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KURZGESCHICHTE. Lesespaß

DEN JOB KÖNNTE EIN AFFE MACHEN

CORNELIA TRAVNICEK entdeckte während eines Aufenthalts in China eine ganz besondere Spezies, die ihr im Umgang mit (scheinbar) wichtigen Menschen bemerkenswerte Gelassenheit bescherte.

Als ich ein kleines Mädchen war, wollte ich vieles werden: Erfinderin, Ponyhofbesitzerin, später Roboterpsychologin – und dazwischen auch mal Tierpflegerin. An Letztgenanntes musste ich vor kurzem wieder denken, als mir die Werbung für einen „Weißen Zoo“ unterkam, also einen Tiergarten, in dem nur weiße Exemplare der jeweiligen Art ausgestellt werden: weiße Tiger, weiße Kamele und noch einige andere minimalpigmentierte Spezies, die sich nicht davor retten konnten. (Nur weiße Nashörner nicht, weil diese sind seit dem Tod des letzten männlichen Exemplars in diesem Jahr so gut wie ausgestorben, was natürlich kein Trost für das Nashorn ist.)

Spätestens seit ich weiß, dass in Zoos hinter – oder auch vor – den Kulissen gerne mal die überschüssigen Tiere aus dem einen Gehege an die im anderen verfüttert werden, trauere ich meinem Kindheitstraumberuf nicht mehr nach.

Die wenigsten von uns werden später einmal, wovon sie in frühen Jahren geträumt haben. Astronautinnen. Zugführer. Meeresbiologen. Und wenn irgendjemand einen später mal fragt: Warum eigentlich nicht?

Dann ist man sich oft gar nicht sicher.

Ja, warum eigentlich nicht? Ist so passiert.

Weshalb wir unsere Träume offenbar einfach gedankenlos irgendwo am Wegrand liegen lassen – ich weiß es nicht. Dafür finden uns später im Leben manchmal Jobs, die wir uns nie hätten träumen lassen. Geworden bin ich letzten Endes bisher auch so einiges: Schriftstellerin, Informatikerin, Sinologin. Und als Letztgenannte fiel mir beim Durchsehen der Werbung

CORNELIA TRAVNICEK etwas auf: nämlich dass in der hat eine HTL abgeschlossen Sammlung des Weißen Zoos eine und Sinologie und Informatik mir gut bekannte Gattung gänzlich studiert. Heute ist sie fehlte: der Weiße Affe. Schriftstellerin und arbeitet Teilzeit in einem Forschungszentrum für Computergrafik. Der Weiße Affe ist eine Art, die es bei uns in Österreich meines Ihr Roman „Chucks“ wurde Wissens nicht gibt. Sein natürlicher 2015 verfilmt. Ihr aktuelles Lebensraum ist China. Buch „Feenstaub“ war 2020 In der Familie der Weißen Affen für den Österreichischen gibt es mehrere Unterarten, die

Buchpreis nominiert. sich voneinander in Aussehen und Verhalten grundsätzlich wenig unterscheiden, sie haben sich lediglich etwas an ihr jeweiliges Umfeld angepasst.

Das erste Mal konnte ich ein Exemplar beobachten, als ich noch eine Studentin war und für einen Sprachkurs an eine Universität nach Südchina ging. In den späten Nullerjahren war Chinas Ausgehkultur etwa da, wo sie in den USA in den 1980ern gewesen ist, und es öffneten so einige neue Clubs, die ihr Bestes versuchten, sich gegenseitig die gerade frisch in der unteren bis mittleren Mittelschicht angekommene junge Kundschaft streitig zu machen. Dabei waren Eintritt und die Getränke in diesen Lokalen keineswegs günstig, auch nicht für uns Österreicherinnen, ja, es war sogar ein hoher

Grundpreis pro Tisch fällig. Je mehr der jeweilige Club auf sich hielt, desto teurer war es, einen Tisch dort zu bekommen.

Jedes Wochenende ein- bis zweimal auszugehen, das wäre auch für uns mehr als ordentlich ins Geld gegangen. Die Lösung für unsere Geldprobleme fand sich aber schneller, als wir dachten, und vor allem an ebenjenen Orten, die diese verursachten.

Clubbesitzer traten an die damals noch sehr spärliche weiße Kundschaft heran und boten ihr (also uns) bares Geld dafür an, das jeweilige Lokal regelmäßig zu besuchen, dort an der Bar zu sitzen und ein paar Getränke zu konsumieren.

