Am Puls des Volkes

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10 forum 353  Politik

Am Puls des Volkes Luxemburgs Parteien nach dem Referendumstrauma Pierre Lorang

War das Referendum vom 7. Juni 2015 eine beglückende kollektive Selbsterfahrung oder überflüssig wie ein Kropf? Ersteres versuchten die sich nach ihrer Vollpleite am Strohhalm des Zweckoptimismus festklammernden Regierungsparteien zu suggerieren; Letzteres wiederholte die ihre klammheimliche Schadenfreude nur mühsam kaschierende CSVOpposition wie ein Mantra. Die Antwort auf obige Frage ist weit vielschichtiger, als es die Platituden der Parteipolitik vermuten lassen: Jene ganz wenigen, die es mit der Einführung eines nationalen Wahlrechts für Nicht-Luxemburger (Schönsprech: „Einwohner“; Klartext: „Ausländer“) tatsächlich und wahrhaftig ernst meinten, müssen der für sie bitteren, doch real existierenden Wirklichkeit Tribut zollen und sich eingestehen, dass der epochale Versuch, unter den im Hier und Jetzt gegebenen Umständen einen Schritt auf dem Mond zu wagen, mit derart desillusionierender Wucht in die Hose ging, dass das Thema für anderthalb Generationen ad acta gelegt sein dürfte. Aus ihrem Blickwinkel war das Referendum, obschon sie treuherzig das Gegenteil behaupten, überflüssig wie ein Kropf.

Entgegen aller verlogenen Phraseologie der Sprachdesigner in Sachen Nation Branding sind selbst die Luxemburger kein auserwähltes Volk.

Für die Gegner von Blau-Rot-Grün – und das sind, bis in die eigenen Reihen hinein, nicht gerade wenige – war es ein Moment des, je nach Opportunität, zufrieden erlittenen, stillschweigend genossenen oder lautstark gefeierten Triumphes und ergo eine Form von beglückender Selbsterfahrung. Jene aber, die sich mit selbst auferlegter intellektueller Ehrlichkeit durchs Leben mühen, sehen sich in ihrer seit jeher geäußerten Vermutung bestätigt, dass die Luxemburger, entgegen aller verlogenen Phraseologie der Sprachdesigner in Sachen Nation Branding, nicht wesentlich anders, sondern weitestgehend genauso sind wie jedes andere Volk oder

Völkchen auf Erden, nämlich kein auserwähltes. Die Welt als Ganzes, schön und gut, mag zwar allen Gottesgeschöpfen unter der Sonne gehören, doch dieser schmale Flecken Ländchen Kerneuropa, obschon er ohne fremdes Zutun nicht zu blühen in der Lage wäre, gehört zuallererst und in fine der eigenen Sippe, dem eigenen Stamm. Latenter Rassismus? Kollektive Fremdenfeindlichkeit? Blödsinn! Bei allen verbalen und zerebralen Entgleisungen einiger Tausend Unterbelichteter im Zangengriff von Hass und Frust und Neid und Minderwertigkeitskomplexen – ja doch, es ist aufschlussreich und wichtig zu wissen, dass es sie gibt – gehört die deutliche Mehrheit der Nein-Sager der Kategorie der kreuznormalen Luxemburger an, weder übertrieben links noch unerträglich rechts, die Frage Nr. 2 genauso beantwortet hat, wie es die übergroße Mehrheit der kreuznormalen Deutschen, Belgier und Franzosen, Italiener, Spanier und Portugiesen bei gleicher Fragestellung auch getan hätte: Im Nationalstaat war es bis dato die Nationalität, die den Einwohner zum Staatsbürger machte. Warum sollte sich das ausgerechnet jetzt ändern?1

Nationalismus als Fortschritt Nun, die längste Zeit der Menschheitsgeschichte verhielten sich die Dinge keineswegs so evident. Der Nationalstaatsgedanke, wie er seit spätestens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall in Europa etabliert ist, gilt als Frucht der Französischen

Pierre Lorang ist freier Publizist und früherer Journalist beim Luxemburger Wort (1996-2011).


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