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BREAKER DER HERZEN
Zuerst war da brutale Armut. Heute ist er Österreichs wichtigster B-Boy. „Coming from nothing to do everything“ ließ sich Lil Zoo als Teenager tätowieren. Seither breakt er sein Mantra. Und überbrückt in der Vorbereitung auf Olympia unermüdlich innere Gegensätze.
Es gibt Momente, die dir zeigen, wer du wirklich bist. Weil sie ofenbaren, wie du dein Leben siehst: Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Fouad Ambelj durchlebte einen dieser Momente mit neunzehn. Der junge Marokkaner – aufgewachsen in Zéro Quatre, einem Problemviertel der Millionenstadt Casablanca – war soeben zum besten Breaker des afrikanischen Kontinents gekürt worden. Mit seinen wilden Locken, dem verschmitzten Grinsen und der Energie eines Blitzes hatte er unter dem Bühnennamen „Lil Zoo“ Runde für Runde bewiesen, dass mehr in ihm steckt als das, was das Leben für ihn vorgesehen hatte. „Ich sollte damals von offzieller Seite eine Auszeichnung erhalten und deswegen von Casablanca nach Marrakkesch kommen.“ Allein, für die rund 250 Kilometer weite Fahrt fehlte das Geld.

Lil Zoo mochte der Breaking-König Afrikas sein. Aber sein Sieg konnte die Realität nicht ausblenden, die ihn schon als Achtjährigen gezwungen hatte, nach Schulschluss alte Bücher oder Eisenwaren zu verkaufen, damit die Familie halbwegs über die Runden kam. „ Ich habe den Trip letztlich mit der Ausrede absagen müssen: ‚Sorry Leute, ich bin krank‘“, sagt Lil Zoo – und erzählt, dass der Vorfall durchaus an ihm nagte. „Da möchte man zeigen: Hey, mit Breaking lässt sich etwas erreichen. Und dann bist du gezwungen, zu Hause zu bleiben, weil du nicht genug Kohle hast, um zu deiner eigenen Ehrung zu fahren.“
Doch nach wenigen Tagen rappelte er sich wieder auf und formulierte eine innere Kampfansage: „Coming from nothing to do everything.“ Auf Deutsch: Aus dem Nichts kommen und alles erreichen. „ Der Spruch wurde für mich zum Credo – und zu meinem ersten Tattoo. Ich hab ihn mir auf den Oberkörper stechen lassen, um stets daran erinnert zu werden.“

Nach vorne schauen. Die Vergangenheit nicht defnieren lassen, wer du bist. Lil Zoo ist mittlerweile ein Meister in dieser Disziplin.
Breaking wird in Marokko belächelt? Steh drüber. Du musst dir daheim mit deinen beiden Brüdern und deiner alleinerziehenden Mutter ein Schlafzimmer teilen? Jammere nicht, du kannst trotzdem die Welt erobern. Genau das hat er getan. Der Dreißigjährige, der seit acht Jahren in Österreich lebt und 2021 eingebürgert wurde, zählt seit Jahren zur internationalen Elite im Breaking.
Er bewegt sich wie Wasser und lässt die verschiedenen Stile scheinbar mühelos ineinanderfließen: „Windmills“, für die man am Rücken liegend um die eigene Achse rotiert, enden in „Freezes“, bei denen Lil Zoo in StandbildPositionen verharrt, die anatomisch auf den ersten Blick unmöglich erscheinen. Aber vor allem haben ihn die Leichtigkeit, der Schmäh und die Energie, mit der er am Dancefloor aufschlägt, die größten Bewerbe gewinnen lassen, darunter der Red Bull BC One Cypher in der Schweiz (2018) und die Bucheon B-Boy International Championship (BBIC) in Südkorea (2019). Und wo wir schon beim Aufzählen von Errungenschaften sind: Mitglied der Red Bull BC One All Stars, der Crew El Mouwahidin und der gefeierten Berliner ShowBreaker Flying Steps ist er auch. Und: Lil Zoo gilt als Österreichs Hoffnung für die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris. Dort wird Breaking erstmals in der Geschichte Wettkampfdisziplin sein.
Seinen Startplatz will er sich im Mai und Juni bei den Qualifkationsbewerben in Shanghai und in Budapest sichern. Und er ist guter Dinge, dass das klappt, trotz einer Beinverletzung. „Ein kleiner, aber recht komplizierter Muskel macht seit 2019 Probleme. Ich musste acht Monate lang komplett pausieren.“ Schmerzfrei ist er bis heute nicht. Aber das hat Lil Zoo nicht davon abgehalten, die österreichischen Meisterschaften 2022 zu gewinnen. Wieso auch nicht? „Irgendwie findet sich immer ein Weg. Man muss halt andere Moves lernen. Wäre ich Fußballer, dann wäre meine Karriere durch meine Verletzung beendet. Aber im Breaking hast du viel mehr kreative Freiheit. Du kannst dich ständig neu erfinden und die Dinge anders machen.“

