Tipi – Magazin für die Familie Frühling/2018

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Pro und Kontra

Kinderzimmer. Aufräumen oder nicht?

PRO Von Peter Draxl

Chaos im Kinderzimmer. Eigentlich entspricht diese Art von Unordnung nicht dem Chaosprinzip. Ein Charakteristikum chaotischer Systeme ist ihre Empfindlichkeit gegenüber der Veränderung der Anfangs- oder Rahmenbedingungen. Somit kann es passieren, dass ein regelmäßiges Verhalten plötzlich in ein unregelmäßiges Verhalten umschlägt. Im Kinderzimmer ist das so was von NICHT der Fall. Das Zimmer ist berechenbar, das Verhalten regelmäßig. Mit dem Eintritt eines pubertierenden Teenagers verändert sich der Raum: von aufgeräumt und sauber in Chaos. Wie diese kleinen Menschen das schaffen, ist mir ein Rätsel. Ich müsste mir einen Plan, ein Konzept erstellen, einen Ablauf erfinden, um binnen dieser wenigen Sekunden einen ganzen Raum in Omaha Beach zu verwandeln. Wir erinnern uns. 6. Juni 1944. Die Landung in der Normandie. Erst schien alles friedlich, der Germane glotzte gelangweilt aus dem Bunker, und urplötzlich verwandelte sich der Strand in ein Chaos sondergleichen. Kinder können das. Es fliegen die Schulsachen, es fliegt die Kleidung, es fliegt das verhasste Hausübungsheft in eine Ecke, es fliegen Jacke, Weste, Socken in eine andere Ecke. Die Schultasche wird auf dem Boden entleert und offenbart fünf Tage alte Pizzareste geschmückt mit stinkendem Turngewand, und wenn ein toter Vogel auch noch dort läge, würde es mich nicht wundern. Goldlöckchen betritt nicht einfach nur ihr Zimmer, sie detoniert darin. Auf die Frage, ob es nicht vielleicht übersichtlicher wäre, hier Ordnung zu halten, ernte ich ein mildes Lächeln. Natürlich muss man hier eingreifen! Was soll man bitte mit einem Teenager über Ordnung und Schmutzwäschetrennung diskutieren? Ich könnte mich auch mit einem Hydranten unterhalten, er würde wahrscheinlich mehr Mitgefühl zeigen. Wenn das Kind morgens in die Schule trottet, erstaunlicherweise sogar äußerst manierlich bekleidet, frage ich mich: Wie macht sie das? Aus diesem Berg an Wäsche und Zeug das rauszufiltern, was noch tragbar ist? Ist das Instinkt? Der Nase nach? Wie findet der junge Mensch bitte ein paar gleiche Socken in dem Chaos? Ich sehe nicht mal mehr das Bett! Also räume ich auf. Jeden Tag. Jeden Morgen. Wie eine Maschine. Sisyphos gleich. Obwohl ich Gottvater Zeus niemals verraten habe, zumindest nicht wissentlich, rolle ich den Stein am Morgen auf den Berg hinauf und sehe am Nachmittag zu, wie er wieder hinunterrollt. Demolition Woman kehrt heim. Fünf Sekunden. Und meine ganze Arbeit ist dahin. Warum mach ich das eigentlich? Um zumindest ein paar Stunden das Gefühl zu haben, irgendetwas unter Kontrolle zu haben. Also bitte, liebe Eltern, räumt auf. Mit einem Hydranten zu diskutieren ist noch frustrierender als Sisyphos zu mimen. Die paar Stunden sind eine schöne Illusion. Ich will sie nicht mehr missen.

KONTRA Von Tanja Werdan

Kinderzimmer aufräumen? Sicher nicht! Warum? Nun, jetzt muss ich weiter ausholen. Ich bin mit einer sehr, sehr, sehr freudigen Aufräumerin aufgewachsen. Es wurden sogar Unterhosen gebügelt und der Schrank sorgfältig nach Farben abgestimmt eingeräumt, geputzt, gewedelt und gesaugt, bis auch das letzte Staubkorn begriffen hatte, dass es bei uns kein Zuhause haben wird, und das Geschirr vor dem Geschirrspüler mit (!) Spülmittel gewaschen. Kurzum: Bei uns war es immer picobello, und wir Kinder, also mein Bruder und ich, waren praktischerweise wegen mangelnder Zufriedenstellung unserer Aufräumdienste von sämtlichen Hausarbeitsdiensten ausgeklammert. Bis zu meiner Pubertät war alles gut, dann kam das übliche Teenagerchaos im Zimmer, und die Beziehung zu meiner Mama wurde auf eine harte Probe gestellt. Gefühlte 100 Hausarreste und mühsame Diskussionen später war noch immer klar, dass der Begriff von Ordnung bei uns so verschieden wie Kuschelrock und Heavy Metal ist. Mit 21 wurde ich Mutter, und plötzlich war da ein kleiner Mensch, der mein Chaos noch potenzierte. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als ordnungsliebender zu werden, wobei meine Tochter in ihrer „schlimmen“ Teenagerzeit meine Mutter/Tochter-Erfahrungswerte zu diesem Thema ordentlich auf die Probe stellte. Nicht nur einmal hat sie erzürnt gefragt, warum ich ihr Lieblingsleiberl oder ihre Lieblingsjean nicht gewaschen habe. „Schatz, weil ich in der Fülle der schmutzigen Kleidung am Boden nicht wühlen wollte, und außerdem müsste ich zuerst einen Parcours mit hohem Schwierigkeitsgrad überwinden, um überhaupt zu deinem Kleiderhaufen zu kommen.“ Manchmal habe ich mich aber schon gefragt, ob ihr System patentfähig werden könnte, denn suchte sie im letzten Moment Schularbeiten zum Unterschreiben oder einen Minischmuckanhänger, wurde alles sekundenschnell gefunden. Klar hatten wir auch Streit, wenn das Chaos sogar für mein Empfinden zu extrem war. Aber ich hatte immer im Hinterkopf, dass meine Tochter panische Angst vor Kleinviechern hat – somit war klar, dass mein kleiner Aufräumrebell es nie bis auf die Spitze treiben würde. Als sie mit 21 beschloss, in eine WG zu ziehen, prognostizierte meine Mama, dass ihr Enkelkind mit Sicherheit ein Problem mit ihren Mitbewohnern wegen ihrer Ordnung bekommen wird. Aber nichts passierte – außer, dass ich plötzlich von Putzplänen und praktischen Ordnungssystemen hörte. Sie hatte offenbar gelernt, ihr Chaos auf ein sozial verträgliches Maß zu reduzieren. Oder wie ich meine: Sie ist einfach erwachsen geworden.

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