Philosophie Magazin Nr. 2 / 2018

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Nr. 02 / 2018

Februar / März

MAGAZIN

Mit Klassiker-Booklet:

Sunzi und

das strategische Denken

HARTMUT ROSA IN CHINA – REISE INS REICH DER BESCHLEUNIGUNG STEVEN PINKER: „DIE AUFKLÄRUNG HAT GESIEGT!“

0 2

„Aktion und Meditation sind dasselbe“

4 192451 806907

Neue?

REINHOLD MESSNER

D: 6,90 €; Ö: 7,- €; CH: 12,50 SF; Benelux: 7,40 €

Woher kommt das


Nadine, via facebook

18. – 20. Januar 2018 KOSMOS Kulturhaus Thema: Ich, Ich, Ich philosophiefestival.ch

Denker in diesem Heft

S. 66

S. 24

S. 34

Steven Pinker

Hartmut Rosa

Reinhold Messner

Der Harvard-Psychologe und Bestsellerautor populärwissenschaftlicher Bücher zählte laut dem Time Magazine 2004 zu den hundert einflussreichsten Menschen der Welt. Pinkers Fähigkeit, etablierte Meinungen provokativ infrage zu stellen, zeigt sich auch in unserem großen Gespräch, in dem er die These vertritt: Unsere Welt wird immer besser. Sein neues Buch „Auf klärung jetzt“ (S. Fischer) erscheint im Herbst.

Der Professor für Soziologie lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. In seinem einfluss­ reichen Buch „Resonanz“ (Suhr­ kamp, 2016) legt er dar, wie das moderne Subjekt in eine erfül­ lende Beziehung zur Welt treten kann. Für zwei Wochen reiste der Beschleunigungstheoretiker im Oktober letzten Jahres durch China und zeichnet das Porträt eines Landes radikal unterschied­ licher Geschwindigkeiten.

Er ist der bekannteste Bergsteiger der Welt, Autor zahlreicher Bücher und Philosoph der Aktion. Im Interview spricht der Extrem­ sportler, der 1987 als erster Mensch ohne Flaschensauerstoff den Gipfel des Mount Everest er­ reichte, über die Wiedergeburt am Ende aller Kräfte und warum Abenteuer und absolute Ruhe eins sind. Sein Buch „Wild. Oder: Der letzte Trip auf Erden“ er­ schien 2017 im S. Fischer Verlag.

S. 58

S. 1–100

S. 1–100

Frank Thelen

Svenja Flaßpöhler

Birthe Mühlhoff

Seit 2014 ist der Unternehmer Mitglied der Jury in der VOX-Sendung „Die Höhle der Löwen“. Für Thelen, der Risikokapital in junge Technologie-Start-ups investiert, ist das Nachdenken über große Innovationen tägliches Geschäft. Mit dem Philosophen Markus Ga­ briel spricht er im Dossier über die Heilsversprechen des Silicon Valley, zündende Geschäftsideen und die ethischen Herausforde­ rungen künstlicher Intelligenz.

Die promovierte Philosophin und Buchautorin leitete von 2016 bis 2017 die Redaktion Literatur und Geisteswissenschaften beim Deutschlandfunk Kultur, wo sie u. a. die Philosophie-Sendung „Sein und Streit“ verantwortete. Zuvor prägte sie das Philosophie Magazin als stellvertretende Chefredakteurin über fünf Jahre maßgeblich mit. Mit dieser Aus­ gabe kehrt sie als Chefredakteu­ rin zum Magazin zurück.

Im Sommer schloss unsere Praktikantin ihr Philosophiestudium in Hamburg und Paris mit einer Arbeit über den Begriff der Strategie ab. Sie schreibt u. a. für den Mer­ kur, ZEIT ONLINE und gab den Band „Euro Trash“ (Merve, 2016) mit heraus. In den Resonanzen denkt sie über das revolutionäre Potenzial der Blockchain-Techno­ logie nach. Für das Dossier widme­ te sie sich klassischen philosophi­ schen Positionen über das Neue.

Die nächste Ausgabe erscheint am 15. März 2018

Fotos: Thomas Rausch; Jörg Glaescher; picture-alliance/dpa; Christophe Boulze; Johanna Ruebel; privat

Was soll ich jetzt am Wochenende tun? Muss mir ein neues Hobby zu tun.


Intro

Horizonte

Dossier

Ideen

S. 3 Editorial S. 6 Ihre Frage S. 7 Kinder fragen Tomi Ungerer S. 8 Leserbriefe

S. 24 Reportage China: Das Reich der Geschwindigkeiten Von Hartmut Rosa S. 34 Gespräch „Aktion und Meditation sind dasselbe“ Interview mit Reinhold Messner

Woher kommt das Neue?

