ROSEGARDEN I

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Teresa Bücker – #aufschrei und die Freiheit der Frau Oliver Bottini – Wildes Wilmersdorf Philippe Intraligi – New York City Snapshots The Chap – Interview über Menschen, die in Bars arbeiten

D a s

M a g a z i n

f ü r

d i e

u r b a n e

B o h è m e


Editorial

Warum wir Rosegarden gründen?

Weil die Welt noch weitere 20-sei-

Die Frage ist berechtigt.

tige Modestrecken braucht? Wer weiß?!

Weil wir dem Niedergang des Zeitungs-

und

Zeitschriftenmarktes

Richtig ist:

begegnen wollen?

Wir wollen ein Magazin für die, die

Bestimmt nicht!

wir nach langen Diskussionen nun doch die „Urbane Bohème“ nennen.

Weil wir das Geld brauchen? Also: Menschen zwischen Anfang 20

Siehe oben.

und Mitte 40, die in Städten leben, Weil wir glauben, dass die neue

die selbst kreativ sind oder die

schwarz-grüne

in

die Kreativität anderer als einen

deutschen Städten noch ein weite-

Beitrag zu ihrer städtischen Le-

res Sprachrohr zu Nachhaltigkeit,

bensqualität schätzen. Aber auch:

Stadtflucht und korrektem Kinder-

Menschen, die aus ihrer Kreativi-

spielzeug braucht?

tät und ihrem Können wirtschaftli-

Um Himmels Willen!

chen Erfolg machen.

2

Bürgerlichkeit


Für die viel beschriebene Kreativ-

mentare Lebenselixier für den, ja,

industrie

angrenzenden

Achtung: Zeitgeist! Unsere Städ-

Spielwiesen und Milieus: Verwer-

te sind so anziehend und lebens-

ter, Bewunderer, Zukünftige, Aus-

wert wie das Engagement, der Mut

steiger.

und die Ideen Einzelner großartig

und

ihre

sind. Ihnen gehört ein Denkmal geEin paar Schlagworte gefällig?

baut (Notiz an uns!).

Bitte: Start-up-Kultur, Guerilla Kitchen,

Damit aber nicht genug: Wir glau-

Pop-Up-Store, Urban Knitting, Mul-

ben, die Menschen, über die wir

tioptionalität, Mut, Zeitgeist.

hier reden und zu denen wir uns selbst zählen, sind Kinder einer

Wir sind davon überzeugt: In den

bestimmten

spannenden Städten der Welt ist

sehr speziellen Umfeld. Viele un-

dieses

zwischen

serer älteren Brüder und Schwestern

brotloser Kunst, umwerfender Idee,

sind in der Zeit vor dem Internet

durchgeknalltem Hobby, Firmengrün-

groß geworden. Sie leben mit Mitte

dung und Business Angels das ele-

vierzig den Traum unserer Eltern

Spannungsfeld

Generation

in

einem

3


weiter: mit Haus, Hund und Kind.

Wir sind zwischen Lebensmodellen

Sie sind davon geprägt, dass alles

hin- und hergerissen.

automatisch immer besser wird. Ge-

Wir sind immer zwischen zwei Jobs

nau, die Generation Golf.

oder Projekten. Wir sind zwischen Stadt und Land.

Die meisten unserer kleineren Brü-

Wir sind zwischen Ost und West.

der und Schwestern sind mit dem

Wir sind zwischen den Stationen.

Internet und Easyjet groß gewor-

Wir sind irgendwo zwischen arm und

den. Sie werden die erste Nach-

reich.

kriegsgeneration sein, bei der man

Wir sind zwischen Kinderkriegen und

nicht mehr wie selbstverständlich

„ohne ist es doch auch ganz schön“.

behaupten kann, dass sich Leistung

Wir

lohnt und das es ihnen einmal au-

und Sinnsuche.

sind

zwischen

Funktionieren

tomatisch besser gehen wird als ihren Eltern.

Wir rannten und rennen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr mit ei-

Wir aber sind genau dazwischen.

ner Geschwindigkeit und Zielstre-

Dazwischen ist eine nicht unwich-

bigkeit durchs Leben, dass wir,

tige Zustandsbeschreibung im Kon-

einmal jenseits der 30 angekommen,

text von Rosegarden:

nun alles können, aber gar nicht

4


wissen, ob wir es wollen und wenn doch f端r wie lange. Die

Themen,

die

in

diesem

Um-

feld existieren, sind zahlreich. Wir wollen dar端ber berichten. In Schnappsch端ssen.

Subjektiv.

Vor-

eingenommen. Ohne Dogmen. Warum? Darum! Maren Heltsche, Mario M端nster & Bertram Sturm

Maren, Bertram und Mario (Anmerkung der Grafik)

Foto: Vera Hofmann

5


I

nhalt

IN DER STADT New York Snapshots

Aus Liebe zu Frankfurt

Philippe Intraligi ist Designer

Der Fotograf Alexander Habermehl

für Corporate Design & Fashion. Er

war in Berlin, ging zurück nach

lebt in Brooklyn. Aus NYC schickt

Frankfurt,

er uns Schnappschüsse.

12

fotografierte

seine

Heimat im Quadrat und hat heute sogar Fans in Chicago.

20

Wildes Wilmersdorf Der Schriftsteller Oliver Botti-

In Duisburg

ni ist von Berlin-Kreuzberg nach

Christiane Weihe widmet sich in

Berlin-Wilmersdorf gezogen. Sei-

ihrer

ne Erlebnisse verarbeitet er in

mes-Perle Duisburg und ist ziem-

18

Texten.

Stadtkolummne

der

lich angetan.

Pom26

NACHDENKEN Zwischen Prekariat und Sinnsuche

#aufschrei und die Freiheit

Rosegarden widmet sich einer Ge-

der Frau

neration,

Lebensgefühl

Teresa Bücker und Annina Schmid

oder doch eher einer Situation?

sprechen über Sexismus, Diskri-

Wir versuchen die Annäherung an

minierung, Dummheit und Model-

den Kontext dieses Magazins. 32

le für die Zukunft emanzipierter

einem

Frauen.

6

38


NACHDENKEN Good morning Palestine

Gut, besser, genial. Wir

2011 wurde Juliano Mer Khamis, der

brauchen mehr Ideen.

Günder des Freedom Theaters in

Maren

Jenin, erschossen. Der Berliner

ge nach, was eine gute Idee ist

Filmemacher Robert Kummer macht

und wo man sie vielleicht suchen

darüber einen Film. Wir haben ihn

sollte.

beim Schneiden besucht.

Heltsche

geht

der

Fra-

54

44

KREATIVE Wasser Farben Reisen

Erklärungsnot

Thomas Weltner reist in Städte.

David

Im Gepäck hat er immer Zeichen-

viel mit Worten rum. Auch Gedich-

block

te. In jeder Ausgabe veröffentli-

und

Aquarellfarben.

Und

dann malt er, was er sieht. Ent-

Hermann

macht

chen wir eines davon.

in

London

66

schleunigte Eindrücke aus London, Barcelona und Co.

60

I beg your pardon! Der Berliner Autor Christian Ludwig hat von uns einen Auftrag bekommen: Schreibe einen Text zum Thema „I beg your pardon“. Er hat geliefert.

68

7


ZERSTREUUNG Rumdriften in der Subkultur

Guerilla Taktik

Ein Interview mit Johannes von

Interview

Weizsäcker, Sänger der Londoner

der in Berlin als Guerilla-Koch

Band The Chap, über Menschen, die

für guten Geschmack sorgt.

mit

Daniel

Grothues, 94

80

in Bars arbeiten.

Alternatives High Noon Provinz und Metropole

Mittagspause kann auch abwechsHät-

lungsreich sein. Wir stellen Al-

scher macht sich Gedanken über

ternativen zur „B14 mit Reis zum

Berlin

musikalisch.

Musik in Metropolen.

Sven

86

mitnehmen“ vor.

100

Magische Orte

Der Weintipp: Weiße Wespe

Spazieren gehen klingt so wahn-

Mario Münster erlebt Zufälle im

sinnig altmodisch. Dabei ist es

Friaul und empfiehlt die Biene

so wahnsinnig schön. Mandy Schos-

Maja unter Italiens Top-Weißwei-

sig empfiehlt eine Route zum Ent-

nen.

104

90

spannen.

I adore you Colin Meloy Ein Brief an den Sänger und Buchautor Colin Meloy.

106

NERDS Die krasse Grafik

TyPorn

Der Soziologe Christoph Raiser

Unser Kreativdirektor liebt Ty-

hat in seiner Doktorarbeit un-

pografie. In jeder Ausgabe er-

tersucht,

Europäischen

lauben wir ihm, sich diesbezüg-

Parlament Kompromisse entstehen.

lich mal zu äußern. Heute zum

wie

im

Sieht krass aus.

8

110

Thema „Ligaturen“.

112


THX Wir danken allen Kontributoren f端r ihre Texte und Bilder. F端r ihre Unterst端tzung, Tipps und Geduld danken wir: Hofgr端n Berlin, Johannes Budweg vom Merkezi, Ludmilla Emilie Giese, Toni und Thea Neubauer vom SisterMag und Vera Hofmann.

9


New York Snapshots Wildes Wilmersdorf Aus Liebe zu Frankfurt In Duisburg

10


11


Wall Street-Fenster kurz vor Sonnenuntergang – die Lichter gehen an.

12


‚N

YC‘ Fotograf: Philippe Intraligi

Straßenecke in Brooklyn

13


Aussicht aus meinem neuen

B端ro

in

Downtown/

Wallstreet. Auf der linken Seite sieht man die Freiheitsstatue/Insel und auf der rechten Seite die Skyline von New Jersey.

14


15


16


Times Square – Vanilla Sky Moment. Für den Moment alleine auf dem Fußgängerweg.

Philippe Intraligi arbeitet als Grafik Designer in den Bereichen Werbung, Corporate Design und Fashion. Er lebt mit seiner Familie in Brooklyn. Für Rosegarden schickt er uns regelmäßig Schnappschüsse aus New York.

Philippe

arbeitete

unter

anderem

für adidas originals und Metadesign. Bevor es ihn nach New York verschlug, lebte er in Brasilien, China, Italien und Berlin. Mehr Infos: www.intraligi.com

Sicht aus dem Büro mit Reflexion

17


W

ILDES WILMERSDORF Til Schweiger und die Altglascontainerzentralbehörde Text: Oliver Bottini

Fragt man bei uns in Wilmersdorf

hauptet, Bruno Ganz lebe hier in

eine, die es wissen muss, nach ei-

der Gegend. Für Bruno Ganz würde

nem nahen Altglascontainer, erhält

ich

man folgende Antwort: Gleich da

gern dreimal so weit laufen, um

vorn stand einer, an der Kreuzung.

die verflixten Glasflaschen fach-

Zwanzig Jahre stand der da, det

gerecht

wa praktisch! Altglas, Altpapier

Jürgen Vogel oder Benno Fürmann.

und ’ne gelbe Tonne gab’s da und

Wenn nun aber einer dieser typi-

auch einen Behälter für Altklei-

schen sehr wichtigen durchschnitt-

dung. Dann ist in das Haus dane-

lichen deutschen Schauspieler wie

ben ein Schauspieler gezogen, hab

Til Schweiger oder Heiner Lauter-

ick jehört, und auf einmal standen

bach oder Christoph Maria Herbst …

selbstverständlich

zu

entsorgen.

jederzeit

Auch

für

die Container mit der Öffnung zur anderen Seite … Na, und eines Ta-

Keine angenehme Vorstellung, dass

ges waren se janz weg, ist eben ’n

Til

wichtiger Schauspieler. Und jetzt

lich ist, dass ich jetzt dreimal

ist

so weit … Echt nicht.

der

nächste

Container

halt

Schweiger

dafür

verantwort-

vorn am Hohenzollerndamm, runter Richtung Wasserwerk.

Und wie läuft so was in der Praxis ab? Steht da der Schweiger eines

Jemand anders, der es ebenfalls

Tages in der Altglascontainerzent-

wissen muss, hat vor Kurzem be-

ralbehörde, die Nase an der Trenn-

18


scheibe und näselt bedrückt: Böh,

Muss man sich das so vorstellen?

all die Flaschen, wenn die so ganz

Und wenn der Schweiger da wieder

grell klirr machen, und die machen

auszieht, schrumpft der Behörden-

das den ganzen Tag, so ganz grell

mensch dann auf Normalmaß und die

klirr und wieder klirr und wieder

Container kommen zurück?

klirr, wie soll ich denn da arbeiten und den nächsten großen deut-

Ach, Wilmersdorf …

schen Film drehen, ich steh da am Set und hab den Text vergessen und

Was soll’s, ich steige um auf Pet,

denk nur: klirr, böh, ganz grell

das Zeug kann ich auf der Hofseite

klirr klirr klirr, ey, ach komm,

aus dem Fenster werfen, die Tonne

kannste mal, kriegste auch ’ne Au-

steht drunter.

togrammkarte oder zwei … Und irgendein halbdebiler Behördenmensch

Und in meinen Träumen steht der

wächst um zwei Zentimeter und ord-

Schweiger an der Tonne und hält

net die Standortverlagerung an?

sie mir auf.

Oliver Bottini, 1965 in Nürnberg geboren, schreibt Kriminalromane. Er studierte in München Germanistik, Italianistik und Psychologie, absolvierte später eine Ausbildung in Wirtschafts- und Familienmediation und lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin (Wilmersdorf). Zuletzt erschien von ihm im DuMont Verlag der Roman „Der kalte Traum“, für den er 2013 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde.

19


A

us Liebe zu Frankfurt Der Fotograf Alexander Habermehl bringt unter dem Label „Frankfurter Bubb“ den sehr persönlichen Blick auf seine Heimatstadt weltweit unter die Leute. Und zwar im Quadrat. Text: Mario Münster

Wenn man Alexander Habermehl zu-

Bubb“ produziert er Bilderserien

hört, wie er über sein Frankfurt

mit seinen ganz eigenen, ungewöhn-

am Main spricht, dann werden die

lichen Motiven aus Frankfurt. Die

Stadt und die Erinnerungen, die man

Bilder werden auf kleine, quadra-

selbst an sie hat, sehr lebendig.

tische Holzklötzchen geklebt, ge-

Der hessische Sing-Sang in seiner

rade mal zehn mal zehn Zentimeter

Stimme, die Leidenschaft, mit der

groß, und mittlerweile bis nach

er über die Eintracht redet. Fast

Hong Kong oder Chicago geschickt.

fühlt sich die Teetasse, an der

Allein kann er die Nachfrage nach

man sich im fernen Berlin gerade

seinen Bildern mittlerweile nicht

festhält, an wie ein „Geripptes“.

mehr bedienen – in Lisa und Tabea

So nennt man in Deutschlands Ban-

aber hat er zwei „fleißige Helfe-

kenmetropole das Glas, in dem der

rinnen“ gefunden.

Ebbelwoi ausschenkt wird. Rückblende: Im Winter 2001 spieGenau diese Liebe zur Stadt hat

le ich in einer ziemlich durch-

den Fotografen Habermehl auf eine

schnittlichen Berliner Studenten-

Idee gebracht, die er in den ver-

band.

gangenen Jahren neben seiner ei-

„Ich kenn da einen, den Alex, der

gentlichen

Unser

Schlagzeuger

sagt:

als

Fotograf

ist Fotograf, der macht bestimmt

Leidenschaft

gepflegt

ein paar Bilder von uns.“ Machte

hat. Unter dem Label „Frankfurter

er dann auch. Man kann noch nicht

mit

20

viel

Arbeit


mal sagen „weil er das Geld brauch-

grafieren, mal ein paar Projekte

te.“ Er hat gar keins bekommen. In

machen, irgendwie über die Runden

jedem Fall waren die Bilder besser

kommen. Für Habermehl kam es aber

als unsere Musik. Ich hatte sie

anders. Die Rückkehr in seine Hei-

gestern noch einmal in den Händen.

mat hatte daran vermutlich einen gewissen Anteil.

