon Karten (bin Ü50)“, hat jemand geschrieben, auch Kondome, BHs sowie „Klamotten in Übergröße“ gehören dazu.
„Die Ausstellung kann durchaus helfen zu verstehen, dass mit dem Klick in der Amazonoder Temu-App die Arbeit für viele Menschen erst losgeht und welche Folgen diese scheinbar unendliche Verfügbarkeit von günstigen Produkten haben kann“, sagt Schürmann. Zu den Auswirkungen gehören auch Umweltschäden durch massenhaft verpackte und vor allem zurückgeschickte Waren – denn Retouren sind das Hauptproblem. Weil in Deutschland etwa ein Viertel der online georderten Artikel zurückgeht, belasten vermeidbare Transportwege die CO2-Bilanz. So fielen 2021 fast 530 Millionen Retoursendungen an, die rund 795.000 Tonnen Kohlendioxid erzeugt haben. Darum gilt: „Wenn etwas bestellt wird, sollte gründlich recherchiert werden“, so Schütz. Wer also nachdenkt und vergleicht, bevor er einkauft, reduziert seinen CO2-Fußabdruck entscheidend.
Im zweiten Kapitel bekommt der Besucher die Möglichkeit, sich in einen Paketzusteller hineinzuversetzen. Die Kuratoren stellen nicht nur WIE VIEL UND WAS
MENSCHEN KAUFEN DINGE, DIE SIE NUR
ALS BILD KENNEN, UND VERTRAUEN DARAUF, DASS EIN PAAR TAGE SPÄTER EIN PAKET MIT
DEM WUNSCHPRODUKT ANKOMMT
Objekte wie Arbeitskleidung vor – etwa das Dienstoutfit für weibliches Postpersonal (1970) oder Spikes gegen Glatteis (1990) – sondern präsentieren auch Zahlen, die für sich sprechen: Die Paketboten, die bestellte Waren vom Verteilzentrum an die Haustür befördern, gehen im Schnitt 20.000 Schritte sowie 1.200 Treppenstufen pro Tag und schleppen täglich etwa 200 Pakete mit insgesamt bis zu 2.000 Kilo. Ausbeuterische Strukturen sind außerdem an der Tagesordnung, Arbeitsschutz und Arbeitnehmer-Rechte wie geregelte Pausenzeiten oder Tariflöhne werden von Subunternehmen oft ignoriert.
GEGENWART UND ZUKUNFT
Schon kleine Verhaltensänderungen der Paketempfänger können jedoch, so legt die Schau nah, einiges bewirken: „Aus Erfahrungsberichten wissen wir, dass eine gewisse Zugewandtheit, auch wenn mal nicht alles klappt, viel verändert“, erklärt Schütz. „Dafür reichen kleine Gesten wie Trinkgeld, das Entgegenkommen im Treppenhaus, positive Kommunikation oder mal eine Erfrischung.“ Im Museum verdeutlichen Beispiele für die Zettel-Korrespondenz zwischen Zusteller und Empfänger, wie es nicht laufen sollte. „Wenn Sie am Black Friday so viel bestellen, dann bleiben Sie auch gefälligst zuhause. Danke!“, schreibt etwa ein entnervter DHL-Bote. Auf der anderen Seite lässt eine Frau im Homeoffice den Postzusteller wissen, dass sie auch bei drei- bis sechsmaligem Klingeln manchmal einfach nicht an die Tür kommen könne.
Als mögliche Lösungen für die Zukunft sind etwa Paket-Drohnen oder ein innovatives unterirdisches Fracht-Transportsystem namens CargoCap denkbar. Um schon heute die Arbeitsbedingungen derer zu verbessern, die im Zustelldienst auf der sogenannten letzten Meile tätig sind, kann der Wechsel zu zentralen Paketautomaten helfen. „Die Nutzung von Packstationen ist absolut sinnvoll, da Zusteller dann nicht mehr jede einzelne Wohnungstür ansteuern müssen und ihre Sendungen gebündelt an einem Ort zustellen können“, sagt Schürmann. In jedem Fall sei es wichtig, die Bestellung besonders schwerer Pro-
dukte wie Pflanzenerde, Katzenstreu oder Sportgeräte zu vermeiden. Derzeit dürfen Pakete bis zu 31,5 Kilogramm wiegen, die Gewerkschaft Verdi setzt sich für ein Maximalgewicht von 20 Kilo ein.
Auch für die Mitarbeiter in großen Logistikzentren wäre eine Entlastung im wahren Wortsinn wünschenswert. Wie es sich anfühlt, einen Arbeitstag lang Pakete zu stemmen, lässt sich im dritten Ausstellungsabschnitt erproben: Hier steht ein breites Rollenförderband, das einem Original im Hermes-Verteilzentrum in Hamburg-Billbrook nachempfunden wurde. Spielerisch können die Besucher unterschiedlich schwere Kartons auf das Band heben – oder auch in zwei Teams gegeneinander antreten, die Pakete um die Wette über die Rollen schieben und sie anschließend in einer Container-Attrappe aufstapeln. In den riesigen Logistiklagern ist ein Großteil dieses Knochenjobs bis heute nicht automatisiert, sondern bleibt Handarbeit.
Am Ende des Rundgangs stehen die Händler selbst, repräsentiert durch diverse Produkt-Exponate – wie etwa eine „Quellux“-Höhensonne oder ein Bonanzarad. Die Versandhandelsbranche in Deutschland setzt sich heute aus rund 65.000 Einzelbetrieben zusammen, die meisten sind klein und wurden um 1990 gegründet. Seit der Jahrtausendwende wuchs der Umsatz im Onlineverkauf von 1,3 Milliarden auf 86,7 Milliarden Euro. Zu den Unternehmen, die den Übergang von der analogen zur digitalen Ära erfolgreich vollziehen konnten, gehört die Otto Group, von der die Schau finanziell unterstützt und durch Leihgaben bereichert wird.
Neben dem von Werner Otto 1949 gegründeten Unternehmen stellen die Kuratoren 28 weitere große und kleine Distanzhändler steckbrieflich vor. Über die Unternehmensbiografien wird die Geschichte des Versandhandels in Deutschland erzählt: Vom Pionier der Branche, dem Herrenausstatter Mey & Edlich, dessen Papierkragen seit 1876 verschickt wurden, über Erotik-Versender wie Beate Uhse – zu deren Sortiment in der Nachkriegszeit Bücher zum Thema „Ehehygiene“ zählten – bis zu Spezialhändlern wie Xtrax Undergroundfashion mit Mode für Gothic-Fans.
< Die bunte Welt der Versandkataloge: Mit jedem Umblättern taucht man weiter in die endlosen Weiten ihrer Produkte ein
> Die Geschichte des Versandhandels reicht weit zurück – das zeigt sich an der Vielzahl und Vielfalt der Ausstellungsobjekte, wie etwa historischer Arbeitsbekleidung oder einem dreirädrigen Lieferfahrzeug
Der Versandhandel ist demokratisch, praktisch und zukunftsweisend, daran lässt die Ausstellung keinen Zweifel. Unaufdringlich macht sie jedoch ebenso auf die Schattenseiten des Systems und unsere Mitverantwortung aufmerksam. So setze „die Erkenntnis à la ,Was hat das mit mir zu tun?ʻ eventuell wirklich erst dann ein, wenn konzentriert und nahbar über konkrete Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen gesprochen wird“, sagt Schütz. Hier sind die Museen gefragt, denn zuweilen beginnt der Prozess der Bewusstseinsbildung und Infragestellung mit neugierig machenden Eindrücken. Etwa beim Blättern in einem historischen Versandkatalog.
Julika Pohle ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin, u. a. für die „Welt am Sonntag“. Sie erwartet von keinem Paketboten, dass er die 95 Treppenstufen bis zu ihrer Wohnung im 5. Stock erklimmt und findet Packstationen fortschrittlich
Im Jahr 2022 betrug der Umsatz im Versandhandel in Deutschland 75,4 Milliarden
Euro
Laut Umfragen tätigen 85 % der deutschen Konsumentinnen und Konsumenten mindestens einmal im Monat eine Online-Bestellung
Pro Tag gehen 14 Mio. Sendungen an 9 Mio. Empfängerinnen und Empfänger (gewerblich und privat)
Im Schnitt erhält jede in Deutschland lebende Person 50 Pakete pro Jahr
Volumen 2023: 4,175 Mrd. Sendungen
WARUM ONLINE?
Der Digitalverband bitkom hat bei einer Umfrage Daten erhoben und statistisch aufbereitet, die einen Einblick in das Online-Shoppingverhalten von Menschen ab 16 Jahren in Deutschland bieten.
Ich shoppe online, weil …
53 % … es günstiger ist.
72 % … ich einfach keine Zeit habe einkaufen zu gehen.
72 % … es online keinen Ladenschluss gibt.
76 % … mir mehr Auswahl geboten wird.
44 % … ich abgelegen wohne.
14 % … mir dabei keiner zusieht.
43 % … ich ein besonderes Hobby habe.
RETOUREN
25 % aller Sendungen werden zurückgeschickt. Das sind 530 Millionen Pakete mit rund 1,3 Milliarden Produkten. Circa 30 % aller Retouren sind Bekleidung und Mode. 90 % davon könnten als neuwertig weiterverkauft werden. Trotzdem wurden 2023 etwa 20 Millionen retournierte Artikel vernichtet.
Der CO2-Fußabdruck von den 530 Millionen Retouren entspricht 5,3 Milliarden mit dem Pkw gefahrenen Kilometern. Aneinandergereiht und ausgehend von einer Paketlänge von 40 cm umrunden alle Retouren die Erde 5,3 Mal.
KATALOG VS APP
Der Neckermann-Katalog in den 1990er-Jahren enthielt circa 70.000 Produkte.
In der heutigen Otto-App sind um die 18 Millionen Produkte zu finden.
In der Amazon-App kann man sogar aus etwa 480 Millionen Produkten wählen.
Ein Katalog mit allen Amazon-Artikeln wäre 220 Meter dick – oder zweimal die Elbphilharmonie übereinander gestapelt.
KEIN LEICHTER JOB
Ein Lieferant überbringt circa 200 Pakete pro Tag – an „Starkverkehrszeiten“ wie Weihnachten oder Black Friday + 50–70 %.
Die Schicht dauert 8 Stunden und variiert nach auszuliefernder Paketmenge. Insgesamt bedeutet das: 20.000 Schritte und circa 1.200 Treppenstufen täglich bei einem Stundenlohn von ungefähr 17 € (nach Tarif).
Das Durchschnittsgewicht einer Sendung beträgt circa 5 kg (manchmal summiert sich das auf bis zu 1.000–2.000 Kilo Tragelast am Tag).
Das aktuell zulässige Maximalgewicht eines Pakets beträgt 31,5 kg. Die Gewerkschaft ver.di fordert eine Reduzierung auf 20 kg.
SCHAUFENSTERTRÄUME AUS DEM LAND HINTER DER MAUER
Wie blickte man im Osten auf die Hochglanzkataloge des Westens? Wie sahen die gedruckten Gegenstücke der DDR aus? Welche Wünsche wurden wach?
Und: Welche konnten sogar die Mauer überwinden? Eine Jugenderinnerung
Text: Matthias Gretzschel
< Très chic: So sah ein modisches Wollkostüm im Herbstund Winterkatalog 1966/67 aus – mit dem leuchtenden Blumenstrauß gewinnt das Ensemble auch noch an Farbund Strahlkraft
> Für viele Menschen aus der DDR lange ein Objekt der Sehnsucht beim Blick in einen westdeutschen Versandkatalog: ein Kassettenrecorder von Philips
Es war im Herbst 1968, als mein Freund und Banknachbar Stephan einen Otto-Katalog mitbrachte. Das barg ein gewisses Risiko, denn wenn es an jenem Tag in der 59. Polytechnischen Oberschule Dresden Weißer Hirsch eine der üblichen Ranzenkontrollen gegeben hätte, wäre das kostbare und nur für wenige Tage ausgeliehene Exemplar sofort als kapitalistisches Propagandamaterial konfisziert worden. Nur einen kurzen Blick in den Ranzen konnte ich werfen, die eingehende Betrachtung der zu dem Zeitpunkt schon zwei Jahre alten Ausgabe „Herbst Winter 1966“ musste noch warten. Aber nicht lange, direkt nach Schulschluss setzten wir uns im Waldpark auf eine Bank und betrachteten das mehr als 800 Seiten dicke Wunderwerk mit größtem Interesse, fast andächtig. Unglaublich, was es da auf den farbigen Hochglanzseiten alles zu entdecken gab. Nun gut, die Damen- und Herrenmode, die für unseren Geschmack ein bisschen zu viel Raum einnahm, überblätterten wir relativ schnell und hielten uns umso länger auf den Seiten für Heimelektrik auf, auf denen wir die schönsten Plattenspieler, Spulentonbandgeräte, Kassettenrecorder, aber auch 8mm-Schmalfilmkameras und -projektoren, Kofferradios und ganze HiFi-Anlagen mit riesigen Boxen bewundern konnten.
Während ich mich in den Philips-Kassettenrecorder verguckt hatte, der es mir gestattet hätte, meine Lieblingshits aus dem Deutschlandfunk-Schlagerderby aufzunehmen und immer wieder anzuhören, schwärmte Stephan von dem
etwas teureren Modell von Blaupunkt: dem Twen de Luxe. Aber ob Philips oder Blaupunkt – es war und blieb ein sogenannter Streit um des Kaisers Bart, denn weder Stephan noch ich hatten die geringste Chance, irgendetwas zu bestellen. Der Otto-Versand kam aus dem kapitalistischen Hamburg, während wir beide im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden lebten und außerdem nicht über die notwendige Westmark
verfügten. Trotzdem machte es Spaß und war aufregend, die bunten Seiten durchzublättern und dabei ungeahnte Schätze zu entdecken, von denen man ja wenigstens träumen durfte. Nicht nur die Gedanken, auch die Träume waren frei, sogar im real existierenden Sozialismus.
UNGEAHNTE WARENWELTEN
Und geträumt wurde viel, denn immer wieder gelangten Otto-, Neckermannoder Quelle-Kataloge auf unterschiedlichen Wegen in das Land hinter der Mauer, wo sie uns wie Schaufenster eines verheißungsvollen Schlaraffenland-Ladens vorkamen, an denen wir uns die Nasen platt drücken konnten. Doch die Pforten dieses ungeahnten Warenparadieses blieben verschlossen: Was schön, erstrebenswert und oft auch luxuriös war, sahen wir allein in den dicken Westkatalogen, die für uns Dresdner wahrscheinlich noch faszinierender waren als für jene DDR-Bürger, die im Gegensatz zu uns die Segnungen der kapitalistischen Warenwelt aus dem Westfernsehen kannten. Ich erinnere mich, wie eine Freundin meiner Mutter bewundernd über den neuen Arzt der hiesigen Poliklinik sagte: „Er sieht so schick aus, als sei er gerade dem Neckermann-Katalog entstiegen.“
Wie es neben dem West-, auch das Ostfernsehen gab, existierten neben Otto-, Neckermannund den Quelle-Katalogen zeitweise auch Gegenstücke aus der DDR: die Kataloge des konsument-Versandhauses in Karl-Marx-Stadt und des Centrum-Versandhauses in Leipzig. Aber wenn zwei das Gleiche tun, kann das sehr unterschiedliche Resultate zeitigen, vor allem wenn der eine sich mit der sozialistischen Mangelwirtschaft herumschlagen muss.
Wir erzählten uns damals folgenden Witz: Ein sündiger Mensch kommt nach seinem Ableben in die Hölle und wird an der Rezeption gefragt, ob er in die sozialistische oder die kapita-
WAS SCHÖN,
ERSTREBENSWERT UND OFT
AUCH LUXURIÖS WAR, SAHEN WIR IM OSTEN
ALLEIN IN DEN DICKEN WESTKATALOGEN
< Die DDR hatte auch ein paar eigene Versandkataloge – wenn auch nicht ganz so üppig bestückt und aufwendig gestaltet wie die westdeutschen Hochglanzprodukte
> Ein weiteres Wunschobjekt von der anderen Seite der Mauer: Der Twen de Luxe von Blaupunkt – in Ostdeutschland eigentlich nur durch Familie oder Freunde aus dem Westen zu ergattern
listische Abteilung möchte. Als er sich zuerst die kapitalistische Hölle ansieht, ist er geschockt, da die bedauernswerten Sünder von den diensthabenden Teufeln auf brutalste Weise auf Roste gebunden, über Feuer gebraten und ausgepeitscht werden. Als er sich kurz darauf die sozialistische Hölle anschaut, herrscht dort beste Stimmung. Die Sünder sitzen einträchtig mit den Teufeln zusammen und spielen Skat. Als der Neuzugang fragt, wieso hier nicht gequält wird, antwortet einer der Teufel: „Im Prinzip machen wir das auch, aber entweder haben wir kein Feuerholz oder die Roste können nicht repariert werden. Manchmal fehlt es auch an Streichhölzern und neue Peitschen haben wir schon ewig nicht geliefert bekommen.“ Ähnlich verhielt es sich mit den Ost-Katalogen im Vergleich zu ihren westlichen Vorbildern. Obwohl sie schon deutlich schlechter gestaltet und gedruckt waren und ein viel bescheideneres Angebot präsentierten, waren die attraktivsten Waren oft innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Immer erhältlich blieben nur Artikel wie Pionierhalstücher und FDJ-Blusen: und die wollte fast niemand haben.
Zur Ausstellung ist ein begleitendes 80-seitiges Magazin erschienen, das zum Preis von 9,90 Euro im Museumsladen erhältlich ist
Interessanterweise gab es einen dritten DDR-Katalog, der fast so aussah, als käme er nicht aus Ost-Berlin, sondern – wie Otto, Quelle oder Neckermann – aus Hamburg, Fürth oder Frankfurt: der GENEX-Katalog, den die Geschenkdienst- und Kleinexporte GmbH einmal jährlich herausgab. Angeboten wurde fast alles, was das Herz eines DDR-Bürgers begehrte: seltene Lebensmittel, hochwertige Möbel, schicke Kleidung, Werkzeuge, Heimelektronik, Motorräder, Autos und sogar Fertighäuser. Während bei einem Trabant oder Wartburg zwischen Bestellung und Auslieferung zwölf bis sechzehn Jahre ins Land gingen, dauerte es bei GENEX nur ein paar Wochen. Und ein GENEX-Fertighaus stand dem glücklichen Besitzer trotz aller Engpässe bei Baustoffen und Facharbeitern schon nach wenigen Monaten schlüsselfertig zur Verfügung. Doch GENEX hatte für DDR-Bürger leider einen gravierenden Schönheitsfehler: Bezahlt werden konnte nämlich nicht mit Mark der DDR, sondern ausschließlich mit D-Mark, über die kaum jemand verfügte – es sei denn, er hatte spendable Westverwandtschaft. GENEX gehörte zum Imperium Kommerzielle Koordinierung – einem Bereich des damaligen Ministeriums für Außenhandel –, mit dem der SED-Funktionär und Stasi-Offizier Alexander Schalck-Golodkowski mit mehr oder Matthias Gretzschel (Jahrgang 1975) wuchs als Kind einer Pfarrersfamilie in Dresden auf. Er ist Journalist und schreibt Sachbücher über kulturgeschichtliche und maritime Themen. Seine ostdeutsche Kindheit hat er in mehreren Erzählungen thematisiert
weniger legalen Mitteln Devisen für die DDR erwirtschaftete. Daher waren GENEX-Waren, von denen die meisten aus DDR-Produktion stammten, für uns auf normalem Wege oft genauso wenig erhältlich wie die schönen Dinge aus den Katalogen von Otto, Neckermann und Quelle.
Allerdings erlebte ich zu Weihnachten 1968, nur wenige Monate nachdem Stephan den OttoKatalog mit in die Schule gebracht hatte, eine grandiose Überraschung. Unterm Christbaum fand sich ein unglaubliches Geschenk meiner Patentante Ina aus Stuttgart, das mich jahrzehntelang begleitet hat: ein nagelneuer Kassettenrecorder, und zwar nicht der von Philips, von dem ich damals geträumt hatte, sondern ausgerechnet Stephans Wunschobjekt – der Twen de Luxe von Blaupunkt. Ob die damals schon betagte Patentante das gute Stück im Otto-Katalog entdeckt hatte, habe ich nie erfahren.