S. 66 Das Gespräch Steven Pinker S. 72 Werkzeugkasten Lösungswege / Gedanken von anderswo / Die Kunst, recht zu behalten S. 74 Der Klassiker Sunzi und das strategische Denken + Sammelbeilage: „Die Kunst des Krieges“ (Auszüge)

Zeitgeist S. 10 Sinnbild S. 12 Denkanstöße S. 14 Resonanzen #metoo: Für eine neue Ökonomie der Lust / Bitcoin: Der Hype um die Kryptowährung / Steigende Obdachlosigkeit: Wie lässt sich die Würde armer Menschen bewahren? S. 18 Hübls Aufklärung Diesmal: Suche nach Bestätigung Von Philipp Hübl S. 20 Erzählende Zahlen Die Kolumne von Sven Ortoli

S. 46

S. 42 Das Mögliche und das Wirkliche Von Nils Markwardt S. 46 Wandel im Widerspruch Historisches Pro & Contra S. 50 Kann denn Neugier Sünde sein? Von Philipp Felsch S. 53 „Die Ideen des Silicon Valley sind uralt“ Gespräch mit David Edgerton S. 54 In den Werkstätten der Zukunft Mit Hans-Jörg Rheinberger, Marina Hoermanseder und Emanuel Wyler S. 58 Schöne neue Welt Frank Thelen und Markus Gabriel im Dialog

Bücher S. 82 Buch des Monats Maggie Nelson: „Die Argonauten“ S. 84 Thema: Karl Marx Der Mann, der kein Marxist war S. 86 Scobel.Mag S. 88 Neue Kolumne: Das philosophische Kinderbuch S. 90 Dichter und Wahrheit Frank Witzel

Fotos: Thomas Jackson; Arndt Dewald; Lukasz Wierzbowski; Axel Kohlhaas

Finale

S. 50

S. 24

S. 92 Agenda S. 94 Comic + Spiele S. 96 Lebenszeichen Von Tieren lernen: Das Mammut / Das Ding an sich / Impressum S. 98 Sokrates fragt Florence Kasumba

S. 84

Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 5


Horizonte

Reportage

R E D H C I E N IM R E T I E K G I D N I W H C S E G eit delt sich derz n a w d n a L s dere n Kaum ein an ährend in de W . a in h C ie iger so radikal w ein einzigart n te d tä S n e ht, hypermodern zdruck herrsc n e rr u k n o K d ern Leistungs- un ölkerten Dörf tv n e n le ie v scheint in en. ehen geblieb st ie w t Rosa it e Z die tiker Hartmu re o e h st g n u nig te Der Beschleu Reich der Mit s a d n e h c o W bereiste zwei r gespaltenen e in e t rä rt o P das t. und zeichnet f Aufstieg setz u a s e ll a ie d , Gesellschaft hem Preis? Doch zu welc Rosa Von Hartmut

Die Moderne zieht am Himmel vorbei: Die Wohnviertel der ärmeren Bevökerung Schanghais grenzen direkt an den Flughafen Hongqiao an. Alle drei Minuten startet hier eine Maschine 24 / Philosophie Magazin Februar / März 2018


Wuhan Schanghai China

Huangpi

Von Hartmut Rosa

Foto: Arnd Dewald; Autorenfoto: Jörg Glaescher

Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-SchillerUniversität Jena sowie Direktor des Max-WeberKollegs in Erfurt. In seinen Arbeiten analysierte er die Beschleunigungs- und Entfremdungseffekte der Spätmoderne und legte in seinem Buch „Resonanz. Soziologie einer Weltbe­ ziehung“ (Suhrkamp, 2016) dar, wie das moderne Subjekt in eine erfüllende Beziehung zur Welt treten kann


Horizonte

Gespräch

Reinhold Messner

»Aktion und Meditation sind dasselbe« Er ist der bekannteste Bergsteiger der Welt und zugleich ein Philosoph der Tat. Reinhold Messner im Interview über das Ausloten der eigenen Grenzen und die Unbesiegbarkeit der Natur

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Reinhold Messner Der 1944 in Südtirol geborene Extremsportler erreichte 1978 als erster Mensch ohne Flaschensauerstoff den Gipfel des Mount Everest und bestieg alle 14 Achttausender unseres Planeten. Sein aktuelles Buch „Wild“ ist 2017 bei S. Fischer erschienen

E

s gibt Menschen, die durch ihre bloße Präsenz Ehrfurcht einflößen. Reinhold Messner ist einer von ihnen. Haare, Hände, Brustkorb: Alles erinnert eher an die Physis eines 33-, nicht 73-jährigen Mannes. Nur der intensive Blick lässt keinen Zweifel an der Le­ benserfahrung und den Stunden in vollkommener Abgeschiedenheit. Befindet man sich mit der Bergsteigerlegende in einem Raum, ist die Atmosphäre von einer nahezu meditativen Ruhe, sodass schnell klar wird, dass den Südtiroler auch auf flacher Erde so schnell nichts aus der Fassung bringen kann. Kommt der Mensch womöglich erst in Extremsituationen zu sich selbst? Oder droht gerade im Angesicht der Gefahr ein existenzieller Orientierungsverlust? Ein Gespräch über die Kraft von Visionen und die Erfahrung, sich sein Leben immer wieder selbst zu schenken.

