KAGEL
Quasi Niente
für geschlossene Münder
Partitur

für geschlossene Münder
Partitur
Uraufführung: 30. Juni 2007, Musiksaal der Universität Siegen
Zur Ausführung
für geschlossene Münder
Mauricio Kagel , 2007
Nachdem die Chorsänger sich auf dem Podium formiert haben, erscheint der musikalische Leiter des Vokalensembles. Mit dem üblichen Applaus,* den der Dirigent mit etwas zu langen Verbeugungen entgegennimmt, drehen sich alle Mitwirkenden möglichst geräuschlos auf der Stelle um,180°, so daß eine geschlossene Wand aus Rücken entsteht. Höhenunterschiede zwischen den Choristen sind nicht wichtig, Tuchfühlung dagegen von Bedeutung.
Die Einteilung in Takte, zum Beispiel
wäre hier ein rein visueller Vorgang, ohne jegliche Konsequenzen für die entstehende Musik, da der Chor sich ohnehin weigert, Kontakt mit dem Leiter aufzunehmen. Ein Dirigentensystem könnte lediglich als Hinweis für den gewünschten Ductus und das Tempo der Gesten dienen. Alle Gebärden sollten aber das empfindsame "fast nichts", das im Titel des Stückes angedeutet ist, berücksichtigen. Entsprechend klein, nicht ausladend oder überdeutlich, sondern zurückgenommen und geschmeidig, müßte das Taktschlagen sein, nie eckig oder vorwärtstreibend. Im Idealfall könnte der Leiter tatsächlich ein nur in seinem Kopf ablaufendes Legatissimo dirigieren. So würden seine Gesten mit der notwendigen musikalischen Emotion und einem ergründeten Rubato erfüllt werden. Stumme Musik als wahrhafte Geheimunterlage der Interpretation erhielte so die Chance, den Zuhöhrer redlich zu treffen.
* Im Falle einer zu geringen Audienz könnte diese Situation durch einige Claqueure etwas verbessert werden. Der Beifall darf nicht zu kurz sein, um Zeit für die gleichzeitig stattfindende Aktion des Chores zu gewinnen.
e Chor -
Nachdem sie sich mit dem Rücken dem Publikum zugewandt haben, bleiben die Mitwirkenden bewegungslos, aber nicht verkrampft, stehen.
Das Stück ist in vier Abschnitte unterteilt, und jeder Chorsänger sollte sie memorieren, um sich auf die Gestaltung der Vorgänge zu konzentrieren.
1. Abschnitt
Die äußerst links und äußerst rechts* stehenden Mitwirkenden tragen mit geschlossenem Munde, im tiefen Register und sehr leise, fast murmelnd, ihre Namen vor und halten den Vokal der letzten Silbe bis Ende ihres Atems an.** Die Kollegen zur Linken (bzw. zur Rechten) setzen anschließend mit ihren Namen fort. Der Vorgang wiederholt sich fließend-wandernd weiter bis zur Reihenmitte.
Zum Beispiel:
Draufsicht
2. Abschnitt
Ausgehend von der Mitte der Reihe setzen die Mitwirkenden links und rechts in einer etwas höheren Stimmlage mit dem Tag und Ort ihres Geburtstages ein und halten ebenfalls die letzte Silbe bis Ende ihres Atems an.
* Alle Richtungsangaben sind aus der Sicht der Chorsänger gegeben.
** Dabei sollte eine litaneiartige Vortragsweise, stets den gleichen Ton repetierend, vermieden werden. In etwa
Zum Beispiel:
Draufsicht
Kurze Pause vor dem
3. Abschnitt
Hier werden zwei verschiedene Auskünfte in entgegengesetzten Abläufen konfrontiert:
Die Damen des Chores (mit Unterstützung einiger Herren) beginnen in tiefer Lage und steigern sich durch Wiederholungen bis zum höchsten Register. Der letzte Ton dieser Sequenz wird gehalten. Die Herren dagegen (sowie einige Damen) beginnen in höchster Lage, enden im tiefsten Register und halten den letzten Ton ebenfalls an.
Zum Beispiel:
4. Abschnitt
Ausgangspunkt ist eine mit den Stimmen aller Sänger gebildete Polyphonie. Die Einteilung der Stimmlagen soll in den Proben festgelegt werden. Textgrundlage hier sind die Straßennamen und Hausnummern der Mitwirkenden. Die Worte werden silbenweise, durch einen längeren Ton oder eine entsprechend längere Pause getrennt,vorgetragen. Bei jeder neuen Silbe wird eine andere Tonhöhe - bzw. Tonlage - gewählt.
Zum Beispiel:
Die Sänger stehen lange in der Schlußfermate. Ende.
Mauricio kagel (1931–2008) zählt zu den profiliertesten komponisten der zeitgenössischen Musik. Von jeher wurde sein Name vor allem mit dem Musiktheater assoziiert, jener gattung, auf die er wohl den größten Einfluss ausgeübt hat. Neben den radikalen Neuerungen auf diesem gebiet entwickelte er aber auch im Bereich der absoluten Musik eine eigenständige Ästhetik. Sein beeindruckendes Œuvre umfasst nicht nur Bühnen-, Orchester- und kammermusikwerke in den vielfältigsten Besetzungen, sondern auch Filme, Hörspiele und Essays.
Sein Schaffen wurde mit einer Fülle von Preisen gewürdigt. So erhielt er unter anderem den Erasmus-Preis (1998), den Ernst von Siemens Musikpreis 2000 und den großen Rheinischen kunstpreis (2002). Im Jahr 2007 wurde Mauricio kagel von der Universität Siegen zum Ehrendoktor ernannt.
Mauricio kagel (1931–2008) was one of the most distinctive composers of recent times. He has above all been associated with – and exerted the greatest influence on – musical theatre. Besides his radical innovations in this area, he also developed a highly personal aesthetic across a wide range of other genres, encompassing not only stage, orchestral and chamber music, but also film scores, radio plays and essays. He has received many awards, including the Erasmus award (1998), the Ernst von Siemens Music award 2000, the großer Rheinischer kunstpreis (2002) and an Honorary Doctorate from Siegen University (2007).