HART UND WEICH ZUGLEICH
Lil Zoo mag ein harter Knochen sein. Aber er hat auch kein Problem, seine weiche Seite zu zeigen und Zen-artige Sätze rauszuhauen wie: „Wenn man einen Wettkampf verliert, bedeutet das nicht, dass man im Leben verlier t.“ Jährlich finden unzählige Battles statt, und niemand kann sie alle gewinnen. „Das Einzige, was in deiner Macht steht, ist, den Spaß und die Freude daran nicht zu verlieren.“ Und für ihn bedeutet Freude, ohne Einschränkungen trainieren zu können. Sein komplettes Leben ist darauf ausgerichtet, den schmalen Grat zwischen Chaos und Harmonie beim Breaking spielerisch aussehen zu lassen. Ausdauer. Kraft. Stretching. Hunderte Wiederholungen desselben Moves. Eisbäder im Inn für die Muskelregeneration. Am Tag vor unserem Interview etwa verbrachte er insgesamt neun Stunden in einem Fitnessstudio in Innsbruck.
Warum überhaupt Tirol?, mag man sich an dieser Stelle fragen. Die Antwort ist simpel: Die Liebe hat Lil Zoo einst hierhergeführt – und auch der Umstand, dass ihm Berlin, sein erster Stopp in Europa, zu hektisch war. Und auch wenn ihm viele raten, doch nach Wien zu ziehen, weil die Stadt ein spannenderes Pflaster in Sachen Streetdance sei, sieht er keinen Grund dafür, die Umzugskisten zu packen. „Ich mag es, dass in Innsbruck so wenig los ist. Hier gibt’s keine Ablenkung, das ist genau das, was ich brauche.“

Lil Zoo sagt auch Dinge wie: „Breaking hat mich gerettet. Das tut es bis heute. Es macht mich glücklicher als alles andere und hat mich genau zum richtigen Zeitpunkt gefunden.“ Und wer verstehen will, woher diese Leidenschaft kommt, muss ein Stück in seiner Geschichte zurückgehen.
Der Tanz fand Fouad Ambelj, als er nicht wusste, wie er auf den staubigen Straßen Casablancas die Zeit totschlagen sollte. Er war vierzehn und wegen zu vieler Fehlstunden soeben von der Schule gefogen. „Wenn du regelmäßig ohne Bücher zum Unterricht auftauchst, weil dir das nötige Kleingeld für die Lehrmaterialien fehlt, dann machen manche Lehrer dir das Leben schwer. Du wirst bloßgestellt, teilweise sogar geschlagen. Ich hatte Angst. Also bin ich immer seltener hingegangen.“
Den Rausschmiss hielt er vor seiner Familie geheim. Stattdessen verließ er wie gewohnt jeden Tag in der Früh das Haus – und wanderte dann ziellos durch Gassen und Viertel, wo er sicher sein konnte, auf niemanden aus der Nachbarschaft zu treffen. „In dieser Zeit bin ich zum ersten Mal auf B-Boys gestoßen. In Marokko ist vor allem Fußball groß. Breaking kannte damals kaum jemand, es war die Zeit vor YouTube. Und wenn, dann wurde das Tanzen eher belächelt: ‚Die drehen sich am Kopf herum und wischen mit ihrer Kleidung den Boden auf ‘, so in der Art.“ Aber Fouad sah in den akrobatischen Verrenkungen sofort mehr. „Mich hat am meisten das Selbstbewusstsein der B-Boys fasziniert. Die haben unbeirrt ihr Ding durchgezogen und die Bullies ignoriert. Sie haben alles an sich abprallen lassen. Von ihnen habe ich gelernt, nichts persönlich zu nehmen und für das, was du liebst, einzustehen.“