34 / Philosophie Magazin Februar / März 2018

«

Fotos: Jonas Bendiksen/Magnum Photos/Agentur Focus; picture-alliance/dpa

Das Gespräch führte Wolfram Eilenberger


Philosophie Magazin: Herr Messner, Ihre Expeditionen – und auch zahlreiche Ihrer Bücher – scheinen auf der Annahme zu fußen, dass sich der wahre Charakter, der Kern eines Menschen nur in absoluten Ausnahmesituationen wirklich zeigt und bewährt. Reinhold Messner: Das glaube ich, ja. Weil die Leute in einer nichtkritischen Situation viel verstecken kön­ nen. Wir sind bis zu einem bestimmten Punkt alle Schauspieler. Wenn es aber hart auf hart geht, dann kann keiner mehr schauspielern. Wenn die Kondition nicht mehr reicht, dann werde ich einfach langsamer und falle zurück. Je kritischer die Situationen werden, umso weniger kann ich irgendwas spielen – und alle meine Fehler und alle meine Fähigkeiten kommen zum Vorschein. Das ist eine Theorie, die es in der Philosophie gerade in den 1920er-Jahren zu großer Prominenz geschafft hat. Karl Jaspers spricht von Grenzsituationen, Martin Heidegger von Eigentlichkeit. Das hat natürlich auch einen traurigen Beigeschmack, weil daraus zu folgen scheint: Wer sich nicht in unmittelbare Lebensgefahr begibt, weiß am Ende gar nicht, wer er ist. Das würde ich in der Radikalität nicht unterschrei­ ben. Oder kann es zumindest nicht 100-prozentig sagen. Ich denke, das hat mit unserer Menschwer­ dung zu tun und auch mit der kulturellen Evolution, gerade in den letzten Jahrzehnten. In jedem Fall war

es vor hundert Jahren noch viel schwieriger zurecht­ zukommen als heute. Ich bin jetzt 73 Jahre alt. Als ich aufwuchs in den 1950er-Jahren, waren wir Süd­ tiroler in der Summe bettelarm, eine der ärmsten Regionen in Europa. Das lag teilweise am italieni­ schen Faschismus, zum Teil aber auch einfach daran, dass es nur kleinstrukturierte Bauern gab. Heute sind wir die reichste Provinz von Italien und eine der reichsten Gegenden der ganzen EU. Die meisten Leu­ te jammern dennoch am laufenden Band und sagen, dass es uns überhaupt nicht gut geht. Wir haben viel von der Fähigkeit verlernt, mit ganz geringen Lebens­ hilfen zurechtzukommen. Davon handelt ja auch mein jüngstes Buch „Wild“. Es basiert auf der wahren Geschichte einer Antarktisexpedition, in deren Ver­ lauf es zu einer ultimativen Verknappung der Über­ lebensressourcen kommt.

Welche Ressourcen sind das? Wir brauchen Licht, wir brauchen Wärme, wir brau­ chen Essen und Wasser. Und dann natürlich auch eine Hoffnung auf Rettung. Wir haben alle eine Hoffnung darauf, dass das Leben morgen weitergeht. Die Männer dieser Expedition um Frank Wild, über Monate im ewigen Eis gestrandet, wussten aber nicht, ob sie am nächsten Tag noch leben. Es war alles auf das absolu­ te Minimum reduziert. Könnte es nicht sein, dass man sich in solchen Extremsituationen vollkommen von sich selbst entfernt, anstatt sich selbst als Mensch Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 35



DOSSIER

Woher

kommt das

Neue?

Foto: Vanessa McKeown

E

s gibt diesen Punkt, an dem das Alte nicht mehr passt. Mit einem Mal werden Gewohnheiten schal, Gewissheiten brüchig, Routinen und Rituale zu eng. Aber was tun, wenn die Sehnsucht nach dem Neuen erwacht, während unklar ist, wo es zu suchen wäre? Wie soll es sich einstellen, das Neue? Woher kann es kommen? Aus uns selbst oder aus dem Nichts? Ist das Neue überhaupt eine Befreiung – oder ein gesellschaftlicher Imperativ im Zeichen des technischen Fortschritts? Bleib up to date! Erfinde dich neu! Sei kreativ! Das sind die Losungen unserer Zeit, deren permanenter Wandel uns zur Anpassung zwingt. Wagen wir also den Sprung ins Ungewisse, um zu finden, was noch nicht da ist.

Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 41


DOSSIER

Woher kommt das Neue?

D

ie letzten Partyreste sind entsorgt, die Deko verstaut, die Straßen gefegt. Ganz nüchtern steht das neue Jahr nun da. Und mit ihm all jene guten Vorsätze, die man sich im üblichen Anfall von Ambitioniertheit mal wieder zurechtgelegt hat: mehr Sport treiben, endlich den Traumpartner treffen, ja, womöglich sogar das eigene Leben komplett um­ krempeln. In diesen ersten Januartagen, in denen ritu­ ell am Update der eigenen Biografie gearbeitet wird, stellt sich eine Frage für viele schon aus ganz prakti­ schen Gründen: Woher kommt das Neue? Oder anders­ herum gesagt: Wie verändert sich das Alte? Wobei diese Frage ebenso all jene betrifft, die ohne Vorsätze auskommen. Denn selbst wenn man sein Leben gar nicht ändern will, weil man mit dem Beste­ henden eigentlich ganz zufrieden ist, transformiert sich die Welt doch unablässig – und (über)fordert uns durch fortlaufend neue Anpassungsleistungen. Sei es der technologische Wandel, der unsere Art zu arbeiten und zu kommunizieren geradezu revolutioniert, der Klimawandel, der neue Formen des Wirtschaftens und Konsumierens erzwingt, oder der politische Wandel, der momentan ganze Parteisysteme auf den Kopf stellt. Die Frage nach der Herkunft des Neuen scheint