BEWE GTE ZEIT EN
Die Jahre um 1980 waren in Deutschland von Auf- und Umbrüchen geprägt – technische Innovationen und politische Entwicklungen führten vor allem im Westen des Landes zum Ruf nach gesellschaftlichen Veränderungen. Im Altonaer Museum lädt die aktuelle Ausstellung „Deutschland um 1980. Fotografien aus einem fernen Land“ anhand von zehn unterschiedlichen Positionen zu einer visuellen Zeitreise ein, auf der auch klar wird, dass uns einige der damaligen Fragen und Herausforderungen bis in die Gegenwart begleitet haben – und das auch in Hamburg. Vor dem Hintergrund der Themen der Ausstellung berichten sechs Hamburgerinnen und Hamburger über ihr Engagement und ihre Erfahrungen in der Stadtpolitik, im Arbeitskampf und bei der Entstehung alternativer Lebensmodelle sowie darüber, wie sie den Wandel der Stadtgesellschaft in diesem bewegten Jahrzehnt erlebt und beeinflusst haben
Die Ausstellung „Deutschland um 1980. Fotografien aus einem fernen Land“ ist noch bis zum 3. März 2025 im Altonaer Museum zu sehen
UMBRÜCHE
UND
AUFBRÜCHE
Wolfgang Rose war von 1973 bis 1982 Bildungsreferent bei der Evangelischen Jugend im Hamburger Osten. 1982 wurde er Gewerkschaftssekretär bei der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) in Hamburg. 1999 wurde er zum Bezirksleiter der ÖTV gewählt, die 2001 in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di aufging. Deren Landesbezirk leitete Rose bis zum Jahr 2012. Seit diesem Jahr ist er Mitglied im Kuratorium der Stiftung Historische Museen Hamburg
Text: Wolfgang Rose Foto: Michael Meyborg
Wachsende Jugendarbeitslosigkeit, der Kampf um die 35-Stunden-Woche, die Besetzung der HDW-Werft und der politische Kampf gegen die Nachrüstung – diese Themen prägten die gewerkschaftlichen Initiativen am Anfang der 1980er-Jahre in Hamburg.
Als Gewerkschafter, der vorher in der Jugendbildungsarbeit der Kirchen aktiv war, habe ich am Ende der 1970er-Jahre selbst erlebt, wie immer mehr Jugendliche verunsichert waren, weil ihnen jede berufliche Zukunftsperspektive fehlte. Doch die Hamburger Jugendorganisationen, ob mit gewerkschaftlichem oder kirchlichem Hintergrund, hatten von den Studentenunruhen der 1960er-Jahre gelernt. Mit Demonstrationen und anderen Aktionen forderten sie von den Unternehmen mehr Ausbildungsplätze und von der Politik mehr Investitionen in die Bildung. Mit ihrem Einsatz erreichten sie schließlich den Bau zusätzlicher Ausbildungszentren und eine Verbesserung der Qualität in der beruflichen Ausbildung.
Mit der 35-Stunden-Woche wiederum sollte 1984 die zweite entscheidende Arbeitszeitverkürzung im letzten Jahrhundert erkämpft werden, nachdem im Zuge der Novemberrevolution 1918 der 8-Stunden-Tag durchgesetzt worden war. Die bundesweite gewerkschaftliche Kampagne, vor-
nehmlich getragen von der IG Metall, unterstützte in Hamburg ein breites politischen Spektrum. Ich selbst war Mitglied einer Solidaritätsgruppe im Stadtteil Barmbek. Auch die SPD und die damalige GAL solidarisierten sich mit der gewerkschaftlichen Forderung. Der entscheidende Tarifvertrag der IG Metall von 1995 ist noch heute eine Zielorientierung bei manchen Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie.
Natürlich gab es auch Rückschläge. Am 12. September 1983 etwa besetzten die Beschäftigten der Howaldtswerke-Deutsche Werft (HDW) das Hamburger Betriebsgelände, nachdem die Geschäftsführung die Entlassung von über 1300 Mitarbeitenden angedroht hatte. Es folgte eine unbeschreibliche Solidaritätswelle der Gewerkschaften und großer Teile der Hamburger Bevölkerung –Frauen von Werftarbeitern traten in einen Hungerstreik. Nach neun Tagen jedoch beschloss die Belegschaft mit großer Mehrheit, die Besetzung zu beenden. Am folgenden Tag wurden die Kündigungen ausgesprochen. „Trotzdem waren wir Sieger“, so der damalige Betriebsratsvorsitzende Holger Mahler. „Weil wir uns nicht einfach unserem Schicksal ergeben haben. Wir haben gekämpft und uns so unsere Würde bewahrt.“
Ein Jahr zuvor prägten politische Entscheidungen über die atomare Nachrüstung den gesellschaftlichen Diskurs. Am 10. Juni 1982 starteten zahlreiche Busse vor dem Hamburger Gewerkschaftshaus in aller Frühe Richtung Bonn, wo sich im Laufe des Tages 500.000 Menschen aus Anlass des Besuchs von US-Präsident Ronald Reagan unter dem Motto „Aufstehn! Für den Frieden“ zu einer Demonstration gegen den Nato-Doppelbeschluss versammelten. Der Aufruf war damals – nicht nur in den Gewerkschaften – umstritten und heute denke auch ich, vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine, neu darüber nach.
Mit Entschlossenheit gegen die Entlassungswelle: HDW-Mitarbeiter bei einer Demonstration im Zuge der mehrtägigen Besetzung der Werft im September 1983
ANNITA
KALPAKA
RASSISMUS UND WIDERSTAND
Annita Kalpaka war bis 2022 Professorin für Gemeinwesenarbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg. Seit den 1980er-Jahren engagiert sie sich aktiv gegen Rassismus und ist bis heute in der politischen Bildung tätig. Sie ist Mitverfasserin des Bandes „Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“
Text: Annita Kalpaka
Foto: Asmus Henkel
Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – diese kontrafaktische Formel, die der Migrationsforscher Klaus J. Bade später als eine „politische Erkenntnisverweigerung“ bezeichnete, war in den 1980er-Jahren wegweisend für die offizielle Migrationspolitik der Bundesrepublik Deutschland. „Wir sind und bleiben hier“ war die widerständige Reaktion der migrantischen Communitys, die sie mit der Forderung nach gleichen sozialen und politischen Rechten verbanden. Für diese Communitys waren es bewegte Jahre. Ihnen wurde vorgeworfen, „Parallelgesellschaften“ zu bilden und sich der Integration in die Mehrheitsgesellschaft zu verweigern. Dabei war dieser Kampfbegriff nur eine Verschleierung der Tatsache, dass sie durch die Verweigerung von gesellschaftlicher Teilhabe, durch Stigmatisierung und die pauschale Zuschreibung einer kulturellen Rückständigkeit zu solchen gemacht wurden.
Was damals „Ausländerfeindlichkeit“ genannt und als randständige Erscheinung verhandelt wurde, nannten Migrantinnen und Migranten Rassismus, von dem sie sich aus gutem Grund bedroht fühlten. Eines der ersten bekannten Todesopfer rassistischer Gewalt war der 26-jährige Hamburger Ramazan Avcı, der Weih-
nachten 1985 von rechtsradikalen Skinheads gejagt wurde, von einem Auto erfasst und am Boden liegend mit Knüppeln brutal erschlagen wurde. Mit diesem Ereignis wurde die Bedrohung real –es konnte jeden und jede treffen, der oder die „anders“ aussah. Zugleich führte die Tat zu einer Politisierung: Türkische Gruppen und andere migrantische Selbstorganisationen, die bis dahin für viele unsichtbar waren oder als integrationshinderlich diffamiert wurden, schlossen sich zusammen und gingen auf die Straße, um ihre Empörung, ihre Trauer und ihre Forderungen hörbar zu machen. Im Prozess gegen die Neonazis, der ein halbes Jahr später feststand, konnten viele von uns live erleben, wie rassistische Gewalt verharmlost wurde. Die Täter wurden wegen Totschlags und nicht wegen Mordes verurteilt. „Niedere Beweggründe wie Ausländerhass“ hätten nicht bewiesen werden können. Das hat unser Vertrauen in die deutsche Justiz erschüttert. Ein Empfinden, das rückblickend Bestätigung findet. Denn in den Folgejahren fanden bundesweit regelmäßig Gewalttaten und Morde statt, die für die Hinterbliebenen und für die Communitys bisher noch lange nicht zufriedenstellend aufgearbeitet wurden. Erinnert sei nur an die rassistisch motivierten Morde in Hamburg an Nguyễn NgỌc Châu und ĐỖ Anh Lân im Jahr 1980 sowie an Mehmet Kaymakçı 1985.
Und trotzdem führten diese Zustände damals wie heute nicht zu Rückzug und Resignation, sondern im Gegenteil: Die Bedrohung und Empörung mündeten in vielfältigen Aktionen, in den Aufbau von Vereinsstrukturen, in Gedenkinitiativen, in die Ausarbeitung von umfang -
reichen Forderungen und nicht zuletzt in eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Rassismus. Die Zeit war gekennzeichnet durch politische und kulturelle Aktivitäten, durch Selbstorganisierung sowie durch die Schaffung von Orten der Begegnung und des Austauschs. Einer dieser Orte war in den 1980ern das jährliche „Einwandererkulturfestival“, das vom damaligen „WIR-Internationales Zentrum“ in Altona in Kooperation mit vielen migrantischen Gruppen und Stadtteilinitiativen organisiert wurde. Es waren lebendige Räume der Auseinandersetzung, des Feierns und des Trauerns, des Empowerments und des Wachsens. Es waren keine Orte der Harmonie, aber sehr wohl solche, an denen der respektvolle Umgang mit Differenz geübt wurde.
„Hier wird gestreikt“: 1983 kämpften viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Migrationshintergrund gegen schlechte Arbeitslöhne und -bedingungen bei Norddarm in Bahrenfeld
HAMBURGS ZWEITE SPIEGEL-AFFÄRE
Cornelius „Corny“ Littmann ist Theatermacher, Schauspieler, Regisseur und langjähriger LGBTQ-Aktivist. Er trat 1979 der Grün-Alternativen Liste (GAL) in Hamburg bei und stand dafür ein, die gesellschaftliche Gleichstellung Homosexueller und eine Reform des Sexualstrafrechts in das erste Grundsatzprogramm der Grünen aufzunehmen. Er ist ehemaliger Vereinspräsident des FC St. Pauli und Gründer, Geschäftsführer und Intendant der drei Schmidt-Theater auf St. Pauli
Text: Corny Littmann
Fotos: Thomas Hirschbiegel, Archiv Corny Littmann
Im Juni 1980 hörten wir – die achtköpfige Gruppe der „Homosexuellen Aktion Hamburg“ – von dem Gerücht, dass Schwule in öffentlichen Toiletten im Bezirk Hamburg-Mitte von Polizisten bespitzelt werden. Hinter einem nur von einer Seite einsichtigen Spiegel sollte sich ein kleiner Raum befinden, von dem aus Polizeibeamte das Geschehen in den Pissoirs beobachten, sexuelle Handlungen unterbinden und die „Täter“ dingfest machen konnten. Dem unglaublichen Verdacht mussten wir natürlich auf der Stelle nachgehen. Eine rein rationale Entscheidung – emotional waren wir von Sex auf öffentlichen Toiletten, im Schwulenjargon „Klappen“ genannt, angewidert.
Wir begaben uns also mit einem Hammer bewaffnet auf die öffentliche Herrentoilette am Spielbudenplatz. Und siehe da – es gab tatsächlich einen Einwegspiegel, hinter dem ein kleiner Raum erahnbar war. Abwechselnd versuchten wir, ihn zu zertrümmern. Außer einem Kratzer allerdings erfolglos, das Ding war zentimeterdick. Dafür tauchten urplötzlich zwei Polizisten auf. Wir ergriffen die Flucht, zwei von uns muss-
CORNY LITTMANN
ten jedoch mit auf die Davidwache. Zum Glück ohne weitere Konsequenzen.
Wir hatten Blut geleckt und inspizierten mehrere ö ffentliche Toiletten im Innenstadtbereich. Die Toilette am erst kürzlich eröffneten Alsteranleger schien bestens geeignet – das Spiegelglas neu und dünn. Jetzt planten wir unsere Aktion deutlich besser. Wir brauchten handfeste Beweise, also begleiteten uns zwei Fotografen. Den Hammer sollte und wollte ich schwingen, da ich zu diesem Zeitpunkt Bundestagskandidat der Grünen war und so für die dokumentierte Sachbeschädigung wahrscheinlich nicht ohne Weiteres zu belangen war. Alle in Position – und auf „3“ zersplitterte der Spiegel! Dahinter befand sich ein circa 15 Quadratmeter großer Raum. Wir hatten den Beweis für die Bespitzelung und gaben das umgehend an die Presse weiter. Da ahnten wir noch nichts von der Reaktion auf unsere Enthüllung.
Anfang Oktober 1980 war Bundestagswahl. Helmut Schmidt gegen Franz Josef Strauß. Schmidt spielte in dieser zweiten Hamburger Spiegel-Affäre eine etwas dubiose Rolle. Denn die Spitzel-Spiegel waren in seiner Amtszeit als Hamburger Innensenator Anfang der 1960er installiert worden. Wusste er davon? Hatte er tatsächlich die Überwachung von Schwulen befürwortet? Ohne Zweifel trug er damals die politische Verantwortung. Er konnte von Glück sagen, dass sein Gegenkandidat ihn deswegen niemals attackieren würde, sondern eher noch belobigen.
In der Presse wurde der Skandal fast totgeschwiegen. Der damalige Erste Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) ordnete jedoch die sofortige Beendigung der Überwachung an. Innensenator Werner Staak äußerte, hier handele es sich um „Relikte aus der Zeit der härteren Straf-
androhung“. Kurz darauf wurde bekannt, dass Politiker aller Parteien von den Einwegspiegeln gewusst und noch im September 1979, kaum ein Jahr zuvor, ihre Beseitigung abgelehnt hatten. Was für eine widerliche Heuchelei.
Inzwischen hat sich aus damaliger Sicht Unglaubliches getan. Heute gibt es den Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter in Deutschland e. V. (VelsPol), der sich als überregionaler Dachverband für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender in der Polizei einsetzt. Außerdem unterstützt er Opfer von Gewalt gegen vorgenannte Personengruppen. 2017 erhielt ich im Hamburger Rathaus unter ausdrücklicher Erwähnung der zweiten Spiegel-Affäre den „VelsPol-Ehrenpreis für Gleichstellung und Akzeptanz in der Gesellschaft und besonders in der Polizei“. Der Preis ist ein Kunstwerk, auf dem – was sonst – die Zerschlagung eines Spiegels zu sehen ist. Eine schöne Ehrung von unerwarteter Seite!
Mit Wucht und Mut: In Begleitung zweier Fotografen zerschlug Corny Littmann 1980 den Einwegspiegel einer öffentlichen Herrentoilette in Hamburg
Oben: Aktivismus mit Perücke und Kleid: Corny Littmann 1980 bei der ersten Gay Pride Week in Hamburg
DIE GRÜNDERZEIT
ALTERNATIVER MÜTTER
UND KREATIVER ÖKOS
Jutta Bauer, 1955 in Hamburg geboren, ist Illustratorin und Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher. Nach einem Studium an der Hamburger Fachhochschule für Gestaltung bei Professor Siegfried Oelke bezog sie 1983 ein Atelier in einer alten Fabriketage in Hamburg-Winterhude, aus der später die Ateliergemeinschaft „Goldbekhof e. V.“ entstanden ist. Ab 1985 arbeitete sie als Cartoonistin bei der Frauenzeitschrift „Brigitte“. Sieben Jahre lang erschienen dort vierzehntägig ihre Bildgeschichten
Text und Illustrationen: Jutta Bauer
Als studierte Zeichnerin und Illustratorin ging ich in den frühen 1980er-Jahren davon aus, eine brotlose Kunst erlernt zu haben und weiterhin drei Schichten in der Woche in einem Heim für Körperbehinderte zu arbeiten. Doch dann rief mich 1984 die Redaktion der Frauenzeitschrift „Brigitte“ an und stellte mir eine Frage, die ich nie vergessen werde: Wollen sie unsere Franziska Becker sein? Franziska Becker war die von uns „Emanzen“ bewunderte, rotzfreche und geniale Comiczeichnerin der von Alice Schwarzer gegründeten „Emma“. Was für eine Aufgabe! Ein Traumjob! Hätte ich länger allerdings darüber nachgedacht, was es bedeutet, alle zwei Wochen einen Comic abzugeben, der von fast zwei Millionen Leuten gelesen wird, hätte ich wohl Nein gesagt.
JUTTA
BAUER
Neben den Cartoons für die „Brigitte“ zeichnete ich Kinderbücher, unter anderem zusammen mit einer anderen damaligen Newcomerin: Kirsten Boie. Die Kinderbuchszene war nach den Aufbruchsjahren der 1970er mit Hans-Joachim Gelbergs orangenen Büchern – die verbunden waren mit Namen wie Christine Nöstlinger und Janosch – eher gediegen und überschaubar. Wir schauten ganz aufgeregt auf die Szene in der damaligen DDR. „PGH glühende Zukunft“ hieß eine Gruppe von Illustratorinnen und Illustratoren um Anke Feuchtenberger, Henning Wagenbreth, Yvonne Kuschel und Detlef Beck. Deren bissige Zeichnungen waren wie Speed für unsere leicht ermüdete Szene. Oder war nur ich ermüdet? Das war ich allerdings: ein kleines Kind, viel zu viele Jobs und dazu plötzlich Asthma. Mir ging die Luft aus. Eine Elternzeit wäre schön gewesen. Der „Brigitte“-Redaktion schlug ich vor, mich mit anderen Kolleginnen abzuwechseln. Doch davon wollte diese nichts wissen. Weitermachen oder Vertrag kündigen – das waren die Optionen. Meine netten „Brigitte“-Redakteurinnen waren Frauen, die vermutlich als junge Mütter ihre Berufstätigkeit hart erkämpft hatten. Sie hatten ihre kleinen Kinder blutenden Herzens in Kindergärten und zu Omas gebracht. Mit Vätern war nicht zu rechnen und mit vorgeschnallten Kindern in Redaktionsräume zu kommen und in der Cafeteria zu stillen – undenkbar! Sie fanden uns alternative Mütter wahrscheinlich anspruchsvoll und schwierig. Das waren wir auch. Mit Recht, dabei war so etwas wie Me-Time noch gar nicht erfunden.
Gleichzeitig waren die 1980er-Jahre für mich eine Gründerzeit. 1983 habe ich eine ganze,
abgerockte Fabriketage gemietet und dort den Grundstein für die immer noch existierende Ateliergemeinschaft „Goldbekhof e. V.“ gelegt. Die beste Idee ever! Wir waren Ökos, gründeten Bioläden und aßen tapfer unseren schlappen Salat. Wir waren Linke, gründeten Friedensinitiativen, standen mit 300.000 Abrüstungsdemonstranten im Bonner Hofgarten. Wir waren Eltern, eröffneten Kinderläden, kochten und putzten selbst und diskutierten müde jeden zweiten Montagabend über Öko-Nudeln und Klopapierverbrauch.
Feministische Fledermaus: Batminna kämpfte in der Zeitschrift „Brigitte“ gegen Gewalt, Sexismus und Unterdrückung.
Unten: Eine Illustration aus Kirsten Boies Buch „Kein Tag für Juli“ von 1991
ST. PAULI IN DEN FRÜHEN ACHTZIGERN
Der pensionierte Kriminal-Hauptkommissar Waldemar Paulsen war fast 42 Jahre lang als Polizist in Hamburg unterwegs, die meiste Zeit davon an der Davidwache auf St. Pauli, wo er in den 1970ern und 1980ern unter anderem als Zivilfahnder tätig war
Text: Waldemar Paulsen Foto: Privat
Ab 1960 war das Milieu von St. Pauli für zwei Jahrzehnte von einer Goldgräberstimmung geprägt. Die Spielcasinos von Wilfrid Schulz, dem „Paten von St. Pauli“, und anderen Betreibern waren bis auf den letzten Platz besetzt. Europas größtes Bordell, das Eros-Center mit seinen 266 Zimmern und 174 Betten, war ebenso ein Magnet für die Kiez-Besucher wie die sogenannten Bordsteinschwalben auf dem Hamburger Fischmarkt und die Prostituierten entlang des Sperrgebietes um den HansAlbers-Platz. An den Wochenenden kamen Scharen von Besuchern mit Reisebussen aus ganz Westdeutschland, um sich auf der Rotlichtmeile zu amüsieren. St. Pauli war verrucht.