VERLETZT UND GEHEILT
Lhiba Kingzoo, jene Breaking-Crew, bei der er in Casablanca andockte, trainierte an einem Ort namens Little Zoo. Aus Fouad wurde „der kleine Junge von Little Zoo“. Kurzform: Lil Zoo. Der Name blieb. Und bald sprach sich rum: Der Neue hat Talent – und lässt sich nicht einmal von Knochenbrüchen abbringen. „Ich habe mir beim Breaking nach zwei Monaten die linke Schulter gebrochen, aber mich nicht getraut, das Ganze meiner Familie zu beichten“, erzählt Lil Zoo. Zum einen, weil damit der Rausschmiss aus der Schule aufgefogen wäre. Zum anderen wusste er von einer früheren Fraktur des Unterarms: Behandlungen im Spital sind kostspielig. „ Also beschloss ich, nichts zu sagen.“ Vier Monate lang biss er die Zähne zusammen und versuchte sich daheim so unaufällig wie möglich zu bewegen. Lil Zoo wäre nicht Lil Zoo, würde er nicht auch dieser Situation etwas Positives abgewinnen können. „Ich war jung, da heilt der Körper noch schnell. Und in Sachen Breaking hat es sogar etwas gebracht. Ich war wegen der Verletzung gezwungen, meine andere Körperhälfte stärker zu trainieren. Heute zeichnet mich als B-Boy aus, dass ich in beiden Armen gleich viel Kraft habe.“
Lass dein Leben nicht durch die harten Zeiten defnieren: Da ist es wieder, das Leitmotiv des Lil Zoo.
Das Tanzen hat Fouad auf den richtigen Weg gebracht. Ein Umstand, den sogar seine Mutter anerkennen musste. Bei einem Besuch am Strand ließ sich das neue Leben nicht länger verheimlichen. „Ich habe mein Shirt ausgezogen, und meine Mutter war erstaunt über meine trainierten Arme. Niemand in unsere Familie hat so starke Muskeln – also habe ich ihr alles erzählt und sie sagte: ‚Zeig mir was vor.‘“ Von diesem Zeitpunkt an war sie Lil Zoos größte Unterstützerin. Sie besorgte ihm Kappen für Headspins, also Drehungen im Kopfstand, und Knieschoner. Aber vor allem ließ sie ihrem Sohn die Freiheit, auch nach Einbruch der Dunkelheit mit den anderen B-Boys zu trainieren, weil es nachts draußen kühler war. „Sie wusste, wir tun nichts Schlimmes. Wir tanzen nur und arbeiten an unserer Fitness. Mein älterer Bruder war damals anders drauf: Er hatte zu rauchen begonnen, meine Mutter wusste oft nicht, wo er sich rumtrieb. Breaking schien da das kleinste Problem.“

PERSONALITY STATT PERFEKTION
Und wer wusste schon, was einmal aus der Tanzerei werden könnte? Marokkos Wirtschaft lehrt einen, auf keine vermeintlichen Sicherheiten zu vertrauen. Du kannst studieren – und trotzdem keinen Job fnden. Insofern schien in den Augen seiner Mutter eine Karriere im Breaking ebenso vernünftig wie die Aussicht, Bauarbeiter, Anwalt oder Lehrer zu werden.
Für Lil Zoo selbst war Breaking, im Rückblick betrachtet, vor allem eine Lebensschule. Irgendwann, sagt er, kommt der Moment, da musst du gegen B-Boy-Kumpels und deine eigenen Lehrmeister in der Battle-Arena antreten. Es geht um Werte wie Respekt, Gemeinschaft, Zusammenhalt. Darum, einander wachsen zu lassen. Und du lernst: „Wenn du auf die Bühne trittst, ist nicht ausschlaggebend: Wer ist der Stärkste oder Schnellste? Wichtig ist vielmehr: Kannst du diesen Moment kontrollieren?“
Doch wie schaft man es, einen Moment zu kontrollieren, wenn es immer heißt: Lass das Leben passieren? „Tja, schwer zu erklären.“ Lil Zoo rauft sich die Haare, denkt nach. „ Auch wenn’s klischeehaft klingt: Auf der Bühne ist nicht dein Gegenspieler dein Gegner. Der größte Gegner bist du selbst. Um den Moment zu kontrollieren, musst du dich vor allem selbst akzeptieren. Es wird immer Leute geben, die sagen: ‚D u bist ein Spinner.‘ Aber das muss dir egal sein. Lass dich nicht beurteilen und verurteile auch nicht. Sei einfach du. Und wenn du Schwächen hast – klar kannst du daran arbeiten und versuchen, jeden Übergang oder jede Drehung zur Perfektion zu treiben. Aber dann bist du vielleicht nicht mehr so einzigartig. Deine wahre Kraft fndet sich dort, wo du anders als die anderen bist.“
Diese Botschaft will Lil Zoo auch der neuen Generation im Breaking mitgeben. Die Rolle des Trainers ist eine, mit der er liebäugelt. Allerdings noch nicht jetzt. „ Ich schätze, ich kann auf jeden Fall noch sechs Jahre auf höchstem Niveau konkurrieren. Der aktuelle Gewinner von Red Bull BC One – der koreanische B-Boy Hong 10 – ist 39. Da habe ich noch eine Weile.“ Außerdem will Lil Zoo nicht zu weit vorausdenken. Oder sich in Träumen verlieren, für die das Schicksal dann sowieso andere Pläne hat. Er will die Tage nehmen, wie sie kommen. Einen nach dem anderen. „Das Einzige, was ich verlässlich sagen kann: Ich werde Spaß haben.“
Lil Zoo weiß: Eine Schulter kann brechen. Doch Breaking ist, wenn sie heilt, um noch stärker zusammenzuwachsen.
Instagram: @lilzooisme
