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Bezirkskliniken Schwaben
Verstehen, wie der Autist die Welt sieht Zentrum für Psychiatrie und Heilpädagogik im BKH Kaufbeuren ist auf die Behandlung von Autisten spezialisiert Kaufbeuren. Alle in seiner Umgebung wundern sich, dass der 55-Jährige auf den Tod seiner Mutter so teilnahmslos reagiert. Stattdessen fängt er plötzlich an, beim Gehen ein Bein nachzuziehen und kleine Schritte zu machen. Er wird in der Sprechstunde am Bezirkskrankenhaus (BKH) Kaufbeuren vorgestellt. Es stellte sich heraus, dass die Mutter, bevor sie nach langer Krankheit starb, an Morbus Parkinson litt und ihr Sohn nun genau das gleiche kleinschrittige, unsichere und vorn übergebeugte Gangbild zeigt. Alles weist auf eine depressive Entwicklung hin. Durch das Gangbild drückt er seine Traurigkeit aus. Es handelt sich um einen Autisten, der seine Trauer nicht anders zeigen kann. Kein Einzelfall, mit dem sich Sandra Hoppstock, Chefärztin des Zentrums für Psychiatrie, Psychotherapie und Heilpädagogik (ZPH) am BKH Kaufbeuren, und ihr Team befassen. Die Erscheinungsbilder der Erkrankungen sind oft skurril und müssen erst übersetzt werden. Der eine Patient gibt an, eine Cola trinken zu wollen, meint aber, er möchte spazieren gehen und wird dann aufgebracht, weil er nicht hinaus kann. Der andere bleibt nicht im Bett liegen, weil er anstelle des T-Shirts einen Schlafanzug tragen muss und schreit die ganze Nacht. Was alle gemeinsam haben: Sie sind Autisten und haben eine eigene Sicht der Welt. „Wir haben viele schwer erkrankte Menschen bei uns. Immer wieder hören wir: Wenn ihr sie nicht aufnehmt, wer dann?“, berichtet Chefärztin Hoppstock. Etwa 350 Patienten werden in ihrem ZPH pro Jahr stationär behandelt. Dabei handelt es sich um eine spezialisierte psychiatrische Abteilung im BKH, die sich um Menschen mit Intelligenzminderung, erworbenen kognitiven Beeinträchtigungen und schwerwiegenden Entwicklungsstörungen kümmert. Zusätzlich weisen diese Patienten psychiatrische Erkrankungen auf. „Das ZPH ist eine Besonderheit, dessen Spektrum nur dort im Unternehmen angeboten wird“, sagt Thomas Düll, Vorstandsvorsitzender der Bezirkskliniken Schwaben. Die Station mit dem Namen „ZP01“ verfügt über 20 stationäre Betten. Anfragen kommen aus ganz Deutschland. Die dazugehörige Ambulanz betreut circa 750 Patienten pro Quartal. Das ZPH feiert 2016 sein 30-jähriges Bestehen. Sein Team bestehend aus 35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist sehr erfahren. Unter ihnen ist mit Melanie Gredigk eine Fachkraft für Autismus.
„Insgesamt beinden sich Patienten mit Autismus-SpektrumStörungen (ASS) zu einem Anteil von etwa 15 Prozent auf unserer Station“, teilt sie mit. Viele sind beeinträchtigt im Sehen, Hören und in der Mobilität. „Das führt zu einem hohen Plegeaufwand und erfordert zusätzlich eine engmaschige Begleitung in allen Aktivitäten des täglichen Lebens“, ergänzt Sandra Hoppstock. „Die Ambulanz muss mit der Station eng vernetzt sein. Jeder von uns arbeitet sowohl ambulant als auch stationär.“ Die Ärzte, Plegekräfte, Psychologen, Ergotherapeuten, Heilerziehungspleger, Sozial- und Heilpädagogen sowie die Mitarbeiterinnen im Sekretariat versuchen sich darauf einzustellen, dass Autisten die Welt anders erfahren und sie so anders kommunizieren. „Autisten können Reize und Eindrücke nicht iltern und so sortieren wie wir. Sie können auch die Bedeutung der Reize nur bedingt verstehen. Es ist, als würde die Welt auf sie einprasseln ohne, dass sie verstanden werden kann“, erläutert die Chefärztin. So kommt es schnell zur Überforderung und es treten Verhaltensauffälligkeiten auf: Warum holt mich mein Vater nach dem Tod der Mutter nicht mehr ab, obwohl er es immer getan hat? Der Autist kann dies nicht fragen, versteht die Traurigkeit des Vaters nicht und auch nicht, dass er selbst traurig ist, da sich sein Leben verändert hat.
