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BOULEVARD DER HELDEN
MICHAIL SCHOLOCHOW DAS VERSPRECHEN
Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 9: Ein Literatur-Nobelpreisträger und seine heldenhafte Lebenslüge.
Es gibt einfaches Heldentum und kompliziertes; diese Geschichte berichtet von kompliziertem. Angenommen, es war so, wie ich es hier erzählen möchte, dann wäre der Schriftsteller Michail Alexandrowitsch Scholochow ein selbstloser und aufopferungsvoller Held gewesen. Seine Geschichte gehört allemal zu den spannendsten der Schriftstellerei im 20. Jahrhundert und er selbst zu jenen widersprüchlichen Persönlichkeiten, wie sie nur Diktaturen hervorbringen. Ich weiß, man kann die Geschichte dieses russischen Schriftstellers auch ganz anders erzählen, nämlich als die Geschichte eines abgefeimten Diebes von geistigem Eigentum, eines Plagiators, eines Mannes, der sich viel Ehre und Ruhm ergaunert hat, indem er das Werk eines anderen als das seine ausgab. Lange Zeit wurden die Vorkommnisse auf diese Weise dargestellt. Der Mann war immerhin ein Günstling Stalins; ihm etwas Gutes zu lassen wäre in den Augen vieler gewesen, als würde man ein mörderisches System gutheißen. Inzwischen ist sich die Wissenschaft ziemlich sicher, dass der Spott und die Verdammung, denen der Künstler lange Zeit, vor allem im Westen, ausgesetzt war, auf falschen Informationen beruhten.
Ich nehme mir die Freiheit, die Geschichte als eine Heldengeschichte zu erzählen – was ist Wahrheit …
Der Nobelpreis für Literatur 1965 wurde Michail Scholochow für seinen Roman „Der stille Don“ verliehen. In den meisten Fällen vergibt das Komitee den Preis für das Lebenswerk eines Autors, diesmal stand in der Urkunde, dass die Ehrung ausschließlich das genannte vierbändige Werk meine. Der Roman entstand zwischen 1927 und 1940, das Erscheinen des
letzten Bandes lag also schon fünfundzwanzig Jahre zurück. Auch den Mitgliedern des Komitees war die Diskussion über die Autorenschaft des Werkes bekannt. Noch bevor der Roman zur Gänze der Öffentlichkeit vorlag – entweder weil er noch nicht geschrieben oder noch nicht vollständig herausgegeben MICHAEL KÖHLMEIER war –, kursierten Gerüchte, Scholochow
Der Vorarlberger sei nicht, könne nicht der Autor sein. In
Bestsellerautor gilt dem Buch wird auf unvergleichlich sinnals bester Erzähler liche Weise das Leben der Donkosaken bedeutscher Zunge. Zuletzt erschienen: der Roman „Matou“, schrieben, besonders im ersten Teil, sodass alle Kritiker überzeugt waren, das könne, 960 Seiten, erstens, nur jemand schreiben, der selbst
Hanser Verlag. in diesem Teil der Welt lebte oder lange dort gelebt hatte; zweitens, einer, der ein lebenserfahrener Mann ist, denn was beschrieben wird und wie es beschrieben wird, zeuge von großer Weisheit und gefestigter Lebenssicht.
Scholochow war, als der erste Band erschien, gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt, und unter den Donkosaken hatte er nie gelebt. Seine Mutter war die Witwe eines Kosaken, ja, aber ob das ausreichte, um ein solch breites Panorama zu entwerfen? Scholochow hatte kaum die Schule besucht, eine genügende literarische Bildung durfte also auch nicht vorausgesetzt werden. Mit dreizehn Jahren bereits schloss er sich den Bolschewiki an und zog in den Bürgerkrieg. Nach dem Krieg arbeitete er in verschiedenen Häfen und Steinbrüchen, vorübergehend als Buchhalter, was damals jeder werden konnte, der alle Buchstaben kannte. Mit einundzwanzig Jahren heiratete er die Tochter eines Kosakenführers. Viel Gelegenheit, sich mit dem Leben der Menschen zu beschäftigen, die in seinem Buch so plastisch beschrieben werden, hatte er also nicht.
Die Heldengeschichte geht so: Im Jahr 1920 trifft der gerade einmal fünfzehnjährige Michail Scholochow in einem Lazarett Fjodor Dmitriewitsch Krjukow. Der Mann ist schwer verwundet und hat zudem Typhus. Außerdem war er Offzier der Weißen Armee, die im Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki, also die Rote Armee, gekämpft hatte. Um so einen sorgt man sich in einem roten Lazarett nicht. Im Zivilberuf ist Krjukow Schriftsteller. Die beiden unterhalten sich, sie sind sich sympathisch, Krjukow soll einen mächtigen Eindruck auf den jungen Scholochow ausgeübt haben, dieser habe zu ihm aufgeblickt wie zu einem Vater. Manche glauben, erst die Begegnung mit Krjukow habe in dem späteren Nobelpreisträger den Wunsch geweckt, selbst Schriftsteller zu werden.
Andere gehen noch weiter: Fjodor Krjukow wusste, dass er bald sterben wird. Er hatte Vertrauen in den jungen Mann, mit dem er sich in den Nächten unterhielt. Krjukow hatte viele Jahre an einem Roman geschrieben, hatte ihn noch nicht beendet, er war glücklich über sein Werk, es war sein Lebenswerk. Aber er wusste, dass der Roman eines Weißen niemals der Öffentlichkeit übergeben würde, nicht in einem Land, in dem die Kommunisten regierten. Krjukow – so diese Version der Geschichte – übergab das Manuskript seinem jungen Freund, er vertraute ihm das Manuskript an mit der Bitte eines Sterbenden, dafür zu sorgen, dass es veröffentlicht wird. Ja, es wurde sogar spekuliert, es sei Krjukows Idee gewesen, dass Scholochow das Werk zu einem Ende führe, sie hatten ja intensiv darüber gesprochen, und dass er es dann unter seinem Namen, dem Namen eines Soldaten der Roten Armee, veröffentliche. Krjukow habe sein Werk über seinen Namen gestellt. Und Scholochow habe am Sterbebett des Dichters geschworen, dessen letzten Wunsch zu erfüllen.
Bleiben wir bei dieser Version. Scholochow war zu jung und zu ungebildet, um die Qualität des Werkes beurteilen zu können. Er hatte auch keine Ahnung, wie das Verlagswesen funktionierte. Wahrscheinlich hatte er damals noch kein einziges Buch gelesen. Vielleicht sogar noch nie ein Buch in der Hand gehabt. Fjodor Krjukow starb. Sein Manuskript verwahrte Scholochow. Was sollte er tun? Krjukow hatte recht, niemand würde das Buch eines Weißen verlegen. Also gab er sich, wie ihm Krjukow geraten hatte, als der Autor aus.
Er glaubte nicht, dass der Schummel irgendwelche Folgen haben würde. Wer interessierte sich in diesen Zeiten schon für einen Roman! Also trug er den ersten Teil des Manuskripts zu einem kleinen Provinzverlag und gab sich als der Autor aus. Er meinte, damit habe er sein Versprechen eingelöst. In dem Verlag aber war ein Lektor, der die Qualität des Romans erkannte. Dieser Lektor hatte selbst Ambitionen, eine kleine Provinzdruckerei war ihm nicht genug. Und er meinte auch, für diese Entdeckung sei nur ein großer, potenter Verlag in der Hauptstadt das Richtige. Er bewarb sich beim größten Verlag in Moskau um die Stelle des Leiters, bekam sie und verlegte als sein erstes Buch „Der stille Don“ von Michail Alexandrowitsch Scholochow. Das Buch wurde ein sensationeller Erfolg.
Nun befand sich der junge Scholochow in einem seelischen und in einem öffentlichen Konfikt – worüber zu befnden viel Einfühlungsvermögen nötig ist, um nicht ein vorschnelles Urteil zu fällen. Er, Scholochow, war ein verdienstvoller Genosse, inzwischen nicht nur Mitglied der KPdSU, sondern auch ein Funktionär. Wenn einer wie er ein Buch schrieb, dann wurde es auch verlegt. Also war „Der stille Don“ veröffentlicht worden. Er hatte sein Versprechen eingelöst, er hatte dafür gesorgt, dass der Roman seines Freundes verlegt wurde. Dazu war es notwendig gewesen, zu lügen.
