STADT&LANDmagazin NOVEMBER 2021

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im porträt

«Ich arbeite gerne mit Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und Brüche in ihrer Biografie haben» «Man sollte nicht nur die Tat, sondern auch den Menschen sehen.» Das sagt Annette Keller. Die 60-Jährige ist Direktorin der einzigen Justizvollzugsanstalt für Frauen in der Deutschweiz, der JVA Hindelbank. Zusammen mit ihrem Team setzt sie tagtäglich alles daran, dass die Insassinnen nach ihrer Haftentlassung nicht mehr straffällig werden.

Die Durchschnittshaftstrafe in der JVA Hindelbank beträgt drei Jahre. Hier sitzen Frauen, verurteilt wegen Mordes, Einbruch, Überfall und anderen Delikten, häufig auch im Zusammenhang mit Drogen. Zwei Drittel der Insassinnen sind Mütter. In der JVA gibt es eine kleine Mutter-Kind-Abteilung, aber die meisten Kinder von Verurteilten leben draussen bei anderen Familienmitgliedern oder in Pflegefamilien. In den letzten zehn Jahren lag die Rückfälligkeit bei etwa 20 Prozent. Wobei man nur Zahlen von Schweizerinnen kennt, da Ausländerinnen oft nach der Haftstrafe ausgewiesen werden und nicht mehr in der Statistik vorkommen. «Wie die Insassinnen zu ihrer Tat stehen, wie sie ihre Schuld einsehen, das ist ein Prozess. Oft ein langer Prozess», sagt Annette Keller. Sie müssten lernen zu akzeptieren, dass sie getan haben, was sie getan haben und dass das nun zu ihrer Geschichte gehört. Ein Rucksack gepackt mit Einsicht und Zuversicht «Ein Gefängnis muss so sein, dass die Menschen drin möglichst so leben können wie draussen», erklärt die Direktorin. Die Insassinnen müssten ihre Fähigkeiten und ihre Eigenständigkeit behalten und soziale Kontakte nach draussen pflegen können. Wie Annette Keller sagt, hat eine Inhaftierte vor 70 Jahren mal gesagt: «Ich muss als Mensch hier leben dürfen, wenn ich als Mensch hier heraus kommen soll.» Annette Keller bestätigt dies: «Es ist alles darauf ausgerichtet auf den Moment, wenn die Eingewiesenen wieder rauskommen, dass dann keine neuen Schäden entstehen und es keine neuen Die JVA Hindelbank, die einzige Justizvollzugsanstalt für Frauen in

Opfer geben wird.» Auch wenn sie eine Strafe verbüssten, seien sie

der Deutschschweiz, feiert sein 125-Jahr-Jubiläum. Auch ein Jubilä-

vollwertige Menschen und hätten die gleichen Grundbedürfnisse wie

um, wenn auch ein kleineres, feiert die Direktorin der JVA: Annette

alle anderen: sie wollen und brauchen Sicherheit, Kontakt, Selbstwert

Keller leitet das Frauengefängnis seit zehn Jahren. Wenn sie von ihrer

und sie müssen sich entwickeln können. «Wenn die «Frauen» die

Arbeit im Gefängnis erzählt, ist vor allem eines heraus zu spüren

JVA Hindelbank verlassen, sollen sie einen Rucksack haben, gepackt

und hören: ihre grosse Menschlichkeit. «Wertschätzung, Respekt,

mit Einsichten, Fähigkeiten und der Zuversicht, dass sie es draussen

eine klare Kommunikation, Transparenz und andere menschenwürdig

schaffen», so die 60-Jährige.

behandeln, das sind für mich die wichtigsten Werte, die in der JVA Hindelbank gelebt werden sollen», sagt Keller. Und damit meint sie

Auch wenn Annette Keller und ihre 112 Mitarbeitenden Hoffnungs-

die Mitarbeitenden genauso wie die Insassinnen.

träger für die Insassinnen sein wollen, so ist es doch enorm wichtig, dass die «Frauen» sich auch mit ihren Taten und ihrer Schuld aus-

107 Plätze hat die JVA Hindelbank. Die «Frauen», wie Annette Keller

einandersetzen. Denn es ist und bleibt ein Gefängnis. «Sie müssen

die Insassinnen nennt, kommen aus vielen verschiedenen Nationen.

hinschauen und sich fragen, wie es soweit kommen konnte und was

Von den über 100 Eingewiesenen sind knapp 50 Prozent Schweize-

sich ändern muss, dass so etwas nicht wieder passiert», sagt Annette

rinnen. Die 107 Plätze sind immer belegt, es gibt gar eine Warteliste.

Keller.

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