„Autisten brauchen eine klare, eindeutige Sprache in kurzen Sätzen – sonst verstehen sie uns nicht.“ Chefärztin Sandra Hoppstock
Jetzt sind die Fachkräfte des BKH gefragt. „Unser erstes Ziel ist, die Autisten zu verstehen, die Auffälligkeiten zu übersetzen, die Erkrankungen zu erkennen, sie zu behandeln und auf das Umfeld der Patienten zu achten. Das, was wir herausinden auf Station, transferieren wir im ambulanten Arbeiten ins Wohnen und Arbeiten der Autisten, damit die Welt für sie einfacher und sie selbst zufriedener werden.“
E Das Team des ZPH Kaufbeuren mit Chefärztin Sandra Hoppstock (vorne) nimmt ein Bällebad. Foto: Georg Schalk
Auch im Umgang mit den Autisten gibt es vieles zu beachten, denn auch hier kann man sie schnell überfordern. Sie brauchen eine klare, eindeutige Sprache in kurzen Sätzen – „sonst verstehen sie uns nicht“, sagt Hoppstock. „Und wir müssen uns auf sie einstellen, denn sie können es nicht und werden dann krank.“ Eigentlich seien die Betroffenen lebenslustige, fröhliche Menschen, denen die Welt nur oft zu kompliziert ist. Deshalb müsse man es ihnen einfacher machen. Auf Station wird der Patient eng eingebunden. Seine jeweilige Bezugsplegekraft spricht ihn immer wieder klar und deutlich an. Er hat ein Einzelzimmer und muss sich nicht auf einen Zimmernachbarn einstellen. So wird der Raum zu seinem Rückzugsort. Das Personal achtet darauf, dass dort nur das nötigste Mobiliar vorhanden ist. Der Raum soll schmucklos sein: keine Bilder, keine Vorhänge. Melanie Gredigk: „Nur so erhält der Autist seine benötigte Reizarmut.“ Damit er sich auf Station zurechtindet, braucht er feste Sitzplätze – zum Essen und zum Verweilen. So wird er nicht unsicher und ist nicht irritiert. Das ZPH bietet eine spezielle Autismus-Sprechstunde an. Die kann in Kaufbeuren im BKH oder aufsuchend in Wohnheimen und Werkstätten stattinden. Dazu fahren die Mitarbeiter bis in die Landkreise Landsberg, WeilheimSchongau, Fürstenfeldbruck und Augsburg. Es werden Betreuer der Wohngruppen und Werkstätten sowie Angehörige zu diesen Sprechstunden eingeladen. „Es ist wichtig, dass alle miteinbezogen werden“, sagt Hoppstock. Sehr beliebt ist die Angehörigengruppe für Eltern mit autistischen, erwachsenen Kindern, die sich einmal im Monat am BKH Kaufbeuren trifft.
Da Autisten ein besonderes Setting brauchen, hat sich die Station auf diese Patienten speziell eingerichtet. Sie haben eine verminderte Körperwahrnehmung. Um die Autisten körpertherapeutisch anzuregen, stehen im ZPH ein spezieller SI-Raum (SI steht für sensorische Integration) mit Bällebad, Hängematte, ein Badezimmer mit Whirlpool, eine Massageliege sowie Licht- und Musikanlagen zur Verfügung. Vorhanden sind auch Ergotherapiezimmer und ein sogenannter Snoezelenraum: ein komplett in Weiß gehaltener Raum mit großem, weißen Sitzsack und ausgestattet mit Licht- und Musikanlage zur Entspannung. Unter Snoezelen – eine Fantasieschöpfung aus den beiden englischsprachigen Verben „snooze” und „doze” (ein Nickerchen machen, dösen) – versteht man den Aufenthalt in einem gemütlichen, angenehm warmen Raum, in dem man, bequem liegend oder sitzend, umgeben von leisen Klängen und Melodien, Lichteffekte betrachten kann. „Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht der Mensch und wir versuchen ihn so zu nehmen wie er ist, um herauszuinden, was er braucht. Nur so kann er in Krisen gesunden und ein für ihn erfülltes Leben führen“, sagt die Chefärztin stellvertretend für ihr Team. Man akzeptiert die Patienten nicht nur so, wie sie sind. Man habe sogar Spaß daran, sie kennenzulernen und mit ihnen Neues zu entdecken. Hoppstock: „Wir sind der Meinung, dass Autisten sich weiter entwickeln können und wollen. Wir wollen ihnen dazu die Möglichkeit eröffnen.“ Langfristig soll auch ihnen durch individuelle Behandlung mehr Selbstständigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden.