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Verzeihen ist Weisheit

Frau Ugolini, auf Social Media zeigt sich ein neues Phänomen – Statusbilder. Im Internet wie Facebook oder auf WhatsApp präsentieren sich fröhliche Menschen mit Familie, beim Grill, auf Reisen mit Freunden oder als Paar. Entsteht hier nicht eine hohe Erwartung, sich toll darzustellen? Und bei einsamen Menschen entsteht Frustration, weil sie wenig «Erfolgsbilder» zeigen können?

In der Tat. Viele stehen unter Zwang, sich gesellschaftskonform zu zeigen, statt die freie Zeit «frei» zu lassen und sich zu erholen. Sinnsuche, Besonnenheit kommen zu kurz. Ich fänds schön, in eine Balance zwischen gesunder Aktivität und Ruhe zurückzufinden: ein Buch zu lesen, ein Musikstück anzuhören, die Natur zu beobachten.

Wie kommen wir heute denn überhaupt noch in einen Dialog, wenn alle, die auf den Bus warten oder Zug fahren, auf ihr Mobile starren?

Wir müssen es akzeptieren, aber wir können es auch ein Stück weit unterbrechen. Wenn jemand hochschaut, stellen wir einen Blickkontakt her und lächeln. Im Stil «Ich bin an einem Kontakt mit dir interessiert …» – der andere kann uns ignorieren oder auf unseren Blick oder unser Zunicken eingehen.

Das andere Phänomen – was ist mit Menschen, die nonstop verabredet sind? Das ist doch auch nicht normal.

Ich habe den Eindruck, dass es ein wenig zur Schweizer Kultur gehört. Für mich war es selbstverständlich, dass man jemanden ganz spontan besucht auf ein Glas Wein, ein Bier oder auch auf eine Tasse Kaffee. Ich musste lernen, dass man sich hier dafür vorher verabredet, und so habe ich mir vor 36 Jahren als Erstes eine Agenda gekauft. Und mittlerweile erschrecke ich auch, wenn jemand unangemeldet klingelt, um mit mir Kaffee zu trinken …

Das Internet hilft, zurückliegende Kontakte neu aufleben zu lassen. Würden Sie eine alte Schulfreundin kontaktieren, die Sie 50 Jahre nicht mehr gesehen haben?

Auf jeden Fall. Wenn mir jemand in den Sinn kommt, schau ich im Internet, ob ich die Person finde. Dann schreibe ich und frage, bist du «diejenige, die …». Das ist der Segen des Web. Wirklich. Das Schöne ist, dass man Nähe wiederherstellen kann. In der Regel kommen begeisterte Antworten zurück. Ein enger Kontakt ist etwas schwieriger, aber etwas «Loses» mit Telefonieren oder Schreiben kann durchwegs entstehen.

DR. PHIL. BETTINA UGOLINI ist Psychologin am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich und leitet die Beratungsstelle «Leben im Alter» (LiA). Sie hat im Web 25 Ratgeber-Podcasts veröffentlicht, die einfühlsam auf Themen wie Demenz, Er wartungen, Pflegeheim, Wohlbefinden und vieles mehr eingehen. www.zfg.uzh.ch/de/beratung/podcast

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