Als junger Fotograf 2001 in Berlin, da schien der Weg vorgezeich-

Zurück in Frankfurt lief es schnell

net, dachte ich mir ausgehend von

gut. Es kamen die ersten Aufträge

meinem irgendwie vorhandenen Halb-

von größeren Kunden und das eigene

wissen darüber, wie es für frei-

Fotostudio etablierte sich. Heu-

schaffende

einer

te fotografiert Habermehl mal beim

Stadt wie Berlin wohl sein muss:

Champagner-Riesen Moet & Chardon

Lange Jahre schlechte Bands foto-

in Epernay, mal beim Parfüm-Gott-

Fotografen

in

21


vater Guerlain in Paris. Zuletzt

gen. Die Bankercity hat ein, sagen

entwickelte er eine neue Bildspra-

wir mal, bescheidenes Image in der

che für die Frankfurter Allgemei-

Hauptstadt mit ihren jungen Krea-

ne Zeitung. Von so einer Karriere

tiven aus aller Welt. Und nicht nur

träumen viele selbständige Foto-

da löst Frankfurt keine Begeiste-

grafen.

rungsstürme aus.

„Da muss man mal

was machen am Image der Stadt“, Was Habermehl aber die ganze Zeit

dachte sich der Frankfurter Junge.

nicht losgelassen hat, waren die

Der Welt da draußen zeigen, dass

Erinnerungen

als

Frankfurt mehr ist als Flughafen

er

und Banken. Also fing er an zu fo-

dort sagte, er komme aus Frankfurt

tografieren. Nicht das touristi-

am Main und das Gefühl hatte, er

sche Frankfurt, keine Bilder, die

müsse sich fast dafür entschuldi-

den Fremdblick auf die Stadt bestä-

Frankfurter

22

an in

die

Zeiten

Berlin.

Wenn


tigen. Er fotografierte seine ganz

wenige, sondern das Frankfurt für

persönliche Sicht auf die Stadt –

jedermann.

alte, zutiefst nachkriegsdeutsche Gebäudefassaden, Kneipeneingänge,

Am Anfang verkaufte er die Bilder

Skurriles, U-Bahn-Stationen. Wenn

an Bekannte und Freunde. Dann, er-

man so will, war die Suche nach

innert er sich, bekam er das Ange-

den ersten Motiven für Habermehl

bot, in einem Frankfurter Ladenge-

auch eine Reise in die eigene Ver-

schäft in einem kleinen Regal seine

gangenheit. In Frankfurt ist er

Quadrate zum Verkauf auszustellen.

groß geworden, hat das Fotografie-

Mit zittrigen Händen hat er seine

ren gelernt, sein Vater ist hier

Motive in das Regal geschoben und

Fotograf, sein Opa war Geschäfts-

sich die ganze Zeit gefragt, ob

führer

Frankfurt.

das überhaupt einen interessiert.

Diese Stadt wollte er den Menschen

Doch es interessierte. Heute hän-

nahebringen.

gen

von

Eintracht

im

ganzen

Land

Motive

vom

Frankfurter Bubb in den Wohnungen Dann kam ihm die Idee, seine Bil-

von Frankfurtern, die nicht mehr

der auf kleinen Holzquadraten zu

in ihrer Heimatstadt leben. Sie

vervielfältigen. Es sollte klein

holen sich damit ein Stück Heimat

und günstig, zum Anfassen sein.

in ihr neues Zuhause. Der Erfolg

Die Menschen sollten die Bilder

mit dem Frankfurter Bubb, da ist

einpacken, mitnehmen und lieb ha-

Habermehl sicher, konnte nur kom-

ben können. Habermehl wollte damit

men, weil er eine Sache, auf die

einen Gegenentwurf zum Image der

er große Lust hatte, mit viel Lie-

teuren, distanzierten Bankerstadt

be, Leidenschaft und Authentizität

liefern – nicht das Frankfurt für

angefangen hat.

23


wenn

Künstler in den Metropolen Berlin,

man mit Habermehl spricht: Heimat.

London, Paris, New York. Habermehl

Heimat sei etwas, das die Leute

sieht große Räume für Kreativität

heute suchen. In Städten mehr noch

in anderen, kleineren Städten. Zu-

als auf dem Land. Heimat und Iden-

mal in Deutschland. Alles konzen-

tität. Und das führt, da kann man

triert sich auf Berlin. Hier ha-

ihm nur zustimmen, zu einem ge-

ben zehn Leute die gleiche Idee am

wissen Lokalpatriotismus, den die

gleichen Ort, während man in Mün-

Menschen der zunehmenden, nennen

chen oder Köln vielleicht darauf

wir es mal geosozialen Entwurze-

wartet.

Ein

Begriff

fällt

häufig,

lung und Anonymität der Globalida

Manchmal ist der Schritt zurück

trifft er wirklich einen Punkt:

ein Schritt nach vorne. Habermehl

In Berlin ist „Kotti d‘Azur“ ein

hat aus der Rückkehr in seine Hei-

Begriff für die Zugehörigkeit zu

matstadt nur Gutes gezogen. Un-

einem bestimmten Ort und Lebens-

ternehmerisch sowieso. Aber auch

gefühl. In Brooklyn tun sich junge

emotional und persönlich. Im Mu-

Unternehmer zusammen und hauchen

seum von Eintracht Frankfurt ste-

dem Label „Made in Brooklyn“ neues

hen noch Sachen von seinem Groß-

Leben ein.

vater,

sierung

entgegenhalten.

Und

sagt

er.

Daneben

hängt

mittlerweile auch eine BilderseAber es muss eben nicht immer Broo-

rie, die Habermehl für die Ein-

klyn oder Berlin-Kreuzberg sein.

tracht fotografiert hat. Der Opa,

Das ist eine Botschaft, die hängen

ein waschechter Frankfurter, wäre

bleibt. Vielleicht sogar vor al-

stolz. Auf Frankfurt und seinen

lem für die vielen Kreativen und

Enkel.

24


25


I

n Duisburg Text: Christiane Weihe

Ruhrpottperle? Echt nicht. Bei der

Wie gut, dass wir hier nur schla-

Ankunft sind wir der Dunkelheit

fen müssen.

fast dankbar für alles, das sie verhüllt. Der schon zur Tatortzeit

Übermüdet von der Party am Abend

ausgestorbene

Bahnhofsvorplatz.

zuvor, den ersten Messestunden und

Die Autobahn direkt vor der Nase.

dem doppelten Umweg über die Au-

Die viel zu breit geratene Fußgän-

tobahn treten wir an die Rezep-

gerzone. Füllt sie sich wohl je-

tion. Freundlichkeit umhüllt uns

mals vollständig mit Menschen?

schnell. Ob wir gut hierher gefunden haben? Hm, na ja. Gleich

Verwaist,

verwaschen.

Bonsoir

scheint es, als wolle er der Stadt die Schuld für unsere Orientie-

tristesse. Echt jetzt.

rungslosigkeit geben. Wir treffen Im Hotel wäre man im ersten Moment

ihn noch drei Mal an diesem Abend.

für

Licht

Das Zimmer wurde gewechselt, etwas

dankbar. Vielleicht hätten wir doch

zu essen gesucht. Gleichbleibend

das Überteuerte in Düsseldorf neh-

war nur sein offenes Lächeln.

ein

bisschen

weniger

men sollen. Altes Westdeutschland. Man möchte ihn meiden, den Begriff.

Ruhrpottperle? Hm.

Würde er nur nicht so gut passen. Der Teppich ist sicher viel älter

Noch finden wir das nicht verdäch-

als wir selbst. Es riecht seltsam.

tig. In Freundlichkeit geübtes Ho-

26


telpersonal, kennen wir doch. Und

während zwei andere Kundinnen den

dann noch in dieser kargen Umge-

Laden betreten. Brav stellen sie

bung,

sich an der Kasse an.

selbsterklärend.

Mit

kei-

nem hat der Rezeptionist an diesem stillen Abend in der leeren Stadt

Endlich

wahrscheinlich mehr gesprochen als

hinter sie. Und zucken fast zusam-

mit

Vielleicht

men, als das Mädchen in Pole Posi-

ist seine Freundlichkeit auch ihm

tion sich umdreht, uns anspricht.

geschuldet – dem Wissen, in den

Kurzfristig bin ich abgelenkt von

nächsten Stunden wieder vor allem

den Piercings, dem Fanschal, dem

mit sich selbst sprechen zu müssen.

Engelsgesicht. Wir seien doch zu-

uns,

denke

ich.

entschieden

treten

wir

erst da gewesen, sagt sie freundKleines Zimmer, traumloser Schlaf,

lich, aber bestimmt. Wir haben‘s

der erste Blick aus dem Fenster:

nicht eilig, sie möge doch ruhig …

Hinterhof. Nicht charmant, nicht

Sie lächelt, nickt, bedankt sich.

romantisch.

der

Bestellt einen schnellen Kaffee.

weitere Ausblick offenbart nichts

Und wünscht uns zum Abschied einen

Ermutigendes.

schönen Tag.

Hinterhof. Der

Auch

Fernsehturm

sieht einsam aus. Ebenso die Straße auf dem Weg zum Bahnhof. Wir

Der kleine Junge im Kinderwagen

sind feige und steuern die ver-

vor uns erzählt in der Zwischen-

traute Kaffeekette an. Ich kann

zeit was vom Kindergarten. Scheint,

mich an der Törtchentheke nicht

er würde gerne dorthin. Es stellt

zwischen

und

sich raus: Nur die große Schwes-

dem mit Himbeeren entscheiden. Wir

ter darf das schon. Er kann es

diskutieren noch ein bisschen rum,

kaum erwarten. Seine Mutter, nun

dem

Ding

mit

Zimt

27


in Pole Position, dreht sich um.

mein Tee, so stellt er schließlich

Wir seien jetzt doch dran. Wir se-

fest, sei ja auch heißer als der

hen uns verwirrt an. Doch, es ist

Kaffee des Gatten. Dass da gut ab-

ihr ernst damit. Wir winken noch

gewogen werden will, versteht er

mal ab. Keine Eile, sie möge doch

offensichtlich gut. Dass uns zehn

ruhig … Sie dankt, holt Kaffee,

Minuten später zum dritten Mal an

schiebt in Richtung Kindergarten,

diesem Morgen mit strahlendem Lä-

den

Kna-

cheln ein schöner Tag gewünscht

ben voran. Auch sie wünscht einen

wird, nehmen wir durchaus wahr.

schönen Tag, mit dieser ruhigen,

Denn

ehrlichen und offenen Freundlich-

können nicht der Grund für außer-

keit.

gewöhnlich gute Laune sein. Eisig

sehnsüchtig

lächelnden

laue

Frühlingstemperaturen

schießt der Wind vorbei. Hier stimmt was nicht. Ruhrpottperle?

Das kann jetzt kein Zufall mehr sein. Echt nicht.

Wir sind dran. Und ein bisschen verwirrt. Von der Freundlichkeit

Auch der Gatte ist irritiert von so

oder der Auswahl? Wahrscheinlich

viel Freundlichkeit. Tun die hier

von beidem. Zum hier Essen oder

was ins Wasser? Chemische Drogen in

Mitnehmen, klein oder groß, auf-

der Luft? Eine Fabrik in der Nähe,

wärmen oder nicht. Zwei Mal ent-

ein Werk am Fluss? Sein verwunder-

scheiden wir uns um. Der junge Mann

ter Blick flackert umher. Scheint

uns gegenüber nimmt‘s mit Humor.

sich zu fragen, ob die Gefahr be-

Vielleicht kennt er das schon. Ist

steht, dass die anderen Passanten

ja auch alles nicht so einfach. Und

ihn auf einmal packen und anlä-

28


cheln. Dass Musik einsetzt und sie

habe er es gesehen, sagt er mit

mit ihm tanzen.

einem Lächeln. Sicher, die Kalte Wind-Tränen, reichlich vergossen an

Duisburg, das Musical?

diesem

Morgen.

Erstaunlich,

kein einfacher Trick. Viele denWir wollen noch eine Flasche Was-

ken, ich würde weinen, sage ich.

ser. Rein in den Laden, schnell

Aus Streit mit dem Gatten viel-

an die Kasse. Dort sitzt ein jun-

leicht. Er blickt zur Seite. Dem

ger Mann. Von der coolen Sorte.

Gatten tief in die Augen. Prüfend.

Hübsch. Schräge Frisur. Er zieht

So sieht der nicht aus, entgegnet

die

Scanner.

er dann. Mit einem Lächeln und

Schaut hoch, mich an. Es sei wohl

sicherer Stimme. Der Gatte lacht,

ganz

wir beide auch.

Flasche schön

über kalt,

den

draußen,

hm?

Fragt er mit echtem Bedauern in der Stimme. Zwei Mal kurz blin-

Das macht mir Angst, sagt der Gat-

zeln, mein fragender Blick. Ist es

te auf dem Weg zum Zug.

die Mütze, die verrät, oder doch das

auffällige

Reiben

der

Hän-

de? Er versteht. An meinen Augen

Das ist ne Ruhrpottauster, sage ich, die Perle steckt innen.

Christiane Weihe lebt und schreibt vorwiegend in Berlin-Kreuzberg. Ihre Tätigkeit als freie Redakteurin erlaubt viele Reisen. Mal nach Duisburg, oft nach Frankreich, meist mit zu viel Gepäck.

29


Leitartikel: Zwischen Prekariat und Sinnsuche #Aufschrei Good morning Palestine Gut, besser, genial. Wir brauchen mehr Ideen.

30


31


Z

wischen Sinnsuche und Prekariat oder das Hadern einer goldenen Generation Ein Magazin für die Urbane Bohème. Wer ist das eigentlich? Gibt es die überhaupt? Ein Versuch, sich dem Lebensgefühl des Teils einer Generation anzunähern. Text: Maren Heltsche, Mario Münster

Leipzig, Moskau, Berlin, Alicante,

Wir sind irgendwie links und grün

Madrid, Berlin. Das ist keine Rei-

und auch ein bisschen konservativ

seroute, das sind Orte eines Le-

mit mancher Neigung zum Libera-

bens. Nein, kein 70-Jähriger, der

lismus. Stadt ist super, sowieso.

zurückblickt, sondern eine 33-Jäh-

Aber oft raus aufs Land, in der

rige. Sie ist nur ein Beispiel von

Stadt hält es ja keiner aus. Wir

vielen. An jedem Ort sprechen wir

essen sonntags gerne wie wir es

unterschiedliche

erle-

in Spanien gelernt haben, im Win-

ben neue Menschen und entdecken

ter helfen uns die Erfahrungen aus

neue Möglichkeiten, finden uns ir-

Russland und auf dem Amt erwarten

gendwie in die Kultur dieser Orte

wir deutsche Präzision.

Sprachen,

ein. So sind wir groß geworden: anpassungsfähig, flexibel, wandel-

Diese Vielfalt prägt unsere Iden-

bar, ehrgeizig. Wir würden es mal

tität und unser Leben. Darin ver-

schwer auf dem Arbeitsmarkt haben

lieren wir uns und darin finden

– sagte man uns. Also haben wir

uns wieder. Noch nie war so vie-

uns angestrengt und keine Fragen

les möglich. Aber auch nie war es

gestellt. Mit Mitte 30 verfügen

so schwer anzukommen, sich zu ent-

wir über eine Art Patchwork-Iden-

scheiden.

tität: Wir haben eine Ausbildung, die es uns erlaubt, in etwa 50

An jedem Ort, an dem wir waren,

verschiedenen Berufen zu arbeiten.

lassen wir etwas zurück – Fami-

32


lie, Freunde, das Lieblingscafé und je

nachdem

das

gute Wetter. Facebook, Skype und Billig-Airlines sind Retter unserer langfristigen

Wir könnten als goldene Generation in die Geschichte eingehen

Unser

Berufsle-

ben beginnt mit schlechter zahlung,

Bevielen

Überstunden

und

befristeten

Ar-

beitsverhältnissen.