Anfang der Achtziger wandelte sich das Milieu. Die Ära des großen Geldes war vorbei. Die Angst vor AIDS hielt Einzug. Die Großbordelle leerten sich mangels Freier und die Luden entwickelten ein neues lukratives Geschäftsmodell: Kokain und Heroin. Die Zeiten wurden rauer und die Luft wurde bleihaltiger. Der Auftragskiller Werner Pinzner tötete von 1984 bis 1985 im Auftrag des Bordelliers „Wiener-Peter“ fünf Zuhälter. Dazu kamen die Veränderungen im Hafen. Mit der Containerisierung schrumpfte die Zahl der
WALDEMAR PAULSEN
Hafenarbeiter massiv. Zudem löschten die Containerschiffe schon morgens ihre Fracht, nahmen neue Lieferungen auf und waren am Abend bereits wieder ausgelaufen. Den Matrosen blieb also keine Gelegenheit mehr, ihre schwer verdiente Heuer auf St. Pauli zu lassen. 1987 schloss das Eros-Center nach zwanzigjähriger Betriebszeit seine Pforten. Das alte St. Pauli war passé. Ich war in all den Jahren mit wechselnden Partnern zur präventiven und repressiven Bekämpfung des Rotlichtmilieus eingesetzt. Wir kontrollierten dort sämtliche Bordelle und nahmen unzählige Verhaftungen und Festnahmen vor. Im sogenannten Bermudadreieck, dem Hamburger Berg, wo sich die Spaßtrinker versammelten, begegnete ich dem Serienmörder Fritz Honka, der in den 1970er-Jahren vier Prostituierte tötete. Am 13. Dezember 1980 trafen wir während einer Personenkontrolle in einer üblen Schankwirtschaft am Hamburger Berg auf einen Berufsverbrecher, der sofort das Feuer auf mich eröffnete. Nur durch das Eingreifen meines Partners blieb ich unverletzt, jedoch erschoss der Straftäter einen unbeteiligten Gast und verletzte einen weiteren schwer. Dieses Ereignis war für mich der Anlass, 1982 die Dienststelle zu wechseln.
In Zivil über den Kiez, vorbei an Tanzbars, Grillrestaurants und Spielhallen: Waldemar Paulsen Ende der 1970er-Jahre
ALTONA UND DER STREIT UM DEN ÖFFENTLICHEN RAUM
Der erfahrene Verwaltungsjurist Hans-Peter Strenge war von 1984 bis 1995 Bezirksamtsleiter in Altona und von 1996 bis 2001 Staatsrat in der Hamburger Justizbehörde und im Senatsamt für Bezirksangelegenheiten. Seit 2003 engagiert er sich ehrenamtlich als 1. Vorsitzender im Vorstand des Vereins der Freunde des Jenischparks
Text: Hans-Peter Strenge Fotos: Asmus Henkel
In den frühen 1980er-Jahren wurde in Altona vor allem um den öffentlichen Raum gestritten. 1982 bekamen wir als Bezirksversammlung Altona in der letzten Sitzung vor der Sommerpause im Rathaus unverhofften Besuch: Die jugendlichen Punks vom Altonaer Spritzenplatz besetzten den Sitzungssaal und wollten über die jüngsten Polizeieinsätze in ihrem Stammrevier reden. Die Diskussion wurde hitzig, die Punks wurden laut und drängten an den Tisch des Vorsitzenden. „Nun werden Sie mal nicht ungezogen!“, ermahnte er sie. Die Antwort: „Wenn wir ungezogen wären, würdest du hier nicht mehr sitzen.“ Mit Bedacht und Diplomatie ließ sich die Situation schließlich beruhigen. Die Bezirksversammlung beantragte mehrheitlich beim Hamburger Senat Container und Sanitärräume für die Jugendlichen. Schließlich wurde der Antrag dann auch umgesetzt.
Wenige Jahre später – ich leitete inzwischen das Bezirksamt Altona – fand im Gymnasium am Hohenzollernring eine öffentliche Anhörung zur künftigen Nutzung des brachliegenden Betriebsgeländes von Menck & Hambrock statt, dem heutigen Kemal-Altun-Platz. Die Vorschläge reichten von Büroneubauten über Wohnungen bis zu ei-
HANS-PETER STRENGE
nem Abenteuerspielplatz oder einer öffentlichen Grünfläche mit Theaterbühne. Doch die Ottenser Bauwagenszene beanspruchte die ganze Fläche für sich und hatte das Gelände bereits besetzt. Bei der Vorstellung der behördlichen Pläne in der Schulaula stürmte plötzlich eine Gruppe mit gefällten Pappeln in den Raum. Auf Lärm und Gerangel folgten konkrete Drohgebärden in meine Richtung, dem „Büttel des Senats und des Kapitals“. Zum Glück gingen meine Dezernenten dazwischen, die Polizei erschien und fuhr mich im Peterwagen nach Hause. Da Reden besser ist als Schreien, machte ich mich am nächsten Tag mit meinem Sozialdezernenten auf den Weg zum Bauwagenplatz. „Katzen-Elli“ – damals die anerkannte Mutter und Respektsperson unter den Leuten in der Szene – empfing uns auf dem Sofa vor ihrem Bauwagen und servierte Apfelsaft. Wir hatten ein gutes Gespräch, verständigten uns auf eine Ausweichfläche an der Gaußstraße und besprachen die Modalitäten des Umzugs.
Ende der 1980er-Jahre folgte die Besetzung des ehemaligen Flora-Theaters im Schanzenviertel. Die Gespräche mit den Rotfloristen wurden –ebenfalls bei Apfelsaft – in einer „Volxküche“ geführt. Meine aus Erfahrung gewachsene Nachsicht mit den Besetzern brachte mir einigen Ärger beim Senat ein. Der damalige Bürgermeister Henning Voscherau schimpfte in der „taz“: „Ich weiß nur noch nicht, wer das Karnickel ist, das die Leute ins Gebäude gelassen hat: Kossak (der damalige Oberbaudirektor) oder Strenge.“ Wie auch immer sie in die Flora kamen – sie waren da. Und sind es bis heute.
Ottensen, 1982: Die Fotos von Asmus Henkel dokumentieren den Einsatz von Anwohnern, die Grünfläche am heutigen Kemal-Altun-Platz entgegen damaliger Bauvorhaben als Park für alle nutzbar zu machen
Leon Daniel Cohen
Käthe Starke-Goldschmidt
ERINNERTES LEBEN
Das Altonaer Museum begibt sich in der aktuellen Ausstellung „Altona – Theresienstadt“ auf die Suche nach den Lebensspuren von Leon Daniel Cohen und Käthe Starke-Goldschmidt
Text: Vanessa Hirsch
Den Ausgangspunkt für die Suche nach den Lebensspuren von Leon Daniel Cohen und Käthe StarkeGoldschmidt bildet ein Objekt aus der Sammlung der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem: ein Thoraschrein (auf Hebräisch: Aron Hakodesch), den der Altonaer Leon Daniel Cohen 1939 angefertigt hatte – und den er 1942 bei seiner Deportation in das Konzentrationslager
Theresienstadt mitnahm. 1944 wurden er und seine Familie – seine Frau Adele und die beiden Kinder Daniel und Betty – im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.
DER THORASCHREIN
Der Thoraschrein war 2023 Teil einer Ausstellung im Deutschen Bundestag. 16 Objekte aus Yad Vashem repräsentierten die 16 deutschen Bundesländer, in die sich ihre Geschichte zurückverfolgen lässt. Das Hamburger Objekt, der Thoraschrein von Leon Cohen, kehrt nun als Leihgabe aus Yad Vashem vorübergehend nach Altona zurück und ist der Ausgangspunkt einer Ausstellung im Altonaer Museum. Welche Lebensspuren haben Leon Daniel Cohen und seine Familie in Hamburg-Altona hinterlassen? Einige Eckdaten wie Adressen und Deportationsdaten waren bereits bekannt, unter anderem dank der Recherchen im Zuge der „Hamburger Stolpersteine“. Aber wir wollten mehr über diese Menschen
herausfinden. Unsere erste Frage bei der Ausstellungsvorbereitung war deshalb: Was wissen wir über den Schrein? Sicher ist, dass er als Geschenk von Henrietta Blum in die Sammlung von Yad Vashem kam. Sie hatte in Theresienstadt das Kinderheim geleitet, in dem der Schrein zusammen mit einer von Rabbi Sigmund Unger mitgebrachten Thorarolle verwendet wurde. Bevor auch Rabbi Unger 1944 nach Auschwitz deportiert wurde, vertraute er Henrietta Blum die Schriftrolle an. Im Sommer 1945, nach ihrer Befreiung aus Theresienstadt, nutzte sie den Schrein für den Transport der Thorarolle. Ab 1981 lebte sie in Israel und gab die Schriftrolle zusammen mit dem Schrein in die Sammlung von Yad Vashem. Dass der Schrein aus den Händen von Leon Daniel Cohen stammt, können wir einer Signatur am Objekt entnehmen: „In der heiligen Gemeinde zu Altona, der kleine Jehuda, Sohn des gelehrten David Walsrode ha-Cohen“. Zudem ist die Jahreszahl 1939 vermerkt. Leon (oder Jehuda) Daniel Cohen, hat den Schrein folglich 1939 in Altona angefertigt. Da wir wissen, dass er am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, muss er den Schrein dorthin mitgenommen haben. Im Stadtteilarchiv Ottensen wird eine Sammlung von Fotos und Dokumenten zur Geschichte der Cohens verwahrt. Die Nachkommen von Johanna Katz, einer Schwester von Leon Daniel Cohen, und ein Sohn von Miriam Halberstadt, der
Käthe Starke-Goldschmidt brachte unter anderem dieses grafische Blatt mit aus Theresienstadt, auf dem Felix Bloch zwischen 1942 und 1944 einen geheimen Gottesdienst auf dem Dachboden festgehalten hatte
Schwester von Leons Frau Adele, haben sie dem Stadtteilarchiv überlassen. Aus diesem Material ergeben sich die Spuren einer Familie, die seit dem 18. Jahrhundert in Altona ansässig war und eine wichtige Rolle in der jüdischen Gemeinde spielte.
DIE FAMILIE COHEN
Leon Daniel Cohen wurde 1893 als sechstes der acht Kinder von David Cohen (genannt Daniel) und Betty (geborene Wagner) in Altona geboren. Daniel Cohen war der Gemeindekassierer und Oberküster der jüdischen Gemeinde. Die Familie wohnte in der Kleinen Papagoyenstraße 1, in einem Haus, das unmittelbar neben der Synagoge lag und in dem auch der Rabbiner mit seiner Familie lebte. Leon besuchte die Talmund-Tora-Schule in Hamburg (heute: JosephCarlebach-Bildungshaus) und kämpfte im Ersten Weltkrieg. Einige seiner Feldpostbriefe an seine Mutter haben sich in Abschriften erhalten. Nach dem Krieg betrieb er ein Geschäft für Lederwaren und Schuhmacherbedarfsartikel, zunächst in der Kirchenstraße 18 in der Altonaer Altstadt, später in der Lerchenstraße 61, die heute in St. Pauli bei der Schilleroper liegt. 1934 heiratete er Adele Tannenwald aus Thüngen in Franken und 1935 beziehungsweise 1936 wurden ihre Kinder Daniel und Betty geboren. 1938 war Leon aufgrund der „Arisierungsmaßnahmen“ des NS-Regimes gezwungen, sein Geschäft
Dieser Thoraschrein liefert einige Hinweise zur Biografie seines Urhebers Leon Daniel Cohen und dessen Familie. Als Cohen 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, hatte er das Objekt bei sich
Einblick in die Lebenswirklichkeit im KZ:
Felix Blochs lavierte
Federzeichnung
„Transport aus Wien kommt an“ von 1943 ist ebenfalls Teil des „TheresienstadtKonvoluts“ von Käthe Starke-Goldschmidt
aufzugeben. Er fand eine Anstellung als Leiter des Altersheims der jüdischen Gemeinde in Altona (in der heutigen Blücherstraße, unmittelbar neben dem Jüdischen Friedhof). Danach übernahm er die Leitung des Altenhauses des Jüdischen Religionsverbands in Hamburg in der Sedanstraße 23 und schließlich ab 1941 die Leitung des Northeim-Stifts in der Schlachterstraße 40–42, heute am Großneumarkt. Aus den Unterlagen im Stadtteilarchiv geht außerdem hervor, dass er damals gerne emigriert wäre: „Wohin! Spielt heute leider keine Rolle, ist auch keine Frage mehr für uns, nur ‚Raus‘.“ Er scheiterte an Geldmangel.
Am 19. Juli 1942 wurde die Familie Cohen zusammen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Northeim-Stifts nach Theresienstadt deportiert. Über das Rote Kreuz konnte Leon Daniel Cohen eine letzte Nachricht an seine Schwiegereltern in Palästina schicken: „Wir und Heim werden heute nach Theresienstadt verlegt. Alles gesund.“ Im Besitz eines Neffen von Adele Cohen haben sich Postkarten erhalten, die sie aus Theresienstadt an den nach Schweden emigrierten Verwandten Arnold Cohn schrieb. Darin bedankt sie sich für Cohns Lebensmittelpakete. Angesichts der bewusst unzureichenden Versorgung durch die Bewacher trugen solche Sendungen entscheidend zum Überleben bei. Ein Brief, den eine Theresienstadt-Überlebende 1945 an
die Familie von Adele Cohen in Israel schrieb, informiert darüber, dass Adele die Wäsche für Familien machte, die viele Pakete bekamen. Leon habe als Hausverwalter gearbeitet. Am 28. September 1944 wurde Leon Daniel Cohen ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert, ein Monat später Adele und die Kinder – mit dem letzten Deportationszug, der aus Theresienstadt nach Auschwitz fuhr.
KÄTHE STARKE-GOLDSCHMIDT
Trotz dieser Informationen lässt sich vieles aus dem Leben der Familie Cohen nicht mehr rekonstruieren, weil ihr Besitz nach der Deportation zerstreut und vernichtet wurde. Allerdings lässt sich ihre Geschichte mit der Biografie einer weiteren Altonaerin verknüpfen, die ebenfalls nach Theresienstadt deportiert wurde: Käthe Starke-Goldschmidt. Sie überlebte das Lager und kehrte 1945 nach Hamburg zurück –mit einer Sammlung von Zeichnungen und Dokumenten, die von den Inhaftierten im Geheimen zusammengetragen worden waren. Das sogenannte „Theresienstadt-Konvolut“, das heute Teil der Sammlung des Altonaer Museums ist, erlaubt einen Einblick in die Lebenswirklichkeit im KZ Theresienstadt. Im Gegensatz zu vielen anderen erhaltenen Bildzeugnissen handelt es sich nicht um NS-Propaganda-Material. Auf den Zeichnungen von Künstlern wie Alfred Bergel, Karel Fleischmann, Felix Bloch
Briefe und Postkarten, darauf ein Porträt aus dem Jahr 1950: Die Dokumente aus dem Nachlass von Käthe Starke-Goldschmidt sind wichtige Zeitzeugnisse
oder Otto Ungar sind Arbeitseinsätze, geheime Gottesdienste auf Dachböden oder die Ankunft von Deportierten dargestellt. Ähnliches müssen auch die Cohens gesehen und erlebt haben.
Weitere Informationen liefert der Nachlass von Käthe Starke-Goldschmidt, der sich heute in der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte befindet. Die Fotografien, Briefe und Dokumente vermitteln einen Eindruck vom Leben einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Altona. Ähnlich wie die Cohens waren auch die Goldschmidts seit Jahrhunderten in der Stadt ansässig und spielten eine wichtige Rolle im Leben der Gemeinde. Es ist davon auszugehen, dass sich die Väter von Leon Daniel Cohen und Käthe Starke-Goldschmidt sogar kannten: Ihr 1936 verstorbener Vater Iska Goldschmidt war bis Mitte der 1930er-Jahre der zweite Vorsitzende der Altonaer Gemeinde. Sie selbst wiederum konnte wegen ihrer jüdischen Herkunft den gewählten Beruf am Theater nicht ausüben und arbeitete stattdessen seit 1938 für den jüdischen Religionsverband in Hamburg. 1938 bereitete sie die Emigration in die USA vor, scheiterte jedoch daran, dass die Warteliste für die Einreise zu lang war.
1945 wurde Käthe Starke-Goldschmidt in Theresienstadt befreit und konnte viele Relikte ihres Lebens mit nach Hamburg nehmen: Lebensmittelmarken, Geldscheine sowie ihre Briefe und Postkarten. In ihrem 1975 veröffentlichten Erinnerungsbuch
schildert sie eindrücklich, dass sie, wie alle Verschleppten dort, unter Hunger, Gewalt und Krankheiten litt und mit der ständigen Angst vor weiterer Deportation lebte. Doch im Unterschied zur Familie Cohen ging die Geschichte von Käthe Starke-Goldschmidt nach 1945 weiter. Sie kämpfte um die Rückgabe ihres von den Nationalsozialisten entzogenen Besitzes und machte ihre Erinnerungen öffentlich. Seit 2020 erinnert in Altona ein Park an sie: Ihr zu Ehren wurde der Bonnepark (nach dem Arzt und Nationalsozialisten Georg Bonne) in Goldschmidtpark umbenannt.
Obwohl es uns gelungen ist, im Zuge der Ausstellung einige der Lebensspuren von Leon Daniel Cohen und Käthe Starke-Goldschmidt wieder sichtbar zu machen, lassen sich dennoch viele Fragen zur Geschichte von Leon Daniel Cohen und seiner Familie heute nicht mehr beantworten. Ihre Erinnerungen fehlen. Dies macht deutlich, welche Lücken die Verfolgung, die Deportation und die Ermordung der Altonaerinnen und Altonaer jüdischer Abstammung hinterlassen haben.
Vanessa Hirsch leitet den Fachbereich Sammlung im Altonaer Museum und ist Kuratorin der Ausstellung „Altona – Theresienstadt“
Zukunftsvision: So könnte sie mal aussehen, die neue ständige Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte
DIE STADTREPUBLIK HAMBURG: EIN ORT DER DEMOKRATIE?
Ein Ausblick auf die zukünftige Präsentation der Stadtgeschichte des 18. Jahrhunderts im Museum für Hamburgische Geschichte
Text: Kerstin Petermann
Das Museum für Hamburgische Geschichte bereitet sich auf eine umfassende bauliche und inhaltliche Modernisierung vor. Eine der Kernaufgaben besteht in der Konzeption der neuen ständigen Ausstellung – mit der kuratorischen Herausforderung, die Hamburger Stadtgeschichte in all ihrer Vielfalt und aus möglichst vielen Perspektiven zu erzählen. Ein wichtiger Teil des geplanten stadtgeschichtlichen Rundgangs im ersten Obergeschoss des Gebäudes wird Hamburgs Entwicklung im 18. Jahrhundert sein.
Im „Zunftsaal“ – einem Raum, in dem die architektonischen Ideen Fritz Schumachers beim ursprünglichen Bau des Museums auf besondere Weise sichtbar sind – werden historische Ereignisse und bedeutende Veränderungen der Stadt zunächst anhand etlicher architektonischer Objekte anschaulich gemacht. Betritt man den Saal, fällt sofort das imposante, fast sieben Meter hohe Hauptportal des alten Hamburger Rathauses ins Auge. Es war aus den Ruinen nach dem Großen Brand von 1842 gerettet worden. Nicht minder
beeindruckend sind die drei Portale des einstigen Bauhofes am Deichtor, der von 1660 bis 1847 für den Bau und die Instandhaltung öffentlicher Gebäude zuständig war. Alle Portale sind als Spolien, als Baureste einstiger Gebäude, fest eingebaut und werden als Exponate in die historische Erzählung eingebunden.