42 / Philosophie Magazin Februar / März 2018

derzeit also doppelt dringlich, führt sie doch ins Zen­ trum gegenwärtiger Sehnsüchte und Sorgen gleicher­ maßen. Während das Neue für die einen gar nicht schnell genug kommen kann, fühlen sich andere von ihm chronisch erschöpft. Metaphysisch gesehen, gibt es auf die Frage nach der Herkunft des Neuen zunächst zwei ganz grund­ sätzliche Antworten. Die erste lautet: Das Neue ent­ steht außerhalb des Einzelnen, entzieht sich also der menschlichen Verfügungsgewalt. Diese Vorstellung offenbart sich bereits in den lange wirkmächtigen Schöpfungsmythen. Für die antiken Griechen hat be­ kanntlich Prometheus das Feuer gebracht, für die

Foto: Alexandre Hertoghe

Von Nils Markwardt


Kommt die Innovation von innen oder von außen, aus dem Ich oder der Umwelt, aus der Inspiration oder dem Selbstentwurf?

Babylonier Marduk die erste Stadt gegründet, Gott für die Christen die Welt erschaffen. Dominierte bis zum Anbruch der Renaissance die Idee, dass der Kosmos sich in einer gleichermaßen perfekten wie unveränderlichen Ordnung befindet, war die Entstehung von grundlegend Neuem im anti­ ken und mittelalterlichen Denken deshalb meist nur als Einbruch des Göttlichen zu plausibilisieren. Es kam buchstäblich aus dem Nichts: Creatio ex nihilo. Wie weit dieser Gedanke historisch nachhallte, kann man an Charles Darwin sehen. Der Naturforscher, mit ei­ nem Abschluss in Theologie ausgestattet, war über seine eigenen Entdeckungen zur Evolution zunächst

ja selbst so frappiert, weil sie bewiesen, dass die ver­ meintlich von Gott geschaffene Natur keineswegs fertig designed war, sondern sich permanent verän­ dert und weiterentwickelt. Wobei es solch eine äußere Kraft des Neuen freilich auch in weltlichen Varianten gibt. Spätestens mit der Aufklärung wurde aus der göttlichen immer öfter die glückliche Fügung. Im Zuge der Säkularisierung ist es nicht mehr die Vorhersehung, sondern der Zufall, der als zentraler Bestandteil der Innovation gilt. Man denke hier nur an die unverhoffte Entdeckung des Penizillins. Diese gelang 1928 dadurch, dass der britische Bakterio­ loge Alexander Fleming vor seinen Sommerferien eine Petrischale mit angezüchteten Staphylokokken in sei­ nem Labor schlicht vergessen hatte – um nach seiner Rückkehr das Antibiotikum anhand des sich mittler­ weile gebildeten Schimmels ausfindig zu machen. Hatte sich das Wunderdenken historisch also zu­ nehmend verweltlicht, so erklärt sich erst vor diesem Hintergrund jene moderne Ereignisphilosophie, die bis heute prägend ist. Denn für Denker wie Martin Heidegger oder Alain Badiou ereignet sich das Neue im eminenten Sinne. Das heißt, es bricht so plötzlich wie unvorhergesehen in das Sein ein. Laut Alain Ba­ diou zeigt sich das vor allem in vier großen Bereichen: >>> Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 43


DOSSIER

Woher kommt das Neue?

Wandel im Widerspruch Kommt es aus dem Nichts? Ist es gut? Existiert es überhaupt? Über Wesen und Wert des Neuen streiten Philosophen seit jeher. Sechs Handreichungen von hoher Halbwertszeit Von Dominik Erhard und Birthe Mühlhoff


Gibt es überhaupt etwas Neues? Ramon Llull

Empedokles

> 1232–1316

Ja,

alles ist stets im Werden begriffen, denn bloßes Sein gibt es nicht. Dem kann jeder zustimmen, der schon einmal versucht hat, auf seinem Schreibtisch Ordnung zu halten. Was auch immer man aufstapelt, abheftet und erledigt, verwandelt sich im Handumdrehen ins Chaos zurück. Dieses Prinzip hatte schon Ramon Llull erkannt. Chronologisch gehört der mallorquinische Philosoph und Theologe zwar ins Mittelalter, seine radikalen Ideen verweisen jedoch bereits auf die Renaissance. Wurde der Kosmos zuvor als unveränderlich ge­

Fotos: Thomas Jackson; unknown from the collection of Friderici Roth-Scholtzii/Wikimedia creative commons; Thomas Stanley History of Philosophy/Wikimedia creative commons

