
4 minute read
Neue Wege erschliessen sich
Alleine wandern im Hochgebirge ist nicht jedermanns Sache. Besser zu zweit.


Die Wanderung von Buochs zum Bürgenstock stand schon lange in Richards Sommeragenda. Alleine aufbrechen mag er nicht. Es fehlt ihm an Eigenantrieb. Der Naturweg über den Mattgrat hat Stolperstellen. Und die unzähligen Treppen ziehen sich dahin. S Herz schaffet. Zu zweit fühlt man sich aufgehoben. Man spornt sich gegenseitig an. Der Anfahrtsweg gestaltet sich kurzweilig. Und gemeinsam picknicken klingt gemütlich. Doch der Kollege hat abgesagt. Walter hat mit abgebrochener Zahnfüllung einen Notfall. Richard fehlt der Mumm, zu entscheiden, was er machen soll. Er fühlt sich, wie schon die ganze Woche, allein. Verlassen. Der Bergausflug wäre das Highlight der Woche gewesen.

Es kann jeden treffen
Bei einem abrupten Programmwechsel sind nicht alle in der Lage, eine alternative Idee zu finden. Man muss sich alleine aufraffen und planen und entscheiden: Die Mutigen machen die Tour alleine. Oder wählen einen Tag, an dem viele Wanderer unterwegs sind. Die Vorsichtigen wählen eine Route, die flacher ist. Die Gemütlichen kaufen ein Kombiticket für Schiff ab Luzern und Bähnli, um die Aussicht zu geniessen. Und ganz dicke Freunde fahren den Vorfallpatienten zum Arzt nach Baar und verbringen die Zeit im Wartsaal, bis die Prozedur vorbei ist. Nachher höcklen sie entspannt im Café am Dorfplatz und schmieden neue Pläne. Der Ideenfindungsprozess ist am Rattern – bewusst oder unbewusst. Für den Ausgang gibt es unzählige Varianten.
Auch Junge fühlen sich verlassen Laut einer Erhebung von Pro Senectute im Jahr 2022 leiden in der Schweiz rund 160 000 Personen im Alter über 62 Jahren unter sozialer und emotionaler Einsamkeit. Hingegen ist der Anteil Personen, die sich manchmal oder oft einsam fühlen, bei jüngeren Altersgruppen grösser als bei jenen über 65 Jahren. Dies belegen Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS). Homeoffice und die Digitalisierung sowie die letzte Pandemie scheinen Auslöser der Ergebnisse zu sein.
15- bis 24-Jährige 48%
Abschnitte im Leben
25- bis 39-Jährige 41%
40- bis 54-Jährige 38%
55- bis 64-Jährige 36% über 65-Jährige 32%
Überraschenderweise fühlen sich mehr junge Menschen einsam als ältere.
Quelle: Bundesamt für Statistik (BFS)
Früher trafen sich Junge auf einen Schwatz beim Peace Horse oder auf der Herti-Eisbahn in Zug, die Älteren im Widder oder Brandenberg am Stammtisch. Einst waren die Stühle im Lorzensaal bis auf den letzten Platz belegt. Heute betreiben Kommunalvertreter eine eigene Website und präsentieren ihre Programme auf Videos. Es wird «was gisch, was hesch» gechattet und auf Facebook mit Ausflugsbildern um die Gunst der Kontakte gebuhlt. Die soziale Interaktion ist –nicht nur bei den Jungen – in den virtuellen Raum verlagert.
Wenn junge Erwachsene das Elternhaus und das familiäre Umfeld verlassen und gleichzeitig den Einstieg ins Berufsleben wagen, ändert sich das soziale Netzwerk. Mit zunehmendem Alter stabilisiert sich dieses: Viele gründen eine Familie oder leben in einer Partnerschaft. Die Einsamkeit variiert je nach Lebenssituation. Dasselbe gilt für die Älteren und beginnt mit der eigenen Pensionierung. Früher oder später schleichen sich gesundheitliche Beschwerden ein und schränken die Mobilität ein. Oder durch das Verleben einer nahestehenden Person verkleinert sich das soziale Netzwerk. «Einsamkeit kann auch zu gesundheitlichen Problemen führen: Man bewegt sich weniger, isst nicht richtig, zeigt Suchtverhalten hinsichtlich Alkohol oder Schlafmittel», erklärt Susanne Schaaf, wissenschaftliche Forscherin am ISGF der Uni Zürich. «Erhöhter Stress führt zu Bluthochdruck. Chronische Einsamkeit erhöht das Risiko, an Herzinfarkt, Schlaganfall oder Demenz zu erkranken. Aus Einsamkeit kann sich auch eine Depression entwickeln», so die Forscherin. Sie befasst sich mit der Früherkennung von Suchtgefahren im Alter. «Richtig einsame Menschen leiden unter sozialer Isolation. Ihnen fehlt der gesellschaftliche Anschluss – die soziale Teilhabe.»