HAMBURG ALS STADTREPUBLIK
Das Rathausportal wird hier stellvertretend für das Zentrum der politischen Macht stehen. Es verweist auf Hamburg als Stadtrepublik, auf die damalige politische Organisation und auf die Möglichkeiten politischer Teilhabe. Hamburg war Kaufmanns und Stadtrepublik, freie Reichsstadt und ein eigener „Staat“ im Heiligen Römischen Reich, deren Bürger sich selbst regierten und verwalteten, während sie nur dem Kaiser formell untertan waren. Obwohl sie ihre Stadt „Republik“ nannten, war Hamburg im 18. Jahrhundert aber kein demokratischer Staat im heutigen Sinne. Regierung, Gesetzgebung und Verwaltung lagen in den Händen weniger männlicher Bürger lutherischen Glaubens, aus deren Mitte die Bürgermeister und Ratsherren kamen und die die „Erbgesessene Bürgerschaft“ bildeten. Erbgesessen bedeutete, dass die betreffenden Bürger im Besitz eines Grundstücks beziehungsweise eines Erbes waren. Andersgläubige waren ebenso ausgeschlossen wie Frauen, Handwerker, Krämer oder Bürger ohne Grundbesitz. Wer also hatte die Macht in der Stadt, wer bestimmte die Geschicke ihrer Bewohnerinnen und Bewohner und wer konnte sich in welcher Form beteiligen? Diese Fragen nach Teilhabe und Ausschluss werden sich in der zukünftigen ständigen Ausstellung wie ein Leitmotiv durch alle Themenbereiche des 18. Jahrhunderts ziehen und sind bis heute aktuell geblieben. Sie bieten zugleich eine Perspektive auf die jüdische Geschichte Hamburgs. Im Zentrum des Saales wird die Rolle der Hamburger Kaufleute im globalen Handel stehen – mit Fokus auf ganz bestimmte Handwerke und Gewerbe wie den Schiffbau, die Zuckersiedereien und die Kattunmanufakturen. In welcher Form und über welche Verbindungen die Hamburger Kaufleute dabei in das Unrechtssystem des kolonialen Handels eingebunden waren und wie das Handwerk und das Gewerbe davon profitierten, soll hier veranschaulicht werden. Nach London und Amsterdam hatte Hamburg im 18. Jahrhundert den drittgrößten europäischen Hafen. Die
Anno 1601:
Dieses grafische Blatt zeigt das Mittelportal des alten Hamburger Rathauses
Niederelbe war ein zentraler Ausgangspunkt für den transatlantischen Handel mit versklavten Menschen und die Nachbarstadt Altona eng mit den dänischen Kolonien verbunden. Zwar steht die Forschung bei diesen Zusammenhängen erst am Anfang, doch können Fragen bereits helfen, bisher Unerforschtes und Unbekanntes kenntlich zu machen sowie offen aufzuzeigen, dass auch das Kuratieren von Ausstellungen immer zeitgebunden ist.
EINE EPOCHE DER TOLERANZ?
Bekanntermaßen war das 18. Jahrhundert die Epoche der Aufklärung, der Vernunft und des kritischen Denkens sowie der Verkündung von Toleranz und Menschenrechten. In Hamburg führten die Ideen der Zeit, etwa mit der Gründung der „Patriotischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe“ 1765, zu einer gemeinnützigpraktischen Reformbewegung. Zu den Initiativen der Gesellschaft zählten die Errichtung der ersten Ersparungskasse als Vorläufer der Sparkasse, die Einrichtung einer Rettungsanstalt für im Wasser Verunglückte und die Gründung der Allgemeinen Armenanstalt im Jahr 1788. Doch galten die Reformen wirklich
allen Menschen? Wer konnte überhaupt Mitglied der „Patriotischen Gesellschaft“ werden? Wie sah das Verhältnis der Aufklärer zu den Frauen oder den Hamburger Jüdinnen und Juden aus? Das sind einige der Fragen, die in diesem künftigen Ausstellungsteil diskutiert werden und all die Menschen sichtbar machen sollen, deren Lebensbereiche von den Reformen der „Patriotischen Gesellschaft“ betroffen waren: alte und junge Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten mit ihren individuellen Lebensgeschichten. In der Sammlung des Museums finden sich jedoch nur Porträts aus der bürgerlichen Oberschicht, die sich solcherlei Selbstdarstellungen leisten konnte – und das waren nicht mehr als fünf Prozent der Stadtbevölkerung. Der Großteil der Menschen damals ist bildlich somit nicht greifbar. Um dennoch ein anschauliches Panorama der Stadtgesellschaft zu vermitteln, werden neben den Porträtgemälden auf einer sieben mal acht Meter großen Wandfläche zum einen eine Reihe leerer Bilderrahmen gezeigt, die für all diejenigen stehen, von denen wir kaum etwas wissen. Zum anderen werden dort signifikante Objekte zu sehen sein, die aus dem Arbeits und Lebensalltag der weniger privilegierten Bevölkerung stammen.
EIN WALDHAMMER UND EIN PORTRÄT
In Museen wird Geschichte in erster Linie durch Objekte vermittelt – und für das 18. Jahrhundert bietet die Sammlung des Museums für Hamburgische Geschichte einen reichen Fundus, mit dem sich aufschlussreiche Verbindungen zur Gegenwart ziehen lassen. Welche Relevanz die Prozesse und Entwicklungen des 18. Jahrhunderts noch heute haben, lässt sich an vielen Exponaten demonstrieren, von denen zahlreiche noch nie oder lange nicht mehr ausgestellt wurden. Unter anderem wird ein Waldhammer zu sehen sein, mit dem Bäume markiert wurden, die abgeholzt werden sollten. Aus heutiger Sicht lassen sich an dem Werkzeug auch die Themen Holzverbrauch und nutzung, ein nachhaltiger Umgang mit natürlichen Ressourcen sowie Besonderheiten in der städtischen Verwaltung thematisieren.
Ein weiteres Schlüsselobjekt aus dem 18. Jahrhundert ist ein Gemälde, das den Kaufmann Johannes Schuback zeigt. Auf einer diplomatischen Reise 1766 ließ er sich in Kopenhagen in einem privaten Gästezimmer mit Bett und Schreibschrank darstellen. Er war nach Däne
mark gereist, um dem verstorbenen König Friedrich V. die letzte Ehre zu erweisen und die Verhandlungen zum Gottorper Vertrag vorzubereiten. Dieser Vertrag sollte Hamburg die dänische Anerkennung seiner Reichsfreiheit bringen. So referiert das Porträt auf ein zentrales Ereignis in der Geschichte Hamburgs. Auch die auf dem Gemälde zu sehende Kleidung Schubacks ist aufschlussreich. Von besonderem Interesse sind etwa seine grüne turbanartige Samtmütze, die ihn auch ohne Perücke vor Kälte schützte, und sein Morgenmantel, ein sogenannter Banyan. Modebewusste Männer der Zeit trugen vor allem beim Empfang privater Gäste solche Mäntel, die von asiatischer Mode inspiriert waren und, wie in Schubacks Fall, oft aus einem indischen Baumwollstoff gefertigt wurden. Indische Blumenmuster wiederum inspirierten die Blumenmuster europäischer Kattundruckereien. Einst waren die europäischen Baumwollstoffe sogar so beliebt, dass sie massenhaft hergestellt und verkauft wurden – gerade auch in Hamburg, wo es viele Manufakturen zum Bedrucken von Baumwollstoffen gab. Was die Besucher künftig in diesem Bereich der neu konzipierten ständigen Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte zu sehen bekommen, ist also nichts Geringeres als die „Fast Fashion“ des 18. Jahrhunderts.
Das Porträt von Johannes Schuback: ein Schlüsselobjekt des 18. Jahrhunderts aus der hauseigenen Sammlung
Kerstin Petermann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum für Hamburgische Geschichte und verantwortlich für die Neukonzeption des Ausstellungsbereiches zum 18. Jahrhundert
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Provisorien, die immer noch Stadtgeschichte schreiben – doch selbst wohl bald Geschichte sind: Hamburgs Flachbauten aus der Nachkriegszeit, hier in der Langen Reihe
SEID IHR NICHT DIE
FLACHBAUTYPEN?
Die Fotografen Peter Bruns und Claas Möller haben mit ihrem Projekt „Hamburger Flachbauten“ den diesjährigen Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadtfotografie erhalten, der von der Stiftung Historische Museen Hamburg gemeinsam mit der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen für die Dokumentation besonderer Aspekte in der Entwicklung des Stadtbildes vergeben wird. Ein Gespräch über den besonderen Reiz des Provisorischen und die Arbeit als Fotografen-Duo
Interview: Matthias Seeberg Fotos: Peter Bruns und Claas Möller
Lieber Herr Bruns, lieber Herr Möller, Sie haben sich mit Ihrem Projekt als FotografenDuo beworben. Wie können wir uns Ihre Zusammenarbeit vorstellen?
Bei der Recherche und Vorarbeit für die Bewerbung auf den Fotopreis sind wir noch einzeln losgezogen und haben uns auf die Suche nach geeigneten Motiven gemacht. Als wir dann den Zuschlag bekommen haben, war uns sofort klar, dass wir das Projekt gemeinsam angehen. Wir sind also über mehrere Monate immer wieder zusammen mit unseren Fahrrädern und einer kleinen Leiter losgezogen und haben Standorte, Bildaufbau und Kameraeinstellungen diskutiert. Wer letztlich den Auslöser betätigt hat, war dann nebensächlich.
Sie haben sich in Ihrem Projekt mit einem auf den ersten Blick sehr kuriosen Phänomen in der Hamburger Stadtlandschaft beschäftigt. Unter dem Stichwort „Lückenbebauung“ wurden in der Nachkriegszeit verstärkt Flachbauten als Provisorien eingesetzt. Was hat Sie auf dieses Thema gebracht und was fasziniert Sie so an diesen Gebäuden?
Als Bewohner Hamburgs sind uns diese Gebäude immer mal wieder begegnet. Der Kiosk oder die Kneipe um die Ecke, der Blumenladen an der großen Kreuzung oder der Musikclub. Gerade in den letzten Jahren hat der Wandel des Stadtbildes jedoch Fahrt aufgenommen. Wenn ein Flachbau verschwindet und eine Lücke geschlossen wird, vergisst man schnell, was dort mal gestanden hat. Faszinierend finden wir, dass diese Gebäude das Stadtbild so stark prägen, obwohl sie architektonisch und bauhistorisch überhaupt keinen Anspruch auf Aufmerksamkeit erheben.
Wie viele von solchen Flachbauten gibt es denn noch in Hamburg und wie haben Sie die alle recherchiert?
Wir haben sie nicht alle gezählt und die zusammenhängenden Flachbauten an den Ausfallstraßen nicht berücksichtigt. Fotografiert haben wir etwa 200 Gebäude. Natürlich finden sich in einer im Krieg so stark zerstörten Stadt wie Hamburg etliche dieser improvisierten Bauten. Häufig sind wir mit dem Fahrrad durch die Stadtteile gefahren und zufällig auf geeignete Objekte gestoßen. Manche Bauten sind uns aber auch von Leuten empfohlen worden oder wir sind bei unserer Online-Recherche darauf aufmerksam geworden.
Das Fotografen-Duo im Porträt: Claas Möller und Peter Bruns
Den einen gelten die Flachbauten als „Zahnlücken des Städtebaus“, den anderen als „Solitäre der Großstadt“. Worin besteht in Ihren Augen der besondere ästhetische Charakter dieser einst als Provisorien geplanten Gebäude?
Ihr ästhetisches „Gewicht“ bekommen die Flachbauten für uns im Zusammenspiel mit der Nachbarbebauung. Die Brüche in der Stadtsilhouette machen für uns den besonderen Reiz aus. Die flachen Gebäude geben den Blick in die zweite Reihe frei und an den angrenzenden Brandmauern finden sich oft Graffitis oder interessante Strukturen. Ein weiterer spannender Aspekt ist für uns das Aufeinandertreffen verschiedener Zeitschichten und architektonischer Stile.
Die meisten der Flachbauten beherbergen heute Kneipen, Café-Bars oder Musikclubs wie das „Logo“. Hat Sie das Innenleben der Gebäude für Ihr Projekt gar nicht interessiert? Aktuell haben wir uns zunächst mit den Flachbauten als Teil des Stadtbildes beschäftigt, aber wir haben große Lust, noch tiefer in das Projekt einzusteigen. Dann werden wir uns mit Sicherheit auch dem Innenleben, den Details und den Menschen darin widmen. Spannend ist für uns auch, was aus den Läden und Kneipen wird, wenn die Flachbauten verschwinden.
Gab es bei Ihrer architektonischen Entdeckungsreise durch die unterschiedlichen Bezirke besondere Begegnungen?
Der Hausmeister eines Hotels auf der Reeperbahn hat uns mit „Seid ihr nicht die Flachbautypen?“ angesprochen. Er hatte einen Beitrag über unser Projekt im Fernsehen gesehen und teilte mit uns die Begeisterung für die Flachbauten in seinem Kiez. Großartig waren auch die Begegnungen mit den Menschen rund um die Flachbauten. Beispielsweise das Ehepaar Bischof, das seit einigen Jahrzehnten ihr Ofenbauer-Geschäft in einem Flachbau in Altona betreibt und sich über all die Jahre immer wieder gegen Abriss- und Neubaupläne durchgesetzt hat oder die unzähligen Geschichten über erste Schulranzen und Koffer, die bei Leder Israel in Eimsbüttel gekauft wurden.
Welche Verbindungen sehen Sie bei Ihrem Projekt zu den Fotoarbeiten von Georg Koppmann, nach dem der Preis für Hamburger Stadtfotografie benannt ist?
Hamburgs Flachbauten – hier zwischen Gänsemarkt und Jungfernstieg – mögen im Stadtbild überraschend oder eigenwillig wirken, doch besitzen einen ganz eigenen ästhetischen Charme
Georg Koppmann hat die Veränderung der Stadt dokumentiert. Das machen wir mit unserem Projekt ebenfalls. Man sieht den Bildern von Koppmann an, dass er sich bei der Motivauswahl und beim Bildaufbau viel Zeit genommen hat. Es ging ihm darum, die Gebäude und Stadtansichten möglichst präzise wiederzugeben. Hier gibt es ebenfalls Parallelen zu unserem Projekt. Wir haben unterschiedliche Standorte und Bildausschnitte ausprobiert und sind häufig mehrfach an einzelnen Orten gewesen.
Gibt es schon ein neues gemeinsames Projekt?
Ideen gibt es einige und gerade die Geschichten und Themen vor der eigenen Haustür finden wir interessant. Wir würden uns gerne mit einzelnen
Stadtteilen intensiver beschäftigen und deren Besonderheiten anhand von Menschen und Architektur fotografisch bearbeiten. Und natürlich würden wir gerne unser Flachbauten-Projekt weiter vertiefen und in Ausstellungen und weiteren Publikationen präsentieren.
Zum Projekt von Peter Bruns und Claas Möller ist eine 60-seitige Broschüre mit einleitenden Texten und über 30 Bildern erschienen, die zum Preis von 7,50 Euro in den Museumsläden der Stiftung Historische Museen Hamburg erhältlich ist
ZUR KONJUNKTUR DES VERGANGENEN
Aktuelle Perspektiven und Herausforderungen der Geschichtsvermittlung in der Öffentlichkeit
Text: Hans-Jörg Czech
Für viele Zeitgenossen mag Geschichte nicht unbedingt das wichtigste Thema im Leben sein – und doch gibt es nach meiner Wahrnehmung eine Fülle von Hinweisen darauf, dass die Befassung und die Argumentation mit der Vergangenheit in den letzten Jahren auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen an Bedeutung gewonnen hat, vor allem in öffentlichen Zusammenhängen und Diskursen. In Vortragsveranstaltungen verschiedenster Art finden sich immer häufiger Geschichtsbezüge, Magazine und Sendungen zu historischen Themen in den Medien sind zahlreicher denn je – um nur einige der Indikatoren herauszugreifen. Dazu passt es, dass die Einrichtungen der Stiftung Historische Museen Hamburg seit längerem stetig wachsende Besuchszahlen verzeichnen.
Auch im übrigen Bundesgebiet sieht es bei verwandten Einrichtungen oftmals ähnlich aus. Für diese Konjunktur von Geschichte gibt es verschiedene Gründe. Zunächst ist die Befassung mit Geschichte heute nicht mehr vorrangig beschränkt auf den Bildungssektor und bestimmte wissenschaftliche Eliten mit Zugang zu Fachliteratur. Das Internet und die sozialen Medien haben für alle den schnellen und einfachen Zugang zu historischen Informationen, Sachund Bildzeugnissen eröffnet. Alles ist nur wenige Klicks entfernt und jederzeit verfügbar. Diese starke Anbindung an das tägliche Leben hat die Aufmerksamkeit für Geschichte sicher verändert und sogar in manchen privaten Bereichen wird das unmittelbar erlebbar: Etwa, wenn sich Fußballfans mit der Firmengeschichte des neuen Sponsors ihres Lieblingsvereins beschäftigen, viele Menschen zu ihrem Familienstammbaum forschen oder seit der COVID-19Pandemie ein neues Interesse an der Medizin -
geschichte zeigen, um zu verstehen, wie vorherige Epidemien oder Pandemien bekämpft wurden und wie Medikamente entwickelt werden.
GESCHICHTE IST UND BLEIBT RELEVANT
Auch in der Politik spielen heute Geschichte und Geschichtsvermittlung in öffentlichen Kontexten und Diskursen eine immer größere Rolle. Oft wird hier sogar ganz selbstverständlich auf historische Zusammenhänge Bezug genommen, beispielsweise, wenn es um Demokratiegeschichte oder internationale Beziehungen geht. Zuweilen scheint Geschichte zudem eine Hauptrolle in Ereignissen von weltpolitischer Dimension zu spielen: Aktuell etwa im Hinblick darauf, wie stark jede Befassung mit den erschütternden Ereignissen im Nahen Osten von historischen Faktoren und Hintergründen geprägt wird. Ein anders gelagertes Beispiel für die Relevanz von Geschichte liefert die offizielle russische Legitimierung des militärischen Angriffs auf die Ukraine. Propagandistisch eingesetzte Geschichtsnarrative wie etwa das von Wladimir Putin selbst verwendete Bild einer historischen Einheit von Russland und der Ukraine, das quasi jede Eigenständigkeit der Ukraine in der Vergangenheit negiert, begleiten den Konflikt vom ersten Tag an. Und auch das wiederkehrende russische Argument einer vermeintlich notwendigen Entnazifizierung der Ukraine ist ohne eine detailliertere Kenntnis historischer Zusammenhänge bis zurück in den Zweiten Weltkrieg nicht vollständig dekodierbar.
Dabei zeigt sich zugleich, dass es bei der Berücksichtigung von Geschichte in öffentlichen Kontexten nicht immer um eine historisch-wissenschaftlich kritische und in diesem Sinne möglichst allseits akzeptierte Annäherung an vergangene Abläufe und
Zusammenhänge geht. Zunehmend gewinnen auch selektive, zuweilen sogar manipulative Geschichtsinterpretationen als Rechtfertigung für spezifische Handlungsweisen oder populistische Weltanschauungen an Boden, beileibe nicht nur in Deutschland. In den immer aggressiver geführten Kämpfen um Deutungshoheit und Meinungsvorherrschaft unserer Gegenwart wird Geschichte nicht selten zum argumentativen Kampfmittel. Das ist gleichwohl kein völlig neues Phänomen, denn die Argumentation mit zuweilen höchst speziellen Geschichtsdeutungen hat – nicht nur in politischen Zusammenhängen – eine jahrhundertealte Tradition.
Doch es gibt eine zusätzliche aktuelle Komponente: Die Gefahr der eingangs erwähnten schnellen und individuellen Verfügbarkeit von historischen Informationen oder dem, was für historische Information gehalten wird, liegt im häufigen Fehlen einer objektiven Vermittlungsinstanz im World Wide Web, die eine irreguläre Auswahl, Fehlinterpretation, Fehlverknüpfung und Fehlbewertung von Fakten sowie ein daraus resultierendes falsches Geschichtsverständnis und -bewusstsein zu vermeiden hilft. Manipulation oder Verirrung im Geschichtsdschungel sind hier leicht geschehen, ganz gleich, ob sie nun absichtsvoll durch Informationsseiten intendiert oder etwa durch den zu schnellen selektiven Blick des Informationssuchenden entstanden sind.
Doch bei allen Vorbehalten gegen manche Formen der Geschichtsvermittlung in den neuen Medien, ist die breite und schnelle Verfügbarkeit von Daten und Fakten im Internet zugleich auch unbestreitbar in vielerlei Hinsicht eine gewaltige Chance, nicht zuletzt zur Überprüfung, Aufdeckung und Korrektur von falschen Geschichtsbildern als ungemein wichtiger Teil der heutigen demokratischen Meinungsbildung. So oder so: Die demokratische, ideologiefreie, um größtmögliche Annäherung an Authentizität bemühte Interpretation und Vermittlung gerade von geschichtlichen Zeugnissen, Fakten und Zusammenhängen ist und bleibt eine komplexe Sache. Sie hat in Teilen langwierige gesellschaftliche Aushandlungsprozesse als zwingende Voraussetzung. Daher bleibt neben der individuellen Aneignung von historischem Wissen auch in Zukunft eine öffentliche Befassung mit den Fragestellungen und Inhalten der Geschichte von höchster Relevanz.