Veränderung widerfährt dem Menschen nicht. Er ist vielmehr aktiver Teil eines stetigen Werdens dacht, rückt bei Llull die Vorstellung von stetem Wandel in den Blick. Der Philosoph war auf der Suche nach einem Universalprinzip, das das Universum nicht auf ein statisches Sein reduziert, sondern dessen Werden und Vergehen Rechnung trägt. Für Llull hatte sich die Philo­ sophie bis dahin vornehmlich am Problem von Sein oder Nichtsein abgearbeitet. Für ihn ein gravierender Fehler. So sei beispielsweise die Frage, ob die Seele unendlich sei, schlicht falsch gestellt, da es in der Welt gar kein unveränderliches Sein geben könne. Vielmehr sei alles unablässiges Werden, die gesamte Natur in steter Bewegung befindlich. Doch wo sich etwas verändert, muss auch eine Kraft walten, die die Entstehung des Neuen anstößt. Diese besteht für Llull in einer göttlich inspirierten Energie, die den ganzen Kosmos durchdringt. Die Natur, die Schönheit oder das Gute existieren demnach nicht als etwas Seien­ des, sondern entstehen immerzu aufs Neue. Zu diesem ewigen Werden gehören für Llull drei Komponenten, nämlich der, der etwas tut, das Tun selbst und das Ergebnis dieses Tuns. Folglich dürfe man Verände­ rung nicht nur als etwas begreifen, das der Natur und dem Menschen unbeteiligt widerfährt, sondern man müsse sich selbst als aktiven Teil eines dynamischen Universums denken. Richtig zu leben, bedeutet nach Llull deshalb, dem Wirken in sich freien Lauf zu lassen.

Zum Weiterlesen: „Ars brevis“ (Meiner, 2001)

> 495–435 v. Chr.

Nein,

alles ist lediglich Vermischung und Trennung von vier unveränderlichen Grundstoffen, aus denen nichts wesentlich Neues entsteht. Das weihnachtliche Familienessen liegt noch nicht allzu lange zurück. Und wie üblich wurden auch dieses Jahr die gleichen Geschichten erzählt, die gleichen Filme geguckt, der gleiche Braten aufgetischt. Wenn Sie also das Gefühl beschleicht, dass sich das Erlebte in erstaunlicher Beständigkeit aus dem Bekannten zusam­ mensetzt, dann nicht nur, weil Sie vielleicht Traditionen mögen, son­ dern auch aus handfesten metaphysischen Gründen. Dass es im emi­ nenten Sinne nichts Neues geben kann, stand nämlich bis zur Renaissance im Zentrum des abendländischen Denkens und fand etwa in Empedokles einen wirkmächtigen Fürsprecher. In dem Lehr­ gedicht „Über die Natur“, das der Vorsokratiker seinem Schüler Pausa­ nias widmete, schrieb er: „Entstehung gibt es von keinem einzigen all der sterblichen Dinge noch ein Ende im verderblichen Tode. Nein! Nur Mischung gibt es und wieder Trennung des Gemischten; das Wort ‚Entstehung‘ gibt es nur bei den Menschen.“ Das Universum besteht für Empedokles nämlich aus den vier Grundstoffen Wasser, Feuer, Luft und Erde, welche weder entstehen noch vergehen. Alles setze sich vielmehr aus diesen „Substanzen“, also dem, „was unveränderlich ist“, zusammen und vermische sich entweder wie Wasser und Wein

Es kann nichs Neues geben. Alles was entsteht, existiert bereits in der Welt oder stoße sich wie Wasser und Öl voneinander ab. Anziehung und Abstoßung sind die Bewegungen in der Natur, die durch die Pole der Liebe und des Streits hervorgerufen werden: „Sie lieben sich, und sie hassen sich.“ Mit anderen Worten: Es kann nichts anderes als das bereits Existierende entstehen. Vielmehr offenbart sich nur ein be­ ständiger Kampf von Liebe und Streit. Entfaltet Erstere ihre Macht, durchmischen sich die Stoffe und die Welt erreicht einen einheitlichen und ausgeglichenen Idealzustand. Zumindest so lange, bis der Streit erneut die Oberhand gewinnt. Ein ewiges Ringen, das mancher auch vom Weihnachtsabend kennen dürfte.

Zum Weiterlesen: Laura Gemelli Marciano (Hg.): „Die Vorsokratiker. >>> Band 2: Parmenides, Zenon, Empedokles“ (Artemis & Winkler, 2009)

Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 47


DOSSIER

Woher kommt das Neue?

Kann denn Neugier Sünde sein? Während der Hunger nach Neuem lange als gefährliches Laster galt, betrachten wir ihn heute als wertvolle Tugend. Doch seine Kehrseiten sind Langeweile, Erschöpfung und Sinnverlust

D

ie Unterhaltungen, mit denen ich vor einigen Jahren eine Zeit lang meine Nachmittage verbrachte, gingen ungefähr so: „Papa.“ – „Ja?“ – „Wenn zwei Säbelzahntiger einen Blauwal anfallen, können die ihn tö­ ten?“ – „Hm, das ist schwer zu sagen, weil die Säbelzahn­ tiger ja viel schlechter schwimmen können. Und wenn der Wal umgekehrt an Land kommt …“ – „Aber wenn sie genauso gut schwimmen könnten.“ – „Na ja – dann würden sie es vielleicht irgendwann schaffen, aber …“ – „Und warum schaffen sie es dann irgendwann?“ – Jedes Elternteil kennt solche Dialoge, wobei sie manchmal mehr und manchmal weniger martialisch ablaufen. Und jedes Elternteil weiß nur allzu gut, dass die Lage, sobald die Warum-Fragen beginnen, ins Aus­ sichtslose kippt. Die Neugierde unserer Kinder ist et­ was, das wir vorbehaltlos fördern möchten. Sie ist nicht nur die Lust am Unbekannten, Fremden, die sie dazu treibt, die Welt zu erkunden; als Weigerung, sich mit dem Bekannten oder Bestehenden zufriedenzu­ geben, wird sie sie eines Tages überhaupt erst dazu in die Lage versetzen, ihre persönlichen Wünsche, Fähig­ keiten und Möglichkeiten auszuleben. „Die Glückli­ chen sind neugierig“, notierte Nietzsche, für den die Neugier einen der mächtigsten Antriebe des moder­ nen Menschen darstellte. Wie aus dem Fragment her­ vorgeht, erachtete er sie aber nicht nur als Teil unserer anthropologischen Grundausstattung, sondern darü­ ber hinaus auch als zwangsläufige Begleiterscheinung oder sogar notwendige Bedingung für das Glück.

