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DAS MILLIONSTREAMGIRL
Die Karriere der Londonerin Girli begann als maßgeschneidertes Produkt eines Labels. Mit ihrem neuen Album befreit sie sich aus der MarketingSchablone und schraubt sich tief in das Seelenleben der GenZ. „Matriarchy“ ist wie die Musikerin selbst: authentisch, chaotisch, verletzlich.
Amelia Toomey liebt die Kamera, und die Kamera liebt Amelia Toomey. Es ist gerade mal dreißig Minuten her, dass die 26-Jährige im Studio aufgetaucht ist, in Schlabberjeans und T-Shirt, ihr pink-blondes Markenzeichen-Haar zurückgekämmt, ein abgewetztes Skateboard unter dem Arm. Jetzt trägt die Elektropop-Musikerin ein Neonkleid und himmelhohe Stiefeletten, wirft sich in dramatische Posen, während aus den Lautsprechern des Studios Hip-Hop aus den Neunzigern dröhnt.
Die Londonerin hat das Performen im Blut. „Meine Eltern waren beide Theaterschauspieler, meine Großeltern waren Schauspieler, meine Tanten, Onkel, Cousins, aus irgendeinem Grund hat es alle zur Schauspielerei gezogen“, sagt sie. „Ich wuchs quasi hinter der Bühne auf.“ Das Rampenlicht ist ihr also in die Wiege gelegt, Amelia kippte die Wiege jedoch in Richtung Musik. Und das nicht sanft: rotzige Sounds, kompromisslose Texte, radikaler Look. Ergibt in Summe einen musikalischen „Queer-Schläger“, dessen Name auf der Insel mittlerweile in einem Atemzug mit den Sex Pistols genannt wird. Amelia Toomey ist ein Neo-Pop-Punk-Phänomen, ein Girli, das drauf und dran ist, eine ganze Generation emotional abzuholen.

„Auf der Bühne zu stehen hat sich für mich immer absolut natürlich angefühlt“, sagt sie, „mit meiner angeborenen Kreativität, meinem Style, meiner Kunst.“ Während sie erzählt, wechselt sie in Skater-Jeans und einen leuchtend blauen Strumpfgürtel.
Die Skater-Jeans sind eine gute Wahl, denn zum zweiten Teil unseres Shoots wechseln wir in den Stockwell-Skatepark im Süden Londons, einen der wichtigsten Trefs der Szene in der Gegend. „Wenn du in der Stadt aufwächst, beginnst du irgendwann zu skaten“, sagt sie. „Das gehört einfach dazu. Aber ich liebe auch das Surfen und Snowboarden in der Natur.“
In Toomeys Karriere gibt es nur eine Konstante: das pinke Haar. Sie war siebzehn, als sie 2015 mit einer EP namens „So You Think You Can Fuck with Me Do Ya?“ auf sich aufmerksam machte. Mit der Girli von heute hat das alles kaum mehr etwas zu tun, zu viele ästhetische und klangliche Veränderungen hat sie seither hinter sich gebracht. Bei jedem Entwicklungsschritt gewann sie neue Fans, aber der Erfolg im Mainstream kam erst 2021 mit der Single „More than a Friend“. „So we kept in touch, because I wanted to touch her“, lautet eine Zeile des Songs, der vom Verliebtsein in eine Freundin erzählt. Innerhalb kürzester Zeit erreichte der Song über 58 Millionen Streams auf Spotify. Man könnte sagen: Mit „More than a Friend“ begann Amelia Toomeys eigentliche künstlerische Karriere, als mutige, authentische, verletzliche Vertreterin einer Generation. the red bulletin: Du hast schon als Teenager Musik veröffentlicht. Einen künstlerischen Weg zu gehen war wohl unausweichlich, wenn man sich deine Schauspielerfamilie ansieht. girli: Ich begann schon als Teenager, meine eigenen Songs zu schreiben. Ich wusste relativ schnell, dass ich nichts anderes machen möchte. Ich hatte zwar schon von klein auf bei meinen Eltern gesehen, wie schwierig das Leben eines freischafenden Künstlers ist, also hatte ich Bedenken, mich für die Kunst als Beruf zu entscheiden. Aber meine Familie bestärkte mich, meinen Weg zu gehen. Und schließlich war ich ja auch mit Literatur und Sprache aufgewachsen, mit Kreativität und mit dem Performen vor Publikum, das alles war in meiner Familie immer schon ganz normal. Einem Publikum Emotionen zu vermitteln ist eine besondere Art von Magie, die ich auch beherrschen wollte.

Erster großer Meilenstein auf ihrem neuen Weg ist „Matriarchy“. Ihr zweites Album entstand in einer schwierigen Zeit ihres Lebens: Eine Beziehung zerbrach, und sie wurde von dem Major-Label fallen gelassen, bei dem sie davor unter Vertrag gewesen war. In der Krise entstanden kraftvolle Tracks, in denen sie ihre persönliche Entwicklung beschrieb, ihren Weg zum Feminismus, zu neuem Selbstbewusstsein und neuem Vertrauen zu sich selbst. „Das Album handelt vor allem von der Heilung nach Verletzungen. Und davon, welchen Platz man als Frau in der Welt einnimmt“, sagt sie.
Girli spielt am 14. Juni in Wien im B72, Instagram: @girlimusic