Was hätte er weiter tun sollen? Was, nun, nach dem großen Erfolg? Sich stellen? Zugeben, dass nicht er der Autor ist, sondern ein ehemaliger Offzier der Weißen Garde, der gegen die Rote Armee gekämpft hatte? Damit hätte er nicht nur erreicht, dass die Auflage eingestampft worden und der Roman für alle Zeiten verschwunden wäre, sondern er hätte auch sein eigenes Leben in Gefahr gebracht, als unzuverlässiger Kollaborateur wäre er womöglich hingerichtet worden. Er spielte das Spiel weiter. Vielleicht glaubte er, ein zweiter Band würde nicht mehr so viel Aufsehen erregen, das ist ja oft der Fall. Das Gegenteil trat ein. Der zweite und dann auch der dritte Band waren noch größere literarische Sensationen. Und nicht nur das. Stalin und seine Funktionäre stilisierten Scholochow zum Idealbild des sozialistischrealistischen Schriftstellers sowjetischer Prägung.
Im vierten und letzten Band fand diese Tendenz ihren Ausdruck – und die Literaturkenner waren enttäuscht. Mehr als enttäuscht. Das Gerücht sagt, diesen Band habe Scholochow selbst geschrieben oder nach den inhaltlichen Maßgaben Krjukows vollendet, allerdings ohne dessen Genie.
Was das Nobelkomitee in Stockholm trotz aller Gerüchte dazu veranlasste, den Preis an Michail Scholochow zu vergeben, auch darüber kann man nur spekulieren. 1965 war der Kalte Krieg an seinem Höhepunkt. Die Kubakrise lag gerade erst drei Jahre zurück, der Schrecken eines Atomkriegs zwischen den USA und der UdSSR saß noch tief. Vielleicht meinten die Mitglieder des Komitees, mit ihrem Entscheid zur Entspannung beitragen zu können. Wir wissen es nicht.
Michail Scholochow hatte ein Versprechen gegeben, und er hatte das Versprechen gehalten. Sehr früh war ihm bewusst, dass dieses Versprechen sein ganzes eigenes Leben bestimmen wird. Und ihm wird auch klar gewesen sein, dass ein Leben, das auf einer Lüge auf
Es war ihm klar, dass ein Leben, das auf einer Lüge aufbaut, jederzeit zusammenbrechen kann.
Vielleicht bekam er den Nobelpreis nur, weil 1965 der Kalte Krieg an seinem Höhepunkt war.
baut, jederzeit in sich zusammenbrechen kann. Mit Fluch und Schmach. Zehn Jahre nach der Vergabe des Nobelpreises wurde Scholochow vor laufender Kamera hart mit dem Vorwurf des Plagiats konfrontiert. Da brach er zusammen, weinte und sagte: „Richten Sie bitte Ataman Glaskow aus, wie sehr ich mich schäme. Ich bitte die Kosaken, mir zu verzeihen.“
Die Sache ist dennoch nicht eindeutig. Alles bleibt immer Gerücht. Die Aufnahmen könnten getürkt sein, den Frager sieht man nicht. Und so weiter. Die Wissenschaft der literarischen Stilanalyse kam zu konträren Urteilen. Die einen sagten, nein, Scholochow hat nicht gelogen, er ist der Autor von „Der stille Don“, seine späteren, spärlichen Werke sind zwar unvergleichlich schlechter, aber er ist nicht der einzige Autor, den das Talent schon in jungen Jahren verlassen hat. Andere Spezialisten glaubten zu wissen, dass Scholochow sich alles erschlichen hat: die Ehre, das Geld, den Preis.
Wie auch immer. Den Roman gibt es. „Der stille Don“ gehört zu den ganz großen literarischen Werken des 20. Jahrhunderts. Gleich, wer ihn geschrieben hat, gleich, wie er gerettet wurde, er ist da, wir dürfen ihn lesen. Ich möchte sagen: Michail Alexandrowitsch Scholochow ist ein Held. Er hat uns etwas Schönes gegeben – oder an uns weitergegeben –, und er hat dafür sein Leben auf die Waage gelegt.
Michael Köhlmeiers Geschichten gibt es auch zum Anhören im Podcast-Kanal von The Red Bulletin. Zu finden auf allen gängigen Plattformen wie Spotify, auf redbulletin.com/podcast oder einfach den QR-Code scannen.
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