Die

typi-

Bindungen und helfen uns, räumli-

schen Arbeitsformen der vorherigen

che Distanzen zu überwinden. Statt

Generation weichen flexibleren Mo-

zusammen am Abendbrottisch sitzen

dellen:

wir am Rechner oder im Flieger.

beitsplätze

weniger im

lebenslange Büro

mit

Ar-

Zimmer-

pflanze, mehr Projekte mit Laptop Es gibt viele spannende Lebenspha-

und Co-Working. Arbeit und Freizeit

sen. Einige der spannendsten lie-

verschwimmen zeitlich – erleich-

gen zwischen Anfang 20 und Mitte

tert durch mobile Endgeräte. Das

40. Nie mehr sonst trifft man so

ganze Büro ist immer und überall

viele Richtungsentscheidungen über

im Zugriff. Aber die Entgrenzung

Beruf,

Wohnort

schlägt uns aufs Gemüt, sagen Ex-

gewinnen

perten. Wir sind doppelt so lange

oder alles in den Sand setzen. Da-

aus psychischen Gründen arbeitsun-

bei gab es wohl noch nie so viele

fähig als noch vor 15 Jahren. Jeder

Freiheiten und Optionen. Und genau

und jede kennt jemanden mit Burn-

das wird

oft zu einem Problem.

out. Und was auch zu dieser Wahr-

Denn wer theoretisch alles kann,

heit gehört: 58 Prozent der unter

ist auch schnell mal überfordert.

25-Jährigen arbeiten in Deutsch-

oder

Familiengründung,

Lebensform.

Alles

33


land zu Niedriglöhnen, Arbeitsver-

beit und wohnen wieder bei ihren

träge sind in der Regel befristet,

Eltern. Sie zählen zu einer Men-

von einem Betriebsrat hat der eine

ge gut ausgebildeter Arbeitsloser,

oder die andere mal was gehört.

deren Zukunft dem von Europa emp-

Lohnfortzahlung im Krankheitsfall

fohlenen Sparkurs zum Opfer gefal-

und bezahlter Urlaub – für Pro-

len ist. Haushalt saniert, Jugend

jektnomaden ist das eine Geschich-

perspektivlos. Eins zu Null für ein

te aus einem Land vor unserer Zeit.

Paradigma, in dem Markt und Mensch nicht zusammen gedacht werden.

In den großen Städten wird die Lage dieses

Teils

unserer

Generation

Das Gold dieser Situation bergen

besonders deutlich. Denn hier sind

Es ist erstaunlich, welche Kräfte

die

Lebensoptionen

der Ideen und des Engagements sich

eng nebeneinander sichtbar, hier

in diesem Kontext entfalten. Das

werden

ausprobiert

Ergebnis sind Musik, Literatur und

und verworfen. Und sie werden be-

andere Kunstformen. Aber auch ur-

einflusst von weiteren Faktoren:

bane Gärten, Pop-Up-Bakeries, Open

steigenden

Source Programmier-Workshops

verschiedenen sie

gelebt,

Mieten,

Integrations-

und

problemen, Städten im Wandel, feh-

Guerilla-Restaurants. Unternehmer

lender Kinderbetreuung und Ziel-

finden kluge und faire Geschäfts-

konflikten zwischen verschiedenen

konzepte, die mit dem Teilen von

Interessengruppen.

Dingen

und

ehrlichem

Engagement

gleichzeitig Gewinn erwirtschaften Und dennoch sollten wir nicht me-

– Stichworte: Social Business und

ckern: Unsere Freunde in Florenz

Share Economy. Organisationen und

und Barcelona haben gar keine Ar-

Institutionen arbeiten an besseren

34


Möglichkeiten der politischen

Par-

tizipation

über

digitale

Kanäle.

Und auch das Private kommt in Bewegung: Viele Menschen

nähren

Trends

des

haltigen

die

nach-

Konsums

Mit Mitte Dreißig verfügen wir über eine Art PatchworkIdentität.

rierenden Projekten stellen, sind eigentlich

Hel-

den. Sie entflammen

sich

selbst

und verleihen ihren

Städten

ein

solches Strahlen, dass

wir

schon

beim Gedanken da-

und der Rückbesinnung auf Tradi-

ran, sie zu verlassen, einen Phan-

tionen, sie bauen ihr eigenes Obst

tomschmerz spüren. Eine wirkliche

und Gemüse an, bereiten ihr Essen

Dividende gibt es für diese Helden

bewusst und genussvoll zu und ler-

oft nicht, aber sie bringen die

nen wieder Handarbeiten wie Stri-

Städte zum Leuchten.

cken und Nähen. Was ist nun das Fazit? Und hier kommen wir zu dem, was

Die Lage ist eher gut als schlecht.

wir Urbane Bohème nennen wollen.

Eindeutig. Aber wir hadern. Mit

So streitbar der Begriff und sei-

uns

ne Eingrenzung auch sind und so

verständlich, aber auch eine pein-

sehr wir erkennen, dass unser Ver-

liche Klage einer im Wachstum groß

ständnis dieses Begriffs von un-

gewordenen Generation.

und

den

Umständen.

Das

ist

serem Wohnort Berlin geprägt ist: All die Menschen, die ihr Schaffen

Wir haben viele Freiheiten. Aber

in den Dienst von Ideen und inspi-

wir müssen lernen, uns zu entschei-

35


den.

Wer

einmal

akzeptiert

hat,

dass eine Biographie nicht linear sein

muss,

kann

Uns sollte es so gut gehen wie noch nie.

Frauen schlechter bezahlt

werden,

dass Überstunden selbstverständlich von

sind,

dass

mit erheblich mehr Entspanntheit

Stadtentwicklung

Investoren

unterschiedliche Lebens- und Be-

geprägt wird und immer weniger Kin-

rufsmodelle aneinanderreihen.

der die Chance zum Aufstieg durch Bildung haben.

Und bei aller Selbstzentriertheit sollten wir die Hoffnung nicht ver-

Die eigene Freiheit als Geschenk

lieren, auch etwas an den Umstän-

begreifen, von der Energie unserer

den zu ändern: Die G8-Proteste des

Zeit zehren und immer mal wieder

vergangenen Jahrzehnts und die Oc-

etwas dafür tun, dass diese Welt

cupy-Bewegung sind zwar irgendwie

besser wird. Wir könnten als gol-

Geschichte. Aber am Ende hilft es

dene Generation in die Geschichte

vielleicht, wenn jeder Einzelne es

eingehen.

nicht als gegeben hinnimmt, dass

36


zeig flagge für frauen! Ägyptens Frauen kämpfen für gleiche Rechte. Du kannst sie unterstützen. amnesty.de/aegypten

für ägyptens zukunft.

37


A

#

ufschrei und die Freiheit der Frau Text: Teresa Bücker, Annina Luzie Schmid

Sexismus, Diskriminierung und Dumm-

Der #Aufschrei war überfällig. Er

heit – drei Dinge, die der Bloggerin

hat die Solidarität unter Frauen,

und Social Media Managerin Teresa

aber auch von Männern mit Frau-

Bücker mächtig gegen den Strich ge-

en gestärkt. Viele haben das erste

hen. Sie entwirft Modelle für eine

Mal darüber gesprochen, was ihnen

Zukunft, in der emanzipierte Frau-

widerfahren ist, andere haben ihr

en ihren Alltag selbst bestimmen

eigenes Verhalten reflektiert. Wir

können. Die Aufzeichnungen ihrer

müssen zuhören lernen.

Monologe führte ihre digitale Kollegin Annina Luzie Schmid.

Für viele Männer war neu, in welchem Ausmaß Frauen sexueller Be-

#Aufschrei hat das Schweigen über

lästigung

Belästigung, Sexismus und Gewalt

verstehe nicht, warum sich viele

in einer neuen Dimension gebro-

Männer pauschal angegriffen fühl-

chen. Die Debatte ist ein Anfang.

ten. Ich würde mir bei ähnlichen

38

ausgesetzt

sind.

Ich


Debatten in Zukunft mehr Ruhe und

Innovation hinterher. Wo bleiben

Selbstreflexion wünschen.

unsere Ideen?

So gesehen ist der #Aufschrei eine

In Deutschland scheuen wir Experi-

Weiterführung

mente und trauen unseren Arbeit-

von

feministischen

Debatten, die es schon lange gibt.

nehmer_innen

nicht.

Warum

reden

Von den Medien würde ich mir wün-

wir nicht häufiger darüber, wie

schen, dass sie die angerissenen

wir arbeiten wollen?

Themen auch künftig ernsthaft verfolgen. Anlässe gibt es täglich.

Ich

mag

die

Hoffentlich bleiben Geschlechter-

stellung nicht, da sie nahe legt,

gerechtigkeit und Freiheit zentra-

Frauen sollten so wie Männer werden

le Themen.

und dann sei alles gut. Wenn Weiblichkeit

im

Bezeichnung

Beruf

Gleich-

grundsätzlich

Wenn ich mich stärker fühle, muss

ein Nachteil ist, weil jemand an-

ich das den Schwächeren ins Ge-

ders agiert oder verhandelt, dann

sicht reiben? Wer sich mit #Auf-

stimmt

schrei auseinandergesetzt und dazu

wertschätzen, um die Vielfalt dann

Gespräche geführt hat, hat etwas

zu nutzen – das könnte eine Lösung

mitgenommen. Das kann eine Gesell-

sein. Dabei sind formale Abschlüsse

schaft verändern. In meinen Augen

keine Talente. Unternehmen sollten

ist Gleichberechtigung ein Verfas-

sich ihren Angestellten mit Neu-

sungsauftrag, kein Luxusproblem.

gierde an deren Person nähern.

Die

Arbeits-

Was die Frauenquote betrifft: Ich

welt hinkt hinter technologischer

habe angefangen zu arbeiten und ge-

Innovation

in

der

etwas

nicht.

Differenzen

39


sehen wie der Hase läuft. Menschen

te, dass sich etwas ändert, ändert

ziehen nun einmal Menschen nach,

sich doch nichts.

die ihnen ähnlich sind. Typisch männliche Eigenschaften gelten als

Mein

Führungsqualitäten. Mich wundert,

tet Raum für Experimente, flache

dass die Männer sich nicht lang-

Hierarchien

weilen in ihren homogenen Gruppen.

rungsrollen. Wertschätzung, akti-

Die Innovationsforschung zeigt zu-

ve Personalentwicklung, Vertrau-

dem, dass vielfältige Teams besser

en, Vielfalt und Input von Außen

arbeiten. Die ökonomischen Argu-

sind

mente sind also auch klar auf Sei-

für, dass Organisationen in Bewe-

te der Quote.

gung bleiben.

Was ich noch nicht weiß, ist, warum

Ich habe ein positives Menschen-

Frauen gewerkschaftlich schlechter

bild und glaube, dass Viele etwas

organisiert sind als Männer. Mög-

zu unserer Gesellschaft beitragen

licherweise der

auch

familiären

Dop-

pelbelastung. Parteiübergreifende

Bündnisse

sind im

gerade Feminis-

wegen

idealer

Arbeitsplatz

und

ebenfalls

bie-

dynamische

entscheidend

Füh-

da-

wollen und dass es dafür auch diverse Möglichkeiten

gibt.

Wir

müssen uns überlegen, wie wir allen zu

Zugang entlohn-

mus wichtig.

ter Beschäf-

Wenn ich nur

tigung

darauf war-

ten

40

bieund


damit meine ich auch Haus-

soll bei all dem? Ich weiß es

arbeit

wirklich nicht.

und

Kindererziehung.

Kulturarbeit und politisches Engagement muss

Dafür, dass Fi-

ebenfalls

mög-

nanzen in die-

lich sein, sonst

ser Frage nicht

verarmt

ausschlagge-

eine

bend sein wer-

Gesellschaft. den,

müssen

wir

politisch

Feste Rollen kann es nicht

kämpfen. Männer müssen ohne

geben, denn Menschen wandeln

Risiko in Elternzeit gehen

sich.

dürfen. Und beide Geschlech-

Paare/Familien

ent-

scheiden gemeinsam.

ter müssen sich fragen, was sie wirklich wollen. Warum sollte ein

Ich mache mir über meine eigene

Mann überhaupt ein Kind wollen,

Karriere nicht allzu viele Gedan-

wenn er nicht bereit ist, dafür

ken. Ich weiß nicht, wo ich in

länger zuhause zu bleiben?

fünf Jahren sein will, kann ich vielleicht auch gar nicht, denn im

Ich glaube, viele Menschen haben

Bereich Internet, Politik und Me-

es natürlich in sich, für ande-

dien wandelt sich alles viel zu

re da sein zu wollen. Ich sage

schnell. Ich bleibe neugierig. Ge-

immer von mir, ich habe einfach

nerell arbeite ich zuviel und ver-

viel mehr Liebe in mir, als sie

misse manchmal Zeit für Freund_

nur einem Menschen zu widmen. Das,

innen, meine Familie und meinen

was nach meinem Mann noch übrig

Mann. Wo ich ein Kind unterkriegen

bleibt, können also andere bekom-

41


men, z.B. auch Kinder. Ich glaube,

und nicht fortschrittlich verhei-

man verpasst nur etwas, wenn man

ratete Paare besser zu stellen und

sein Leben nicht mit anderen tei-

gleichgeschlechtliche

len möchte.

diskriminieren. Das ist weder lo-

Paare

zu

gisch noch human. Der Feminismus, den ich für mich gewählt habe, zielt auf weibliche

Ich bewundere Menschen am meisten,

Freiheit ab. Die kann eine Frau

die ihrem Herz und ihrem Bauch fol-

auch empfinden, wenn sie sich be-

gen, auch wenn sie das von einem

wusst für ein Leben als Hausfrau

klassischen

und

das

fernhält. Wichtig finde ich auch,

später nicht bereuen muss, weil

unabhängig zu bleiben. Mich ins-

sie keine Aufgabe hat oder eine

pirieren daher vor allem Schrift-

zu niedrige Rente. Familienpolitik

steller_innen, die jahrelang unter

sollte Frauen und Männern Freiheit

prekären Bedingungen schreiben, um

ermöglichen, und dies gerecht. Es

vielleicht irgendwann einmal Er-

ist auf jeden Fall nicht gerecht

folg zu haben.

42

Mutter

entscheidet

und

beruflichen

Aufstieg


Teresa Bücker ist Feministin, seitdem sie als Fünfjährige feststellte, dass in der katholischen Kirche, die ihre Kindheit prägte, Frauen nicht gleichberechtigt und außerdem Symbol für das Sündhafte sind. Mittlerweile arbeitet sie in der Politik und hat dabei ihre Liebe zu Sprache und Mode nicht verloren. Ihre Kinder wird sie nicht trilingual, aber mindestens in einer Programmiersprache erziehen und die Filtersoftware einzig auf BILD.de ausrichten. Sie mag keine Blumen, aber Bärte und Whiskey Sour nach dem Bikram Yoga. “Ich kann mir nichts besseres vorstellen, als diese Frau zu sein. Aber ich muss vor lauter Freude darüber nicht gegenüber Sexismus abstumpfen. Nicht gegenüber Diskriminierung. Und nicht gegenüber Dummheit”, sagt sie und schreibt darüber für ihr eigenes Blog und bei anderen Medien. Ihr erstes Buch wird im kommenden Jahr im Berlin Verlag erscheinen. Die Aufzeichnungen führte Annina Luzie Schmid.

43


G

ood morning, Palestine! Der israelisch-palästinensische Aktivist und Schauspieler Juliano Mer Khamis hat der Jugend Jenins den Weg für einen kulturellen Widerstand und den Kampf um die eigene Kultur und Identität gezeigt. Dabei hat er die Israelis und Palästinenser gleichermaßen kritisiert. 2011 wurde er ermordet. Seinen Weg gehen andere weiter. Robert Kummer dokumentiert all das in einem Film, der in diesen Tagen entsteht. Text: Mario Münster

Es ist nachts um zwei im frühen

eine abnorme Verhaltensweise sei,

April 2013. Robert Kummer schläft

mitten in der Nacht zu schlafen.

auf dem Rücksitz eines Taxis, das

Dann die alles entscheidende Fra-

ihn von Jenin zum Flughafen nach

ge: „Where are you coming from?“ In

Tel

einem Ton, der nicht nach freund-

Aviv

bringt.