Jawohl, wir sollten für das Fortgehen bezahlt werden.

Die einzige Auflage war, eine gewisse Zeit zu bleiben, sichtbar eine Menge Spaß zu haben und jedem oder jeder der chinesischen Anwesenden auf seine oder ihre freundlichen Versuche, sich im Englischen zu üben, eine ebenso freundliche Antwort zu geben. Da ich nur für einen Sommerkurs gekommen war und nicht das Semester über bleiben konnte, musste ich das Jobangebot leider ausschlagen.

Meine zweite Sichtung des Weißen Affen ist nicht offiziell bestätigt, obwohl sie sogar als Videobeweis vorliegt. Eine Studienkollegin, ich nenne sie Karina, erzählte mir, dass sie während ihres China-Aufenthalts für einen Film gecastet wurde.

Karina, eine sehr blonde, sehr resolute Kärntnerin mit der typischen schroffen Freundlichkeit dieses Bundeslandes, sollte allerdings keine Österreicherin spielen, sondern eine Russin. Eine russische Soldatin, um genau zu sein. Dass sie kein Wort Russisch konnte, war den Produzenten dieses Films ebenso egal wie das Fehlen jeglicher Vorerfahrung im Berufsfeld der Schauspielerei. Es ist nicht klar, ob es sich bei diesem Filmprojekt um die Umsetzung einer historischen Vorlage handelte und ob in dieser möglichen Vorlage tatsächlich eine russische Soldatin jene Rolle spielte, die Karina zugedacht war. Hauptsache, die blonde Ausländerin war auf der Leinwand.

Zwei Jahre später begleitete ich höchstpersönlich ein männliches Exemplar des Weißen Affen in den kleinen, international nicht vollständig anerkannten und immer wieder von China für sich reklamierten Inselstaat Taiwan.

Als wir miteinander im Flugzeug saßen, wusste ich allerdings noch nichts davon. Der großgewachsene junge Mann – sagen wir, er hieß Karsten – sollte nach dem Besuch eines vierwöchigen Sprachkurses gleich noch für ein Jahr als Auslandsstudent in Taiwan bleiben.

Nachdem Karsten sich in diesem Jahr dort verliebt hatte (und das nicht nur einmal), beschloss er, länger auf der Insel zu leben, und sah sich nach einem Job um.

Schnell stellte sich heraus, dass es als Ausländer denkbar einfach war, einen zu finden, denn es gab eine riesige Nachfrage nach Sprachlehrern. Wie? Wer will denn in Taiwan Deutsch lernen? Nun, die Menge an Taiwanerinnen und Taiwanern, die freiwillig versuchen, sich die Zunge an deutschen Wörtern zu brechen, war zwar überschaubar und der Bedarf an Deutschlehrern damit ebenso, aber der Bedarf an Englischlehrern war quasi unstillbar. Und bei den halboffiziellen Sprachschulen reichte das Vorzeigen eines ausländischen Passes vor dem Hintergrund der eigenen blassen Haut als Qualifikation für diese Stelle bereits aus. Es kümmerte niemanden, was die eigene Muttersprache war, auch nicht, ob man jemals Englischunterricht genossen hatte, und ganz besonders nicht, wie gut das eigene Englisch ausfiel – solange man das Bewerbungsgespräch auf Englisch führen konnte, stellten so einige dieser Schulen einen vom Fleck weg an. Es soll Leute geben, die so mehrere Jahre in Taiwan gut über die Runden kamen und dabei auch noch einiges an Freizeit genossen.

Man sieht, der Weiße Affe ist keine seltene Art und auch noch nicht vom Aussterben bedroht. Wer sich länger in China und vor allem durch Chinas Wirtschafts- und Finanzwelt bewegt, wird früher oder später einem Weißen Affen begegnen.

Eine resolute Kärntnerin sollte eine Russin spielen. Dass sie kein Wort Russisch sprach, war den Produzenten egal.

Die Weißen Affen sind erstaunlich vielseitig, sie scheinen eine große Zahl an unterschiedlichen Talenten mitzubringen. Sie spielen bei Firmenbanketts in „berühmten amerikanischen“ Bands, sie sind „sehr erfolgreiche“ Ärzte oder „offizielle Gesandte“ eines Landes.