Jeder Definiert Anders
SOZIALE ODER EMOTIONALE ASPEKTE
In der Fachliteratur unterscheiden Experten zwischen sozialer und emotionaler Einsamkeit. Es gibt Menschen, die das Alleinsein freiwillig wählen und sich deshalb nicht einsam fühlen. Wenn die Integration in eine Gemeinschaft hingegen fehlt, fühlt es sich schlecht an, nicht «dazuzugehören». So ein Beziehungsnetzwerk kann altersbedingt auseinanderfallen. Dann fühlt sich der Mensch sozial verlassen oder sogar isoliert. Eine Person kann sich auch einsam fühlen, obwohl sie über viele Kontakte verfügt. Das eigene Mass und Bedürfnis nach sozialer Kontaktaufnahme ist daher entscheidend. Emotionale Einsamkeit wird dann beschrieben, wenn ein Mensch den Verlust einer nahen Bezugsperson erlebt, beispielsweise den Tod des Lebenspartners, eines Familienmitgliedes oder guten Freundes. Die Traurigkeit und die Sehnsucht nach etwas, was fehlt, begünstigen eine depressive Symptomatik.
Qualität von Beziehungen entscheidend
«Man kann sich ebenso in der Gesellschaft von Menschen oder in der Paarbeziehung einsam fühlen», erläutert Schaaf, «denn nicht die Menge von Kontakten oder Beziehungen ist entscheidend, sondern ein gewisser Tiefgang. Menschen wünschen sich emotionale Qualität, sie möchten wahrgenommen und gehört werden.» Durch emotionale Bindung könne ein Vertrauensverhältnis entstehen. Freundschaften oder Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen bilden eine wichtige Basis.
In der Gemeinschaft aufgehoben
Im Alterszentrum Hottingen in Zürich wurden vor drei Jahren 85 Personen gefragt, ob sie sich einsam fühlten, und wenn ja, wie stark. Fünf Personen waren «emotional» einsam, elf Personen «sozial» einsam. Vier Personen fühlten sich zugleich «emotional und sozial» einsam. Fünf Personen zeigten depressive Symptome. «Es ist gar nicht ungewöhnlich, dass Menschen auch depressive Erkrankungen haben, wenn die Einsamkeit ausgeprägt ist. Einsamkeit ist immer noch sehr schambehaftet und deshalb tabuisiert. Es wäre wichtig, dass wir alle, und nicht nur die Betroffenen, mehr darüber reden würden», erklärt Dr. Eliane Pfister Lipp, Leitung des Institutes Neumünster, die für die Zentrumsumfrage verantwortlich zeichnet.
Dr. Eliane Pfister Lipp, Leitung Institut Neumünster
«Was nachweislich hilft, das sind eine positive Grundhaltung zum Leben und Vertrauen sowie Beziehungen zu anderen Menschen. Personen, denen es gelingt, auch schwierigen Situationen etwas Positives abzugewinnen, geraten weniger in die Einsamkeit. Wer ins Handeln kommen kann, gewinnt. Natürlich gibt es auch Menschen, die Ruhe und Stille suchen und sich dann gerade nicht einsam fühlen», so Eliane Pfister Lipp.

Ruhe geniessen
Chantal mag das Alleinsein. Die Stille. Ab und zu füttert sie die Nachbarskatze, eine buschige Perserdame, wenn deren Besitzer auf Reisen sind. Und am Sonntag hütet sie die Enkelkinder, Gian und Luca. Sonst füllt die Stille ihren Wohnraum. Die Pendeluhr tickt. Im Sommer füllt das Gurren der Tauben und Zwitschern der Spatzen von draussen den Raum. Bei offenem Fenster nimmt sie den süssen Duft des blühenden Lindenbaumes wahr. Ab und zu lauscht sie einer CD von Deva Premal und Miten mit atmosphärischen Liedern. Der Zustand und das Gefühl des Alleinseins sind daher nicht zwangsläufig mit einem Leiden verbunden. Die Hintergründe sind so verschieden wie die Definitionen.
Abschalten und das Alleinsein entspannt geniessen hat auch schöne Seiten.