Die

Nacht

ist

warm. Das Autofenster ist offen.

licher

Das Taxi hält an. Jemand weckt ihn

Provokation klingt. Robert fährt

unsanft von außen. Der israelische

die Strecke zum Flughafen immer

Soldat am Grenzposten fragt rau:

mit

„Everything ok with you?“ Als ob es

arabischen Israeli. Der hatte ihn

44

Nachfrage,

demselben

sondern

Taxifahrer,

nach

einem


Foto: Robert Kummer Schüler von Juliano Mer Khamis: Rami Hwayel, Momin Swaitat, Rabea Turkman, Maryam Abukhaled, Batool Taleb (v.l.) in Ramallah.

diesmal inständig gebeten, anzuge-

sigen israelischen Soldaten befeh-

ben, er komme aus Jerusalem. Das

len Robert und den zwei weiteren

würde alles einfacher machen bei

Fahrgästen

den Kontrollen Richtung Flughafen.

Posten samt Gepäck zu Fuß zu pas-

Robert antwortet halb wach: „Ich

sieren. Auf der anderen Seite des

komme aus Jenin.“ Der Taxifahrer

Postens sollen sie sich dann ein

sinkt etwas tiefer in seinen Sitz.

neues Taxi suchen. Mitten in der

Der Wagen wird raus gewunken. Der

Nacht. Die Franzosen willigen ein.

Fahrer wird unter Protest von der

Robert weigert sich. Er besteht

Polizei weggeführt. Die halbwüch-

darauf, dass man auf den Taxifah-

auszusteigen

und

den

45


rer wartet, nicht einfach weggeht.

ter

Widerstandskämpfer

begreift.

Er hat sich für sie eingesetzt,

Man muss sich das alles eher wie

sie machen das jetzt für ihn. Alle

in eine Szene aus einem Film mit

bleiben. Robert war in den ver-

Roberto Benigni oder Woody Allen

gangenen Jahren immer wieder in

vorstellen. Kein verbittertes Um-

Palästina. Er ist von der ständi-

gehen mit der Situation, eher ein

gen israelischen Schikane genervt,

ironisches.

bisweilen gelangweilt. Irgendwann kommt der Taxifahrer wieder. Als

2009 haben Vera Drude und Robert

wäre nichts gewesen. Sie können

Kummer den Film Freiheitskämpfer

ihre Fahrt fortsetzen. Die Solda-

über Juliano Mer Khamis und sei-

ten entfernen sich feixend.

ne

Arbeit

gedreht.

Mer

Khamis,

Schauspieler und Regisseur, jüdiRobert Kummer erzählt diese Epi-

sche Mutter und palästinensischer

sode

Vater,

nicht

als

Heldengeschichte

oder weil er sich als importier-

46

gründete

2006

das

Free-

dom Theater im palästinensischen


Foto: Joul Safadi Robert Kummer mit drei Juliano-Schülern auf dem Weg zur Demonstration am ersten Todestag von Mer Khamis.

Flüchtlingslager Jenin. Als Ort,

aufzufangen. Wer Wut hat, muss sie

an dem die traumatisierte Jugend

ausdrücken. Diesem Grundsatz sei-

der

und

ner Mutter folgte auch Juliano.

Kunst einen Weg zum Umgang mit ih-

Aber er trieb die Sache noch ei-

ren Erlebnissen finden sollte. Aus

nen Schritt weiter: Schauspiel und

Jenin kamen während der zweiten

Kultur als Form des Widerstands

Intifada die meisten Selbstmordat-

– eine kulturelle Intifada: Ver-

tentäter. Israel hat dies mit Jah-

se wie Steine, Dialoge wie Brand-

ren der Tyrannei vergolten. Kaum

sätze, Applaus statt Attentat. Die

einer, der hier nicht sein Zuhause

Jugendlichen

oder einen Menschen verloren hat.

finden, den Kreislauf aus Vertrei-

Mer Khamis wollte aber auch einen

bung, Unterdrückung und Besatzung

Raum schaffen, in dem Dialog mög-

zu durchbrechen. Dabei ging es ihm

lich ist, in dem palästinensische

nicht nur um Widerstand gegen Is-

Kultur und Identität bewahrt und

rael. Mer Khamis hat auch immer

weiterentwickelt werden. Als Ant-

die Rolle der arabischen Welt und

wort auf die systematische Zerstö-

der

rung palästinensischer Kultur und

siert. Für ihn sind auch sie ver-

Identität durch die Besatzung.

antwortlich für die Zerstörung der

Stadt

durch

Schauspiel

sollten

Palästinenser

einen

selbst

Weg

kriti-

Identität Palästinas, seiner KulMer Khamis setzte mit dem Projekt

tur und seiner Jugend. Und deshalb

die Arbeit seiner jüdischen Mutter

hielt er ihnen den Spiegel vor:

Arna fort, die während der ersten

Mit Inszenierungen oder indem er

Intifada damit begann, die Angst

Jungen und Mädchen gemeinsam auf

und Depression der palästinensi-

die Bühne stellte. Jahre vor dem

schen Kinder durch Spiel und Kunst

arabischen

Frühling.

Mer

Khamis

47


Foto: Ricarda Kniesz Während der Produktion von Peter Pan im April 2013.

Deshalb

zweiten Intifada. Und nun bekommen

liebten ihn seine Studenten. Des-

die nicht heraus, wer Juliano am

halb hassten ihn die traditiona-

helllichten Tage erschossen hat?

listischen Hardliner.

Das soll ich glauben?“ Ein junger

liebte

die

Provokation.

israelischer Journalist hat eine Die Zuversicht in den Erfolg sei-

andere Erklärung parat: „Es ist

nes Projektes muss groß gewesen

einfach so: Israel kümmert sich

sein, denn er wusste, dass viele

nicht wirklich um einen toten Pa-

„Theaterkinder“ seiner Mutter wäh-

lästinenser,

rend der zweiten Intifada als Mär-

nicht wirklich um einen toten Ju-

tyrer starben – im Kampf und als

den.“

Attentäter.

sich da eines der prägendsten Zi-

Auf

die

bizarre

Palästinenser Weise

drängt

tate von Mer Khamis auf: „Ich bin Dann wird Mer Khamis am 4. April

hundert Prozent Palästinenser und

2011 vor seinem Theater von einem

hundert Prozent Jude.“

Maskierten

erschossen.

Den

wah-

ren Täter kennt bis heute keiner.

Auch als Reaktion auf die Ereig-

Halbherzige Vernehmungen und ab-

nisse in Jenin beschließt Robert

surde

Inhaftierungen

Kummer daraufhin, einen weiteren

ist

Film über Mer Khamis und seine

kurzzeitige

folgen.

Der

Fall

bis

heute

nicht aufgeklärt.

Schüler zu machen. Gemeinsam mit ihnen wählt er den Arbeitstitel

In Jenin erklärte Robert jemand:

„Who killed Juliano?“

„Bob, in diesem Landstrich kont-

ihn nicht verstummen lassen. Es

rolliert und weiß Israel alles!

gibt noch stundenlanges Material

Sie wussten auch alles während der

der Dreharbeiten von 2009. Aber

48

Er will


er beginnt auch damit die Schüler

Reisefreiheit,

und ihren Weg aus einer weiteren

Willkürherrschaft,

Ohnmacht in eine weitere Wut zu

tät

dokumentieren.

und ihrer Folgen? Oder weil sei-

einer

täglich

spürbare

die

politischen

AbsurdiSituation

ne Protagonisten Kämpfer im Kampf Warum fesselt und berührt Robert

gegen das Verschwinden einer Kul-

Kummer diese Geschichte so? Warum

tur sind und auch er dieses Gefühl

steckt er so viel Zeit und Ener-

genau kennt – wenn eine Kultur

gie in dieses gewaltige Projekt?

langsam verschwindet. Vielleicht

Er hat den Eindruck die Erklärung

sind es aber auch einfach nur die

dafür Stück für Stück zu erfahren.

Menschen, die er dort kennen ge-

Vielleicht, weil er in Ostdeutsch-

lernt hat. Man übertreibt nicht,

land aufgewachsen ist?

Weil er

wenn man sagt, dass ihre Energie

Empathie

und ihre Schicksale ihn berühren,

dadurch

eine

besondere

für die Lage in Palästina hat: Die

ihn

bisweilen

sprachlos

machen.

Mauer, die extrem eingeschränkte

Und natürlich sind da das nach-

49


hallende Charisma und die Kraft

Robert

hat

in

den

vergangenen

der Person Mer Khamis verbunden

zwei Jahren vor allem die Gruppe

mit der Frage, wer seine Mörder

in Ramallah begleitet: Bei Pro-

sind.

ben, bei Auftritten in Israel und Palästina sowie bei einer Euro-

Mer Khamis‘ Schüler sind seit dem

pa-Tour.

Attentat keine Einheit mehr. Ein

dieser Gruppe standen seit 2011

Teil von ihnen blieb am Freedom

drei

Theater. Eine andere Gruppe zog

wahl ist für Robert Ausdruck der

nach Ramallah. Sie wollten weg aus

Verarbeitung von Mer Khamis‘ Tod.

Jenin. Aus Angst vor weiteren An-

Die Leere und das Vakuum drückte

schlägen. Aber auch, weil sie weg

sich in der ersten Post-Juliano

wollten von dem Ort, an dem man ih-

Aufführung

nen ihren Mentor und Freund nahm.

eine Adaption frei nach Becketts

Von seinem Erbe jedoch sind sie

„Warten

alle angetrieben.

der Ausbruch aus dem Vakuum, die

50

Im

Zentrum

Inszenierungen.

aus:

auf

der

Deren

„While

Godot“.

Arbeit Aus-

Waiting“

Dem

folgte


Foto: Ricarda Kniesz Julianos Schüler tanzen wieder: Aufführung von Peter Pan im Cinema Jenin, April 2013.

Entscheidung, Haltung zu beziehen

wird gelacht, geschrien, geweint,

mit Brechts „Die Gewehre der Frau

gescherzt, es fliegt Geschirr, es

Carrar“. Es mag zur konsequenten

läuft laute Musik. Denn so ist das

Logik der Geschichte gehören, dass

Leben in Palästina. Robert mag die-

just während dieser Aufführung im

se Lebendigkeit, er mag Witz und

November

Gaza-Streifen

Ironie. Er ist einer, der mit der

wieder Krieg ausbrach. Und nun,

gleichen bedingungslosen Hingabe

zum zweiten Todestag von Mer Kha-

über meine schlechten Heinz Er-

mis

inszenierten

hard-Wortwitze lacht wie ich über

sie Peter Pan. Ein Denkmal an ih-

seine, während unsere Frauen in

ren Mentor: Juliano war ihr Peter

diesen Momenten erleichtert sind,

Pan. Er hat sie ins Neverland des

dass wir jemanden zum Spielen ge-

Theaters und der Kunst entführt,

funden haben. Genau diese Freude

er hat sie mitgenommen auf eine

am Witz und das Gespür für Iro-

Reise, heraus aus ihren traumati-

nie werden diesen Film spannend

sierten Leben.

machen. Denn er wird sich unter-

im

2012

April

im

2013

scheiden von den immer gleichen Nun gibt es 360 Stunden Material,

Bildern, Szenen und Stimmungen mit

aus denen Stück für Stück ein Film

denen wir etwas über Palästina er-

entsteht, der in vielen nachhal-

fahren.

lenden

Schnappschüssen

von

Wut,

Ohnmacht, Verarbeitung und Iden-

Das Material lebt aber vor allem

titätssuche erzählt. Und zwar auf

von dem unbändigen Willen der Dar-

eine

unverkrampfte,

steller, endlich ihre Geschichten

moderne und – so abgedroschen es

auf ihre Weise zu erzählen. Denn

klingt – authentische Weise. Es

die Schüler von Mer Khamis sind

natürliche,

51


wütend. Es gibt einen Tourismus

meinsames Projekt, sie reden mit,

von Regisseuren und Autoren, die

stellen

nach Jenin kommen, dort durch ihre

ihre Geschichte Palästinas, set-

Brille Eindrücke sammeln und sie

zen Verträge auf, die ihn ver-

dann

erzählen.

pflichten, ehrlich zu berichten.

Oft gefärbt von Vorurteilen und

Auch sind sie es satt, dass man

oberflächlichen

die Arbeit mit ihnen als Entwick-

in

ihrer

Heimat

Eindrücken

mit

Forderungen,

Sie

ihn

der Hoffnung auf einen schnellen

lungshilfe

Erfolg durch das Label „Palästi-

ihre Geschichten selbst erzählen,

na“ oder „Julianos Schüler“. Sie

auf ihre Weise, mit ihren Worten,

fühlen sich davon ausgenutzt, be-

zu

stohlen. Robert Kummer ist selbst-

Identität zu behaupten.

ihren

versteht.

lehren

Bedingungen,

wollen

um

ihre

kritisch genug, um sich auch der Frage zu stellen, ob er zu Be-

Noch ein Aspekt gehört dazu: Sie

ginn seiner Arbeit ähnlich war.

akzeptieren

Ob er da nicht als Fremder mit ir-

Profi und als Menschen. Sie holen

gendeiner moralischen Helfer-At-

ihn nach Palästina, damit er an

titüde hinkam. Geprägt von einer

ihren Projekten mitarbeitet. Wie

Art zweite Schuld gegenüber den

bei der letzten Produktion, Peter

Palästinensern, deren Leben ohne

Pan. Die Verbindung ist freund-

Nazi-Deutschland auch ein anderes

schaftlich. Er wohnt bei ihnen,

wäre. Heute sagt er, seine Part-

wenn er in Palästina ist, beglei-

ner in Jenin haben ihn unbewusst

tet sie Tag und Nacht – mit der

erzogen. Sie fordern von ihm be-

Kamera. Während unseres Gesprächs

dingungslos Professionalität ein,

kramt Robert aus dem Regal einen

sie verstehen den Film als ge-

Plastikbeutel mit zwei orangenen,

52

Robert

Kummer

als


Es

Khamis wieder zum Sprechen brin-

sind die zwei letzten Tapes, die

gen und ein Stück palästinensi-

Juliano Mer Khamis vor seiner Er-

sche Kultur und Identität doku-

mordung einer seiner Schülerinnen

mentieren. Aus einer Filmidee von

gab, damit sie darauf ihren Alltag

Robert Kummer ist auf diesem Weg

dokumentieren kann. Die Schülerin

ein

hat die Tapes an Robert weiterge-

geworden.

geben. Gemeinsam werden sie Mer

von „unserem“ Film.

eingeschweißten

Videotapes.

echtes

Gemeinschaftsprojekt

Beide

Seiten

sprechen

Robert Kummer lebt in Berlin und arbeitet dort als Filmeditor und Filmemacher für Dokumentar-, Spiel- und Werbefilme. In den vergangenen Jahren arbeitete er unter anderem mit Christoph Schlingensief, Herbert Grönemeyer und

Ralf Schmerberg.

53


G Ein

Ball

ut, besser, genial – Wir brauchen mehr Ideen! Text: Maren Heltsche

erzeugt

beim

Spielen

Energie, die später Licht produ-

technischen Mitteln soziale Probleme lösen?

ziert: 30 Minuten spielen bringt eine LED-Lampe drei Stunden zum

Eine geniale Idee beeindruckt so-

Leuchten. Eine geniale Idee, denn

fort, meistens muss man sie kaum

Ballspielen ist weltweit bei al-

erklären. Sie hat einen gewissen

len Kindern beliebt und Strom gibt

Wow-Faktor. Es wird sofort klar,

es nicht überall aus der Steck-

dass sie nicht mehr fehlen darf.

dose. Der Soccket Ball wurde von

Der Koffer mit Rollen, das Laufrad

Harvard-Studentinnen in einem Se-

für Kinder oder ebay. Es ist noch

minar

die

gar nicht so lange her, als es

Fragestellung: Wie kann man mit

die Idee noch nicht gab, und heu-

entwickelt.