Eine erstaunlich hohe Prozentzahl an Weißen Affen arbeitet als CEOs kleiner, mittelständischer oder auch größerer chinesischer Firmen, wobei diese Chef-Jobs meist darin bestehen, Gruppen von anderen Unternehmen zu empfangen, mit diesen essen zu gehen oder einfach für diverse Fotoaufnahmen mit ihnen in der Gegend herumzustehen.

Weil der Weiße Affe ein Weißer Affe ist, muss er nicht Chinesisch sprechen können, das ist sein Vorteil.

Ob er es nicht sprechen kann, weil er weiß ist, oder ob er es nicht kann, weil er ein Affe ist, ist nicht die Frage. Der Weiße Affe muss oft genug gar nicht reden, er muss nur da sein. Der Weiße Affe erfüllt seine Aufgabe gut, solange er sichtbar präsent ist. Er muss sich nicht einmal auf die Brust trommeln, er muss sie nur stolz herausrecken. Je wichtiger der Weiße Affe aussieht, desto wichtiger ist er.

Vor wenigen Jahren wurde dem Chef der Firma, in der ich arbeitete, von einem chinesischen Wirtschaftsdelegierten in Wien die Möglichkeit angeboten, ein Joint Venture in China zu gründen.

Die chinesische Firma würde von uns Namen und Logos und dergleichen übernehmen, und er, der Wirtschaftsdelegierte, wäre der ausführende Geschäftsführer vor Ort, wir bräuchten uns um wenig zu kümmern, nur ein paar Verträge zu unterschreiben. Kurz darauf wurde mein Chef zum ersten Mal in seinem Leben nach China eingeladen. Als er zurückkam und uns die Fotos von seiner Reise zeigte, konnte ich auf ihnen den Weißen Affen sehen.

Manchmal frage ich mich, ob den Chinesen der Weiße Affe auch sogleich ins Auge sticht. Ob er für sie so offensichtlich ist wie für mich. Was, wenn sich zum Beispiel zwei chinesische Firmen treffen, um eine geschäftliche Möglichkeit zu besprechen, und beide bringen, um die jeweils andere zu beeindrucken, ihre Weißen Affen mit?

Beginnt ein Kräftemessen der Primaten? Ein ritueller Kampf? Oder ist es wie bei den Steinböcken und ihren überdimensionierten Hörnern, genügt ein Blick, und man weiß: Aha, unser Affe ist größer, er steht in der Rangordnung höher, wir haben gewonnen! Und die Affen selbst? Gelten auch im Club der Weißen Affen ungeschriebene Regeln? Kennen sie einander vielleicht sogar zufällig auf anderen Wegen, müssen sie diesen Umstand dann verbergen? Treffen sie sich später auf der Toilette, sprechen sie dann miteinander? Wenn ja, in welcher Sprache und worüber?

Vielleicht habe auch ich mich in meinem Leben schon zum Weißen Affen gemacht, ganz ohne es zu wissen. Denn vielleicht sieht man den Affen ja manchmal nur von außen, so als steckte man in einem dieser Ganzkörperkostüme, die einem selbst die Sicht beschränken. Und sehr wahrscheinlich hatte ich auch unrecht, als ich am Anfang in diesem Text schrieb, es gäbe den Weißen Affen in Österreich nicht, denn vor gar nicht allzu langer Zeit las ich in einem Magazin von einer Frau, die eine Firma gegründet hatte, aber zu geschäftlichen Gesprächen gerne einen eigens dafür engagierten weißen Mann vorschickte, der jedoch inhaltlich gar nichts zu sagen hatte, sondern rein für seine körperliche Anwesenheit bezahlt wurde.

Das Wissen um die Weißen Affen ist jedenfalls etwas, was durchaus einen praktischen Nutzen hat. Eine Freundin meinte einmal zu mir, sie finde es bemerkenswert, wie unbeeindruckt ich in der Gegenwart wichtiger Leute bleibe. Ich habe es ihr nicht gesagt, aber es liegt daran: Immer wenn ich sehe, wie jemand als die bedeutendste Person im Raum behandelt wird, frage ich mich insgeheim, ob derjenige nicht vielleicht einfach nur der größte Affe ist.

Eine erstaunlich hohe Prozentzahl an Weißen Affen arbeitet als CEOs in chinesischen Firmen.

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