DEN MUSEEN VERTRAUEN
Zu den ältesten Institutionen, die diese Aufgabe verfolgen, gehören bekanntlich die Museen, denen – so die vielleicht überraschende, doch hoffnungsvolle
Perspektive – es als Akteure unter anderem auch der öffentlichen Geschichtsvermittlung in jüngster Zeit offenbar gelingt, in ganz besonderem Maße das Vertrauen weiter Teile der Gesellschaft zu erlangen. Das zeigt eine im Frühsommer 2024 veröffentlichte, bevölkerungsrepräsentative Studie des Instituts für Museumskunde in Berlin unter dem Titel „Das verborgene Kapital: Vertrauen in Museen in Deutschland. Wie die Menschen in Deutschland auf eine Kultureinrichtung im Wandel blicken“.
Die Ergebnisse münden in folgendem Fazit: „Museen genießen im persönlichen und institutionellen Umfeld das höchste Vertrauen nach Familie und Freunden und vor Wissenschaftler*innen und Medien. Sie erzielen die höchsten Vertrauenswerte unter allen öffentlichen Einrichtungen und heben sich damit deutlich ab von politischen Organisationen, zu denen ebenfalls Vertrauenswerte erhoben wurden.“ Was aber verschafft den Museen dieses große Zutrauen der Öffentlichkeit in ihre Arbeit? Hier lassen sich für den Bereich der historischen Museen drei aktuell besonders wichtige Aspekte herausheben, die für die Kompetenzwirkung der Museen in ihrer Funktion als Geschichtsvermittler maßgeblich sind – und doch weit über das Museale hinausweisen.
GESCHICHTE ALS REKONSTRUKTION UND REPRÄSENTATION
Der erste Aspekt kennzeichnet die Geschichte als Rekonstruktion und Repräsentation: Jede Form der Darstellung von geschichtlichen Ereignissen und Zusammenhängen kann stets nur eine Annäherung an die tatsächlichen Gegebenheiten sein. Je weiter zeitlich entfernt und je stärker in der Perspektive über einzelne Individuen hinausgehend, desto größer werden zwangsläufig die Unschärfen und Lücken in der Rekonstruktion. Wie hilfreich wäre es etwa, Fotos vom Hafen der aufblühenden Stadt Hamburg im Spätmittelalter oder der Aufbringung der Piraten um ihren legendären Kapitän Störtebeker zu haben? Doch stützen kann man sich hier nur auf mehr oder minder zufällig überlieferte Dokumente und Sachzeugnisse, aus denen Historiker und Historikerinnen ein Bild zusammensetzen – das sich jedes Mal neu formiert und hinterfragt werden muss, sobald weitere Quellen auftauchen. Gerade bei diesem Punkt ist es, auch in Bezug auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institution, unabdingbar, selbstkritisch und transparent zu agieren. In der Vergangenheit haben historische Museen die Lücken in ihrem Wissensstand und die Abhängigkeit ihrer Geschichtsdarstellungen von Zufälligkeiten der
DER WOHL GRUNDLEGENDSTE UND FÜR DAS
ÖFFENTLICHE VERSTÄNDNIS VON GESCHICHT
LICHEN ABLÄUFEN RELEVANTESTE FAKTOR [...]
IST DIE KORREKTE KONTEXTUALISIERUNG
ÜBERLIEFERTER DATEN, FAKTEN UND OBJEKTE
Überlieferung nicht immer offen genug kommuniziert. Gleiches gilt auch für die Absichten und weltanschaulichen Grundlagen der von ihnen transportierten Geschichtsbilder – die einen gesellschaftspolitischen Einfluss entfalten können. Geht man bei der Darstellung von historischen Zusammenhängen den Schritt in die Öffentlichkeit, bringt das Verantwortlichkeiten mit sich: nämlich stets im Sinne der Aufrichtigkeit, Klarheit und Wahrheit die Offenlegung der Grundlagen, Grenzen und Anliegen des jeweils gezeichneten Bildes der Geschichte zu verfolgen.
Eine konsequente Aufrichtigkeit und Offenheit in der Darstellung der Grenzen, Lücken und Mängel historischen Ausgangs- und Analysematerials ist jedoch im gesamten demokratischen öffentlichen Diskurs zu Aspekten der Geschichte unumgänglich. Und es braucht eine stete Offenlegung der angestrebten Ziele hinter der Rekonstruktion von Abläufen und Zusammenhängen in der Vergangenheit, um ebenso Vertrauen in die Arbeit der Museen zu stiften wie der Vielfalt der im Internetzeitalter kursierenden Geschichtsklitterungen wirksam zu begegnen – ganz egal, ob diese absichtsvoll oder durch Inkompetenz in die Welt gekommen sind.
DIE BEDEUTUNG DER MULTIPERSPEKTIVITÄT
Trotz wachsender Angriffe auf die demokratische Gesellschaftsordnung und Exklusionsfantasien von bestimmten sozialen und politischen Gruppen ist unser Land glücklicherweise noch immer weitestgehend geprägt von einer Offenheit, die Diversität grundlegend als gesellschaftliche Qualität und Entwicklungsmotor wahrnimmt. Und gerade Diversität ist kein Phänomen der letzten Jahrzehnte, sondern bei genauer Betrachtung ein Kontinuum durch die Jahrhunderte.
Post Colonial Studies, die Genderforschung und viele darüber hinaus gehende Impulse aus anderen Forschungsfeldern erweitern in letzter Zeit die öffent-
liche Wahrnehmung hinsichtlich der Rolle von Diversität in der Geschichte mit großer Dynamik, sodass beispielsweise das über Jahrhunderte vorherrschende eurozentrische Weltbild des Westens korrigiert beziehungsweise thematisiert wird und die Erfahrungen marginalisierter Personengruppen in der Geschichte wie in der Gegenwart in den Fokus gerückt werden. Aber spiegelt sich das auch in den Darstellungen von Geschichte in der Öffentlichkeit? Zivilgesellschaftliche Aktivisten weisen zu Recht immer wieder darauf hin, dass die gängigen Formen der Geschichtsdarstellung in ihren Perspektiven oftmals noch entschieden zu eindimensional sind. Zu denken wäre dabei natürlich vor allem an große internationale Debatten, etwa um die bis heute reichenden Auswirkungen des Kolonialismus und die Forderungen nach Anerkennung der historischen Erfahrungen und Sichtweisen der Kolonisierten sowie ihrer Nachfahren.
Der Weg zu einer fruchtbringenden Multiperspektivität kann zwar mühsam sein, doch ist er in der Geschichtsvermittlung im Sinne der Aufrichtigkeit nicht nur angemessen, sondern in aller Regel auch erkenntnisreich. Aktuell beschäftigt sich etwa das Museum für Hamburgische Geschichte mit der Frage, wie eine zeitgemäße Darstellung der Beiträge der Hamburger Reedereien, Kaufleute und verarbeitenden Industrien im 19. Jahrhundert zur boomenden Entwicklung der Stadt in einer künftigen ständigen Ausstellung aussehen kann. In den Sammlungen des Museums und in den Archiven vieler Firmen findet sich reichlich Quellenmaterial. Würde man sich aber allein darauf stützen, erschiene die Hamburger Wirtschaftsgeschichte dieser Zeit als eine gigantische Erfolgstory ungemein findiger und risikofreudiger Unternehmerpersönlichkeiten: Denn bewahrt und gegebenenfalls ins Museum gegeben wurde vorrangig das, was als Dokumentation positiver Entwicklungen für die Nachwelt gedacht war und zudem den Führungspersönlichkeiten an der Spitze der Unternehmen huldigte.
Einem solchen Verständnis von Geschichtsvermittlung stehen heute berechtigte, unter anderem von der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte inspirierte, Forderungen nach einer gleichwertigen und gleichberechtigten Darstellung auch der Beiträge und Perspektiven bisher unterrepräsentierter Gesellschaftsschichten gegenüber: So geht es etwa verstärkt um Arbeiter, Seeleute, Einwanderer und immer auch um die Rolle von Frauen in oder außerhalb der Arbeitswelten. Überlieferte Objekte, Dokumente und Selbstzeugnisse hierzu sind erheblich rarer, müssen meist erst mühsam gesucht, aufgefunden und nachgesammelt werden.
Und natürlich geht es in jüngerer Zeit auch eben um die Berücksichtigung der Perspektiven derjenigen Menschen, die unter anderem in kolonialen Kontexten meist unfreiwillig in die billige Gewinnung der Rohstoffe eingebunden waren – jener Güter also, deren Transport, Veredelung und Vertrieb die zentrale Grundlage für den seinerzeitigen Aufschwung der Hamburger Wirtschaft bildeten.Bei multiperspektivischer Betrachtung im vorgenannten Sinne geht es aber nicht automatisch nur um implizite moralische Wertungen. Vielmehr geht es um das Bestreben, der Öffentlichkeit durch das Nebeneinanderstellen möglichst diverser Sichtweisen auf historische Ereignisse und Prozesse eine adäquate Grundlage zur Verständigung auf kollektiv getragene moralische Beurteilungen zu bieten. Nur die Gesamtschau der verschiedenen Wahrnehmungen macht integre, fundierte Urteile wirklich möglich.
KONTEXTUALISIERUNG ALS NOTWENDIGKEIT IM 21. JAHRHUNDERT
Der wohl grundlegendste und für das öffentliche Verständnis von geschichtlichen Abläufen relevanteste Faktor, auch um das Vertrauen gegenüber Museen weiter zu stärken, ist die korrekte Kontextualisierung überlieferter Daten, Fakten und Objekte. Erst die sensible, wissenschaftlich gestützte Verknüpfung der Einzelinformation zu einem größeren Ganzen und die Einordnung in übergreifende Zusammenhänge lässt öffentlich verständliche, verantwortungsvoll skizzierte Bilder von Geschichte entstehen. Die Offenlegung der Grundlagen des Zustandekommens dieser Bilder und die Einbeziehung multipler zeitgenössischer Perspektiven sind bereits wichtige Elemente dieser Kontextualisierungsstrategie – doch zielt sie, vor allem in Museen, noch auf mehr. Bis in die jüngere Vergangenheit war es noch gang und gäbe, dass regionale Geschichts- und Stadtmuseen, wie auch das Museum für Hamburgische Geschichte
und das Altonaer Museum, ihre Darstellungen sehr stark auf die lokale Ereignisgeschichte fokussierten. Inzwischen sollte aber jedes Geschichtsmuseum, das im 21. Jahrhundert angekommen sein möchte, den Fokus seiner Darstellungen mindestens auf die Zusammenhänge mit überregionalen Prozessen erweitern – wenn nicht sogar gleich auf die Verankerung in europäischen Kontexten. Zudem liefert die Globalgeschichte stetig neue, spannende Impulse, den Fokus noch breiter zu fassen. In einer von der Globalisierung gekennzeichneten Zeitgeschichte sind historische Einordnungen ohne Berücksichtigung der großen Linien der Landes- und Weltgeschichte ohnehin kaum mehr möglich. Kompetente, wissenschaftlich basierte Kontextualisierung kann unglaublich viele Erscheinungsformen haben und macht in der Geschichtsvermittlung den entscheidenden Unterschied zwischen bloßer Aneinanderreihung historischer Informationen und einer echten, gesellschaftlich wertvollen und weiterführenden Rekonstruktion von Geschichte.
Die historischen Museen spielen im Zusammenwirken mit anderen geschichtsvermittelnden Institutionen in aktuellen Prozessen der Auseinandersetzung mit Geschichte eine zentrale Rolle, da sie als anerkannt vertrauenswürdige Institutionen eine wissenschaftlich fundierte und transparente Geschichtsvermittlung in der Öffentlichkeit leisten, die die individuelle Auseinandersetzung mit historischen Zusammenhängen für ihren jeweils spezifisch definierten und kommunizierten Auftrags- und Betrachtungsraum ergänzt. Wo erforderlich, bieten die historischen Museen zudem den Rahmen für die gesellschaftliche Verständigung bezüglich Interpretationen von bestimmten Akteuren und Prozessen in der Vergangenheit, die im Idealfall Eingang in das kollektive Verständnis und Gedächtnis finden. Dabei ist es wichtig, Geschichte als Rekonstruktion zu verstehen und offen mit Wissenslücken umzugehen. Die Einbeziehung multipler Perspektiven und die Kontextualisierung historischer Fakten sind aktuell von höchster Bedeutung, um ein zeitgemäßes Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart zu ermöglichen.
HansJörg Czech ist Vorstand und Direktor der Stiftung Historische Museen Hamburg.
Dieser Beitrag ist die bearbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor auf der Gründungskonferenz des AK History Communication, einem neuen Arbeitskreis der Deutschen Public Relations Gesellschaft e. V., gehalten hat
WAS MACHT EIGENTLICH …
Jan Stute, Restaurator im Metallbauerhandwerk im Deutschen Hafenmuseum (im Aufbau) Standort Schuppen 50A
Text: Laura Lück
Foto: Jérome Gerull
„Am liebsten hätten wir hier alles unter Dach“, sagt Jan Stute mit Blick auf das Außengelände des Deutschen Hafenmuseums rund um den historischen Schuppen 50A in der Australiastraße. In seiner Obhut befinden sich historische Portalhubwagen für den Containerumschlag, Hafenkrane oder schwimmende Arbeitsgeräte, wie etwa ein Schutensauger zum Abpumpen von Baggergut. Der gelernte Restaurator kümmert sich im Fachbereich Sammlung des Deutschen Hafenmuseums vor allem um die Wiederherstellung und Konservierung dieser geschichtsträchtigen Hafenarbeitsgeräte.
Aktuell widmet sich Jan Stute unter anderem der Restaurierung eines Vollportalkrans von 1961 mit drei Tonnen Tragkraft. Bei Großprojekten wie diesen ist er auf externe Unterstützung und fachlichen Austausch angewiesen: „Wenn ich mich auf der Baustelle mit einem Restauratoren-Team berate, hat keiner sofort den Masterplan bis ins kleinste Detail. Es ist jedes Mal ein Prozess, der voraussetzt, mit dem Objekt in Beziehung zu treten und sich die Frage zu stellen: Was verlangt das Objekt von mir?“ Seine Arbeiten verfolgen so auch unterschiedliche Ziele. Mal liegt der Fokus auf der Erhaltung des Überlieferungszustandes eines Objekts, mal auf der Wiederherstellung der Funktionstüchtigkeit. Entscheidend ist, welche Geschichte damit einmal erzählt werden soll. Nach Abschluss der Kran-Restaurierung wird man ab Frühjahr 2025 auch erfahren, wie Krane vor der Abschaffung der Gleichstromversorgung im Hafen operierten. Der Plan: Eines der Abdeckbleche des Schachtes der Stromschiene zwischen den alten Kranschienen am Kai öffnen und darin den Stromabnehmerwagen des Krans präsentieren. „Diese Geschichte ist entlang der Kaistrecke bisher nirgends abzulesen“, erklärt Jan Stute. „Die Deckel sind zu und
was darunter liegt, gerät in Vergessenheit. Dabei ist es durchaus von historischer Bedeutung.“
Eines der Erhaltungsziele des zweiten Vollportalkrans am Kai, 1966 gebaut bei der Fabrik Kampnagel und mit einer Tragfähigkeit von zwölfeinhalb Tonnen, ist wiederum, die Interaktion zwischen Menschen und Maschine lebendig zu halten. Jan Stute will den Kran dafür wieder für den Museumsbetrieb eingeschränkt funktionsfähig machen und – nach dem Vorbild des renom-
mierten Maritiem Museum in Rotterdam – durch die Bewegung des Gerätes immaterielles Kulturgut vermitteln. Denn die Handzeichen und Blickkontakte zum Beispiel, die zwischen Kranführern, Hafenarbeitern und Decksleuten bei Ladevorgängen genutzt wurden, sind Kommunikationsformen, die durch die Automatisierung des Güterumschlages zunehmend verloren gehen: „Meine Aufgabe ist somit nicht nur die Erhaltung des Materials, sondern auch der Umgang damit.“
Die Hafengeschichte zu bewahren, wiederzubeleben und dadurch allen zugänglich zu machen, motiviert auch viele ehrenamtliche Helfer, ohne deren Unterstützung der Vorführbetrieb des Hafenmuseums gar nicht gewährleistet werden könnte. Die freiwilligen Mitarbeiter haben zum Teil Erfahrung in der Hafenarbeit oder dem Umgang mit Maschinen, aber es sind auch Quereinsteiger dabei. Die Organisation ihrer Fortbildung fällt ebenfalls in den Fachbereich Sammlung. „Wer Büroarbeit gewohnt ist, muss beim Umgang mit einer 60-Tonnen-Maschine erst einmal lernen, wo er stehen kann, ohne überfahren zu werden, und verstehen, wie so ein Ort funktioniert.“
Dass so viele Menschen bereit sind, freiwillig mit anzupacken, motiviert Jan Stute jeden Tag. So trage er gern Sorge dafür, dass Werkzeuge und Materialien, die seine ehrenamtlichen Kollegen benötigen, auch verfügbar sind. Das bringe viele Gabelstaplerfahrten im Kaischuppen mit sich, in dem auch das Schaudepot des Museums mit mehr als 10.000 Objekten zu den Themen Hafenarbeit, Güterumschlag, Schiffbau und Revierschifffahrt untergebracht ist: „Lagerplatz ist extrem rar und die Fläche vergleichbar mit einem riesigen Puzzle aus Werkzeugen, Verbrauchsmaterialien und Sammlungsobjekten. Braucht man ein Teil, muss man dafür meist ein anderes bewegen.“
Seinen Arbeitsplatz beschreibt Jan Stute als einen Ort des Unvorhersehbaren. Jeder Tag ist eine Überraschungstüte, deren abwechslungsreiche Aufgaben und Herausforderungen er schätzt. Ein gutes Prioritäten-Management im Fachbereich mit dem Leiter Carsten Jordan und dem Kollegen der technischen Abteilung, Lennart Hollweg, sowie die klare Fokussierung auf einzelne Projekte sei unumgänglich, um von der Fülle an notwendigen Arbeiten nicht erschlagen zu werden. Am glücklichsten ist der gelernte Schiffbauer, wenn er selbst Arbeiten am Objekt ausführen kann – wenn etwas Greifbares passiert und Restaurierungsprozesse sichtbar vorangehen. „So gern ich über die Objekte
WENN ICH MICH AUF
EINEM RESTAURATOREN-
TEAM BERATE, HAT KEINER
SOFORT DEN MASTER-
PLAN. ES IST JEDES MAL
EIN PROZESS
“
spreche, mit den Werkstätten im Museum der Arbeit kooperiere, im Austausch mit Universitäten und Materialwissenschaftlern stehe oder größere Arbeiten organisiere, so schwierig ist es manchmal, mit Scheuklappen über das Gelände zu gehen, und nicht selbst sofort an einem beliebigen Objekt handwerklich tätig zu werden.“
Seit Jan Stute als Schiffbau-Student jenem Aushang an der TU Hamburg folgte, auf dem studentische Aushilfsstellen im Museum der Arbeit, konkret in der damals noch zugehörigen Außenstelle des Hafenmuseums, ausgeschrieben waren, sind 17 Jahre vergangen. Das Museum entfachte einst sein Interesse für die kulturwissenschaftliche Komponente des Schiffbaus, bevor er sich wieder praktisch fokussierte und später berufsbegleitend den Abschluss zum geprüften Restaurator im Metallbauerhandwerk machte. Den Kontakt zum Museum verlor er nie. Bevor er 2015 seine Festanstellung antrat, kam er immer wieder für projektbezogene Aufträge dorthin und gab Führungen als freiberuflicher Mitarbeiter des Museumsdienstes. Die Vermittlungskomponente hält er in seiner Position für eine wichtige Referenz: „Aufgabe eines Restaurators ist es auch, Geschichte erfahrbar zu machen, sie zu erzählen – denn darum geht es letztlich: sie ans Publikum weiterzutragen. Besucher können im laufenden Hafenbetrieb nicht einfach einen Containerterminal betreten oder zwischen Geräten herumlaufen. Es handelt sich um Sicherheitsbereiche mit großen Zäunen und verschlossenen Türen. Aber dahinter arbeiten Menschen – und deren Geschichten können wir hier erzählen.“
Laura Lück ist freie Journalistin und Autorin. Ihr Herz schlägt für Kunst, Kultur und Kulinarik. Sie schreibt u. a. für den „Genuss-Guide“ der „SZENE HAMBURG“
FÜNF FRAGEN AN ...
ISABELLE CHRISTIANI
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Provenienzforschung am Museum für Hamburgische Geschichte
Seit wann arbeiten Sie in der SHMH und was haben Sie vorher gemacht?
Ich arbeite seit Juli dieses Jahres im Museum für Hamburgische Geschichte. Vorher habe ich im LWL-Museumsamt in Münster und in der Koordinationsstelle für Provenienzforschung in Bonn mein Volontariat gemacht. Zwischen den beiden Stationen habe ich im Rahmen verschiedener Projekte die Provenienz von Objekten untersuchen können, unter anderem im Louvre in Paris und in der Landesbibliothek in Detmold.