72 %

at work

Hier

war

57 %

when talking with friends

54

49 %

in bed

49 %

49 %

while

on holiday

exercising

or abroad


te gibt es kaum jemanden, der sie

wenn sie da ist. DIE Idee. Die

nicht nutzt. Eine gute Idee ist

Zeit scheint für einen kurzen Mo-

die Lösung eines vorhande-

ment still zu stehen, wenn sich das letzte Stück einfügt.

nen Problems, von dem man

manchmal

Alles fühlt sich rich-

noch

tig an und man möch-

nicht einmal wusste. sie

Dabei

gleich

loslegen.

immer

So soll es sein, wenn

komplett

man sie gefunden hat.

nicht

etwas

te

muss

DIE Idee.

Neues sein, sondern kann bereits

Aber

Vorhandenes anders

ist

und sinnvoll zusam-

eine noch

gute

Idee

längst

kei-

ne gute Geschäftsidee.

menfügen.

Das zeigt die Erfahrung Der Weg, eine gute Idee zu

bei vielen guten Ide-

finden, ist nicht klar vor-

en, mit denen sich kein

gezeichnet. Kreativität, Glück

Geld

verdienen

lässt.

Und mit schlechten Ide-

und Kombinationsgabe sind unzuverlässige Gefährten. Inspiratio-

en,

die

nen kommen oft an ungewöhnlichen

lich sehr erfolgreich

Orten: im Bett, beim Sport oder auf

sind.

Zum

wirtschaftGeschäfts-

erfolg braucht es Unter-

der Toilette.

nehmerinnen oder Unternehmer, die Gute Ideen sind zunächst Ahnungen.

eine

Idee

weiterentwickeln

und

Aber irgendwann macht es „klick“,

mit Leidenschaft dahinter stehen.

55


Zahlen zur Illustration: Businesszone.uk „TOP TEN PLACES WHERE ENTREPRENEURS HAVE HAD A EUREKA! MOMENT“

44 %

42 %

in the car

41 %

in a dream

41 %

on the train

41 %

on the

in the pub

toilet Wer ist die Zielgruppe und wie

Kreative

spricht man sie richtig an? Stim-

fen, auch solche Ideen umzusetzen,

men der Zeitpunkt und das Umfeld?

die

Wie kann man die Umsetzung fi-

Marktprinzip

nanzieren? Aber auch der eigene

beispielsweise der Sockket Ball.

Glaube an die Idee, ihre Präsen-

Der Ball wird in den USA produ-

tation

Durchhaltevermö-

ziert und beinhaltet viel Tech-

gen der Unternehmer spielen eine

nik. Das Produkt ist viel zu teuer

große Rolle. Wie man Ideen ent-

für diejenigen, die ihn in Drit-

sprechend weiterentwickelt, zei-

te-Welt-Ländern

gen beispielsweise die Initiative

Die Finanzierung erfolgte kürzlich

der Gründergarage oder Seth Go-

erfolgreich über Spenden und eine

dins Start-up School.

Crowdfunding-Kampagne. Lässt sich

und

das

mit

Finanzierungsideen

nicht

dieser

nach

dem

klassischen

funktionieren,

Idee

nutzen

auf

hel-

wie

möchten.

Dauer

Geld

Die Nachfrage nach guten Ideen ist

verdienen? Keine Ahnung, aber die

unendlich. Es gibt so viele Bau-

Welt wird durch sie sicherlich ein

stellen

Stückchen besser.

56

und

schlechte

Lösungen.


57


Wasser Farben Reisen Das Poem I beg your pardon!

58


59


W

ASSER FARBEN REISEN

Er reist. Und mit ihm reisen: Lauf-

Die Serie WASSER FARBEN REISEN be-

schuhe, ein Anzug, Sonnenbrille,

gann 2012 in Düsseldorf als rei-

Aufnahmegerät,

sende Ausstellungsreihe von Aqua-

Zeichenblock

und

Aquarellfarben. Urbane Orte, eu-

rellskizzen von

kleinen,

aber

ropäische Begegnungen, Landschaf-

besonderen Orten in europäischen

ten – die schnelle, erlebte Skizze

Städten. Denn: Wasserfarben wollen

entsteht aus dem unmittelbaren Mo-

reisen. Bilder und Künstler auch.

ment. Dann ist sie einfach da und hält den Moment auf eine ganz persönliche Weise fest. Thomas Weltner ist Gestalter und Korrespondent zwischen Momenten, Orten und Menschen – vernetzend, moderierend und erinnernd.

wasserfarbenreisen.wordpress.com

Amsterdam hat einen grünen Daumen. Die „Open Tuinen Dagen“ im Juni öffnen nicht nur die versteckten Gärten der stattlichen Grachtenhäuser, sondern auch die Häuser und Herzen der äußerst freundlichen Eigentümer. In die Gärten kommt man nämlich nur direkt durchs Haus, durch Wohnzimmer und Küchen – auf geradem Weg in kleine grüne Oasen. Welkom en tot ziens. –>

60


61


62


Stadt ist immer Café. Im Geklimper der Tassen, Teller, Löffel steht die Zeit still. Menschen atmen durch, blicken über den Rand ihres Kaffees ins Leere, in sich, in die Welt – oder sie zeichnen

Cafés.

Im

„Café

Zurich“ trinkt man seinen Cortado con Leche nicht etwa in „Downtown Swizzerland“, sondern am umtriebigen Plaza Catalunya inmitten von Barcelona. –>

<– Eine Stadt ist niemals nur eine Stadt. Dresden ist (gefühlte) drei Städte: Altstadt, Innere Neustadt und Äußere Neustadt. Neu ist aber vor allem die Altstadt, da vielfach frisch saniert (ein wenig zu saniert, kommt es einem in den Sinn). Und alt ist besonders die Äußere Neustadt – dort wiederum tummelt sich junges Volk. Dresden wird neu.

63


<–

London

ne-red. Löhrs’

ist

Alf Haus

bricksto-

und in

Nicola

Hampstead

war unser Haus für ein paar endlos schöne Sommerwochen. Joerg, Christian, Susana, Sigmund Freud, Dee Cooper, Rainer, Kate und William … London war einfach da, mit seinem Wetter, seinem Golfrasen, seinem vibrierenden Alltag, seinem „look right & mind the gap“, der trägen Themse,

seinen

Picknicks

in den Hampstead Heath.

Stadt ist Rückkehr. Tornato a Milano … traf ich 2009 nach langer Zeit Alessandro Mendini wieder – verschmitzt-freundlicher Grandseigneur der italienischen Design-Postmoderne, bei dem ich während meines Studiums ein Auslandssemester lang gelernt und gearbeitet hatte. In Mailand traf ich übrigens auch mich wieder. –>

64


65


E

rklärungsnot

David Hermann, 1979 im hessischen Bärstadt geboren, lebt seit 1996 in London, wo er am University College London in Vergleichender Literaturwissenschaft über Auflösung und Ende in der zeitgenössischen Kurzgeschichte promoviert. David schreibt morgens Lyrik, nachmittags akademische Arbeiten, abends Drehbuch. www.hermannist.com Von David Hermann werden wir in den kommenden Ausgaben von Rosegarden regelmäßig Gedichte veröffentlichen.

66


Sparen Sie sich Ihre Erklärungen. Verstecken Sie sie in abgedufteten Keksdosen, unter dem morschen Steg, unter der losen Diele, luftlos vor Allen sogar oder gerade vor ihren Lieben, den süßen Hausmördern, damit Sie nicht mit leeren Händen dastehen, wenn uns die Fragen über den Kopf wachsen.

67


I

beg your pardon Christian Ludwig Fotos: Sabine Schründer, Portrait: Tabea Mathern Vor jeder Ausgabe schicken wir Christian Ludwig ei nen Brief mit einer Botschaft, die er dann literarisch für Rosegarden verarbeitet. Unsere erste Botschaft an ihn lautete „I beg your pardon!“

Meine Herren, war diese Frau auf-

Ihr Gatte trug ihr vor etlichen

gewühlt.

Haar,

Jahren chronologisch auf, was vor

so zerfahren ihre Gedanken. Die

dem Jahreswechsel noch zu absol-

Tage zwischen den Jahren waren für

vieren wäre. Den Zettel hatte sie

die Anwohner allem Anschein nach

weder kopiert, noch einlaminiert,

die Aneinanderreihung meditativer

sondern lediglich geistig so gut

Stunden. Nichts als Stille. Sollen

behalten, dass ihr keiner der Auf-

sie nur alle träge hinter den zu-

träge durchrutschen konnte. Ges-

gezogenen Vorhängen dösen, dachte

tern erst zog sie die Bettwäsche

sich die Hausfrau, die einst Mut-

ab, sammelte alles aus Frottee aus

ter werden wollte.

den Baderäumen ein, außerdem die

68

So

zerzaust

ihr


Geschirrtücher,

Wischlappen

und

digungen in der Kleinstadt, dies

einiges mehr noch, was ihr beim

könnte

ablenken

und

Ablaufen der Zimmer in die Augen

Tempo

fiel. Nichts Benutztes durfte mit

sollte man außerdem beim Arbeiten

in das folgende Jahr getragen wer-

schon lauschen? Die Fenster blie-

den. Bis zum 31. Dezember musste

ben stetig geschlossen, doch es

der üppige Stapel gewaschen, ge-

fehlte der Waschküche als auch dem

trocknet, gebügelt und akkurat in

Schreibtischzimmer

den Schränken verstaut sein. Be-

tion von Sauerstoff oder eben Duft

neidenswert, diese Zeiteinteilung.

des

Die Stunden rannten ihr noch nicht

Kopfschmerzen plagten beide Schä-

den Nacken hinauf, was sie aber

del, eingestehen oder es verändern

nicht abhielt, jeden Arbeitsablauf

stand nicht auf dem Plan.

beschweren.

leise

das

Was

eigene

oder

jede

auftürmenden

wem

ZirkulaSchnees.

von Stunde zu Stunde mit mehr HekZwei Hosen ihres Mannes waren noch

tik durchzuführen.

umzunähen, des Weiteren der WeihIhr Mann arbeitete im Büro die lie-

nachtsschmuck – nicht aller, nur

gen gebliebenen Ordner ab, gerne

jener, der mit künstlichem Licht

auch bis in die Nachtstunden. Alte

aus der Steckdose im Zusammenhang

Arbeit im Hinterkopf war dem Mann

stand, war Richtung Dachboden zu

ein

Kugelschreiber

entsorgen. Gerade hatte sie das Näh-

glühte schon, der Locher stanzte

etui auf die Kommode fallen las-

das etwa zweiundvierzigste Paar in

sen, hängte sie schon die in Stufen

eines der als abgehakt geltenden

angebrachten Leuchtsterne ab und

Formulare. Keine Musik begleite-

legte sie in eine fleischfarbene

te Mann oder Frau bei ihren Erle-

Kiste. Dabei fielen ihr die ei-

Gräuel.

Sein

69


genen langgewachsenen Fingernägel

seine Finger mit dem Bedienen des

auf, die ebenso im auslaufendem

Firmenstempels und Notieren kopf-

Jahr zu restaurieren waren. Mit

errechneter Summen ab. Gerade lehn-

dem lockigen Kopf überall, pirsch-

te er sich nach hinten, rückte nä-

te die Hausfrau die Treppen hin-

her an die Stuhllehne, da lief ein

auf. Jeder Gang schien geprobt und

Mann vor dem Fenster entlang. Der

durchdacht.

sie

hatte dem Rentenalter längst die

außer des stummen Kräutertees in

Hand gereicht, so langsam wie er

der Dämmerung noch nichts, geges-

die Meter hinter sich brachte und

sen wurde frühestens bei Ankunft

in die Schneespur sah. Er stand

ihres Ehemanns. Dieser wechselte

einfach da und sah. Es war ein

70

Getrunken

hatte


schönes, für den tüchtigen Arbei-

an seiner Seite sperrte zumindest

ter seltenes Bild. Er selbst stand

erschrocken

im Grunde nie einfach so vor dem

verlor ihren Hut dabei.

ihren

Mund

auf

und

Haus. Sinnfrei da stehen und seinen Blick gelassen in die Umgebung

Die Ehefrau spülte die gekürzten

werfen – nein. Eine ältere Dame

Fingernägel unter dem Wasserhahn

mit

betrat

ab, übersah parallel die krankhaft

die Szene des milde dreinschau-

trockene Haut an ihren Unterar-

enden Herren. Sie hakte sich bei

men. Im Hintergrund waren Tapsen

ihrer Begleitung ein, erstrahlte

zu vernehmen. So rasch hatte sie

währenddessen förmlich unter ih-

ihren Mann selten die Treppe ge-

rem wärmenden Hut. Den Schreiber

hen hören. Sein Gesicht war wie

zur Seite legend trat der Mann an

entstellt, als hätte er etwas im

das Fenster und blieb fasziniert,

Kopf, was ihn aus seiner Arbeits-

zunehmend irritiert, an dem Paar

wut entriss und umgehend nach Hause

haften, welches bereits Unmengen

trieb. Seine Frau hingegen überkam

gleicher Winterbilder gesehen ha-

die Befürchtung, sie hätte etwas

ben musste. Gerade als er seinen

vergessen – einen Termin, eine Er-

Kopf wieder ein Stück in Deckung

innerung, einen Einkauf oder ähn-

der Gardinenspitze drehte, verlor

liches. Doch es kam anders.

zitterndem

Gehstock

der Herr in der Schneekulisse sein seit-

Ihr Mann wollte sie gerade zum Auto

wärts neben einen der geschippten

geleiten, als ihr in den Sinn trat,

Haufen. Wahrscheinlich schrie er

nochmals die Herdplatten zu kon-

dabei, die Fenster waren zu gut

trollieren, ebenso den Stromkas-

isoliert für Genaueres, die Frau

ten, von den angekippten Fenstern

Gleichgewicht

und

krachte

71


ganz zu schweigen. So flitzte sie

fühlte sie sich, hatte sie nichts

vom Beifahrersitz in das Haus, zu-

außer unruhige Nächte mit Medika-

rück zum Wagen, um dann wieder geis-

menten und Magengrummeln im Leib.

tig prüfend an der Bordsteinkante

Sie plagte das schlechte Gewis-

zu stehen. Auf einen solch spon-

sen, ihr Ehemann hoffte lediglich

tanen Ausflug war sie nicht aus-

auf baldige Genesung. Schließlich

gelegt. So kannte sie ihren Mann

fühlte er sich schuldig, brachte

nicht, vielleicht nicht mehr. Der

er sie doch mit seiner Abholung

Schlüssel pendelte latent mahnend

direkt in den Taumel des Alltags.

am männlichen Zeigefinger, seine

Die Arbeit lag nun ähnlich brach

frühere Verlobte war derweil das

wie die versteckt klagende Gattin

vierte Mal die Strecke hin und her

unter der Daunendecke.

gelaufen, ihre Wangen prahlten in auffälligem Rot. Eine Drehung spä-

Das neue Jahr war nicht mehr weit.

ter knackste sie mit dem rechten

Beruhigend und mit der Stimme aus

Bein zur Seite weg und fiel direkt

einem verdrängten Miteinander be-

neben den Postkasten, der eben-

richtete er ihr von dem, was er al-

falls noch von ihr zu kontrollie-

les sah – im Garten, vor dem Haus,

ren war. Doch es kam anders.

beim Einkauf. Sie konnte sich kaum auf

das

Erzählte

konzentrieren,

Die abrupt geplante Überraschung

umarmte sie derweilen das Spiegel-

wurde zu einem zweitägigen Mara-

bild einer Versagerin.

thon zwischen Rettungsstelle der regionalen Klinik, sekrethaltigen

Wie im Zeitraffer ging es mit ihr

Verbandswechseln

bergauf,

und

Kühlkissen

im abgedunkelten Schlafraum. Leer

72

so

fand

er

seine

Frau

bald in den frühen Morgenstunden


mit dem Schneidemesser vor einem

der ersten Etage. Mit Messer in

Kartoffelhaufen

Küchentisch.

der Linken spurtete sie nach oben

Gemäß ihrer vorausschauenden Na-

und sah ihren Mann ausgehbereit im

tur stand der Tee ihres Gatten pa-

Licht der winterlichen Morgensonne

rat, war der Flur bereits gefegt

stehen. Es war keineswegs so, dass

und das Kalenderblatt vom gestri-

sie ihren Mann äußerlich überwie-

gen Tag befand sich im Papiermüll.

gend unaufgeräumt bestaunen durf-

Tropfen von Schweiß standen ihr

te, doch derart strahlend sah sie

auf der Stirnfront und die Hän-

ihn seit der ersten Ehejahre wohl

de vibrierten zunehmends. Der An-

nie mehr. Er lächelte, sie föhnte

blick war ihm mehr noch ungeheuer,

sich ihr Haar und der Wagen warte-

als nicht nur ganz einerlei. Wie

te im Hof auf die Abfahrt. Doch es

von Pflichtgefühl und automatisch

kam anders.

aufgelegtem

am

Tatendrang

gefangen,

hantierte sie. Kein edles Bild,

In der direkten Nachbarschaft wa-

ungesund.

