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AUF EINEN SPRUNG BEIM ANWALT

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DAN FRANCISCO

DAN FRANCISCO

Kein Meer, keine Klippen – und dennoch: Matthias Appenzeller, 29, ist einer der besten Cliff Diver Europas. Und angehender Schweizer Staatsanwalt. Sein erster Fall: Er war vier, trug Schwimmflügel, kletterte auf den Sprungturm. Heute stürzt er sich mit 85 km/h in die Tiefe …

Er sieht so unglaublich locker aus, wie er da auf der Plattform tänzelt, 27 Meter über dem türkisgrünen Urnersee, und die Arme parallel in die Höhe reckt. Wie er die Zuschauer unten – es sind hunderte, die auf Schlauchbooten im Wasser treiben – zu rhythmischem Klatschen animiert. Wie er sich dann ganz ruhig an die Absprungkante stellt, ein muskulöser, tätowierter, langmähniger Surfer­Typ. Und wie er dann abhebt – und in einer einzigen eleganten Bewegung drei Saltos und eineinhalb Schrauben in die zwei Sekunden packt, die ihm bleiben, bevor er mit 85 km/h die Wasseroberfäche durchschlägt.

Als er wieder auftaucht, reckt er den Arm in die Höhe. Das Publikum beim Red Bull Cliff Diving World Series­Event 2018 in Sisikon jubelt. Matthias Appenzeller, Schweizer Lokalmatador, hat einen begeisternden Auftritt hingelegt, bei den Zuschauern herrscht Partystimmung. Aber wohl nur die wenigsten von ihnen wissen: Die Vorbereitung für den Sprung, den sie eben sahen, für die zwei Sekunden, die soeben vor ihren Augen verfogen, hat schon ein Jahr zuvor begonnen. Und der Sonnyboy, der ihn vollführte, hat auch noch eine ganz, ganz andere Seite.

Fünf Jahre nach seinem Debüt bei der Red Bull Cliff Diving World Series sitzt Matthias Appenzeller, bald 29, im gebügelten Hemd und mit zum Dutt zusammengebun­ denen Haaren in seinem Büro bei der Staatsanwaltschaft Zürich­Sihl und lächelt, als er an den Urnersee denkt. „Das war schon großartig, mein erster großer Auftritt.“

Mittlerweile ist aus dem Rookie, der 2018 sein Debüt bei der World Series gab, einer der etabliertesten und besten Klippenspringer Europas geworden. Kommenden Juli will Matthias sein Land bei der High-Diving -Weltmeisterschaft in Japan vertreten, im August als Wildcard-­Diver beim World- Series-­Springen in Stockholm an den Start gehen. Es dürfte auch dort wieder laut werden, wenn der Publikumsliebling auf die Sprungplattform tritt. Dort oben, sagt Matthias, da sei er eine „Rampensau“.

Aber es gibt auch den anderen Matthias Appenzeller. Den, der jetzt im Büro sitzt, der keine Shorts trägt, sondern Hemd, und der sich weniger mit den Gesetzen der Schwerkraft befasst als mit denjenigen, die in der Bundesverfassung stehen. Seit Anfang des Jahres arbeitet er als Auditor bei der Zürcher Staatsanwaltschaft. Es ist der letzte Ausbildungsschritt auf dem Weg zum Staatsanwalt, dem Berufsziel, das er schon lange verfolgt. Matthias ist nicht nur ein couragierter Klippenspringer, sondern auch ein engagierter Jurist. Und seit Jahren zu Hause in zwei Welten, die zunächst völlig verschieden erscheinen – sich aber auf erstaunliche Weise ergänzen und befruchten.

Vier Jahre und zehn Meter

In die erste dieser beiden Welten taucht er schon als kleiner Bub ein: Er ist vier Jahre alt und trägt noch Schwimmflügel, als er im Freibad seinen ersten Sprung vom Zehn-­Meter-­Brett absolviert. „Ich dachte überhaupt nicht nach“, sagt er und lacht, „ich lief einfach vor und sprang.“ Die Bademeister sind froh, dass nichts passiert ist, und einer empfehlt Matthias bald einen Verein, bei dem er das Turmspringen richtig lernen kann. Mit zehn Jahren trainiert Matthias fünfmal pro Woche. Er geht auf eine Sportschule, dann aufs Sportgymnasium, das Training wird noch intensiver, sein Ziel immer klarer: Er will als Turmspringer zu den Olympischen Spielen.