Welche Herausforderungen sind aktuell die größten in Ihrem Arbeitsbereich?
Ich denke, die größte Herausforderung besteht immer noch in der projektbasierten und somit befristeten Finanzierung unserer Arbeit. Zum einen ist es sehr zeitaufwendig, sich wirklich tief in die Sammlungsgeschichte eines Museums einzuarbeiten. Da habe ich zum Glück meine geschätzte
Kollegin Wiebke Müller an der Seite, die sich in vorherigen Projektphasen sehr gut eingearbeitet hat und mit der ich mich austauschen kann. Zum anderen ist Provenienzforschung eine dauerhafte Aufgabe. Es geht ja nicht nur um den Bestand, der zwischen 1933 und 1945 ins Museum gelangt ist, sondern auch um die Herkunft von Objekten, die vor 1945 entstanden, aber erst nach 1945 in die Sammlung gekommen sind – oder immer noch kommen.
Worauf freuen Sie sich in den kommenden Wochen am meisten in unseren Museen? Ich freue mich vor allem darauf, mir in Ruhe möglichst viele Ausstellungen anzusehen. Die Vorweihnachtszeit ist etwas Besonderes. Da ist es in einem Museum immer schön gemütlich, während es draußen nass und kalt ist.
Was finden Sie an Hamburg am besten?
Als Rostockerin habe ich während meiner Zeit in Nordrhein-Westfalen am meisten den Geruch des Meeres, die Hafengeräusche und den Wind im Sommer vermisst. Das habe ich jetzt alles wieder hier in Hamburg. Außerdem freue ich mich über die vielen verschiedenen Restaurants mit Gerichten aus unterschiedlichen Ländern. Ich liebe es, neues Essen zu entdecken.
Wenn Sie eine historische Person treffen könnten – wer wäre das und warum?
Da fällt mir sofort Rose Valland ein. Sie war die wichtigste Person nach dem Krieg, um von den Deutschen gestohlenes und verlagertes Kunstund Kulturgut aus Frankreich wiederzufinden. Während des Krieges konnte sie als Mitarbeiterin im Museum Jeu de Paume in Paris Unmengen an Notizen machen, die später die Arbeit zur Rückführung und Restitution der Kunst immens erleichterte. Sie hätte bestimmt sehr viele spannende und kuriose Geschichten zu erzählen.
Interviews: Matthias Seeberg
NICOLE TIEDEMANN-BISCHOP
Leiterin des Jenisch Hauses
Wie lange arbeiten Sie schon in der SHMH und was genau ist Ihr Arbeitsfeld?
Ich bin seit 23 Jahren im Altonaer Museum, wo ich die Abteilung Gemälde und Grafik betreue. Seit 2007 leite ich das Jenisch Haus, das seit 1955 als Außenstelle zum Altonaer Museum gehört. Dort kuratiere ich die Sonderausstellungen und bin für das gesamte Programm des Hauses verantwortlich. In den kommenden Jahren soll das Jenisch Haus saniert und die ständige Ausstellung neu konzipiert werden. Das verlangt eine Reihe an vorbereitenden Planungen.
Mit welchem Projekt sind Sie aktuell beschäftigt?
Aktuell bereite ich mit meinem Team eine Sonderausstellung zur Geschichte des Jenischparks vor. Darin soll es um die Entwicklung der Anlage vom einstigen Mustergut des Kaufmanns und Sozialreformers Caspar Voght bis zur heutigen grünen Oase gehen. Die Geschichte des Parks soll dabei als Brennglas für globalgeschichtliche Perspektiven dienen, sodass auch Aspekte wie die
kolonialen Verflechtungen bei seiner Entstehung in den Blick genommen werden können.
Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit am besten – und was am wenigsten?
Ich habe mein Hobby zum Beruf machen können, da ich schon immer große Freude an Kunst und an Geschichten von Menschen hatte, die über besondere Objekte erzählt werden können. Zudem mag ich Kuriositäten, die einem im Alltag heute nicht mehr begegnen. Was ich an meiner Arbeit weniger mag, ist alles, was mit Zahlen zu tun hat. Es sei denn, es handelt sich um Jahreszahlen oder um geometrische Formen und Symbole.
Welcher ist Ihr Lieblingsort in Hamburg und was macht ihn so besonders?
Tatsächlich bin ich am liebsten im Jenischpark! Das ist ein Ort, an dem vieles zusammenkommt: Natur, Wasser, Wald und Wiese sowie verschlungene Pfade, die in drei spannende Museen führen. Die Schiffe auf der Elbe wirken so gewaltig, als würden sie direkt durch die Wiesen fahren.
Welche Ausstellung haben Sie zuletzt besucht und was hat Ihnen daran besonders gefallen?
Zuletzt habe ich die Ausstellung über William Blake in der Hamburger Kunsthalle besucht. Gefallen hat mir, wie seine komplexe Gedankenwelt anschaulich gemacht und in einer Graphic Novel mit der Gegenwart verbunden wurde. Nachhaltig beeindruckt hat mich der Umgang mit einer Arbeit zum Thema Versklavung, die aufgrund ihres rassifizierenden Charakters mit einem Tuch verdeckt wurde. Dabei ging es darum, die eigene Wahrnehmung zu verändern. Es ist für mich ein besonderes Prädikat, wenn ich eine Ausstellung nicht nur mit Antworten, sondern auch mit Fragen – vor allem an mich selbst – verlasse.
Weiß auf Rot strahlt die Burg auf dem offiziellen Wappen der Freien und Hansestadt Hamburg. Jeder kennt das Motiv – doch woher stammt es?
DAS TOR ZUR WELT
VON DER BISCHOFSBURG ZUM STAATSWAPPEN
Jüngere Erkenntnisse des Archäologischen Museums Hamburg werfen ein neues Licht auf die sogenannte Bischofsburg und liefern Hinweise auf das symbolische Fundament des Hamburger Wappenbildes. Eine archäologische Spurensuche
Text: Rainer-Maria Weiss
Hamburg ist stolz auf seine Geschichte und Tradition, was sich bereits im Namen Freie und Hansestadt widerspiegelt. Während jedoch Städte wie Köln oder Trier ihre Gründung sogar bis auf die Römerzeit zurückführen können, liegen die Wurzeln Hamburgs im Mittelalter. Im baulichen Stadtbild ist davon allerdings heute nichts mehr erhalten. Dies ist nicht nur Brandkatastrophen und Kriegen anzulasten, sondern vor allem dem steten Prosperieren einer reichen Kaufmannsstadt, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit die baulichen Spuren des vermeintlich dunklen Mittelalters getilgt hat. Dies gilt für die Stadtmauern mit ihren Toren und Türmen ebenso wie für Kirchen und Klöster, ja selbst den altehrwürdigen gotischen Dom im Herzen der Stadt riss man ohne jede Not zu Beginn des 19. Jahrhunderts ab.
So ist man bei der Erforschung der mittelalterlichen Geschichte in erster Linie auf die urkundliche Überlieferung angewiesen, aus der sich bereits früh eine wirkmächtige lokale Geschichts
schreibung entwickelt hat. Sie beginnt mit der Lebensbeschreibung des Hl. Ansgar im 9. Jahrhundert, setzt sich bei Adam von Bremen im 11. Jahrhundert fort und fand ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert in den Geschichtswerken der großen Hamburger Historiker – allen voran Johann Martin Lappenberg.
NEUDATIERUNG EINES SENSATIONSFUNDS
Hin und wieder bietet sich die seltene Möglichkeit, diese historischen Schilderungen durch archäologische Ausgrabungen einer modernen wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen. Da nämlich Hamburg seinem von Alfred Lichtwark, dem Gründungsdirektor der Kunsthalle, geprägten Ruf als „Freie und Abrissstadt“ nach wie vor gerecht wird, gibt es viele Gelegenheiten, die zahlreichen innerstädtischen Baustellen archäologisch zu begleiten. Die Zuständigkeit dafür liegt beim Archäologischen Museum Hamburg, wo
auch die Hamburger Bodendenkmalpflege angesiedelt ist. So ist es dem Museum vor wenigen Jahren gelungen, die Hammaburg endlich zu identifizieren und ihre Baugeschichte lückenlos vom 8. bis zum 11. Jahrhundert zu rekonstruieren. Nach ihr hat man vor wenigen Wochen den Fundort als Hammaburg Platz benannt, der zuvor Domplatz hieß.
Wenige Schritte nördlich der Hammaburg, nur 250 Meter vom Rathaus entfernt, liegt neben der PetriKirche ein weiterer wichtiger Ort der Hamburgischen Geschichte, der seit 1962 unter dem Namen Bischofsburg bekannt ist. Damals entdeckte man bei Bauarbeiten ein gewaltiges kreisrundes Turmfundament von 19 Metern Durchmesser, dessen Mauern vier Meter dick sind und aus massiven Granitfindlingen bestehen. Der Ausgräber Dietrich Bohnsack, zu dieser Zeit der Hamburger Landesarchäologe, wollte in dem Fund den Wohnturm des Erzbischofs BezelinAlebrand erkennen, von dem kein Geringerer als der frühe Geschichtsschreiber Adam von Bremen im 11. Jahrhundert berichtet, er habe sich um 1040 einen steinernen Palast erbaut. So gab Bohnsack seiner Entdeckung den Namen Bischofsburg und schaffte es dadurch, dass das Turmfundament nicht wie geplant überbaut und somit zerstört wird, sondern als sogenanntes Archäologisches Fenster öffentlich zugänglich gemacht wurde. Seit 1969 besteht nun der unterirdische Schauraum „Bischofsburg“ und ist heute eine Filiale des Archäologischen Museums Hamburg. Diese wurde erst kürzlich komplett umgestaltet, modernisiert und um eine stimmungsvolle Lichtinszenierung sowie um spektakuläre virtuelle Rekonstruktionen bereichert.
Zweifel an der Interpretation als Wohnturm des Bischofs gab es allerdings bereits kurz nach seiner Entdeckung. Schon damals warnte der Direktor des Staatsarchivs Hamburg, Jürgen Bolland, dass es sich eher um den Rest eines Stadttores aus dem 12. Jahrhundert handeln dürfte. Durchsetzen konnte er sich allerdings nicht – zu schwer wogen die Argumente des Ausgräbers, der anhand charakteristischer Keramikscherben das 11. Jahrhundert für gesichert hielt. Das sollte sich aber vor wenigen Jahren ändern, als das Archäologische Museum für den Neubau einer Kita
eine Ausgrabung auf der Fläche zwischen der Kirche St. Petri und der Bischofsburg durchführte. Die Archäologen konnten dort dieselben Schichtabfolgen beobachten, in die auch das Turmfundament eingetieft ist. Damit war die Möglichkeit gegeben, die Datierung des Steinringes durch eine moderne Grabung zu überprüfen. Das Ergebnis war eindeutig und bestätigte die frühen Zweifel: Nach Ausweis der aus diesen Schichten geborgenen Keramikscherben kann der Turm frühestens im späten 12. Jahrhundert, eher sogar erst im 13. Jahrhundert erbaut worden sein.
„MAGNA PORTA“
Der Bischof war somit aus dem Rennen, während die Deutung als Torturm in den Fokus gerückt ist – und aus mehreren Gründen ohnehin die höchste Plausibilität besitzt. Erstens liegt der Turm genau in der Mitte des sogenannten Heidenwalls, der ältesten Stadtbefestigung, die Hamburgs Altstadt nach Osten hin – zu den slawischen „Heiden“ – von der Alster im Norden bis zur Elbe im Süden abriegelte, und zwar exakt dort, wo die früheste Straße der Stadt, die Steinstraße, den Heidenwall durchquerte. Zweitens verorten Hamburgs ältestes Stadterbebuch und das Erbebuch der benachbarten Kirche St. Jacobi sowie auch die frühesten Hamburger Kämmereirechnungen just an dieser Stelle ein Stadttor. Es
Das älteste bekannte Stadtsiegel Hamburgs besteht aus Wachs und hängt einer Urkunde von 1241 an
spricht folglich alles dafür, eben dieses Stadttor mit der Bischofsburg zu identifizieren. Die genannten Grundstücksverzeichnisse setzen um 1250 ein, vorher gibt es leider keine Aufzeichnungen, sodass das Tor beim Einsetzen der Erbebücher bereits vorhanden gewesen sein muss. Es wurde damals „magna porta“ genannt, das „Große Tor“. Und seine Dimensionen erscheinen wahrlich beeindruckend: Wenn allein der Nordturm –die vermeintliche Bischofsburg – einen Durchmesser von 19 Metern aufweist, muss das gesamte Bauwerk eine Breite von knapp 50 Metern gehabt haben. Der Vergleich zum berühmten Lübecker Holstentor mit seinen 33 Metern flößt Respekt ein und macht klar, welche Bedeutung dieses „Große Tor“ für die noch junge Stadt Hamburg gehabt haben dürfte.
Die archäologische Neudatierung und die Ersterwähnung des Stadttors um 1250 grenzen die Erbauungszeit auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts ein. Höchstwahrscheinlich bildete die „magna porta“ den krönenden Abschluss der erstmaligen Umfassung der Stadt durch eine Mauer um 1240. Stellen schon diese neuen Erkenntnisse und Überlegungen das bisherige Schulbuchwissen zur Bischofsburg auf den Kopf, so wird es jetzt noch mal richtig spannend: Durch die Neuinterpretation des Grabungsbefundes als Stadttor kommt nämlich das Hamburger Staatswappen ins Spiel, dessen Ursprünge ebenfalls im
UND WIEDER LASSEN SICH HISTORISCHE SCHILDERUNGEN DURCH ARCHÄOLOGISCHE AUSGRABUNGEN WISSENSCHAFTLICH
13. Jahrhundert liegen. Seine heutige bekannte Form zeigt eine dreitürmige Burg, weshalb man landläufig oft glaubt, das dargestellte Gebäude zeige die namengebende Hammaburg. Bereits im Jahr 1379 wird tatsächlich in einem zwischen den Hansestädten Lübeck, Wismar und Hamburg abgeschlossenen Vertrag über gemeinsame Münzprägungen festgelegt, dass die Hamburger Münzen die „borch“, also die Burg, zeigen sollten. Dementsprechend war schon zu dieser Zeit die dreitürmige Burg das offizielle „HamburgLogo“, das sich auch auf diversen offiziellen Siegeln, allen voran dem großen Hamburger Stadtsiegel, wiederfindet.
DAS ÄLTESTE STADTSIEGEL HAMBURGS
Den Ursprung des Hamburger Wappenbildes sah die Forschung seit jeher in den ältesten Münzen, den sogenannten Burgbrakteaten. Diese einseitig geprägten Denare aus hauchdünnem
Sensationell: der Blick vom Turm der Hauptkirche Sankt Petri auf den Steinring während der Ausgrabungen des kreisförmigen Turmfundaments in den 1960er-Jahren HIN
könnte es ausgesehen haben
Silberblech aus dem 12. Jahrhundert zeigen ein annähernd vergleichbares Burgmotiv, allerdings gern auch mit zwei oder fünf Türmen und somit oft gar nicht für Hamburg typisch. Dennoch schien die Herkunft des dreitürmigen Wappenbildes damit geklärt, und so ließ sich die Forschung auch nicht weiter beirren, als 1837 im Lübecker Archiv überraschend ein zuvor unbekannter Siegelabdruck auftauchte, der bis heute einzigartig ist. Er hängt an einer Urkunde aus dem Jahr 1241 und ist somit das älteste bekannte Stadtsiegel Hamburgs.
Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass sich dieses Siegelbild deutlich von seinen Nachfolgern unterscheidet, die untereinander bis auf marginale Abweichungen beinahe gussgleich wirken. Es zeigt nämlich nicht die bekannte dreitürmige Burg, sondern ohne jeden Zweifel ein Torgebäude mit zwei vorgezogenen Rundtürmen. Das Bauwerk ist so markant und detailgenau abgebildet, bis hin zu den gotischen Krabben auf dem mittleren Dach und den zinnenbekrönten Wehrplattformen auf den beiden kegelförmigen Turmhelmen, dass es wohl weniger ein idealisiertes Torsymbol, sondern vielmehr ein real existierendes Gebäude darstellt. Für ein solch bedeutendes, die Stadt repräsentierendes und den erwachenden Bürgerstolz erfüllendes Bauwerk kommt nur die „magna porta“ in Frage. Auffällig ist zudem die zeitliche Übereinstimmung der Fertigstellung der ersten Stadtmauer um 1240 mit der erstmals nachgewiesenen Verwendung des Stadtsiegels im Jahr 1241 – wodurch die hier vorgestellten Überlegungen zur Identifikation des Siegelmotivs mit dem Hamburger Stadttor unterstützt werden. Fortan sollte also die „magna porta“ den Status Hamburgs als befestigte und wehrhafte Stadt symbolisieren und fand als Motiv Eingang in das erste hamburgische Stadtsiegel.
Auf der Suche nach dem Urbild: Das Turmfundament der sogenannten „Bischofsburg“ gehört womöglich zum ältesten Stadttor Hamburgs – so wie in dieser Rekonstruktion
Schon ein Jahrzehnt später hatte die blühende Hansestadt ihre engen Stadtgrenzen gesprengt, sodass eine deutlich erweiterte neue Stadtmauer die alte Umwallung überflüssig machte. Dadurch verlor das große Stadttor seine Funktion und Symbolkraft. Fortan hieß es nur noch Schultor, nach der nahe gelegenen Domschule, und wurde schließlich im 16. Jahrhundert abgebrochen. Als Siegelmotiv konnte das funktionslose Tor natürlich nicht mehr bestehen, jedoch hatte sich dieses HamburgSymbol inzwischen wohl schon bestens etabliert. Man wollte es also nicht vollständig ersetzen, sondern entschied sich für einen wirkungsvollen Kniff: Mit geringen Modifikationen hat man das Tor in ein symbolisches BurgMotiv abgewandelt, die bis heute gültige „borch“.
DAS SYMBOLISCHE TOR ZUR WELT
Alle historischen und archäologischen Indizien deuten nun stark darauf hin, dass mit der Bischofsburg im Jahr 1962 die Ruinen der „magna
porta“ entdeckt worden sind. Seiner Lage nach gehörte das Fundament zum Nordturm, das südliche Pendant dürfte im Bereich Speersort rund drei Meter unter dem heutigen Straßenbelag seiner Entdeckung harren. Das Archäologische Museum Hamburg ist bereits in Gesprächen mit der Stadt, um im Rahmen geplanter Straßenbaumaßnahmen weitere Ausgrabungen genau an dieser Stelle durchführen zu können. Die Archäologen sind überzeugt, hier nicht nur Hamburgs ältestes Stadttor zu finden, sondern gleichzeitig die Ursprünge des Hamburger Wappenbildes freizulegen. Das bisher nur symbolische Tor zur Welt wäre dann eine archäologische Entdeckung.
Rainer-Maria Weiss ist seit 2003 Direktor des Archäologischen Museums Hamburg und des Stadtmuseums Harburg. Er ist zudem Landesarchäologe der Freien und Hansestadt Hamburg und Leiter der Bodendenkmalpflege im Landkreis Harburg
Im Spotlight der Archäologie: Das Turmfundament der sogenannten Bischofsburg – heute durch eine Lichtinstallation atmosphärisch in Szene gesetzt
Katrin Seddig schreibt häufig über schwerwiegende Alltagsthemen – doch stets mit Witz, Charme und Intelligenz
EINE GEFUNDENE BESTIMMUNG
Die Schriftstellerin Katrin Seddig hat schon einige Preise und Stipendien für ihr eindrucksvolles Schaffen erhalten. Dabei hatte die in Brandenburg aufgewachsene Wahlhamburgerin ursprünglich ganz andere Pläne
Text: Anselm Neft
Fotos: Bettina Theuerkauf
Seit vielen Jahren gehört Katrin Seddig zum Hamburger Kulturleben. Man kennt sie von der Lesebühne „Liebe für alle“ (2016 bis 2022), von der Lesereihe „Literatur Quickie“ oder als Mitglied von „Es ist spät, aber wir sind noch heute“, der neuen Musik-Film-Lese-Bühne im Nachtasyl des Thalia Theaters. Man kennt sie als Kolumnistin bei der „taz“, als Dozentin an der privaten Autorenschule „Autorendock“ und als preisgekrönte Urheberin von bisher sechs Romanen, die alle im Rowohlt-Verlag erschienen sind. Katrin Seddig, eine stilvolle Intellektuelle voller Charme, Witz und Intelligenz, passt gut nach Hamburg.