Schmuck,

ren fünf Heidschnucken über den

den die Ehefrau trug, waren ihre

niedrig gesetzten Drahtzaun aus-

schwellenden Augenringe. Mit ei-

gebüchst und sprangen nun durch

nem Kopfschütteln schlich er sich

das hintere Gartenviertel des Ehe-

in das Schlafzimmer zurück. Unbe-

paares. Da die zugehörigen Besit-

merkt hatte er sich den adretten

zer verreist waren, konnte nur das

Anzug aus dem Vertiko gegriffen,

Ehepaar

den

po-

laufenden Huftiere einfangen. Nach

lierte Sonntagsbrille aufgesetzt.

vier Stunden Beruhigen, Locken und

Sie fasste sich die Brust – tön-

seichtem Drohen mit Stöcken und

te die Glocke ohne Vorwarnung aus

gefrorenen

Bart

Der

einzige

begradigt

und

die

selbst

die

im

Salatblättern

Zickzack

hatten

73


sie die Fellgruppe schließlich ge-

Bluse und verfolgte das Gespräch

bändigt und fürs Erste in ihrem

ihres Mannes mit dem Nachbarn, der

kleinen

zusammengehal-

seine Tiere vermisste. Männliches

ten. Aufatmend hielt die Frau ih-

Gelächter war kaum zu überhören,

rem Mann die Schulter. Der Tag war

bald auch Schritte im Schnee und

gelaufen, gleichfalls seine Plä-

das einsilbige Blöken des Gruppen-

ne für heute. Bis zum Abend spra-

ältesten. Es war fast zwölf Uhr,

chen sie kein Wort miteinander. Es

sie weiterhin alleine im Haus. An-

stank nach Stall und Frust, die

gesäuert hatte sie ein großes Tuch

Blicke der beiden ähnelten Küssen

über den Frühstückstisch gelegt,

abgestandener Münder am Morgen.

ein dunkles im Speziellen, als wäre

Schuppen

das noch ausstehende Essen statt Nur noch zwei Tage bis zu dem Uhr-

einer verdienten Kost die verkapp-

zeigerschlag, der das frische Jahr

te

einzuläuten vermochte. Das nächste

Ordnung im Alltag des schwinden-

Frühstück zeigte sich einseitig,

den Jahres – Unfälle an der Haus-

wartete sie mit weich gekochten Ei-

tür, unerwünschte Gäste aus Fell

ern, eigens gemahlenem Kaffee und

und Unmengen an vereistem Wasser

dem rührenden Holzlöffel in der

von oben durften sie dabei nicht

Milchsuppe, die als Vorspeise ge-

behindern. War es nicht ihr Mann

dacht war. Seit etlichen Räuspern

selbst, der ihr diese Einstellung

hörte sie ihn Schnee vom Gehweg auf

unter den Ehering schob?

Henkersmahlzeit.

Sie

wollte

den ungenutzten Parkplatz schaufeln. Statt ihn zu rufen, ging sie

In einem fast nachdenklichen Mo-

neben dem Schuhschrank auf und ab,

ment tippte sie jemand hinterrücks

ärgerte sich in die zugeknöpfte

an und stahl ihr flott das Augen-

74


licht. Die Binde saß etwas zu eng,

beneinander, ein ganzer Tag könnte

die Erwartungshaltung stieg dabei

es gewesen sein. Die urplötzlich

nah des Unermesslichen. Er zog ihr

entfachte

eine Winterjacke über, sie fror

Ehemanns wurde ungewollt eine Art

sehr schnell und war keine Gelieb-

Bewährungsprobe, welcher er sich

te von Winter und Frostblasen.

nun freiwillig aussetzte.

Eine Reise im dritten Anlauf, die

Der

Fahrt in das Ungewisse. Viele Stun-

aus dem Sitz und führte sie einer

den saßen sie frei von Worten ne-

Anhöhe entlang. Die Jacken hiel-

Wagen

Überraschungsidee

bremste,

er

half

des

ihr

75


ten sie in den Ellbeugen, war das

so weit gefahren, die Nacht für

Klima bei Ankunft feucht-warm und

sie durchgemacht und diese atembe-

Sonnenstrahlen beschienen die zwei

raubenden Silhouette als erhoff-

Gesichter. Im Hintergrund parkte

tes Spektakel gebucht. Und was tat

ein Bus ein. Die Augenbinde wurde

sie? – nichts außer atmen und leer

vom Ehemann gelöst und der Blick

schauen. Für Freude des Moments

nach vorne somit frei. Freuen wird

hätte man wohl tiefer graben müs-

sie sich, überwältigt sein, dabei

sen. Dem Mann glitt die Augenbinde

war sich der Mann sicher. Doch es

aus der Hand auf den unbewässerten

kam anders.

Erdboden. Von hinten schallte und hallte es, der Busfahrer ließ das

Sie blinzelte und sah dann genau-

Radio laufen:

er. Die Mimik sprach Bände, sie runzelte die Stirn und kippte die

“I beg your pardon, I never promi-

Mundfalten. Da hatte er sie nun

sed you a rose garden.”

76


Christian Ludwig, Jahrgang 1982, arbeitete sich im idyllischen Thüringen von kleinauf durch halbfertig bis nie umgesetzte Drehbücher, Songtexte oder Geschichten aus 1001 Nacht, die meist dort blieben, wo wenig Platz für Licht oder eben den nächsten Schritt war. Und so gelangte er über Umwege im Gesundheitswesen erst verspätet da, wo er sich schon längst sah – mit dem Stift am Schreibtisch – wenn auch mit mehr Steinen im Weg, als nur den Fingern quer auf der Tastatur. Mit dem Debütroman “Sendawoy” 2011 beginnend – gefolgt von der zugehörigen Soundtrack-EP in Zusammenarbeit mit Corwood Manual – sind die Kurzgeschichte zu “Dieser Raum befindet sich im Aufbau” und die Fabel “Navele und das Blau” wie der nächste Schritt, der wichtig und richtig erscheint. Quasi der heimliche Aufbau für das, was da bald schon kommen mag. www.ludwig-christian.de

77


Rumdriften in der Subkultur Provinz und Metropole. Berlin musikalisch. Magische Orte – Ein Spaziergang Guerilla-Taktik Bloß nicht „Mahlzeit“! – Die alternative Mittagspause Der Weintipp: Weiße Wespe I adore you Colin Meloy

78


79


I

n der Subkultur rumdriften! Ein Gespräch mit Johannes von Weizsäcker, Sänger und Gitarrist der Londoner Band The Chap über Hot Chip-Vergleiche, die Muppets, den feinen Unterschied zwischen Berlin und London und vor allem: über Menschen, die in Bars arbeiten. Interview: Mario Münster Fotos: The Chap

The Chap kommen aus Griechenland,

sem Kampf manchmal stagnieren. Ich

Schottland und Deutschland, leben

wage die steile These “we work in

in London, manchmal aber auch in

bars“ ist eine Ode an diese Men-

Berlin und machen Musik, wie ihnen

schen?!

der Schnabel gewachsen ist. Mit „we work in bars“ hatte die Band

Das Lied war in der Tat spezifisch

einen veritablen Radio-Schmeißer,

von

der bei genauerem Hinhören eine

damals noch gar nicht in Berlin

Ode an die Urban Bohème sein könn-

gewohnt, war aber viel zu Besuch

te. Da wollten wir doch mal nach-

aus London und merkte irgendwann,

fragen.

wie schnell ich viele Leute kennen

Berlin

inspiriert.

Ich

habe

gelernt habe, die alle in irgend„WE MET THE BLOND GUY, HE WAS WITH

welchen Bars arbeiten und Menschen

THE BASS GUY, WE HAVE A LONG CHAT,

kennen, die in Bands spielen. Ber-

THEY KNOW MY FRIEND, WE KNOW THEM

lin ist diesbezüglich extrem, aber

WE WORK IN BARS“

das Phänomen gibt es auch in anderen Städten so. Offenbar gibt es in widmet

Berlin viele junge oder auch nicht

sich Menschen, gefühlt zwischen 30

mehr ganz so junge Menschen, die an

und 40 Jahren, die in Städten le-

Kunst und Musik interessiert sind

ben, mit ihrer Freiheit und Mul-

und etwas machen wollen mit diesem

tioptionalität kämpfen und in die-

Interesse. Auf der anderen Seite

Johannes,

80

unser

Magazin


gibt es dann aber nicht wirklich

Beine stellen mit ihren Interes-

viel Geld für die Umsetzung solcher

sen, ohne damit Geld zu verdienen,

Interessen. In Berlin ist es nach

es aber trotzdem tun und das ist ja

wie vor relativ leicht zu überleben

auch Ablenkung. Es gibt also viel

im Vergleich zu London oder Paris.

Kultur und Subkultur und die lenkt

Man hat nicht so den finanziellen

einen auch noch ab.

Horror im Nacken. Genau das führt aber dazu, dass man schnell durch

Ist das in Berlin stärker als in

die Gegend driftet, wenn man nicht

London?

genau weiß, wo man hinmöchte oder von einer krassen Eigenmotivati-

Ich glaube, das ist schon so. Ber-

on getrieben ist. Bei der Freiheit

lin hat sich international als „die

besteht die Gefahr, dass man drei

hipste Stadt der Welt“ rumgespro-

Jahre später immer noch nicht so

chen. Dieses Label wird geprägt von

genau weiß, was man da macht. Dann

Undergroundkultur, der Partyszene

gibt es auf der anderen Seite aber

und das ist ja ein Wirtschaftsfak-

auch viele Leute, die was auf die

tor. Da kommen junge Menschen, die

81


durch so was angezogen werden und

Weise Hipster gewesen – wir sind

geben Geld in der Stadt aus. Al-

auch inzwischen viel zu alt, um

lerdings geht das Geld dann nicht

als Hipster durchzugehen. Wir ha-

in diese Szenen zurück. Vielleicht

ben irgendwann damit angefangen,

landet das Geld über viele Umwe-

Musik zu machen, die nicht rich-

ge über die Steuerzahler dann in

tig klingt und die sich teilweise

Hartz IV-Sätzen, wovon dann wie-

mit Popkultur und Popmusik befasst

derum Musiker leben können – also

und Dinge neu zusammensetzt. Wenn

wenn man so will indirekte Kul-

man so was macht, wird man rela-

turförderung.

tiv schnell als wahnsinnig kreativ, clever, postmodern, me-

Stichwort „hipste Stadt

ta-irgendwas Und

der Welt“. Man könnte

dann

aufgefasst.

liegt

der

Be-

auf die Idee kommen,

griff Hipster nicht sehr

dass eure Musik mut-

fern. Wenn man sich aber

anschluss-

anguckt, was die so ge-

fähig zu den Hips-

nannten Hipster heute

maßlich

so

tern ist und ihr da

machen,

das

hat

mit dem, was wir ma-

in einen Topf geworfen werdet. Das wür-

chen,

de mir an eurer Stelle

nig

aber nicht gefallen …

halb

relativ zu

tun.

sind

wir

weDesin

den Kreisen nicht so … nee, das sind wir auch nicht, ist

82

niemand

jemals

in

von

uns

irgendeiner

präsent – also zu unseren Konzerten kommen die nicht …


„THEY‘RE DOING THIS PROJECT, THEY

… Gott sei Dank …?

GOT

THE

FUNDING,

TOKYO

LONDON,

Ich habe jetzt auch nichts dage-

THEY KNOW MY FRIEND, WE KNOW THEM

gen, ich bin jetzt auch nicht so

WE WORK IN BARS“

ein

Hipster-Basher.

Zu

unseren

Konzerten kommen Leute, die rela-

Internationalität ist bei The Chap

tiv normal sind. In Berlin genau

offensichtlich

wie in anderen Städten.

den. Wie wichtig ist euch Interna-

faktisch

vorhan-

tionalität aber in einem weiteren Unser Magazin trägt den Untertitel

Kontext?

„Magazin für die Urbane Bohème“ kannst du was mit dem Begriff an-

Wir sind ja eigentlich eine Lon-

fangen, würdet ihr euch da einsor-

doner Band. Ich glaube, woanders

tieren?

hätte es diese Band so nicht gegeben, weil London eine sehr in-

Von mir aus, irgendwie passt das

ternationale Stadt ist und man da

vielleicht schon. Dennoch: Ich bin

dann doch noch etwas andere Leute

einfach ein Typ, der Musik macht,

kennenlernt als in Berlin. Da lau-

klingt cheesy, aber so ist es ei-

fen Menschen rum, die gibt es hier

gentlich.

in Berlin irgendwie nicht so rich-

83


tig. So halte ich uns zwar schon

Kulturen und Sichtweisen und Musi-

für

ken hin und her denkt und springt.

eine

faktisch

internationa-

le Band, aber eigentlich vor allem eine Londoner Band, was aber,

Was ist in dieser eher undergroun-

wenn man London kennt, kein Wi-

digen Musikszene der Unterschied

derspruch ist. Wo ich in London

zwischen London und Berlin?

gelebt habe, gab es orthodoxe Juden, Moslems aus der Türkei und

Ich habe in London viel zu tun

Pakistan, ein sehr viel bunteres

gehabt mit Leuten, die freie Im-

Gemisch als hier, das ist da aber

provisation machen und eher Per-

so normal. Das fällt einem im All-

formance Kunst. Vielleicht ist das

tag nicht immer so auf. Ich glaube

auch nur Zufall, vielleicht hätte

aber, dass das einen prägt, wenn

ich die in Berlin auch kennenge-

man ständig zwischen verschiedenen

lernt. Der Berliner Szene unterstelle ich mal (auch wenn ich sie nicht so gut kenne), dass sie ein wenig ernsthafter ist und es weniger ein Crossover gibt in andere, eher poppige Bereiche. Vielleicht stimmt das auch nicht. Was mir schon auffällt: In Berlin gibt es noch viele, die sehr eng in einer bestimmten Szene sind, zum Beispiel Hardcore, und sich wenig aus ihrer Ecke bewegen. Das habe ich so in London nicht so erlebt.

84


Ist das, was ihr macht, ohne Urbani-

Johannes, zum Abschluss noch eine

tät, ohne Großstadt nicht denkbar?

Frage. Im Sommer fragte mich eine Freundin, die auf ein Konzert von

unwahrscheinlich,

euch wollte, wie ihr klingt. Ich

dass es uns ohne das in der Form

sagte kurzerhand, es sei in etwa

gäbe. Wenn wir alle auf dem Land

so als würde die Band der Muppet

leben würde, würde das alles an-

Show Songs von Hot Chip spielen.

ders klingen.

Passt das?

Sind die Leute, die eure Musik hö-

Ja, vielleicht schon. Wir hatten

ren, vor allem Stadtmenschen?

eine Zeit lang ziemlich viele Hot

Wahrscheinlich

Chip-Vergleiche. Das mag aber auch daran liegen, dass wir mit denen

Ich glaube schon.

den Proberaum geteilt haben. Ich Wo habt ihr die größten Konzerte?

habe das aber immer nur begrenzt verstanden.

Bei

unserem

dritten

Interessanterweise in Frankreich,

Album gibt es vielleicht zwei bis

in

Paris und Lyon. Da hatten wir

drei Songs, die so auch Hot Chip

eine Zeit lang aber auch eine sehr

hätten machen können. Nach mei-

gute Pressefrau, die uns die er-

nem Verständnis gibt es viel mehr

staunlichsten

Nicht-Gemeinsamkeiten als Gemein-

Artikel

beschert davon

samkeiten. So eine wirkliche Nähe

springen die Franzosen gut an auf

sehe ich da nicht - mit der Muppet

unsere Musik.