Tatsächlich schafft er es in den Kader der Schweizer Wassersprung­-Nationalmannschaft. Doch die internationale Konkurrenz ist stark, der Druck enorm, und sein Körper beginnt sich zu melden. Verletzungen an Kreuzband, Ellbogen, Sehnen. Sie bremsen ihn, lassen die Zweifel wachsen: Willst du das hier noch? Willst du das wirklich? Und mit welchem Ziel? Schließlich, da ist Matthias 19 Jahre alt, lautet seine Antwort auf diese Fragen: Ich fokussiere mich auf etwas Neues – ein Studium der Rechtswissenschaften. „Ich spürte einfach, dass es Zeit war, etwas anderes anzugehen.“

Die Verwandlung Eben noch im feinen Tuch des Anwalts, hier schon in lässiger Beachwear

Das Fach wählt Matthias schlicht aus Interesse. Schnell merkt er, wie gut es ihm liegt. Auch wenn er zwischenzeitlich nicht mehr fiegt. „Vieles, was ich durchs Turmspringen gelernt hatte, brachte mir enorme Vorteile“, sagt er. Zum Beispiel: sich voll auf ein großes Ziel fokussieren zu können. „Solange ich Turmspringen machte, war ich ein eher unterdurchschnittlicher Schüler. Mein Fokus lag auf dem Sport, total. Aber sobald ich ihn aufs Studium legte, wurden meine Noten deutlich besser.“

Die zweite nützliche Turmspringer-Fähigkeit: akribisches Arbeiten. „Man muss in beiden Bereichen sehr genau sein, Dinge hinterfragen, Prozesse optimieren. Und viel Disziplin mitbringen.“ Und dann wäre da noch eine wichtige Erkenntnis, die er mit ins Jurastudium nimmt: Einen Berg besteigt man Etappe für Etappe. Man setzt sich also kleine, machbare Ziele, um sich von einer riesig erscheinenden Aufgabe nicht überwältigt zu fühlen, sei es ein Dreifachsalto oder ein Universitätsabschluss.

Zwei Jahre hält sich Matthias von Sprungtürmen fern und konzentriert sich nur auf das anspruchsvolle Studium. Dann beginnt er wieder sporadisch zu trainieren, nimmt gelegentlich an Wettkämpfen teil. Der Enthusiasmus aber kehrt erst zurück, als ihm der befreundete Klippenspringer Alain Kohl von dem für 2018 geplanten Event in Sisikon erzählt. „Du hast noch ein Jahr Zeit“, sagt Kohl, „bereite dich vor, dann reichen wir ein Sprungvideo von dir ein – vielleicht kannst du mit einer Wildcard teilnehmen.“

Erst Feuer, dann Wasser

„Plötzlich war wieder das Feuer da“, sagt Matthias. Er trainiert, bekommt die Wildcard, tritt in Sisikon an. Danach hat er einen Namen in der Welt der Klippenspringer. Und einen noch dichteren Terminkalender. Die Einladungen zu Cliff Diving-Events werden sprunghaft mehr, die Uni-Seminare nicht weniger. „Es kam nicht selten vor, dass ich mit gepacktem Koffer eine Prüfung an der Uni schrieb und zwei Stunden später im Flieger zum nächsten Wettbewerb saß.“

Wie kriegt man das hin? Einen Sport auf Weltklasseniveau zu betreiben und parallel dazu erst ein Jurastudium zu absolvieren und dann den anspruchsvollen Beruf bei der Staatsanwaltschaft auszuüben? „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, sagt er lapidar. „Mir war schnell klar, dass ich unbedingt beides in meinem Leben haben wollte: das ruhige, bedachte Arbeiten mit den Paragraphen, aber auch die Adrenalinmomente beim Springen, die Wettkampfsituation, die Emotionen, das Rampensau-Sein.“ Der Weg, den er für sich gefunden hat: sehr lange Tage, transparente Kommunikation mit Vorgesetzten und Freunden, gute Planung und eine gewisse Flexibilität. „Dann kriegt man das auf die Reihe“, sagt er. „ Aber herausfordernd ist es schon.“

Sprunghaft

Muskeln, Mähne und Tattoos –zum Aufwärmen springt Appenzeller im Stand.