ZIEMLICH WILD AUFGEWACHSEN
Aufgewachsen ist sie aber in einem Haus im Wald, mitten in der Pampa, ein paar Kilometer entfernt von Strausberg im „tiefsten“, also östlichen, Brandenburg. Der Vater arbeitete als Maurer, die Mutter zunächst als Gärtnerin, dann als Erzieherin, dann trug sie die Post der Gemeinde aus. Außerdem hielten die Seddigs Schweine, Schafe, Enten und Hühner, zogen Gemüse und bauten Obst an. „Die haben eigentlich immer gearbeitet“, sagt Seddig rückblickend über ihre Eltern. „Meine anderthalb Jahre jüngere Schwester und ich sind ziemlich wild aufgewachsen.“
Für Emotionen sei im Elternhaus wenig Raum gewesen, die Kinder seien versorgt worden, hätten auch mal mit anpacken müssen, hätten aber auch viel Zeit auf sich allein gestellt verbringen können. Wild irgendwie. Dabei entdeckt Katrin Seddig früh ihre Leidenschaft fürs Lesen. Vor Ort gibt es eine „Bibliothek“, die aus der nächsten Kreisstadt von Zeit zu Zeit mit „neuen Büchern“ beliefert wird. Bis zu 20 Stück darf man auf einmal ausleihen. Katrin Seddig nimmt in zwei bunt bedruckten DDR-typischen Dederonbeuteln immer das Maximum mit. Fasziniert liest sie die Mumin-Bücher von Tove Jansson, „Pu der Bär“ von Alan Alexander Milne, dann Jack London, Jules Verne, Mark Twain oder Friedrich Gerstäcker. Als Kind verfasst sie Gedichte, im Gymnasium mit einer Freundin neue Folgen der geliebten Serie „Ein Colt für alle Fälle“. Als eine dritte Schülerin mitschreibt, sind die Initiatorinnen nicht zufrieden. „Das war einfach nicht der richtige Stil“, sagt Katrin Seddig und hebt entschuldigend die Hände. „Wir konnten das nicht so stehen lassen.“
EINE AUSGEBREMSTE ILLUSTRATORIN?
Obwohl Seddig bereits stilistische Ambitionen beim Schreiben zeigte – sie zeichnete noch viel lieber! Und bewarb sich als Teenager an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Die Voreignungsprüfung bestand sie. Bei der Eignungsprüfung, die sie noch als Schülerin absolvierte, wurde ihr gesagt: „Sie sind noch etwas jung, kommen Sie in einem Jahr wieder.“ Ein Jahr im Leben einer Jugendlichen ist allerdings lang. Seddig arbeitete studienvorbereitend in der Landwirtschaft, was sie heute als „sicher ganz lehrreich für mich“ etikettiert. Dann brach die wilde Zeit nach dem Mauerfall an und sie nutzte die Gelegenheit, um nach Hamburg zu ziehen und zu studieren, was sie damals interessant fand: Philosophie, Psychologie, Neue Deutsche Literatur. „Die Psychologie war nicht so toll“, sagt sie. „Ich war gut in Mathe, fand Statistik aber trotzdem uninteressant.“
Im Philosophiestudium gefielen ihr die Logikkurse, und dass die philosophischen Texte oft auch literarische Qualitäten hatten. Den Blick dafür schärften die Lektüren aus der Neuen Deutschen Literatur. Und Hamburg kam ihr schon beim ersten Besuch wie eine Verheißung vor. Sie erinnert sich an das starke Gefühl, genau in diese Stadt zu wollen: „Das war wie eine Vision. Und die ist bis heute nie wirklich verblasst.“
SCHREIBEN KOSTET NIX
Obwohl es ihr lag, brach Seddig das Studium ab. Sie war schwanger geworden, brachte einen kleinen Bruno zur Welt, und keine zwei Jahre später eine kleine Thea. „Es passierte das Übliche“, sagt Katrin Seddig. „Ich habe mein Studium aufgegeben.“ Sie erzählt das alles frei von Bitterkeit oder Selbstmitleid, aber voller Leidenschaft für eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die sie nie aus den Augen verloren hat. So ist Katrin Seddig aus dem brandenburgischen Haus am Wald Mitte der 1990er nun Hamburgerin, Mutter und bald auch halbtags Steuerfachgehilfin. Weder in der männerdominierten Anwaltskanzlei noch unter ihren Kleinkindern findet sie aber den intellektuellen Austausch, nach dem sie sich sehnt. Also beginnt sie zu schreiben. Ihr pragmatischer Gedanke damals: „Fürs Schreiben braucht man kaum Materialien, das kostet nix. Ist dann egal, wenn nichts draus wird.“ Sie schreibt Kurzgeschichten und Erzählungen und wagt sich bald an einen Roman. Ihr Grundgefühl: Ich kann das. Und sie traut sich mit ihren Texten auch schnell vor Publikum. Sie gründet mit Gordon Roesnik eine bis heute existierende Schreibgruppe, lernt die Autorinnen und Autoren der Kult-Lesebühne „Machtclub“ kennen und liest beim damals von Lou Probsthayn und Gunter Gerlach moderierten „Literatur Quickie“ in der 439-Bar. Probsthayn ist es dann auch, der versucht, einen Verlag für sie zu finden. So kam Seddig an den Verleger Oliver Brauer, der sich aber gerade auch als Literaturagent selbstständig machte und Seddigs Debüt zu Rowohlt bringen konnte. Ein erstaunlich schneller Weg zur ersten Veröffentlichung.
EIN BEEINDRUCKENDES WERK
Ihr Erstling „Runterkommen“ erscheint im Jahr 2010: ein fesselnder Roman voller interessanter, glaubwürdiger Charaktere, die sich zwischen gesellschaftlichem Leistungsanspruch und persönlichen Bedürfnissen aufreiben. Vor allem der
Das Gespräch mit der Autorin fand im Bunker statt – wo sie Schreibkurse für Jugendliche mit Migrationsgeschichte anbietet
Rechtsanwalt Erik kommt im Lauf der Handlung runter, in der doppelten Bedeutung des Ausdrucks. „Das war auch das, was mich von Anfang an interessiert hat“, sagt Seddig. „Wie beängstigend, aber auch befreiend es sein kann, die verinnerlichten gesellschaftlichen Ansprüche abzulehnen.“ Seddig hat nicht nur ein großes Gespür für Charaktere, Milieus und gesellschaftliche Stimmungen und Themen, sie verfügt auch über eine hypnotisch wirkende Sprache, voller rhythmischer Wiederholungen, die tief in die Köpfe der Figuren führt. Das gilt auch für alle folgenden Bücher, ihren Stil hat sie früh gefunden. In ihrem erfolgreichen Zweitling „Eheroman“ führt uns Seddig durch die Stadien einer früh geschlossenen Ehe und findet das Existenzielle im Alltäglichen. Ava und Danilo sind keine außergewöhnlichen Menschen und ihre Beziehung verläuft auch nicht in Extremen. Trotzdem oder gerade deswegen ist ihre Geschichte bewegend und besonders in der minutiös geschilderten Langeweile und alltäglichen Einsamkeit auch tragisch. Wie schon in „Runterkommen“ federt Seddig das Ernste und Tragische elegant mit einem scharfsinnigen Humor ab. Massentaugliche Strand -
lektüre sind ihre Bücher dennoch nicht. Die Charaktere sind zu alltagsnah und nicht glamourös genug für ein eskapistisches Lesevergnügen, die Plots zu wenig ausgearbeitet, um ein fernsehgeschultes Publikum rundum zu befriedigen, und manche der verhandelten Themen zu aufwühlend und echt, um beim Lesen in der persönlichen Komfortzone bleiben zu können. Seddig schaut genau hin und nimmt das Menschsein ernst, das macht die Lektüre ihrer Romane fordernd – und zeitlos gut. Das gilt auch gerade für ihr bisher letztes Buch „Nadine“. Es erzählt von einer mehrgewichtigen Anwaltsgehilfin, die nach dem tragischen Tod ihrer Tochter all die kleinen Schikanen in ihrem Leben nicht mehr in sich reinfressen kann oder will, und die mit Macht aus einer Opferrolle ausbricht, die sie sich eh nie freiwillig ausgesucht hatte. Das ist starker Tobak und Nadine eine Protagonistin, wie man sie noch nicht oft gelesen hat. Ein großer Publikumserfolg wurde auch dieser Roman nicht.
EIN POLITISCHER MENSCH
Natürlich begegnet einer Autorin wie Seddig immer wieder die Frage, woher sie ihre Stoffe nimmt, oder wie viel von ihr selbst in den Texten steckt. Ihre Antwort: „Ich schreibe über die Milieus, die ich kenne. Zum Beispiel gibt es in meinem familiären Umfeld Frauen, die Ähnlichkeiten mit Nadine haben. Und natürlich habe ich selbst lange als Steuerfachangestellte gearbeitet.“ Aber um Eins-zu-eins-Abbildungen oder eine persönliche Seelenschau sei es ihr nie gegangen. Vielmehr treiben Seddig in den individuellen Schicksalen die allgemeinen Verhältnisse um. Die Autorin kann nicht anders als auch ein politischer Mensch zu sein. Sie kann im persönlichen Gespräch feurige Vorträge über Chancen-Ungleichheit, das deutsche Schulsystem, patriarchale Strukturen oder den Hamburger Wohnungsmarkt halten. Seddig belässt es aber nicht bei Vorträgen. Zum sechsten Mal schreibt sie gerade mit einer Mittelstufen-Klasse einer Stadtteilschule –diesmal in Stellingen – an einem sogenannten Schulhausroman. Die „Schülys“, wie Seddig die Schülerinnen und Schüler nennt, entwickeln zusammen einen Stoff, schreiben in Gruppen, können sich als Geschichtenschöpfer ausprobieren. „Es ist toll zu erleben, wie sich oft auch sogenannte schwierige Jugendliche öffnen, wenn sie merken: Ich werde ernst genommen.“ Überhaupt arbeitet Seddig gerne mit Jugendlichen.
WERKE
Runterkommen
Rowohlt
Taschenbuch
384 Seiten 9,99 Euro
Eheroman
Rowohlt
Taschenbuch
448 Seiten 9,99 Euro
Rowohlt Berlin
304 Seiten 24,00 Euro
Passenderweise führen wir unser Gespräch in den Räumen von Hajusom e. V., einem Zentrum für transnationale Künste, in dem Seddig einen Kurs im rhythmisierten Schreiben mit jungen Migrantinnen und Migranten geben wird. Auf weitere Zukunftsprojekte angesprochen, erwähnt sie auch ihr aktuelles Romanprojekt mit dem Arbeitstitel „Eigentum“. Sie weiß, dass der Markt für Literatur schwieriger geworden ist, gerade für unbequeme Literatur. Etwas Gefälliges kann und will sie aber nicht schreiben, auch wenn so der nächste Roman wahrscheinlich wieder kein Bestseller werden wird. Wie hält sie diese anstrengende, emotional auslaugende, einsame Arbeit am Schreibtisch aus, die sie selbst zu 90 Prozent als „Qual“ bezeichnet? Und dann auch noch finanzielle Unsicherheit? „Das ist irgendwie mein Leben geworden“, sagt sie. „Und es hilft mir, mich von äußerem Zuspruch nicht so abhängig zu machen.“ Was das in Bezug auf das literarische Schreiben bedeutet? Ihre Augen blitzen auf, als sie antwortet: „Das bin ich, das werde ich tun.“
Anselm Neft schreibt selbst Romane. Ansonsten guckt er Horrorfilme und schreibt bei horrorundpsychologie.de darüber
Nadine
DAS MODEHAUS DER GEBRÜDER ROBINSOHN
Wo das Leben pulsiert, sind Gesellschaft und Stadtbild im steten Wandel: so auch am Neuen Wall, bereits vor hundert Jahren. Damals florierten dort insbesondere die Geschäfte jüdischer Kaufleute, zum Beispiel das Modehaus der Gebrüder Robinsohn – bis die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Ein Rückblick und Familienporträt
Text: Sylvia Steckmest
Im Jahr 2005 stand der Neue Wall vor einer zukunftsweisenden Veränderung, denn dort sollte eines der ersten Business Improvement Districts Hamburgs entstehen: Die zuständigen Behörden hatten sich damit für ein innovatives Stadtentwicklungsmodell zur Steigerung der Attraktivität bestimmter Straßen und Gebiete entschieden, das zu der Zeit ganz neu in Deutschland war –und das auf den Zusammenschluss von aktiven Anwohnern und ansässigen Geschäftsleuten setzt, die in Eigeninitiative an der Aufwertung ihres Viertels arbeiten. So entstanden am Neuen Wall im Laufe der Jahre etwa breitere Fußwege mit hellem Bodenbelag, die den Passanten mehr Platz einräumen und den Blick für die Umgebung öffnen.
Einst fester Bestandteil des Geschäftslebens am Neuen Wall: das Modehaus der Familie Robinsohn
EINE GEMEINSCHAFT AM NEUEN WALL
Allerdings war es am Neuen Wall nicht der erste Zusammenschluss dieser Art. Bereits 1926 hatten die Inhaber des Modehauses Gebr. Hirschfeld, Neuer Wall/Schleusenbrücke, die Idee, Geschäftsleute zusammenzubringen: zunächst, um eine Weihnachtsbeleuchtung für die Straße zu installieren – was dort auch heute noch ein wichtiges Anliegen ist. So wurde damals die „Interessengemeinschaft Neuer Wall e. V.“ ins Leben gerufen, zu deren Gründungsmitgliedern neben dem Modehaus Hirschfeld auch das Porzellanhaus Weitz und Julius Flaschner, der Inhaber des Optikgeschäfts von W. Campbell & Co., sowie das Modehaus Gebr. Robinsohn gehörten. Bis 1930 kamen noch weitere Geschäftsleute hinzu, sodass in jenem Jahr die erste Weihnachtsbeleuchtung die Straße überspannte und freudig überraschte Kunden ins Viertel brachte.
Mit der Machtübertragung an die Nazis veränderte sich aber auch der Neue Wall radikal: Von
den Geschäften mit jüdischem Hintergrund ist nichts mehr geblieben. Wo heute Montblanc zu finden ist, war einst das Hutgeschäft von Hermann Hammerschlag, wo Balenciaga eingezogen ist, befand sich das Kindermodengeschäft von Siegfried Freundlich und an der Stelle des heutigen Modegeschäfts Akris handelten die Brüder Kimmelstiel mit Hüten und Schreibwaren. Viele Import- und Export-Firmen sowie jüdische Ärzte, Anwälte, Bankiers und Makler hatten sich am Neuen Wall zu Beginn des 20. Jahrhunderts niedergelassen. Auch Max Halberstadt, seinerzeit einer der bekanntesten Fotografen Hamburgs, dessen Porträts und Landschaftsaufnahmen aus heutiger Sicht bemerkenswerte historische Dokumente des damaligen Lebens bilden, hatte dort sein Atelier. Nur sehr wenige dieser Namen aber blieben nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine Weile erhalten – die meisten Inhaber wurden in den 1930er- und 40er-Jahren gezwungen, Firma und Grundstück inklusive Gebäude weit unter
Die Brüder Robinsohn in ihrem Arbeitszimmer
Wert zu verkaufen oder ganz aufzugeben. Viele von ihnen konnten zwar noch ins Ausland fliehen, doch der Verlust ihres Vermögens brachte auch im Exil gravierende Probleme mit sich – gerade bei der Arbeitssuche, oft fern der eigenen Profession und Sprache, sodass Armut und psychische Leiden nicht selten die neue Lebenssituation von Anfang an erschwerten.
DAS MODEHAUS ROBINSOHN
Eine dieser bewegenden Geschichten erzählt auch eine der Gründungsfirmen der „Interessengemeinschaft Neuer Wall e. V.“ von 1926: das Modehaus der Gebrüder Robinsohn. Nach einer Station in Frankfurt am Main 1889 eröffneten die Brüder Max und Leo Robinsohn 1892 ihr Geschäft in Hamburg, zuerst an der Bleichenbrücke am Fleet, bis sie 1901 an den Neuen Wall zogen. Das alte Gebäude von 1844 (Nummer 31–33, heute Unger) wurde abgerissen und nach einem Entwurf des Architekturbüros Puttfarcken & Janda neu und größer aufgebaut. Bereits 1912 – innerhalb weniger Jahre also – hatten die Gebrüder Robinsohn alle Gebäude bis zur Ecke am Neuen Wall sowie auch die Häuser an der Schleusenbrücke bis zum Fleet erworben und umbauen lassen. Bevor der Erste Weltkrieg zwei Jahre später ausbrach, war 1912 ohnehin das große Jahr des Aufbruchs in Hamburg: mit den neu eröffneten Kaufhäusern Karstadt, Hermann Tietz, Peek & Cloppenburg, der neu angelegten Mönckebergstraße, der U-Bahn-Ringlinie am Rödingsmarkt, dem Stapellauf des „Imperator“, dem damals größten Passagierschiff der Welt und der gerade in Betrieb genommenen Zeppelin-Halle, dem Vorläufer des Flughafens.
Der Erfolg der Gebrüder Robinsohn spiegelte sich auch im Umfang und in der Einrichtung ihres imposanten Modehauses wider – allein die Blusenabteilung umfasste 230 Quadratmeter mit 5000 Blusen zur Auswahl. Einen Eindruck davon bietet auch heute noch die Ausgabe zum 25-jährigen Jubiläum des Hauses von 1917 in der eigenen, seit 1906 herausgegebenen Mode-Zeitschrift „Robinsohn’s illustriertes Modeblatt und Frauenzeitschrift“. Als erste Redakteurin war dort unter anderem Frieda Radel tätig, die linksorientierte, politisch gebildete Ehefrau des Architekten George Radel. Auch die Schwägerin von Leo Robinsohn, Elise Simon-Langenbach, schrieb kritische Artikel für das Modeblatt. In den 1920er- Jahren wurde die Zeitschrift in „Gero-
Moden“ umbenannt, erschien in handlicherem Format und neuer Gestaltung, blieb aber bei Modeangeboten und Texten richtungsweisend. Damit auch die Zeichnungen den kreativen Trends und dem Stil der Zeit entsprachen, wurden bekannte Illustratoren engagiert.
Trotz der Kriegseinwirkungen liefen die Geschäfte des Modehauses, das zu Kriegsbeginn über 700 Angestellte verzeichnete, noch erträglich, da die Kunden bei Robinsohn qualitativ hochwertige Produkte erhielten, die kurze Zeit später nicht mehr zu bekommen waren und so auch als Wertanlage dienten – denn die Abwertung des Geldes begann rasch. Nach Kriegsende wurde die politische Lage immer bedrohlicher:
Oben: Ein Ziel der 1926 gegründeten „Interessengemeinschaft Neuer Wall e. V.“ war eine festliche Weihnachtsbeleuchtung, hier um 1935
Unten: Produkte über Produkte – hier: die Exportabteilung des Modehauses
Edle Materialien, hochwertige Produkte: Auf dem historischen Foto der Seidenstoff-Abteilung des Modehauses der Gebrüder Robinsohn herrscht reger Betrieb
Einerseits war die Modernität der 1920er-Jahre ein Indiz für eine potenziell offene Gesellschaft, andererseits zeigten sich schnell reaktionäre Tendenzen, die rechten Ideologien sowie antisemitischen Haltungen Aufwind gaben und die Sozialdemokratie ablehnten.
Im Februar 1926, acht Monate vor der Gründung der „Interessengemeinschaft Neuer Wall“, hielt Adolf Hitler im Hotel Atlantic, einem der vornehmsten Häuser der Stadt, eine Rede. Im Publikum saßen überwiegend reiche Kaufleute, Reeder, Bankiers und Offiziere, die sich zur Elite Hamburgs zählten und zu den circa 450 Mitgliedern des „Hamburger Nationalklubs“ gehörten. Gegründet wurde der Club 1919, unter anderem von dem einflussreichen Bankier Max von Schinckel, dessen Verwandtschaft im Zuge der Arisierung 1939 das große Rappolt-Haus an der Mönckebergstraße günstig von dessen jüdischen Inhabern abkaufte. Hitlers Rede, so lässt es die Berichterstattung der Zeit vermuten, schien eine besonders starke Wirkung hinterlassen zu haben: „Eins ist sicher“, las man danach etwa im „Hamburger Echo“, „angehitlert zog man von dannen.“
Unter den Zuhörern war auch Georg P. L. Rauschning, damaliger Präsident des Landesfinanzamtes und späterer Oberfinanzpräsident der Behörde, die gegenüber der Haltestelle Rö-
dingsmarkt lag. Mit Rauschning und seiner Behörde hatten auch die Robinsohns oft zu tun – besonders die nächste Generation in der Familie. Ab 1933 waren nämlich Walter, der Sohn von Leo, und sein Cousin Hans, der Sohn von Max, Inhaber des Modehauses. Beide waren – wie alle Familienmitglieder – politisch links positioniert. Ab 1919 gehörten die Cousins zu den Mitgliedern der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Doch um sich noch stärker engagieren zu können und sich mit anderen Gleichgesinnten auszutauschen, gründete Hans 1924, nachdem er zwischenzeitlich einen Doktortitel in „Nationalökonomie“ erhalten hatte, den „Club vom 3. Oktober“ – mit dem Ziel, die Demokratie zu stärken.