50 / Philosophie Magazin Februar / März 2018

In der Tat stellt die Attraktion des Neuen eine charak­ teristische, wenn nicht die entscheidende Bestimmung der neuzeitlichen Conditio humana dar. Die „Neophi­ lie“ unserer westlichen Kultur und Lebensweise äußert sich Peter Sloterdijk zufolge in der Tatsache, dass wir das Neue oft um seiner selbst willen und bisweilen um jeden Preis favorisieren. Dadurch wird auf der einen Seite eine beispiellose individuelle und kulturelle Dy­ namik in Gang gesetzt. Doch schon der eingangs wie­ dergegebene Dialog zwischen Sohn und Vater macht deutlich, dass die prinzipielle Unstillbarkeit unseres Appetits auf Neues auf der anderen Seite in existen­ zielle und philosophische Aporien führt. Auf der trivialsten Ebene stellt sich zunächst ein Kapazitätsproblem. Man kann nicht ewig weiterfra­ gen – was Eltern ihren Kindern in der Warum-Phase früher oder später mit einem entnervten „Darum“ zu verstehen geben. Doch selbst im Kontext unseres Fa­ milienlebens steht in Bezug auf die Neugier manchmal deutlich mehr auf dem Spiel. Wenn wir unsere Kinder dazu ermahnen, „ihre Nase“ nicht in den Erwachse­ nen vorbehaltene Angelegenheiten „zu stecken“, dann bringen wir damit zum Ausdruck, dass ihre Wissbe­ gierde nicht nur über eine kapazitäre, sondern über eine legitime Grenze schießt. Denn offenbar ist die Neugier durch eine ihr innewohnende Tendenz zur Überschreitung gekennzeichnet – wie besonders in der deutschen Sprache deutlich wird. Es ist bezeich­ nend, dass wir weder von der „Lust“ noch von der „Liebe“, sondern von der „Gier“ nach Neuem spre­ chen – also von einer Regung, die stets der Maßlosig­

Foto: Lukasz Wierzbowski

Von Philipp Felsch


Es ist bezeich­ nend, dass wir von der „Gier“ nach Neuem sprechen, also von einer Regung, die der Maßlosigkeit verdächtig ist

zu nehmenden Problem. Das Streben nach weltli­ chem Wissen, das sich in der Neugier äußert, ist für den Kirchenvater eine Regung, die dem einzig legiti­ men Auftrag des Menschen, der Suche nach Gott, im Wege steht. Wenn man bedenkt, dass der junge Au­ gustinus bei seinen Wanderungen selbst von immen­ ser Wissbegierde getrieben wurde, liegt die Schluss­ folgerung nahe, dass es ihm mit seinem bis heute nachwirkenden Verdikt über die Neugier nicht nur darum ging, die christliche von der antiken Lebens­ weise abzugrenzen, sondern ebenso seiner ureigenen inneren Dämonen Herr zu werden.

Nützlicher Trieb oder stetige Gefahr?

keit verdächtig ist. Warum halten wir dieses exzessive Begehren für unumgänglich? Ist es wirklich der Schlüssel für eine glückliche Existenz? In der Doppeldeutigkeit der Neugier ist eine jahr­ hundertealte Ambivalenz konserviert. Spätestens seit dem europäischen Mittelalter war im Umgang mit der Neugier zugleich die Frage nach der Legiti­ mität unseres Wissens- und Schöpferdranges be­ rührt. Auch bei den Griechen und Römern lassen sich schon Überlegungen zu einer Mäßigung der Neugier finden. Doch erst für Augustinus wird die allzu menschliche Regung der Curiositas zu einem ernst

Zwar hat es die Neugier selbst nur in Ausnahmefällen in einen der Todsündenkataloge geschafft, die wäh­ rend des Mittelalters in zahlreichen Versionen kur­ sierten. Als ein Laster, das ebenso Züge der Wolllust wie des Hochmuts und der Habgier kombinierte, besaß sie aber definitiv das Potenzial dazu. In seiner Funktion als Krone der Schöpfung war es dem Men­ schen zwar durchaus aufgegeben, mit der Vortreff­ lichkeit der Welt zugleich auch den für sie verant­ wortlichen Gott zu preisen. Schon aus religiösen Gründen war es daher erforderlich, zumindest eine Ahnung vom Reichtum der Welt zu haben. Was im­ mer jedoch über das unmittelbare Fassungsvermögen ihres Intellekts und ihrer Sinne hinausging, gehörte einem Bereich an, den zu betreten für die Nachkom­ men Adams nach göttlichem Ratschluss nicht vorge­ sehen war. >>> Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 51


DOSSIER

Woher kommt das Neue?

