Seesicht 2/2016

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Seebueb

Einen Entenfloh im Ohr Ihr mögt mich nicht. Das ist o. k. Ich mag euch trotzdem. Mehr noch, ich kann nicht leben ohne euch. Ihr nennt mich Entenfloh, aber das ist Unsinn. Es gibt keine Entenflöhe. Habt ihr je mit eigenen Augen einen gesehen? Mit den Entenflöhen verhält es sich gleich wie mit dem Seeungeheuer von Loch Ness: Nur weil Generationen von Seeanwohnern die Mär weitererzählen, wird sie nicht wahrer. In Tat und Wahrheit bin ich eine Mücke. Besser, ich war mal Mücke. Eine Ewigkeit ists her seit diesem Tag im Spätsommer, als ich von euch ging. Zurückgestossen, verachtet, gejagt. Wie gesagt, ich mag euch, hab euch immer gemocht. Euer Blut ist meine Nahrung. Ich nahm mir immer nur so viel, wie ich brauchte, keinen Tropfen mehr. Aber ihr seid geizig mit euren Körpersäften. Und wehleidig. Wegen einem juckenden kleinen Stich erschlägt man doch kein

«Euer Blut ist meine Nahrung. Ich nahm mir immer nur so viel, wie ich brauchte, keinen Tropfen mehr. » Tier. Was solls, das alles liegt lange zurück. Ihr wolltet mich nicht, ich verstand und ging – in den See. Die Stelle hatte ich willkürlich gewählt, beim Hafen Uetikon, gleich neben der chemischen Fabrik. Was aber geschah, nachdem ich mich da ins Wasser fallen liess, gab meinem Leben, das ich in dem Moment beenden wollte, eine dramatische Wendung. Mein kleiner dem Seegrund entgegensinkender Mückenkörper wurde von einer gigantischen Energie durchströmt. Durch mein Mückenhirn zuckten Blitze, mein Stechrüssel schwoll an, aus meinen Flü-

geln formten sich kleine Flossen. Abwasser aus der Chemie Uetikon haben mich neu erschaffen. Geiler Stoff, den die da produzieren. Wie Obelix, der in den Zaubertrank fiel, wurde ich zum Unterwasser-Highlander. Es gibt nur einen und der ist unsterblich. Wenn ihr aus dem See steigt und merkt, dass es juckt, bin ich schon längst ausser Reichweite. Weil ihr, die ihr meine Nahrung seid, in der kalten Jahreszeit aber nur in Neopren verschweisst ins Wasser steigt, mache ich Winterschlaf. Jetzt, wo der Frühling keimt, kommt meine Zeit. Denkt nicht, ich führe ein Leben in Saus und Braus. Ihr seid mir häufig kein Festessen. Ihr zähledrig sonnengegerbten, ihr vom Zweierli-StrandbadDole übel aromatisierten Seeanstösser. Darum ist, was jüngst aus dem Zürcher Regierungsrat verlautete, eine gute Nachricht, für mich genauso wie für euch. Auf dem Areal der chemischen Fabrik in Uetikon, meiner Wahlheimat, soll eine Kantonsschule für 1000 Gymnasiasten entstehen. Lieb vom Kanton, dass er mir Frischfleisch ankarrt. Eine sich von Jahr zu Jahr stets erneuernde Auslage von erlesenstem Goldküsten-Junggemüse. Freut euch mit mir, fortan werde ich mich an euren Kindern laben und euch in Ruhe baden lassen. Nur, fühlt euch nicht zu sicher. Mein Mückenhirn erinnert sich an die Peiniger früherer Tage. Wenn die alte Wut in mir aufsteigt, verbeisse ich mich immer noch gerne in alte Widersacher, seien sie auch noch so gammlig.

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Tom Gisler moderiert seit 2008 auf SRF 3 unter anderem am Samstag die «WochenRundShow» und am Montagabend die Gesprächssendung «Focus». Zurzeit ist er auch bei diversen Kleinkunst-Projekten mit von der Partie und schreibt.


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