Ulrich Koch

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Ulrich Koch

Uhren zogen mich auf Gedichte

poetenladen


Meinen Eltern

Erste Auflage 2012 © 2012 poetenladen, Leipzig Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-940691-37-8 Umschlaggestaltung: Miriam Zedelius Druck: Pöge Druck, Leipzig Printed in Germany poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germany www.poetenladen-der-verlag.de www.poetenladen.de verlag@poetenladen.de


WeiĂ&#x;t du, was wir vergessen haben? Wir haben vergessen, was unser Geheimnis ist. Jetzt weiĂ&#x; es jeder.



1 Lange hatte ich, der ich Lieder mag und keine Menschen, die Wahrnehmung nicht mehr bemerkt, dann traten die Dinge aus dem Dunkel und betasteten mich wie Blinde, bis ich wieder sichtbar war, und wenn du dies liest, bist du am Leben, ich habe es f端r dich nicht gestrichen.

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ProLoG Wo die Musen gelegen hatten, war das Gras noch warm von den Klageweibern. Weh!, rief ich, weh!, noch sind die Sakralbauten der Lyrik nicht getrocknet, da platzen uns Raumfahrern schon die Helme wie Pusteblumen! Und verbrachte vier Drittel meines Lebens damit, Bach zu hören und zuzusehn, wie sich die Engel an die Steinwürfe gewöhnten.

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Die MUse (№1) Seit kurzem hat sie dieses Ticken im Bauch, regelmäßig wie ihr Atem, der abends eine Stufe nach der anderen nimmt, wenn sie sich die Treppen raufschleppt. Wie sie da so vorm Fernseher hockt, krümmt sich ihr Schatten, ihr Kleid hat sie über die offene Schranktür geworfen. Heute Abend bringe ich ihr eine kleine Sinnestäuschung mit, die sich ins kollektive Gedächtnis eines Bienenvolks gebrannt hat, eine süße Illusion, bevor es uns wieder in die Sprache verschlägt. Aber da betrachtet sie schon wieder ihre für morgen frisch lackierten Fingernägel, diese Tonnengewölbe über irdischem Besitz, der sich rauswächst, die sie jetzt trockenbläst mit angespitzten Lippen.

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Die MUse (№2) An diesem schönen klaren Morgen mit herrlich dampfendem Flüssigteer auf der abgesperrten Bundesstraße und einer herrenlosen Rüttelmaschine, die sich, vorbei an den drei Baggern, die mit langen Hälsen aus dem Straßengraben trinken, gut gelaunt hüschwingend dem Friedhof nähert, lasse ich sie noch ein wenig weiter schlafen. So sieht sie nicht, wie im Nachbargarten die Nachbarswitwe (Schürze hochgebundenes Haar) die blutige Wäsche auängt: die Kissenhüllen von den geschlachteten Kaninchen zieht. Strom- und Wasserzähler schlagen die Augen auf, und aus dem Laubhaufen unsrer Kleider steigt Rauch.

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Uhren zoGen Mich aUf Einmal trat ich auf eine Ameisenstraße und löschte den Wald. Ich saß auf einem Strohballen und wusste noch nichts von der Strichliste meiner Tage. Mein Herz, hieß es, habe man auf einer Drosselschmiede gefunden, und der Gesang kam schon näher. Noch verschlossen, fand mich das Gedicht.

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Eine Programmatik, von der er manchmal träumte: Der Grammatik abschwören. Die Trauer um die Tiere der Kindheit zur Staatstrauer erklären. Unsere Vornamen zu Arbeitstiteln machen. Morgens gleich nach dem Aufstehn Volksaufstandtänze üben. Mit der flachen Hand über die Waldränder streichen und sie danach ans Ohr halten. Einen Schneeball kneten, bis er wieder nach Apfel riecht. Das Gesehene aus den Brillengläsern putzen. Vorm leergefischten Spiegel die Lu anhalten. Das Haar bis auf den Kamm abnagen. Jedem Blatt Papier die Pulsadern öffnen. Im Zoo die Bananen verweigern. Allen Katzen ihre Hintergedanken verraten.