In den Werkstätten der Zukunft Innovation ist eines der Zauberworte unserer Zeit. Doch wie sieht sie in der Praxis aus? Kann man das Neue wollen, gar planmäßig herbeiführen, oder stellt es sich im Gegenteil gerade durch Offenheit und Zufall ein? Drei Experten berichten, wie das Morgen im Heute beginnt Aufgezeichnet von Philipp Felsch, Dominik Erhard und Nils Markwardt

54 / Philosophie Magazin Februar / März 2018


Wissenschaft

„In der Forschung tritt das Neue als Störung auf“

Hans-Jörg Rheinberger, bis 2014 Direktor am Max-PlanckHans-Jörg Rheinberger Institut für Wissenschaftsgeschichte, erklärt, warum der Zufall für die Forschung zentral ist

Fotos: Jonathan Knowles/Getty Images; Autorenfoto: Steffen Roth; Illustration: Bettina Keim

E

s gibt eine landläufige Vorstellung, nach der Experimente der Überprüfung von Hypothesen dienen. Die meis­ „ ten wissenschaftlichen Entdeckungen spielen sich aber anders ab. Nehmen wir der Fall der sogenannten Transfer-RNA. Am Anfang dachte man, es wäre eine Verunreinigung. Doch im weiteren Verlauf des Expe­ riments stellte sich heraus, dass es sich um ein unbe­ kanntes Hybridmolekül handelte, das eine wichtige Rolle bei der Proteinsynthese spielt. Schon der Wissenschaftssoziologe Robert K. Mer­ ton vertrat die Ansicht, dass gerade das Nichtwissen in der Entwicklung der Wissenschaften eine treibende Kraft darstellt. Das „spezifische Nichtwissen“, von dem Merton sprach, bedeutet aber immer noch, zu wissen, was man nicht weiß. Dagegen würde ich behaupten, dass die Situation des Wissenschaftlers im Labor eher einem Nichtwissen zweiter Ordnung entspricht. Er weiß nicht, oder zumindest nicht genau, was er nicht weiß. Das Neue, das er sucht, ist dadurch charakteri­ siert, dass er es nicht voraussehen kann. Wenn man das anders formulieren will, kann man sagen, dass der Zufall bei der Gewinnung neuer Er­ kenntnisse eine zentrale Rolle spielt. Und Experimen­ tieren ist nichts anderes, als Bedingungen dafür zu kreieren, dass dieser Zufall wirksam werden kann. Ein solches Vorgehen bezeichnen wir – nach Robert K. Merton – als ‚Serendipität‘. Wichtig ist, dass es sich dabei nicht um puren, sondern um eine Art kanalisier­ ten Zufall handelt. Es geht darum, Konstellationen zu schaffen, in denen es möglich wird, einen Schritt über das aktuell existierende Wissen hinaus zu tun. Dazu darf man weder ins Blaue hinein experimentieren

noch dürfen die Vorstellungen, wo man hinwill, zu präzise sein. Das Forschungsexperiment muss eine Minimalkomplexität haben, damit es Abweichungen geben und man so auf unerwartete Dinge stoßen kann. Oft treten solche unerwarteten Effekte anfangs als Störgeräusche auf. Erst wenn sich solche Störungen als hartnäckig erweisen, kann es sein, dass sie sozusa­ gen die Seiten wechseln und sich als ein neues episte­ misches Objekt erweisen, dem ab sofort das Interesse der Wissenschaftler gilt. Viele bahnbrechende Entde­ ckungen wurden auf diese Weise gemacht. Für solche Widerstände, die im Forschungsprozess immer wieder überwunden werden müssen, hat der französische Wissenschaftsphilosoph Gaston Ba­ chelard in den 1930er-Jahren den Begriff des ‚episte­ mologischen Hindernisses‘ geprägt. Die ‚Entstehung des Neuen‘, die Bachelard in seinem Buch über den ‚Neuen wissenschaftlichen Geist‘ beschreibt, ist eine historische Bewegung, die nicht auf einen in der Zu­ kunft liegenden Punkt zuläuft. Stattdessen kommt sie dadurch zustande, dass sich die Wissenschaften im­ mer wieder vom erreichten Status quo abstoßen. Wenn man dafür ein Bild finden will, könnte man sagen, dass der Forscher im Labor mit dem Rücken zur Zukunft agiert. Genau dieses Bild hat beinah zeitgleich übri­ gens auch Walter Benjamin in seinen ‚Geschichtsphi­ losophischen Thesen‘ verwendet. Vom Sturm des Fortschritts werden wir rücklings in die Zukunft ge­ trieben. Das bedeutet: Wir wissen nicht, wohin die Reise geht.“

>>>

Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 55


DOSSIER

Woher kommt das Neue?

