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IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN
Die besondere Phase kurz nach der Wiedervereinigung bildet den Background dieser Coming- of-AgeGeschichte. Eine klassische Amour Fou.
Der Sommer nach dem Mauerfall. Irgendwo an der deutsch-deutschen Grenze, ein kleines Dorf in der nun ehemaligen DDR, einsame Höfe, wilde, unberührte Landschaften, die bald aufblühen sollen, so zumindest das Versprechen. Hier wächst die 18jährige Maria (Marlene Burow) auf, nicht bei ihrer arbeitslos gewordenen Mutter Hannah (Jördis Triebel), sondern auf dem Brendel-Hof. Mit Johannes (Cedric Eich), dem Sohn der Familie, ist sie zusammen, für die Eltern ist sie wie eine Tochter, auch wenn sie sich lieber mit einem Buch zurückzieht, statt auf dem Hof zu helfen. Johannes hat künstlerische Ambitionen, will Fotografie studieren, doch in seinen naiven Träumen wirkt er kindlich. Ganz anders als der 40jährige Henner (Felix Kramer), der einen Nachbarhof bewohnt, einsam und allein, nur mit ein paar Hunden. Aus dem Nichts beginnt Maria eine Affäre mit Henner. Hin und hergerissen ist Maria, fasziniert vom einsamen Wolf Henner, doch der trägt mehr emotionalen Ballast mit sich herum, als Maria ahnt.
2011 erschien Daniela Kriens Roman und reihte sich ein in ein wachsendes Genre der deutschen Literatur: Der Wenderoman von Thomas Brussig über Uwe Tellkamp bis Lutz Seiler, der oft auch als Vorlage für Filme diente, in denen die Wehen der Wiedervereinigung, gerne mit einer Comingof-Age-Geschichte verknüpft wurden. In ihrem Roman ließ Daniela Kriens eine 16jährige auf einen Mann treffen, der ihr Vater sein könnte, für die Verfilmung hat Emily Atef die Figur volljährig gemacht. Doch auch so mutet die Art und Weise des Kennenlernens von Maria und Henner befremdlich an. Deutlich überzeugender sind Momente, in denen die spezielle Stimmung in den Monaten nach dem Mauerfall angedeutet wird. Die Euphorie ist längst vorbei, die Realität hält Einzug, die gerade für entwicklungsschwache Regionen vor allem Arbeitslosigkeit und Probleme mit sich brachte. Die D-Mark ist da, zur Freude der Menschen, aber wie man sich im Kapitalismus und all seinen Fallstricken bewegt, dass muss man erst noch lernen. programmkino.de / Michael
Meyns
The Whale

DRAMA | 117 MINUTEN | FSK 12 | USA | 2022
Drama um einen sensiblen Menschen, der nach dem Tod des Partners nicht mehr aufhören will zu essen. Brendan Fraser erweckt daraus eine tragische Figur, die zu Tränen rührt: Oscar für Brendan Fraser! 272 Kilo bringt Schwergewicht Charlie auf die Waage. Eigenständig laufen kann er schon längst nicht mehr. Seine Literatur-Kurse hält der Dozent per Zoom und abgeschalteter Kamera ab. Seine Teenager-Tochter reagiert mit Ekel, als sie den Vater nach acht Jahren zum ersten Mal in seinem schmuddeligen Apartment sieht. „Werde ich jetzt auch so fett?“ fragt sie panisch. Bald wird freilich klar, die Fresssucht hat dramatische Ursachen. Vor Jahren verlor Charlie seinen Partner, dessen Homosexualität wurde vom streng religiösen Vater stets verurteilt. Statt Saufen, Sex, Drogen oder Glücksspiel führt die Flucht durch Sucht bei Charlie zum unkontrollierten Essen. Zur Verzweiflung über das eigene Schicksal, gesellen sich zunehmend Schuldgefühle, Frau und Tochter vor acht Jahren verlassen zu haben. Nun steht die siebzehnjährige Ellie plötzlich vor der Tür...
Unterteilt in sechs Tage, schildert das Drama die schicksalshaften Tage des verzweifelten Helden. Neue Figuren bringen täglich neue Steinchen in das Mosaik des Psychogramms, das zunehmend beklemmender und packender wird. Zum exzellent aufgestellten Typen-Karussell gehören Ex-Frau Mary, die Studenten via Zoom sowie ein Pizzabote, der neben dem täglichen Abendessen noch einen überraschenden WowEffekt ausliefern wird. So klein dieser schäbige Schauplatz, die einzige Kulisse des Kammerspiels, so groß der visuelle Einfallsreichtum von Darren Aronofsky. Schauspielerisch gelingt „Die Mumie“-Star Brandan Fraser der ganz große Wurf: Hinter seiner ebenso monströsen wie makellosen Maske wirkt er wie einst John Hurt als der „Elefantenmensch“. Die emotionale Achterbahn zwischen Verzweiflung, Hass und Hoffnung, zwischen Schroffheit und Sensibilität präsentiert Fraser mit enormer Glaubwürdigkeit. Niemand ist nur gut, keiner nur böse in diesem clever konstruierten Drama um Schuld und Sühne. Und um die Chance samt Notwendigkeit des Vergebens. Bei aller Tragik behält die Hoffnung zum guten Schluss die Oberhand. Am Ende des Tunnels gibt es nicht nur Licht, sondern ein Feuerwerk. programmkino.de / Dieter Oßwald