PRESTIGE Switzerland Volume 58

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wollte um keinen Preis das Bild zerstören, was man hier vorfinden konnte. Meine Erwartungen überstrahlten alles im Licht meiner Ideale. Kein anderes Hotel auf der Welt kann eine höhere Konzentration von Künstlern vorweisen. Irgendwann überfiel uns jedoch die Langeweile und Wut auf alles Intellektuelle machte sich in mir breit. Ich fragte mich, was mit der Kunst passiert, nachdem sie gemalt wurde und in Bibliotheken landet oder auf teuren Flügeln gespielt wird. Ich sah nur noch Hesses herumsitzen, die sich über laute Musik beschweren würden, und dachte an Novalis und daran, wie die so singen oder küssen mehr als die Tiefgelehrten wissen. Menschen auf der Suche nach Lebenslust sind doch der Kunst näher, als jene, die das himmlische Glück und das höllische Leid in Lexikonartikeln über die geistigen Freuden finden. Aber es gab da diesen Direktor, einen unbeholfenen, gutmütigen, lieben Mann, der sich vor seinem messerscharfen Intellekt durch Ironie bis ins Alter gerettet hatte. Er sah nicht aus wie ein Direktor, sondern wie jemand, der sich in diesem Hotel verirrt hatte. Er lief über die Gänge und grüsste jeden ganz herzlich, mit über den Bauch gefalteten Händen. Er war sehr nett in der Art, wie er mit den Leuten sprach, und eigentlich unterhielt er sich nie sehr lange, sondern machte nur lange, unangenehme Pausen. Er fing zwar immer an zu reden und landete schliesslich auch irgendwo, aber es war eher das Vergnügen, zu entdecken, was er von dieser oder jener Sache hielt. Er liess einen immer mit einem Satz zurück, über den man dann nachdachte und sich fragte, was er

wohl damit meinte. Jeder wollte etwas von ihm und jeder mochte ihn und ich wollte ihm als Dank für unseren Aufenthalt mein Buch schenken, sah aber, wie viele Bücher ihm schon geschenkt wurden und wie sie alle mit «Er ging» oder «Es war» begannen. Bis wir ins Waldhaus kamen, blieb keine Zeit, um bei Gedanken zu verweilen. Wir lebten, liebten, schliefen in den Nächten nicht, um am Morgen müde in die Ewigkeit aufzubrechen. Unser Begehren brach durch die Zeit hindurch, um dahinter die Ewigkeit zu finden. Hatten wir an einem Ort genug vom Balkon geguckt, fuhren wir weiter, von einer Mahlzeit zur nächsten, schwammen in kalten, klaren Bächen und hielten in vielen Städten, in denen wir nach dem Weg fragten. Immer ein bisschen Wein im Blut. Wir unterteilten die Orte in die Regionen der Weine, die wir tranken. Valtellina, Ginovese oder Monticello oder was weiss ich. Er reinigte uns von innen und wir sprachen alles aus und hatten alles gesagt und immer etwas zu reden. Gingen uns die Themen aus, holten wir alles Mögliche aus den Abgründen unserer Gefühle hervor oder sprachen über das Essen und genossen die tiefe Freude, die hinter einer gemeinsamen Mahlzeit steckt. Waren wir zu beschwipst, um weiterzufahren, kauften wir Postkarten für unsere Mütter oder fragten nach kalten, klaren Bächen oder fuhren trotzdem einfach weiter und hielten uns an die Verkehrsregeln einer oft gemalten Landschaft, von denen die Männer in den Dörfern sagten, sie würden die Schwächen der Männer wegwaschen und die Traurigkeit der Dinge und bis in die Wirklichkeit unserer

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