GESETZE GEGEN JUDEN
Für die Robinsohns und auch für alle anderen jüdischen Ladeninhaber bedeutete besonders der 1. April 1933 eine folgenschwere Zäsur, der als Boykotttag gegen jüdische Geschäfte in die Geschichte einging. Auch am Neuen Wall war das für die Kunden zu spüren, da sie von nun an beim Betreten der Geschäfte häufig angepöbelt wurden. So stieß dieser staatlich organisierte Boykott bei den Hamburger Bürgern auf wenig Begeisterung, während von Seiten der Kirche kein Widerspruch gegen die Maßnahmen kam.
Die Folgen schienen von der neuen Hitler-Regierung wenig durchdacht worden zu sein. So ruderte man vorerst zurück und die Nichteinmischung in jüdische Geschäftstätigkeit wurde vereinbart. Jüdische Geschäftsleute konnten so zunächst weiterarbeiten, denn viele beschäftigten „arische Gefolgschaftsmitglieder“, wie die Angestellten nun genannt wurden.
Bald wurden weitere Gesetze gegen Juden ausgearbeitet, die nicht nur Geschäftsleute betrafen, sondern auch Ärzte, Beamte, Juristen – bis schließlich 1935 die „Nürnberger Gesetze“ in Kraft traten, mit denen die Nationalsozialisten ihre antisemitische Ideologie vollends institutionalisierten. Mag die Tragweite vielen anfangs nicht klar gewesen sein, hatten aber doch einige Hamburger Geschäftsleute die Stadt schon verlassen und konnten gerade noch Geld mit ins Ausland nehmen. In der Folge wurden Ausreisen und Vermögenssicherung allerdings erheblich erschwert – insbesondere nach den Pogromen vom 9. auf den 10. November 1938, die am Neuen Wall verheerende Spuren hinterließen. Einige der Geschäftsleute kamen ins Gefängnis, wie etwa Max und Leo Robinsohn, andere wurden ebenfalls wegen „Rassenschande“ angeklagt und sogar ermordet, wie der Rechtsanwalt Dr. Manfred Heckscher (Neuer Wall 72), über den Hans Robinsohn 1977 in seinem Buch „Justiz als politische Verfolgung“ schrieb.
Nach den Zerstörungen im November 1938 musste das Modehaus der Gebrüder Robinsohn wochenlang geschlossen bleiben. Den Wiederaufbau hatten allein die jüdischen Inhaber zu tragen: Bei Robinsohn handelte es sich um eine Summe von circa 100.000 Reichsmark. Mit dem Zwangsverkauf vieler Geschäfte machten Parteimitglieder der NSDAP, selbst, wenn sie branchenfremd waren, ein für sie vortreffliches Geschäft. Diese sogenannten „Ariseure“ kamen auch von auswärts, oft waren es regierungstreue Berliner mit NSDAP-Mitgliedschaft oder Parteinähe – wie beim Verkauf der Firma der Gebrüder Robinsohn an die Berliner Modefirma Jung & Ferley.
FLUCHT UND RÜCKKEHR NACH HAMBURG
Schließlich konnten die Robinsohns fliehen –doch trennten sich dadurch auch die Wege der Familie. So hatten es Hans und seine Frau mit ihren beiden Kindern geschafft, nach Dänemark auszureisen, während Walter bereits seit zwei
Jahren in England lebte. 1958 kehrte Hans mit seiner Frau zurück nach Hamburg, die mittlerweile erwachsenen Kinder blieben in Kopenhagen. Sein politisches Engagement wollte er hier mit einer Gruppe von Intellektuellen weiterführen – und belebte den einst von ihm gegründeten „Club vom 3. Oktober“ wieder.
Seit Kriegsende bemühte sich die Familie auch um die Rückgabe ihres Modehauses, des Grundstücks, weiterer Tochterfirmen und ihrer privaten, ebenfalls zwangsverkauften Häuser, sowie um Möbel, Kunstwerke und Silbersachen. In langwierigen Verhandlungen und mithilfe verschiedener Anwälte, die mit der Finanzbehörde, Banken, Versicherungen und den Gerichten die komplizierten Wiedergutmachungsverfahren auf den Weg brachten, erhielten die Familienmitglieder unter anderem Anteile ihres Grundstücks am Neuen Wall zurück – inklusive des Gebäudes. Wie üblich zogen sich die Verhandlungen mit den Rechtsanwälten aller Parteien aber lange hin, in diesem Fall über sieben Jahre. Am Ende zahlten die Robinsohns den zwischenzeitlichen Inhabern 250.000 DM zurück, für die Beseitigung der Kriegsschäden am Gebäude. Im Gegenzug erhielten sie ihre Anteile, verteilt auf die Familienmitglieder, an der Immobilie zurück und konnten somit die laufenden Mietzahlungen einnehmen.
Die Berliner Modefirma Jung & Ferley, an die die Robinsohns damals verkaufen mussten, zog bald aus, Wäschehaus Möhring, Goldpfeil-Lederwaren, Pelz-Berger und das Modehaus Horn richteten Läden ein. Seit 1983, nach dem Tod von Rolf Horn, ist das Modehaus Unger nun unter der alten Adresse des Modehauses der Gebrüder Robinsohn zu finden.
Sylvia Steckmest Zwischen Emanzipation und Emigration, Das Modehaus Gebr. Robinsohn am Neuen Wall, Wallstein Verlag, 300 Seiten, 28 Euro
PROGRAMM
Aktuelle Termine im Winter 2024/2025
Alle Termine unter shmh.de
ALTONA – THERESIENSTADT
DIE LEBENSWEGE VON LEON DANIEL COHEN UND KÄTHE STARKE-GOLDSCHMIDT
BIS 12. MAI 2025
ALTONAER MUSEUM
Ein fast verloren geglaubtes Objekt aus der Zeit des Holocaust kehrt nach Jahrzehnten in seine Heimat zurück und eröffnet einen neuen Blick auf das Schicksal jüdischer Familien aus Altona. Im Zentrum der Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Freundeskreis Yad Vashem entstand, steht ein Thoraschrein, den Leon Daniel Cohen 1942 bei seiner Deportation ins KZ Theresienstadt mitnahm. Dieses Objekt aus der Sammlung von Yad Vashem kehrt nun vorübergehend nach Altona zurück. Die Ausstellung ver-
folgt die Spuren von Cohen und seiner Familie, die 1944 in Auschwitz ermordet wurden, sowie von Käthe Starke-Goldschmidt, die Theresienstadt überlebte. Bei ihrer Rückkehr nach Hamburg brachte sie das „Theresienstadt-Konvolut“ aus dort im Geheimen gesammelten Zeichnungen und Dokumenten mit. Die Ausstellung verdeutlicht die Auswirkungen der Verfolgung und Deportation auf die jüdische Gemeinde Altonas und ergänzt die Erforschung der lokalen NS-Geschichte im Stadtviertel Altona.
Käthe Starke-Goldschmidt Leon Daniel Cohen
DEUTSCHLAND UM 1980
Fotografien aus einem fernen Land
Bis 3. März 2025
ALTONAER MUSEUM
Die Jahre um 1980 waren in der Bundesrepublik Deutschland von tiefen Umwälzungen geprägt. Während technologische Innovationen den Markt revolutionierten, schallte die Musik der Neuen Deutschen Welle aus den Kassettenrekordern der Jugend. Punks eroberten die Stadtzentren und Fernsehsendungen wie „Dallas“ und „Wetten, dass..?“ zogen die Massen vor die Bildschirme. Demgegenüber stand eine allgemeine Untergangsstimmung, hervorgerufen durch das globale Wettrüsten, die Umweltzerstörung und steigende Arbeitslosigkeit: Viele Entwicklungen der 80er-Jahre reichen bis in unsere Gegenwart. Die Ausstellung „Deutschland um 1980. Fotografien aus einem fernen Land“ zeigt zehn unterschiedliche Perspektiven auf diese Zeit. Sie wurde vom LVR-LandesMuseum Bonn, der Deutschen Fotothek Dresden und der Stiftung F.C. Gundlach Hamburg konzipiert und wird im Altonaer Museum durch Hamburger Positionen ergänzt.
JA, ICH WILL!
Die Kunst der Hochzeitsfotografie
Bis 24. Februar 2025
JENISCH HAUS
Schräg und schrill und in den 80ern voll im Trend: die NeueDeutsche-Welle-Band Extrabreit
Hochzeiten sind eines der meist fotografierten gesellschaftlichen Rituale der Welt. Die feierliche Zeremonie mit der Familie und den Liebsten zählt zu den schönsten Momenten des Lebens, die zur Erinnerung fotografisch festgehalten werden will. Im klassizistischen Ambiente des Jenisch Hauses, das oft selbst als Location für elegante Hochzeitsfotos genutzt wird, widmet sich die Sonderausstellung „Ja, Ich will!“ der Kunst der internationalen Hochzeitsfotografie. Der niederländisch-kanadische Fotograf, Regisseur und Kurator Paolo Woods, künstlerischer Leiter des renommierten italienischen Fotofestivals „Cortona On The Move“, hat für die Ausstellung eine Auswahl an fotografischen Hochzeitsimpressionen aus vier Kontinenten zusammengestellt, in der sich die internationale Vielfalt dieses Zeremoniells widerspiegelt. Die Arbeiten zeigen Fotos von Hochzeitspaaren aus Ghana, Indien, Frankreich, Spanien, Italien, Saudi-Arabien, Haiti und den USA. Die Fotografien zeigen, dass sich es beim häufig belächelten Genre der Hochzeitsfotografie um ein Feld innovativer Techniken und neuer ästhetischer Trends handeln kann.
DEIN PAKET IST DA!
Shoppen auf Bestellung
Bis 28. April 2025
MUSEUM DER ARBEIT
Sich Wünsche erfüllen und dafür nicht einmal das Haus verlassen? Der Versandhandel macht das seit rund 150 Jahren möglich. Nachdem sich die ersten Unternehmen bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit dem Versandgeschäft etablierten, begann die Branche nach dem Zweiten Weltkrieg und dem „Wirtschaftswunder“ erneut zu florieren: Am 17. August 1949 gründete Werner Otto den „Werner Otto Versandhandel“ und startete im September 1950 den OTTO-Versand. Im März 1950 begann Neckermann bereits mit dem Katalogversand. Heute hat der Versandhandel aufgrund der Digitalisierung eine neue Dimension erreicht. In der Ausstellung „Dein Paket ist da!“ im Museum der Arbeit wird der Versandhandel als ein komplexes Netzwerk aus Akteurinnen und Akteuren betrachtet. Die Ausstellung zeigt die Prozesse hinter den Kulissen,
verdeutlicht den Wert und die Menge der zu leistenden Arbeit und ordnet den Versandhandel in den Kontext der modernen (Konsum-)Gesellschaft ein. Die Ausstellung, die OTTO anlässlich des 75-jährigen Jubiläums unterstützt, wird von speziellen Vermittlungsangeboten, wechselnden Veranstaltungen und einem Magazin begleitet.
ALTONAER IDENTITÄT(EN) Spurensuche
Bis 20. Januar 2025 ALTONAER MUSEUM
Altonas Stadtwappen mit dem offenen Tor steht seit 1644 für Toleranz und Vielfalt. Heute ist Altona ein lebhafter Bezirk, in dem zahlreiche gesellschaftliche Gruppen mit ganz verschiedenen Hintergründen und Erfahrungen zusammenkommen, leben und arbeiten. Zusammen mit wirsprechenfotografisch e. V. machten sich Schülerinnen und Schüler ab Klasse 3 auf eine fotografische Suche nach dem, was die Identität Altonas heute ausmacht. Die Präsentation zeigt die Ergebnisse der gemeinsamen Streifzüge. Wie sieht der Blick auf Stadt und Zusammenleben aus vielfältigen jungen Perspektiven aus?
ZUHAUSE
Ansichten eines phantastischen Ortes
Bis 30. Juni 2025 KINDERBUCHHAUS IM ALTONAER MUSEUM
Die erste Ausstellung in den neuen Räumen des Kinderbuchhauses im Altonaer Museum fragt: Was bedeutet es, zu Hause zu sein, ein Zuhause zu haben oder es verlassen zu müssen? Was kann ein Zuhause sein? Erinnerungen, Familie, Sprache, Freunde? 24 Illustratorinnen und Illustratoren zeigen Werke zu einem uns alle berührenden Thema. In einer Welt, in der immer mehr Menschen ihr Zuhause verlieren, bietet die Ausstellung Anregungen zur Reflexion.
VERLOREN UND VERGESSEN
Wie die Speicherstadt vor dem Krieg war
Bis 5. Januar 2025
SPEICHERSTADTMUSEUM
Während des Zweiten Weltkrieges war die Speicherstadt wiederholt Ziel von Luftangriffen. Drei der 17 Speicherblöcke galten als Totalverluste, weitere zwölf zeigten teils so massive Schäden, dass mit Kriegsende nur noch einzelne Abschnitte intakt waren. Die Schau dokumentiert die Verluste, aber auch den Wiederaufbau durch den Architekten Werner Kallmorgen.
VERBORGENE PFADE
Unerzählte Geschichten aus dem Jenischpark
Ab 13. April 2025
JENISCH HAUS
Im Jenischpark, einem der bedeutendsten Gartenbaudenkmäler Hamburgs, entfaltet sich eine faszinierende Geschichte, die weit über seine malerische Kulisse für Spaziergänger und Radfahrer hinausgeht. Die Wurzeln des Parks reichen bis ins Jahr 1785 zurück, als der visionäre Caspar Voght in Klein Flottbek eine „ornamented farm“ nach englischem Vorbild schuf. Die Verbindung von Schönheit und Nützlichkeit, gepaart mit integrierten landwirtschaftlichen Flächen, formte das Gut zum Vorreiter des fortschrittlichen Landbaus. Im 19. Jahrhundert ließ Martin Johan Jenisch im Park exotische Pflanzen wie Palmen, Orchideen und Kakteen in eigens dafür errichteten Gewächshäusern kultivieren. Diese Pflanzen stammten aus den damaligen Kolonien oder deren Einflussgebieten. Solche exotischen Pflanzensammlun-
gen waren in dieser Zeit ein Statussymbol, das den globalen Macht- und Wirtschaftsinteressen der europäischen Eliten Ausdruck verlieh Ab Frühjahr 2025 widmet sich eine umfassende Ausstellung im Jenisch Haus der wechselvollen Geschichte des Parks. Dabei werden auch die Verflechtungen des Parkgründers Caspar Voght in den kolonialen Handel in den Blick genommen. Die Ausstellung wird einen Einblick in die Entwicklung des Parks vom Reformprojekt Voghts über die Transformation zum klassischen Landschaftsgarten durch den Hamburger Senator Johan Martin Jenisch bis hin zur Rolle in der NS-Zeit und seiner heutigen Bedeutung als Naturschutzgebiet geben.
MUSEUM FÜR
HAMBURGISCHE
GESCHICHTE
Holstenwall 24
20355 Hamburg
Tel. 040 428 132 100 info@mhg.shmh.de
Information
Aufgrund der Vorbereitungen einer umfassenden baulichen und inhaltlichen Modernisierung des Museums ist der Besucherverkehr derzeit eingestellt.
MUSEUM DER ARBEIT
Wiesendamm 3
22305 Hamburg
Tel. 040 428 133 0 info@mda.shmh.de
Öffnungszeiten
Montag 10–21 Uhr
Dienstag geschlossen
Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr
Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr
Eintrittspreise
8,50 Euro für Erwachsene
6 Euro für Gruppen ab 10 Personen
5 Euro ermäßigt
Freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren
ALTONAER MUSEUM
Museumstraße 23
22765 Hamburg
Tel. 040 428 135 0 info@am.shmh.de
Öffnungszeiten
Montag 10–17 Uhr
Dienstag geschlossen
Mittwoch bis Freitag 10–17 Uhr
Samstag bis Sonntag 10–18 Uhr
Eintrittspreise
8,50 Euro für Erwachsene
6 Euro für Gruppen ab 10 Personen
5 Euro ermäßigt
Freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren
KINDERBUCHHAUS
im Altonaer Museum
Tel. 040 428 135 1543 info@kinderbuchhaus.de
DEUTSCHES
HAFENMUSEUM
Standort Schuppen 50A
Australiastraße
20457 Hamburg
Tel. 040 428 137 130 info@deham.shmh.de
Information
Das Museum befindet sich seit dem 1. November 2024 in der Winterpause. Die neue Besuchersaison beginnt am 30. März 2025.
Das Magazin ist klimaneutral und umweltfreundlich auf 100 % Recyclingpapier gedruckt.
DER LETZTE SCHLIFF
Text: Mira Linzenmeier
Fast 90 Jahre lang hallte in Hamburg-Hohenfelde das Stampfen der Spindelpresse durch die Räume der „Metallwarenfabrik Carl Wild“. Seit 1901 hatte der Familienbetrieb Abzeichen aller Art für Militär, Schifffahrt und Vereine hergestellt – bis es in den 1980er-Jahren immer schwieriger wurde, das Geschäft aufrechtzuerhalten und Helga Wild, die Witwe von Hanns Wild, dem Sohn des Firmengründers, am 30. Juni 1989 tatsächlich zum letzten Mal die Fabriktüren hinter sich schloss. Die Hallen wurden still und der Betrieb mutierte zur Zeitkapsel.
Doch nur wenige Monate später entdeckten Mitarbeiter des Museums der Arbeit die verlassene Fabrik und betraten eine Szenerie aus einer vergangen geglaubten Ära: Maschinen aus der Zeit der Jahrhundertwende, alte Fotografien, Notizen und eine Kiste voller glänzender Abzeichen und Orden – darunter auch eine Plakette des „Fiat 124 Spider Club e. V.“ aus dem Jahr 1987. In den 1980er-Jahren waren die Fiat 124 Spider beliebte und erschwingliche Autos. Der Club kümmerte sich um sämtliche Belange rund um das Fahrzeugmodell und existiert bis heute. Michael Bischoff, der damalige 1. Vorsitzende des Clubs, war fasziniert von den schönen Emaille-Plaketten, die an den Kühlerhauben vieler Oldtimer glänzten, und beschloss, auch eine für den Spider Club anfertigen zu lassen. In den Gelben Seiten stieß er auf die „Metallwarenfabrik Carl Wild“ . Mit der damals bereits betagten Fabrikbesitzerin Helga Wild wurde der grafische Entwurf besprochen und an die Fertigungsmöglichkeiten und Preisvorstellungen angepasst. Für etwa 35 DM
konnten die Mitglieder des Clubs die SpiderPlaketten erstehen – und sie mussten schnell sein, denn die Objekte waren sehr beliebt. Insgesamt wurden davon 200 Stück produziert.
Die Herstellung solcher Plaketten war ein aufwendiger Prozess, der Kreativität und zugleich präzise Handarbeit erforderte. Die zentrale Figur dabei war der Graveur. Mit Sticheln und Feilen arbeitete er den Prägestempel aus einem Stahlblock heraus – das Herzstück jeder Produktion. Mit diesem Stempel wurde die bestellte Anzahl an Abzeichen gestanzt und gepresst. Danach begann die Veredelung: Geschmolzene Emaille brachte zunächst die charakteristischen Farben hervor und durch Galvanisierung erhielten die Plaketten eine Vergoldung oder Versilberung. Schließlich sorgte eine Lackierung für den letzten Schliff der Schmuckstücke.
Doch hinter der glänzenden Oberfläche jeder Plakette verbarg sich auch eine dunkle Realität: Die Herstellung erfolgte unter harten und gesundheitsschädlichen Bedingungen. In der Fabrik waren vor allem Frauen als geringverdienende Hilfsarbeiterinnen angestellt, die den giftigen Dämpfen beim Galvanisieren und Lackieren sowie der Hitze des 1000 Grad heißen Ofens nahezu schutzlos ausgesetzt waren.