A NMERKUNGEN EIN LIED (S. 47): »Ich habe Schmerzen wie eine nasse Katze« – In einem Pflegeheim im Südbadischen wiederholt gehörte Redewendung. DER GRABEN (S. 51): Nach Hans Christian Andersen. JULIMOND (S. 66): Nach Philipp Otto Runge. DIE ELTERN DES KüNSTLERS (S. 67): Nach Otto Dix. AUS DER EBENE (S. 70): Für Elke Erb. UHREN ZOGEN MICH AUF (S. 97): Die Drosselschmiede ist ein großer Stein mit flacher Oberseite, auf dem u.a. die Singdrossel Schneckengehäuse zertrümmert, um an ihr Inneres zu kommen.


I NHALT 1 PROLOG DIE MUSE (№1) DIE MUSE (№2) DIE MUSE (№3) DIE MUSE (№4) DIE MUSE (№5) DIE MUSE (№6) DIE MUSE (№7) DIE MUSE (№8) DIE MUSE (№9)

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

2 SCHANDE DEN DöRFERN, SCHANDE DEN DöRFLERN BLAUER MONTAG 24 ICH WUSSTE GAR NICHT, DASS ICH MANCHMAL BETE IMMER, WENN ICH DAS MEER SEHE 26 NACHMITTäGLICHER AUGENBLICK 27 WOHER WIR KOMMEN 28 ABSCHIED VON DEN JUNGEN FRAUEN 29 DISCOUNTER 30 ZWISCHEN ZWEI REIFENWECHSELN 31 SCREENSHOT 32 KLEINES BESTIARIUM 33 DANKE 34

3 ECHO 37 WOFüR 38

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VAGE ERINNERUNGEN 40 DIE FEINERE ZEIT 41 AUS EINEM LEEREN TAGEBUCH 42 LEBENSLAUF 43 FRüHE PRäGUNG 44 HAUSAUFGABEN 45 AM BAGGERSEE 46 EIN LIED 47 MATERIALIEN FüR EINE ZWEITE KINDHEIT DER GRABEN 51 DIESER WURM, DER ICH WAR 52 UMZUG 53 ZUR SEITE 54 MEINER KAMERA 55

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4 LANGSAMER 59 FORMLOSE BEGRüSSUNG 60 LEIM 61 LA OLA 62 NACH DEM FEST 64 DURCH DEN SPRUNG DER SCHALLPLATTE 65 JULIMOND 66 DIE ELTERN DES KüNSTLERS 67 ALS ICH EIN WUNDERKNABE WAR 68 AUS DER EBENE 70 LEISE SANG 71 MEINE EINZIGE LIEBE 72 WAS DU NICHT SIEHST 73 UNSER HALB AUTOBIOGRAPHISCHES LEBEN 74 TRAUM 76


5 PENDLERSILBEN 79 ES GIBT DIE ERINNERUNG 80 DER KAISER SPRICHT 82 DEZEMBERMORGEN 83 IMBISS 84 CLUBHEIM 85 NACH DEM VERLORENEN ENDSPIEL KARTE VOM MEER 87 DIE SCHöNSTEN STRäNDE 88 FRüHLINGSVORBEREITUNGEN 89 SCHLEICHFAHRT 90 RADFAHRT AM ENDE DES SOMMERS FRüHAUFSTEHER 92 HIMMELFAHRT 93 NEUES NOTIZBUCH 94 NACHSAISON 96 UHREN ZOGEN MICH AUF 97

NACH DEN WORTEN 99 ANMERKUNGEN 100 BIOGRAPHISCHE NOTIZ 104

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ULRICH KOCH wurde 1966 in Winsen an der Luhe geboren und lebt heute in der Nähe von Hamburg. Er veröffentlichte Gedichtbände beim Residenz Verlag und in der Lyrikedition 2000 (zuletzt: Lang ist ein kurzes Wort). Ausgezeichnet wurde er unter anderem mit dem Förderpreis des Stuttgarter Schristellerhauses (2007), dem Hamburger Förderpreis für Literatur (2011) und dem Hugo-Ball-Förderpreis (2011).



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