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ROSA VON PRAUNHEIM
Das Freundliche Ltere
GESAMTKUNSTWERK
Von Friedrich Schumacher
So klassifizierte die Theaterkritikerin Irene Bazinger den 1942 als Holger Bernhard Bruno Mischwitzky geborenen Holger Radtke anerkennend zu seinem 80. Geburtstag. Das war begeistert, sehr spät und keineswegs betulich gemeint. Denn als er sich Mitte der 60er Jahre Rosa von Praunheim nannte, war seine Reputation noch in weiter Ferne - nicht nur im Szene-zänkischen (West-)Berlin.
Die Geburt im Rigaer Gefängnis während der Kriegswirren, der Hungertod der Mutter in der Psychiatrie, die Freigabe zur Adoption und Details dieser Entsetzlichkeiten erfuhr Praunheim erst im Jahr 2000 von seiner Adoptivmutter… Solch ein Lebenslauf voller chaotischer Veränderungen, der Flucht aus der DDR, der Umsiedlung nach Wesel, dann Frankfurt-Praunheim, vorzeitiger Abgang vom Gymnasium, einige unvollendete Kunststudien usw. haben offensichtlich aus ihm einen zähen Kämpfer, vor allem einen nicht unterzukriegenden Überlebenskünstler gemacht. Und das musste jemand auch sein, dem es gelang, eigenständig und ganz unbetucht im Lauf seines Lebens - wohlgemerkt neben vielem anderen - über 150 Kurz- und Langfilme zu machen! Immerhin wurden 20 davon ins Berlinale-Programm aufgenommen.
Andere Stilmittel
Rosa von Praunheim ist keineswegs ein Kinofilm-Künstler der Kategorie Ingmar Bergman. Es geht ihm um den Kampf für eine Sache, um Situationen, Dokumentationen, Aufklärung bis hin zur Anklage. Das lässt sich nicht mit kunstfilmischen Maßstäben bewerten. Solche Aspekte sind auch entbehrlich, denn unbestritten hat Praunheim seit 1971 mit seinem Wagnisfilm "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" der politischgesellschaftlichen Entwicklung kräftig vors Schienenbein getreten. Zweifellos war er der öffentliche Wegbereiter und Mitbegründer der politischen Schwulen- und Lesbenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. In einer betulich verklemmten Zeit erzkonservativer Altnazis bis hinauf zum Bundespräsidenten. Erst dank Praunheims
Donnerschlag wagten er und seine wenigen Mitstreiter homosexuelle Emanzipationsgruppen (heute LGBTQIA+) fortan mutig zu gründen. Raus aus den Geheimtreffen, raus auf die Straße! Die Homosexuellen "sollen sich ihrer Veranlagung nicht mehr schämen, das alte Schuldtrauma wegwerfen, sich sozusagen gewerkschaftlich organisieren, die Konfrontation mit den »Normalen« suchen, selbstbewusst die Anerkennung als gleichberechtigte Minderheit erzwingen (Praunheim)".
Wie ein Wanderfilmvorführer zog Praunheim mit "Nicht der Homosexuelle…" durch die BRD, vor allem durch Universitätsstädte und die wenigen mutigen Filmkunstkinos. Das waren anstrengende Jahre voller Knochenarbeit mit mageren kommerziellen Erfolgen. Aber das Engagement für die Sache gab ihm Recht und Ermutigung in manchmal überwältigendem Ausmaß. Was heute fast vergessen ist: Sein Film hatte eine beachtliche internationale Wirkung und wird und wurde weltweit auf Festivals gezeigt und ausgezeichnet.
„Nicht ich schreibe oder drehe Filme, ‚es' tut das. Da ist jemand anderer in mir, eine eigene innere Stimmedas Unbewusste, das sich auf diese Weise verströmt.“