Sein Alltag: 50 bis 60 Stunden Staatsanwaltschaft, dazu vier­ bis fünfmal die Woche schwitzen fürs Klippenspringen. Meist sitzt er um 6.30 Uhr schon im Büro und geht nach einem langen Arbeitstag noch zwei bis drei Stunden trainieren. Wann er sich erholt? „ Abends mit Freunden im Restaurant, oder beim Golfspielen, das ich neuerdings angefangen habe.“

Nicht immer findet Matthias’ körperliches Training im Wasser statt. Er geht auch joggen, macht CrossFit, dazu dann drei­ bis viermal die Woche Turm­Training. Es gibt nur sehr wenige Trainingsanlagen, auf denen er Sprünge aus 27 Meter Höhe absolvieren kann, wie die Springer bei der Red Bull Cliff Diving World Series sie zeigen. Deshalb trainiert er vom Zehn­Meter­Brett einzelne Teile der Sprünge – Absprungphase, Drehungen, Eintauchphase – und setzt sie erst später am 27­Meter­Podest zum Gesamtkunstwerk zusammen.

„ Es kam schon vor, dass ich mich zu Wettkämpfen mit Sprüngen angemeldet habe, von denen ich nicht wusste, ob ich sie beherrsche. Erst beim Abschlusstraining an der Event­Venue habe ich die eingeübten Einzelteile dann zusammengefügt und den kompletten 27­Meter­Sprung getestet. Dafür muss das Mentale wirklich stimmen: Du musst überzeugt sein, dass du es kannst.“

Das Hirn der Muskeln

Und diese Überzeugung entsteht durch Erfahrung und Wiederholung: Immer wieder übt Appenzeller im Training dieselben präzisen Bewegungsabläufe, geht sie im Kopf durch. Bis sie in Fleisch und Blut übergegangen sind, in das, was Klippenspringer „Muscle Memory“ nennen, also das Muskelgedächtnis. Wenn sein Körper den Sprung im Grunde von selbst absolviert, fühlt sich Matthias bereit. Und dieses Gefühl nimmt ihm später, wenn er in 27 Meter Höhe steht, um einen Sprung zu wagen, den er nicht oder kaum geübt hat, die Angst. „Es ist dann keine Furcht mehr, die ich dort oben fühle, es ist Respekt.“

Denn natürlich, man kann sich verletzen bei einem misslungenen Sprung, gerade aus 27 Metern, denn mit jedem Meter Höhe wird der Aufprall härter. „Jeder Springer weiß, dass es ein gewisses Risiko gibt. Darum bereitet sich auch jeder absolut seriös vor. Und darum ist auch der Zusammenhalt unter den Springern so groß. Keiner würde dem anderen etwas Schlechtes wünschen. Im Gegenteil. Wir trainieren, reisen, schlafen zusammen und unterstützen einander, so gut es geht. Und zwar jeder jeden. Auch das liebe ich an diesem Sport.“

Ein Dreifachsalto, ein Uni -Abschluss: Ich besteige jeden Berg in Etappen.

Geteilter Sprung. Der angehende Anwalt Appenzeller springt in Businesskluft vom Zehn-Meter-Turm des Freibads Dübendorf. Im Training unterteilt er seine Jumps in einzelne Figuren, im Wettbewerb setzt er sie zum Ganzen zusammen.

In Stockholm wird er ihn am 19. August wieder zelebrieren können. Und es soll nicht das letzte Mal sein. „Die Motivation ist gerade groß bei mir, und ich habe richtig Spaß.“ Mit dem neuen Job sei die Belastung noch größer geworden, klar. „ Aber ich probiere, das Beste herauszuholen, und dann schauen wir, wo es hingeht“, sagt Matthias Appenzeller. „Wer es nicht probiert, kann es auch nicht schaffen.“

Da freier Fall, dort schwere Fälle. Und dazwischen ein überbrückender Sprung. Der Sprung seines Lebens.

Die Red Bull Cliff Diving World Series findet in diesem Jahr zwischen 3. Juni und 19. November an sieben Austragungsorten statt, Red Bull TV überträgt live. Mehr Infos: redbullcliffdiving.com

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