Show schon eher!

hat.

Aber

auch

abgesehen

85


p

rovinziell und metropol – Berlin, my Love Ich leide. Unter dir. Mit dir. Text: Sven Hätscher

Geisterfahrer

zu Smokie-Konzerten nach Bulgarien

anziehst, die sich für dich und

fahren? Oder zum Musikantenstadl

deine falschen Symbole einsetzen.

nach Malle?

Besonders

wenn

du

David Hasselhoff an der East Side Ich

Der Mauerfall, besser die Wende,

bitte dich. Muss das sein? Ja, die

war und ist für mich als Berliner

Gallery ist ein Kunstwerk. Schüt-

Junge Techno – die musikalische

zenswert. Meinetwegen. Hasselhoff

Industrialisierung. Das Neue, Wil-

ist es nicht. „I’ve been looking

de in den zerfallenden Ruinen ei-

for

nes untergegangenen Traums. Hier

Gallery.

David

Freedom“

Hasselhoff!

ist

schon

an

sich

Provinz. Das ist Easy Rider-Menta-

wurden

lität. Soll er doch durch staubige

eingerissen, Neues gewagt. Beson-

Einöden brettern. Stattdessen wird

ders gelungen eingefangen im Buch

er von einigen als Ikone des Mau-

„Der Klang der Familie“, das mit

erfalls gefeiert. Und sie kommen zu Tausenden, um mit TAFKA Michael Knight gegen was auch immer zu demonstrieren. Gegen das Urbane? Gegen Wandel? Warum nicht gleich

86

Freiräume

erobert,

Wände


seinen

Interview-Schnipseln

Ber-

lin, Techno und die Wende in Worte gießt. Ich möchte nicht dem Vergangenen nachtrauern, wie es David Bowie an

eine audiovisuelle Hymne an die

seinem 66. Geburtstag mit seinem

Stadt verfasst, die mir gefällt.

Berlin-Song

Aber auch in ihr schwingt Retrospektive mit. Irgendwie ist Berlin auch immer provinziell. Das Berlin der 80er Jahre war eine politische Einöde. Geprägt von einer Partei, die noch heute für mich persönlich das Provinzielle, verkörpert.

das

Vorstädtische

Zehlendorf,

Spandau,

gemacht macht. Ja, es ist schön,

Reinickendorf sind es heute noch.

sich daran zu erinnern, wie es da-

Von Charlottenburg und Wilmersdorf

mals war. Für Bowie in den 70ern.

wollen wir gar nicht sprechen. Und

Für mich in den 90ern. Das Lied

es nimmt mal wieder Überhand. So

gefällt mir. Es ist wehmütig, aber

dass man sich fragt, wo ist der

es ist auch eine Art Liebeserklä-

Durchbruch zum Neuen?

rung. Leider nicht an die Gegenwart. Das ist bedauerlich. Auch

Im Augenblick bauen wir uns eine

Westbam hat mit seinem Ohrwurmlied

Dunstglocke, die den Wandel und

87


die

Kreativität

von

einst

in

Stasis versetzen will. Institutio-

Und die kommen aus Landau in der Pfalz. Oder Breton,

nalisiert. Und konserviert für die Ewigkeit. Eine solche Kreativität gedeiht aber nicht. Sie verteidigt ihre Pfründe. Erinnern ist gut. Es bedarf Orten der Erinnerung. Aber die East Side Gallery ist nicht der Ort. Und an David Hasselhoff möchte ich mich später auch nicht erinnern wollen.

die aus der echten europäischen Metropole stammen, London.

Dies

Ach, du willst modern sein. Eine

sind Verschmelzungen von Stilrich-

Metropole. Ein Schmelztiegel, aus

tungen, die etwas Neues schaffen

dem Neues erwächst.

und zugleich die Beklemmung der Gegenwart einfangen und sich an

Doch wenn ich mir die Musik anse-

ihr reiben. Sie sind Multikünst-

he, die ich als Verkörperung des-

ler, sie sind dermaßen überzeu-

sen bezeichnen würde, dann sind

gend, dass man befürchtet, all ihr

das zum Beispiel Sizarr.

Talent könnte bereits beim ersten Mal verglühen.

88


Sven Hätscher ist ganz echt Berliner und ganz echt Musikfreak. Er widmet sich mit viel Leidenschaft seinem Blog gutemukke.tumblr.com.

Den Eintritt für die Konzerte seiner Wahl verdient er sich als Referent für Online und Social Media beim Parteivorstand der SPD. Für Rosegarden wird er künftig über Musik schreiben. Twitter: @haetscher

89


S

paziergang zur Insel der Jugend Magische Orte Text: Mandy Schoßig Foto: Maren Heltsche

Park

lang ersehnten Frühjahrs. Die Bäume

aussteigt, verspürt noch nicht viel

und Sträucher knospen zaghaft, das

Magisches. Eine Station wie viele

Grünflächenamt Treptow-Köpenick hat

in Berlin mit einer Unterführung,

ganze Arbeit geleistet und Frühblü-

die mehr nach Urin als nach den

her in die Rabatten gebracht. Ers-

erinnerungsschweren

eines

te Tapfere strecken sich auf den

Richtet

weiten Rasenflächen des Treptower

man seine Schritte nach Westen, zu

Parks aus. Die Sonnenbrille auf der

den Anlegern der

Nase und das erste Mal ohne die

Wer

am

S-Bahnhof

Treptower

Sonntagsausflugs

Düften

riecht.

Stern- und Kreis-

schifffahrtflotte,

wird

schon

Winterjacke schlendern wir weiter

beschaulicher.

verheißungsvol-

die Spree hinauf, genießen den Aus-

len Namen wie MS Luna, MS Havel-

blick auf Alt-Stralau und beneiden

stern und MS Belvedere liegen die

einen ganz kurzen Moment die Haus-

Ausflugsschiffe in der Spree und

boot-Besitzer um ihre Freisitze und

schaukeln leicht im Frühlingswind.

die Radieschen-Aussaat auf Deck.

Mit

es

Hier beginnt der Bummel zur Insel der Jugend, der schon allein seiner

Leider sind wir auf dem Weg zur In-

Zielbezeichnung wegen magisch ist.

sel der Jugend nicht allein – zumin-

Insel der Jugend! Wahnsinn!

dest nicht an einem Sonnensonntag im April. Unter der Woche könnte

Immer an der Wasserkante entlang

man da mehr Glück haben. Wir be-

entdecken wir erste Vorboten des

schließen

90

aber,

uns

das

erheben-


de Gefühl des „Draußenseins“ nicht

wurde.

von

Hundebellen

imposanten Türme zu beiden Seiten

und anderen Spaziergängern verder-

verstärken den Eindruck eines ver-

ben zu lassen und richten uns ein

wunschenen Ortes: Wartet hier die

im

Die

ewige Jugend auf uns? Leben junge

bleichen Wintergesichter zur Son-

und ausschließlich schöne Menschen

ne geht’s weiter. Die ersten Sonn-

auf dieser Insel? Stets beschäftigt

tags-Kindheitserinnerungen gibt es

mit Gesang und Tanz; frei von den

an der Eierschale. Der Geruch nach

grautrüben Gedanken des Erwachse-

Bratwurst und große Bierkrüge auf

nenlebens? Beschwingt überschreiten

den langen Tischen in einem der äl-

wir die Brücke und finden uns auf

testen Ausflugslokale Berlins laden

einer kleinen Insel wieder mit einem

zum Bleiben ein. Das Kettenrestau-

Brückenhaus, das früher Jugendclub

rant für Burger und Billigpommes im

war und heute Veranstaltungsort für

Erdgeschoss lädt gleich wieder aus.

Wintercafé

Schade.

Konzerten ist. Oder ebenfalls war?

Kindergeschrei,

„Draußensein-in-der-Stadt“.

Ebenfalls

und

Netzwissen.

Sommergarten

Die

mit

Letzten Sommer wurde die Fête de Schon von Weitem erahnen wir dann die

la Musique wegen Lärms abgesagt;

Insel der Jugend zu unserer Linken.

Anwohner auf Stralau hatten sich

Die Brücke – wie ich im Netz nach-

beschwert. Jugendlicher Leichtsinn

lese: die erste Stahlverbundbrücke

trifft auf nicht mehr ganz so ju-

Deutschlands – hat etwas Märchen-

gendliche Familien. Klingt das be-

haftes. Im kühnen Bogen über den

kannt?

Wasserarm führt sie auf die kleine Insel, die 1896 für die Berliner

Auch davon lassen wir uns die Sonn-

Gewerbeausstellung

tagslaune nicht verderben, suchen

aufgeschüttet

91


uns auf dem westlichen Teil der Insel

einem Sommerabend mit entsprechend

ein ruhiges Eckchen mit Blick aufs

prickelnden Kaltgetränken, die man

Wasser, verspeisen das mitgebrach-

sich – nicht mehr so jugendlich –

te Picknick, ruhen Augen und Oh-

jetzt leisten kann. Wer noch wei-

ren aus, tanken Energie. Zwar nicht

tergehen mag, dem seien Einblicke

um fünfzehn Jahre verjüngt, aber

in den halbverfallenden Spreepark

beschwingt

mit seinen Schwanenbooten und dem

und

ausgeruht

verlas-

sen wir die „Insel Berlin“, wie sie

Riesenrad,

heute genannt wird, und beschlie-

Blickwinkeln

ßen wiederzukommen. Vielleicht an

lugt, empfohlen. Einfach magisch.

92

das aus

aus

verschiedenen

dem

Blätterdach


Mandy Schoßig lebt in Berlin und freut sich, dass Alt-Treptow manchmal etwas dörflich ist. Wenn sie nicht gerade mit einem Buch auf dem Sofa liegt oder beim Arbeiten versucht, die Welt zu retten, ist sie am liebsten draußen. In Kürze: S-Bahnhof Treptower Park (barrierefrei), Spaziergang: ca. 30 - 40 Minuten (einfach), Insel Berlin – Sommergarten: Sa./So.: 10/12-22 Uhr, inselberlintreptow.blogspot.com/

93


G

uerilla Taktik Trends kommen und gehen. Hartnäckig hält sich zum Glück das Thema Guerilla Dining. In Berlin, New York, Paris und London gibt es kreative und spannende Szenen, die mit Leidenschaft Menschen zusammenbringen, die sich für gutes Essen in guter Gesellschaft begeistern. Wir sprachen mit Daniel Grothues, einem der Küchen-Guerilleros aus Berlin. Interview: Mario Münster Fotos: S.95 Ailine Liefeld, Mischa Dlouhy

Daniel, seit wann machst du die

neugierigen Gästen zu beherbergen,

Guerilla Dinner?

und lädt über verschiedenste Netzwerke ein. Das traf auf jeden Fall

Das erste Daniel’s Eatery Dinner

bei mir zu und so wurde Daniel’s

fand im August 2011 statt.

Eatery geboren.

Wie bist du auf die Idee gekommen?

Was macht am meisten Spaß an diesen Dinnern?

Ich hatte hier und da von sogenannten Supper Clubs, Speakeasies

Ach, eigentlich kann ich gar nicht

oder illegalen Restaurants gele-

einschränken, was mir am meisten

sen, die international scheinbar

Spaß macht. Okay, das Spülen da-

immer populärer wurden. An sich

nach ist es sicherlich nicht. Aber

funktionieren sie alle nach dem

ernsthaft, das Planen und Zusam-

gleichen Prinzip: Jemand kocht gut

menstellen

und gerne, hat passende Räumlich-

große Freude. Aber ebenso ist es

keiten, um eine gewisse Zahl von

jedes Mal wieder spannend und spa-

94

des

Menüs

macht

mir


ßig, neue Menschen kennenzulernen

ziehungsweise jedes Guerrilla Din-

und dabei auch den Leuten zuzu-

ner hat einen anderen Fokus, je-

schauen. Ich bin gerne Gastgeber

der Gastgeber ist anders. Daher

und genieße es, die Zeit mit den

sehe ich die anderen auch nicht

Menschen zu verbringen und vor al-

als Konkurrenz, sondern eher eben

lem ihnen eine gute Erfahrung zu

als Bereicherung und finde es auch

vermitteln.

spannend, mich mit ihnen über Erfahrungen auszutauschen oder sogar

Ist diese Guerilla Dining Szene in

inspirieren zu lassen.

Berlin gut vernetzt bzw. auch international gut vernetzt oder seid

Guerilla Köche laden fremde Men-

ihr Einzelkämpfer?

schen in ihr Wohnzimmer ein. Hattest du schon mal Gäste, bei de-

Die Guerilla Dining Szene ist re-

nen du dir dachtest, die hätte ich

lativ gut vernetzt. Aber sicher-

lieber nicht bei mir Zuhause ge-

lich gibt es auch Einzelkämpfer.

habt?

Ich denke, jeder Supper Club be-

95


Die Mischung der Gäste ist immer

Sachbearbeiter,

Wissenschaftler,

unterschiedlich, aber immer span-

Künstler. Verschiedenste Interes-

nend und lustig. Sicherlich gab es

sen kommen am Tisch zusammen. Jün-

hier und da schon Menschen, mit

ger und älter. Hetero und homo.

denen ich weniger auf einer Welle

Männlein und Weiblein. Wirklich,

war, als mit anderen. Aber es gibt

es ist immer eine bunte Mischung,

ja dann mindestens noch acht wei-

die aber eben durch die Neugierde

tere Gäste …

auf eine neue Dinner Erfahrung und die Freude an gutem Essen und Wein

Gibt es so etwas wie den typischen

verbunden ist.

Gast oder sind die alle verschieden?

Gibt es bei so einem Format auch Stammkunden?

Alle Gäste sind absolut verschieden. Es gab bisher die unterschied-

Auf jeden Fall gibt es Gäste die

lichsten beruflichen Hintergründe:

wiederkommen. Es gibt ein paar,

96


die sicherlich schon sechs oder

sehr gut funktionieren kann. Man

sieben

Mal

kommen

vielleicht

aber

dabei

waren.

Andere

muss dort vielleicht nur ein wenig

nicht

wieder,

mehr Erklärungsarbeit leisten, da-

empfehlen

mit die Menschen verstehen, warum

glücklicherweise

sie in eine private Wohnung oder

sie mich weiter.

eine alte Lagerhalle zum Essen geGlaubst du, dass diese Guerilla

hen sollen und nicht zum Wirt am

Dining

Marktplatz.

Geschichten

etwas

spezi-

fisch „urbanes“ sind. Oder würde das auch, sagen wir mal, in der

Gäbe es ohne Facebook und Internet

Lüneburger Heide funktionieren?

Guerilla Dining?

Ein solches Dinner Konzept funkti-

Guerrilla

oniert sicherlich am besten in ei-

eine „alte Sache“. Schon Anfang

ner urbanen Umgebung. Menschen in

des letzten Jahrhunderts in den

Ballungsräumen und größeren Städ-

1920er Jahren gab die sogenann-

ten sind viel mehr Einflüssen und

ten Speakeasies, während der Pro-

Innovationen ausgesetzt und daher

hibition, wobei damals der Fokus

oft zwangsläufig neugieriger auf

auf alkoholischen Getränken lag.

neue Erfahrungen als Menschen in

Man sprach eben nicht laut bzw.

kleineren

weiß

öffentlich über diese Örtlichkei-

ich aus eigener Erfahrung, dass

ten. Und so auch heute. Man spricht

es auch dort Menschen gibt, die

mit Bekannten und Freunden über

sehr aufgeschlossen sind und daher

die neue Entdeckung und so wer-

bin ich sicher, dass Guerrilla Di-

den neue Gäste gewonnen. Dennoch

ning auch in der Lüneburger Heide

tragen Facebook und das Internet

Städten.

Dennoch

Dining

ist

ja

schon

97


natürlich

sehr

zur

Kommunikati-

on bei und ohne digitales Word of

und Produkte zum Kochen und passende Locations außerdem.

