Sonderdruck aus „Der Landwirt“ Nr. 23 vom 21. Dezember 2007 Suppl. S.I.A.P. 50%
Raiffeisenverband Südtirol
M 50. Jahrgang
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Bozen, 21. Dezember 2007
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Nr. 23
Menschliche Freiheit und Würde
Verbandsdirektor K. Palla erinnert an die christlichen Wurzeln der Genossenschaften Die Raiffeisen-Genossenschaften inspirieren sich im Sinne ihres Gründers Friedrich W. Raiffeisen an den Grundsätzen der christlichen Soziallehre. Ist Weihnachten ein Anlass, dies in Erinnerung zu rufen? Konrad Palla: Weihnachten erinnert durch die Geburt des Jesus von Nazareth vor allem an das Neue Testament, das die Barmherzigkeit und die Vergebung in den Mittelpunkt stellt. Seither sind zwei Jahrtausende vergangen und die christliche Soziallehre reicht gerade mal ein Jahrhundert zurück. Zuvor bedurfte es der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, welche zunächst die allgemeinen Menschenrechte und die Gewissensfreiheit proklamierte und man sah in der Demokratie die geeignetste Voraussetzung, solche Grundwerte zu verwirklichen. F. W. Raiffeisen fühlte sich als Bürgermeister armer Landgemeinden im Westerwald vor allem dem Gebot der Nächstenliebe und der Menschlichkeit verpflichtet und eilte damit als Humanist und Sozialreformer der christlichen Soziallehre gewissermaßen voraus. Welche Rolle kam der Kirche zu? Die katholische Soziallehre ist die Lehre von der rechten Ordnung der menschlichen Gesellschaft und die Grundlage dafür sind die Würde des Menschen und die soziale Gerechtigkeit. Nach Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts und damit in der Zeit F.W. Raiffeisens erfuhr die katholische Soziallehre ihre erste lehramtliche Grundlegung durch die Enzyklika „Rerum novarum" des Papstes Leo XIII. im Jahre 1891 und damit vor gut 100 Jahren. Durch diese und 40 Jahre später durch die Enzyklika „Quadragesimo anno" des Papstes Pius XI. wurden die Grundsätze des
Wie kann sich das Genossenschaftswesen in Südtirol entwickeln?
Der Adventsmarkt in Glurns: Von Menschen für Menschen.
Solidarismus und des Subsidiarismus festgelegt und diese beiden Begriffe haben auch im Raiffeisen-Genossenschaftswesen fundamentale Bedeutung. Mit der Enzyklika „Rerum novarum" hat die Amtskirche zum ersten Mal festgelegt, dass die Katholiken sich auch um die Not der Mitmenschen zu kümmern haben und tatsächlich entstand damals insbesondere in Italien eine christlich-soziale Bewegung, die das Genossenschaftswesen als besonders geeignetes Instrument zur Linderung von Not erachtete. So waren es auch vielfach Priester, die Genossenschaften gegründet haben. Allein im damaligen Tirol südlich des Brenners wurden von 1889 bis 1892 45 Raiffeisenkassen errichtet, bei denen in 19 Fällen der Dekan, Pfarrer oder Kooperator als Vorstand, Aufsichtsrat oder Zahlmeister vorkam. Haben die Werte, die vor 125 Jahren die Menschen bewegt haben, Genossenschaften zu gründen, heute noch ihre Gültigkeit? Begriffe der Ethik wie Solidarismus und Subsidiarismus, menschliche Freiheit und Würde, Gewissensfreiheit und Gerechtigkeit
sowie das Recht auf Mitsprache oder Mitbestimmung sind absolut zeitlos und sie haben heute unverändert ihre Gültigkeit wie zu Zeiten der Entstehung der RaiffeisenGenossenschaften. Daran ändert auch die dynamisch-pluralistische Gesellschaft unserer Zeit der technischen Zivilisation nichts, auch wenn diese ihre Mündigkeit gegenüber der Kirche behauptet. Sind der heutige Materialismus und Konsumismus noch mit dem sozialen und solidarischen Gedankengut der Genossenschaften vereinbar? Heute neigt die katholische Soziallehre dazu, der Sozialpolitik den Vorrang vor allen anderen gesellschaftlichen Aufgaben zu geben. Der Wohlstand unserer Zeit und der damit verbundene Materialismus machen die Menschen in vielerlei Hinsicht unabhängiger von sozialen Bindungen als dies zu anderen Zeiten der Fall war. Damit sind die sozialen und solidarischen Elemente in einer Genossenschaft in den Hintergrund getreten, dafür gibt es aber neue Sachzwänge der Ökonomie, die auf Solidargemeinschaften, wie sie die Genossenschaften u.a. darstellen, nicht verzichten können.
Das Raiffeisen-Genossenschaftswesen in Südtirol ist bereits gut entwickelt, aber äußere Einflussfaktoren wie jene der Globalisierung und damit der Konkurrenz, die immer stärker um sich greifende Technologie, insbesondere der Informatik, und die zunehmenden behördlichen Forderungen von Transparenz und korrekter Unternehmensführung stellen die Genossenschaften vor große Herausforderungen. Die Gesetze des Marktes, der Wirtschaftlichkeit und der Effizienz werden bei Genossenschaften auf Dauer jedoch nicht die einzigen Faktoren sein, die ein erfolgreiches Weiterkommen garantieren. Welche Rolle spielt der Raiffeisenverband? Der Raiffeisenverband hat sich neben der Wahrnehmung seiner institutionellen Aufgaben der Vertretung, der Beratung, Betreuung und Hilfeleistung und auch der Überwachung der angeschlossenen Genossenschaften in den letzten Jahrzehnten auch sehr darum bemüht, die ethischen und moralischen Inhalte des Raiffeisen-Genossenschaftswesens zu verbreiten und wach zu halten. Es war das Jahr 1989, als der Raiffeisenverband aus Anlass des 100. Gründungsjahres der ersten Raiffeisenkassen in Südtirol eine Statue des Humanisten, Sozialreformers und Genossenschaftsgründers F.W. Raiffeisen vor dem Raiffeisenhaus aufstellte und in der Folge das ethische und geistige Vermächtnis dieses Mannes in den Vordergrund rückte, indem bei unzähligen Anlässen und besonders auch bei den Schulungsveranstaltungen demselben gebührenden Platz wie nie zuvor eingeräumt worden ist. Interview: Stefan Nicolini Südtiroler Landwirt
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