Eintrag im Gästebuch am 30.10.1993 und am San Francisco Art Institute. Zäh verhandelte er mit öffentlich-rechtlichen Sendern über Produktionsaufträge für Hörspiele, Dokumentarfilme oder Aidsaufklärung, um mit bescheidenen Vorschüssen weiterproduzieren zu können.
Während Rainer Werner Fassbinder geschickt mit vielerlei Sicherheiten im Rücken auf einen gut getakteten Produktionsapparat aus dem Vollen schöpfen konnte, improvisierte Praunheim in bescheidenem Rahmen, mit Laien als Schauspielern und Technikern. Deren Bezahlung und die Beschwerden darüber führten oft zu Streit und Verkrachungen. Praunheims allgegenwärtige fiskalischen Sorgen über Jahrzehnte haben vermutlich zu den ungewöhnlichen, zeittypischen, vermeintlich wenig attraktiven Themen und deren filmischen Umsetzungen geführt. Zuweilen aus Finanzierungsmangel macht ihn sicherlich Not erfinderisch und einfallsreich - in der Themenwahl ebenso wie in der Umsetzung.
Nachhaltige Gesellschaftspolitik
1983 gründete Rosa von Praunheim, der ganz entschieden, bisweilen gegen Insidermeinungen, Safer Sex propagierte, eine AIDS-Aktionsgruppe. Damit war er schneller als die erste deutsche AIDS-Hilfe. 1985 organisierte er erfolgreich das erste große AIDS-Benefiz in Deutschland im Berliner Tempodrom.
Praunheim ist nicht "nur" Filmemacher. Als Maler, Künstler, Autor, Darsteller… pendelt er zwischen Verpflichtungen als Seminarleiter für Studierende, lehrte sieben Jahre lang an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf" in Potsdam… und nicht nur in Deutschland, sondern auch international, etwa an der Zürcher Hochschule der Künste
Im Dezember 1991 trat Praunheim die Outing-Debatte los, als er Alfred Biolek und Hape Kerkeling in einer TV-Sendung überraschend und ungefragt rücksichtslos als schwul hinstellte. Damit wollte er Solidarität von homosexuellen Prominenten einfordern, von denen sich damals noch kaum jemand offiziell dazu bekannte. Überraschenderweise löste er damit eine Welle von Bekenntnissen aus, auch was die positivere Berichterstattung in der Presse betraf.
In Praunheims Äußerungen ist oft von "irrsinnig" und "gewaltig" die Rede. Ohne Übertreibung charakterisieren diese Worte sein Lebenswerk angemessen. Unglaublich umfangreich ist sein Werkverzeichnis, sind seine Aktivitäten und Engagements. Wie viele Künstler hat er (wieder) entdeckt oder zu künftigem Ruhm in die öffentliche Wahrnehmung (zurück)geholt? Noch heute mit über 80 Jahren kommen weitere Produktionen hinzu.
Schauburglegende Georg Fricker war stets offen für die schwul-lesbische badische Szene und engagierte sich auch offen. Natürlich nahm er Praunheim-Filme ins Programm, selbst wenn die regionale Monopolpresse seinerzeit Inserate dazu verweigerte und natürlich über die Filmdiskussionen - wenn überhaupt - nur kurzangebunden berichtete. Dem suchte Georg Fricker damals mit seinem eigenen Magazin "KIK" gegenzusteuern, was aber terminnah und reichweitenmäßig leider kaum gelingen konnte. Erst Mundpropaganda brachte dann zögerlich Besucher ins Kino. Die Möglichkeiten der Internetnutzung kamen viel später.

Karlsruher Traumtreff
Bei den vielen Festival- und Vortragseinladungen, Auszeichnungen sowie Ehrungen auf allen Kontinenten sind die dazu erforderlichen Reisen zeitraubend. Trotzdem: Rosa von Praunheim selbst war schon mehrmals in der Karlsruher Schauburg zu Gast. In seinem Buch "50 Jahre pervers", berichtet er 1992 von einem auch für ihn privat erfolgreichen Erlebnisreise ins Badische: „In Deutschland überredete man mich, kurz nach Karlsruhe zu reisen und nach der Vorführung von »Ein Virus kennt keine Moral« [1986] mit dem Publikum zu diskutieren." Ihm hatte es ein "besonders hübscher Mann" im Publikum angetan, der ihn dann später in Berlin besuchte "und er [weil HIV positiv] war es, mit dem ich zum ersten Mal Kondome benutzte…"

Die kleine exklusive Werkschau ab 6. 8. 2023 jeweils sonntags um 19 Uhr bietet Gelegenheit, Höhepunkte aus dem irrsinnig gewaltigen (wie er selbst - nie bescheiden, aber durchaus angemessen - formulieren würde) Oeuvre im Kino (nach-) zu erleben.
