PRESTIGE Germany Volume 4

Page 37

CULTURE & ART

DER TANGO AUS SÜDAMERIKA

MELANCHOLIE UND LEIDENSCHAFT Tango ist Musik und Tanz, Leben und Leidenschaft, das Spiel zwischen Mann und Frau, Tango ist die Seele des südlichen Amerikas.

D

er Tango ist ein Kind zweier Mütter, geboren in den Schwesterstädten Buenos Aires und Montevideo. In den Bäuchen der Häfen, deren Wasser man in Buenos Aires noch Fluss und in Montevideo schon Meer nennt.

Der Klang der Gestrandeten In den Schänken des Hafens, am südlichen Rand des neuen Kontinentes, der für viele Anfang, Chance und Neubeginn verspricht, sitzen die Übrig­ ge­ bliebenen. Hier verladen Schiffe den Reichtum der ehemaligen Kolonien, den Weizen und das Rindfleisch, die dem Land und den Menschen abgetrotzt wurden, und löschen die wenigen Waren aus der Alten Welt mitsamt den Menschen, die in die Städte und Weiten der Pampas strömen, um von neuem zu beginnen. In den Schänken sitzen die, deren Neubeginn vorbei ist. Im Dunst von Schnaps und Bier wiegen sie sich zu den Tönen ihrer Väter wie die Wellen, die sich an der Küste brechen. Der Flamenco Spaniens, der Gesang der Pampas und die Habenera, die Rhythmen der ehemaligen Sklaven, die hier nichts mehr verloren haben und hier doch verloren sind. Die Töne vermischen sich wie der Dunst im Zweivierteltakt zum Tango. Wie die Ernüchterung frisst sich der neue Klang aus den Häfen in die

David Renner

Vorstädte, an den Prachtbauten der Herrschenden vorbei, in die Gassen, die Mietskasernen, in ihre Schenken und Bordelle und schlägt Flammen.

Erste Tango-Pandemie Die Halbstarken in den Vororten tanzen den Tango so, wie die Gauchos mit den Messern kämpfen. Die Prostituierten der Bordelle tanzen ihn zwischen Essen und Beischlaf mit den reichen Söhnen der guten Gesellschaft. Da Frauen rar sind, tanzen Männer miteinander zu den Klängen von Gitarre und Flöte, um die neuen Schritte zu lernen. Doch erst als das Bandoneon um 1870 am Río de la Plata landet, findet der Tango seine Stimme – ein Blasebalg schenkt dem Ende der Welt seine Eigenart. Der Tango wird langsamer, melancholischer und tiefer und findet im Vierachteltakt seinen Rhythmus. Auf einem der Schiffe, die Waren nach Europa bringen, landet der neue Tanz in Marseille und erobert Paris wie die Syphilis. Es ist, als hätte die Modemetropole nur auf einen neuen Tanz gewartet und – anders als in Südamerika – ist es die gute Gesellschaft, die sich dem Tango hingibt. In den Salons um den Place de l´Étoile, in den Cafés, Theatern und Cabarets wiegt sich Paris 1912 im vierachtel Takt, diskutiert über Tanzschritte und -formen, sucht händeringend nach Lehrern und infiziert London, New York und Berlin. Es wird von über 390 Tanzschritten berichtet, die reich

The luxurious way of life | 35


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.