Mouth wären die Guerrilla Dinner sicherlich nicht so gut besucht.

Wie kommen dir die Ideen für deine

Mittlerweile sind die Dinner so-

Essen, wo findest du Inspiration?

gar eine recht öffentliche Sache Ich

geworden.

durchstöbere

Blogs,

blättere

ständig Kochbücher

Foodund

Ist Berlin eigentlich die perfekte

gehe in verschiedene Supermärkte.

Stadt um sich und seine Ideen aus-

Das ist meine Inspiration. Meis-

zuprobieren?

tens sind es dann zufällige Entdeckungen von Rezepten, die ich un-

Ich

finde,

ideal,

um

Berlin sich

ist

und

insofern

seine

Ideen

bedingt ausprobieren möchte und so kommen sie auf’s Menü.

auszuprobieren, da es schlichtweg die größte Stadt in Deutschland

Was war das beste Essen, das du

ist

bisher gegessen hast?

und

unglaublich

viele

Men-

schen, Kulturen, Szenen und Optionen bietet. Im (inter)nationa-

Oh, diese Frage ist schwierig zu

len Vergleich ist Berlin wohl auch

beantworten. Es gab schon so viel

eine der kreativsten, lebendigs-

gutes Essen, das ich essen durf-

ten und nicht zuletzt günstigsten

te! Wenn ich meine eigenen Dinner

Städte, um seine Ideen anzustoßen.

betrachte, hat mir wohl „Burrata

In meinem Fall finde ich hier eine

mit Sal de Ibiza Flores und Räu-

Vielzahl von neugierigen Menschen,

cherlachstatar auf Salicornes“ am

sprich, potentielle Gäste, Märkte

besten gefallen.

98


Daniel Grothues lebt als Designer und begeisterter Guerilla Koch in Berlin. Termine f端r seine Dinner und andere Aktionen rund um gutes Essen gibt es hier: www.danielseatery.com

99


B

loß nicht „Mahlzeit“! Die alternative Mittagspause Text: Maren Heltsche Fotos: Svenja Klemp (1.), knitknit.de (2.)

Mittagessen mit den Kollegen oder

das Ganze ist natürlich für einen

einsame Pausen mit Stulle vor den

guten Zweck.

privaten E-Mails und Facebook sind nicht immer erholsam. Deshalb hier ein paar Vorschläge, wie man die Mittagspause auch anders verbringen kann. Lunchbeat Wie wäre es mit einer Stunde Clubatmosphäre zwischen den Schreibtischphasen? Der Lunchbeat ist ein Konzept für die Mittagspause aus Schweden. Mit Tanzpflicht und gesundem Essen. Mittlerweile gibt es

Spaziergang mit Podcast

die Partypause in 15 Städten Europas. In Deutschland bislang nur in

Frische Luft ist immer gut. Bewegung

Hamburg. Kopieren ist ausdrücklich

auch. Deshalb passt ein Spaziergang

gewünscht. Nur an ein paar Regeln

fantastisch in eine Mittagspause.

muss man sich halten. Ach ja, und

Eine perfekte Kombination ist ein

100


Spaziergang mit Hörbuch oder Po-

kann sie in kleinen Häppchen in

dcast. Es fühlt sich an wie frü-

der Mittagspause konsumieren, da-

her, als beim Spielen eine Kasset-

bei entspannen und sich inspirieren

te lief. Jetzt sind es vermutlich

lassen. Wer gleich mehrere Galeri-

nicht mehr Bibi Blocksberg oder die

en in unmittelbarer Nachbarschaft

Drei ??? sondern vielleicht die Mä-

hat, umso besser. Dann ist für vie-

dels with a Microphone.

le kreative Pausen vorgesorgt. Brownbag Vorträge

und

Informationsveran-

staltungen während der Mittagspause: Nicht unbedingt erholsam, aber abwechslungsreich

und

inspirie-

rend. Die Idee des Brownbag kommt aus den USA: Der Name ist vom mitgebrachten Essen abgeleitet, das in den USA oft in braune Tüten eingepackt wird. Heißt: Butterbrot, Suppenreste vom Vorabend oder die Kunst

Schale Salat von der Imbissbude mitbringen und hören, was die Kol-

Galerien sind nicht gerade für ihre

leginnen und Kollegen zu berichten

arbeitnehmerfreundlichen Öffnungs-

haben. Meist folgt auf den Vortrag

zeiten bekannt. Wer dennoch Kunst

eine Diskussion, zu der man spä-

auf

testens wieder wach ist.

seinen

Speiseplan

schreibt,

101


Powernap

Lunch Break Knit

Ein kleines Nickerchen zwischen-

Stricken

durch

dem

ist toll, Masche für Masche den

Kopf auf der Tischplatte. Falls

Fortschritt an Mütze, Schal und

kein Bett in der Nähe ist. Das ist

Co. zu sehen. Und weil das Gan-

nicht nur äußerst erholsam, son-

ze in Gesellschaft noch mehr Spaß

dern steigert

die Konzentrations-

macht, gibt es in vielen Städten

und Leistungsfähigkeit. Und senkt

Strick-Cafés oder -Läden, in denen

Studien zufolge das Herzinfarktri-

sich Gruppen treffen. Hier finden

siko. Das Schläfchen sollte nicht

auch Einsteiger-Kurse statt. Dafür

länger als 20 Minuten dauern, denn

sollte die Mittagspause aber ein

dann

bisschen länger sein.

beispielsweise

beginnt

die

mit

Tiefschlafpha-

se. Wer sich keinen Wecker stellen möchte, trinkt vor dem Schlafen einen Espresso. Sobald der anfängt zu

wirken,

wach.

102

wird

man

von

selbst

ist

meditativ

und

es


Anzeige

103


D

ann hol‘ ich meinen Weißwein und der sticht, sticht, sticht …! Vespa Bianco 2010, Weingut Bastianich, Friaul, Italien Foto: Mario Münster

Das Leben ist voller Zufälle. Im

son

sind,

war

mir

Juli 2012 verbringe ich einen sehr

noch gar nicht klar.

gewittrigen Abend im Zimmer einer Ferienunterkunft im Friaul und

In dem Moment war der

sehe mir die Sendung ‚Masterchef‘

Wein

an. Was man so macht, wenn es im

wichtiger. Er war

Urlaub regnet. Eines der Jurymit-

atemberaubend.

glieder

Ich habe verges-

bei

Masterchef

ist

Joe

ohnehin

viel

Bastianich, der im Rahmen seiner

sen, was ich dazu

Bewertungen schon mal Sätze sagt

gegessen

wie „… this is not a dessert this

Der Vespa Bianco

looks like a crime scene.“

(samt Wespe auf dem

habe.

Etikett!)

Ein Abend später sitze ich mit mei-

ist

eine

ner Frau in dem ziemlich perfekten

aus

Chardonnay,

Restaurant ‚La Subida‘ nahe der

Sauvignon

Stadt Cormons. So um den dritten

und

Gang rum bekommen wir als nächs-

Selten habe ich

ten Wein ein Glas Vespa Bianco von

einen

Bastianich serviert. Dass der Typ

vielschichtigen

aus der Sendung und der Besitzer

Weißwein

ge-

des Weinguts ein und dieselbe Per-

trunken:

Mine-

104

Cuvée Blanc

Picolit. derart

da


ralische Frische irgendwie

der offenbar gerade der neue Wein-

gepaart mit süßen, honig-

keller entstand. Einem Angestell-

artigen Aromen, eine Ah-

ten mit langen blonden Haaren und

nung von Zitrusfrüchten

Tätowierungen, der eher nach Me-

und Geschmack nach wilden Blumen. Klingt verrückt,

schmeckt

aber

wirklich so.

tallica-Roadie

als

nach

Winzer

aussah, kaufte ich eine Kiste Vespa Bianco ab und schaffte sie mit größtem Besitzerstolz nach Berlin. Dort liegt sie jetzt und wartet

Am

folgenden

fuhr wegs

Tag

ich

gerade-

zum

Weingut

Bastianich.

darauf mich glücklich zu machen. Den Vespa Bianco kann man für ca.

Es

20 EUR mit viel Glück irgendwo in

war zum Glück nur

Deutschland kaufen. Oder man man

ein

Kilo-

fährt am besten gleich ins Friaul

entfernt.

und holt sich den Wein vor Ort ab.

paar

meter

Ich betrat eine Baustelle

auf

www.bastianich.com

Autor: Mario Münster ist nicht nur Mitherausgeber dieses Magazins. Unter dem Namen ‚The Wine‘ betreibt er einen Online-Shop für Wein samt Showroom in Berlin-Kreuzberg. Er lässt es sich nicht nehmen, künftig in jeder Ausgabe einen Wein vorzustellen, den man nicht bei ihm kaufen kann.

105


F

anpost 2.0: I adore you. An Colin Meloy Portland, Oregon United States of America Singer-Songwriter und Buchautor

schen Gut und Böse. Mit nicht en-

Lieber Colin Meloy,

den wollenden Straßen und Wäldern. es gibt ein Zitat von dir, ich

Das Amerika, in dem sich Fremde im

würde es glatt als Lebensmotto für

Nirgendwo begegnen und miteinan-

mich übernehmen: „there is no rea-

der reden wie Verwandte. Das Ame-

son to hide behind a fake coolnes

rika von Jonny Cash, Tom Sawyer

… it’s so much more liberating for

und John Irving. Das Amerika der

me just to kind of fly my geek

Demokratie. Von dir zu hören und

flag.“ Aber es soll hier gar nicht

zu lesen drängt das Amerika der

um dieses Zitat gehen, so wunder-

Tea-Party, des War on Terror, der

voll es ist.

Bush-Familie, der Waffen-Fans, der Homo-Hasser und Klimawandel-Leug-

Colin, ich schreibe Dir, weil ich

ner in den Hintergrund. Erleich-

mich dafür bedanken möchte, dass

ternd ist diese Illusion.

du meine irgendwie kindlich-irrationale deutsche Vorstellung von

Du erzählst in Bildern und in ei-

Amerika

Ame-

ner Sprache, die Nahrung für meine

der

traumhafte Vorstellung sind: von

Freiheit. Mit klaren Grenzen zwi-

kleinen Städten, Wiesen und Bäu-

rika,

106

aufrecht

das

große

erhältst. weite

Land


Am Ende jeder Ausgabe von Rosegarden schreiben wir öffentlich einen Brief. An Menschen, die uns etwas bedeuten, die wir für ultra-coole Typen oder einfach nur für anbetungswürdig halten. Egal ob Großmutter, der Typ aus dem Eckladen oder unser Lieblingssportler. Alles ist erlaubt. Wir werden diese Briefe auch an die Adressaten schicken. Was daraufhin passiert, berichten wir jeweils in der folgenden Ausgabe.

men. Von Geschichten zwischen Men-

And years from now

schen. Davon wie es ist Mensch zu

When this old light isn‘t ambling

sein. Machen wir uns nichts vor:

anymore

Wir reden von Americana. Das ist

Will I bring myself to write

wohl eine Haltung.

„I

give

my

best

to

Springville

Hill“ Ich würde gerne mit dir bei einem Bier unter einem dieser Bäume

Ich kann das wieder und wieder hö-

sitzen und mit dir über das Le-

ren. Und es bleibt das gleiche Ge-

ben reden, über deine Wurzeln und

fühl.

meine Wurzeln. Danach vielleicht ein paar Songs spielen. Und dann

Ich hoffe, ich werde wieder von dir

ein paar Burger grillen und in die

hören, Colin. Egal ob im Radio, in

tief stehende Sonne über dem Wei-

einem Video oder vielleicht wirk-

zenfeld schauen.

lich eines Tages an der Biegung des Flusses.

Es gibt eine Passage in dem Lied „June Hymn“, mit der ich all das verbinde:

Es grüßt dich

Mario

Über den Empfänger: Colin Meloy lebt mit seiner Frau Carson Ellis und seinem Sohn in Portland, Oregon. Gemeinsam haben sie die wunderschön illustrierte Kinderbuchreihe ‚Wildwood Chronicles‘ erfunden. Als Singer-Songwriter ist er entweder solo unterwegs oder mit seiner fantastischen Band The Decemberists. | twitter: colinmeloy 107


Die krasse Grafik: This is Europe. TypoRn

108


109


T

his is Europe. Naja, ein Teil davon. Grafik: Christoph Raiser (An dieser Stelle werden wir künftig immer eine Grafik zeigen. Und zwar solche, die uns fordern! Anmerkung der Gestaltung: Ich halt‘s nicht aus!)

Wer schon immer geglaubt hat, dass

werk auch die Entscheidungsfindung

der europäische Gedanke gut für

bei

Reisen ist, es aber im politischen

REACH über dreieinhalb Jahre do-

Rahmen schnell undurchsichtig und

kumentiert. Die ovalen und ecki-

chaotisch wird, sieht vielleicht

gen Felder geben die Positionen

in dieser Grafik seine Vorurtei-

einzelner Abgeordneter der unter-

le bestätigt. Es ist kompliziert.

schiedlichen Fraktionen im Euro-

Aber schließlich ist hier in ei-

paparlament wider: Vom Beginn des

nem sogenannten narrativen Netz-

Verfahrens über die Kompromissfin-

110

der

EU-Chemikalienverordnung


dung und die anschließende kommu-

schen Parlament analysiert und be-

nikative Bewertung des Kompromis-

ruhigt: Was verrückt aussieht, sei

ses. Die farbigen Linien zeigen

in Wahrheit der Beweis dafür, dass

die

es im Europaparlament demokratisch

unterschiedlichen

Geschich-

ten, die die einzelnen Fraktio-

zugeht.

nen zu diesem Entscheidungsprozess erzählen. Der Soziologe Christoph

Wir finden Europa wunderbar und se-

Raiser hat in seiner Doktorarbeit

hen ein, dass das nicht immer auf

Entscheidungsprozesse im Europäi-

den ersten Blick zu erfassen ist.

111


E

112

s muss nicht gleich TyPorn sein. Buchstaben können sich auch einfach nur mal zärtlich berühren. … Überlegungen von Bertram Sturm


Ein Hoch auf den Schriftdesigner, der es nicht dabei belässt, 26 Zeichen und noch ein paar %, § oder ? zu gestalten. Erst Ligaturen, die Vermählung von bestimmten Buchstaben, machen eine Schrift nicht nur wertvoller sondern einfach schöner. Ach ja: Auch das & ist eine Ligatur aus e und t (lateinisch: und). Genauso wie das ß eine Ligatur aus dem altdeutschen langen s und dem z ist. Weiter lesen? Weiter lesen!

113


I

mpressum

Kontaktdaten redaktion@rosegarden-mag.de www.rosegarden-mag.de Postanschrift: Heckmannufer 6a, 10997 Berlin, Telefon: +49 (0) 151 240 30 742

Ricarda Kniesz, Robert Kummer, Ailine Liefeld, Tabea Mathern, Mario Münster, Christoph Raiser, Joul Safadi, Sabine Schründer, The Chap, Thomas Weltner. Titelfoto: Martin Roell

Herausgeber: Maren Heltsche, Mario Münster

Design/Illlustration: Bertram Sturm

Chefredakteur: Mario Münster stellv. Chefredakteurin: Maren Heltsche

Lektorat: Mandy Schoßig, Christiane Weihe

Anzeigen und Werbung: werbung@rosegarden-mag.de Redakteure (Text): Oliver Bottini, Teresa Bücker, Sven Hätscher, Maren Heltsche, David Hermann, Christian Ludwig, Mario Münster, Annina Schmid, Mandy Schoßig, Bertram Sturm, Christiane Weihe Redakteure (Foto/Bild): Mischa Dlouhy, Alexander Habermehl, Maren Heltsche, Philippe Intraligi, Svenja Klemp,

114

Rosegarden erscheint in unregelmäßigen Abständen etwa drei Mal im Jahr. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Für unverlangt eingesandtes Textund Bildmaterial und externe Links wird keine Haftung übernommen (s. hierzu: http://www.rosegarden-mag.de/?page_id=9) USt-IdNr.: DE269118250


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115


Bis zum n채chsten Mal.


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