Schöne neue

Welt

Der Neue Realist Markus Gabriel ist der Ansicht, dass das Leben voller überraschender Möglichkeiten steckt – eine Philosophie, die auch der Technologie-Investor Frank Thelen vertritt. Unsere Zukunft stellen sich die beiden dennoch völlig unterschiedlich vor. Zwei innovative Optimisten im Streitgespräch Das Gespräch führte Philipp Felsch / Fotos von Thomas Rabsch

E

in eleganter Neubau im Bonner Gewerbegebiet. Provisorische Ar­ beitsplätze zwischen halb ausgepackten Umzugskisten, vor den Fenstern zieht der Rhein vorbei. Erst vor wenigen Wochen hat der Technologie-Investor Frank Thelen mit seinem Unternehmen Frei­ geist Capital das neue Quartier bezogen. Auf der Suche nach inno­ vativen Geschäftsideen behält er von hier aus die Start-up-Szene im Blick. Markus Gabriel, der an der Universität Bonn Philosophie lehrt, stößt direkt aus seiner Vorlesung dazu. Auch für ihn sind wir als Menschen in der Lage, laufend Neues zu kreieren. Der Neue Realismus, den er vertritt, behauptet, dass ein Einhorn genauso wirklich wie ein Winterhandschuh ist. Es verwundert nicht, dass sich die beiden Shootingstars ihrer Branchen viel zu sagen haben. Doch in der Frage, woher das Neue kommt, könnten ihre Positionen kaum gegensätzlicher sein.

58 / Philosophie Magazin Februar / März 2018


Frank Thelen

Markus Gabriel Der Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn etablierte sich mit seinem Buch „Der Neue Realismus“ (Suhrkamp, 2014) als einer der wichtigsten Vertreter dieser Denkrichtung. Darüber hinaus ist er Autor des Sachbuchbestsellers „Warum es die Welt nicht gibt“ (Ullstein, 2013)

Philosophie Magazin: Herr Thelen, zeichnen sich gute Geschäftsideen durch ihre Neuheit aus? Frank Thelen: Darauf kommt es an, aber nicht als Selbstzweck. Entschei­ dend ist der Unterschied zu dem, was schon auf dem Markt existiert. Unsere Erfolgstheorie besteht darin zu sagen, bis jetzt haben wir Pizza mit vielen Ka­ lorien und wenig Nährstoffen gegessen, und jetzt gibt es mit Lizza eine LowCarb-Pizza als gesundes Superfood. Oder nehmen Sie das Flugzeug, das wir gerade bauen. Es gibt Flugzeuge, die verbrennen Kerosin, das ist nicht nur schmutzig, sondern auch sehr teuer. Mit unserem Unternehmen Lilium Aviation investieren wir dagegen in ein Flugzeug, das lediglich ein Hundertstel der Kosten

generiert. Es kommt auf den neuen An­ satz an, denn Nachfrage kann ein Pro­ dukt nur generieren, wenn es besser ist. Gemäß unserer Investmentphilosophie muss es allerdings nicht einfach nur besser, sondern zehnmal besser sein. Das ist die Daumenregel, nach der wir uns beim Investieren richten. PM: Wenn Innovation durch Verbes­ serung entsteht, heißt das im Umkehr­ schluss: Das Neue kommt nicht aus dem Nichts? Thelen: Sehen Sie, die Technolo­ gien, die mich interessieren, entstehen meistens im Labor – ob das nun Block­ chain, 3-D-Druck oder künstliche Intel­ ligenz ist. Wir Gründer nehmen solche Basisinnovationen und kombinieren sie

Der Unternehmer ist Gründer der Risikokapital-Firma Freigeist Capital, die insbesondere in junge Technologie-Unternehmen investiert. Seit 2014 ist er zudem Mitglied der Jury in der VOX-Sendung „Die Höhle der Löwen“, in der Start-upGründer versuchen, finanzkräftige Investoren für innovative Geschäftsideen zu gewinnen

dann zu einem revolutionären Produkt. Keine der Komponenten des Smart­ phones zum Beispiel ist an sich revolu­ tionär. Aber irgendwann war die Batte­ rie so gut, irgendwann gab es die nötigen Funknetze und Displays, dass sie in ei­ nem Gerät kombiniert werden konnten, das unser Leben auf revolutionäre Art verändert hat. Oder nehmen Sie noch einmal das Flugzeug, von dem ich gera­ de sprach. Dahinter stecken vier brillan­ te Gründer, die aber selbst auf den Schultern von Giganten stehen. Sie ha­ ben bestehende Technologien wie 3-DDruck und Cloud Computing und viele andere Dinge zusammengeführt. Und deshalb können sie auf einmal ein Flug­ zeug konstruieren, wie es für Boeing oder Airbus bis dato gar nicht möglich war. Nicht nur weil bestimmte Techno­ >>> Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 59



Ideen

Steven Pinker

Das Gespräch

Der Harvard-Professor und Bestsellerautor scheut sich nicht vor kontroversen Auseinandersetzungen. In seinem bald erscheinenden Buch bietet er dem herrschenden Pessimismus abermals die Stirn: Er findet, dass wir freier und sicherer als je zuvor leben Das Gespräch führte Alexandre Lacroix / Fotos von Christophe Boulze / Aus dem Französischen von Grit Fröhlich

Steven

Pinker

»Die Welt war noch nie so gut wie heute!«

L

aut einer Liste des amerikanischen Time Magazine gehörte er 2004 zu den hundert einflussreichsten Menschen der Welt. Denn Steven Pin­ ker ist sowohl renommierter Harvard-Psychologe als auch erfolgreicher Bestsellerautor. Mit seinem im Herbst auf Deutsch erscheinenden Buch „Aufklärung jetzt“ fügt er seinem Werk ein weiteres Manifest des Optimismus hinzu. Eine ungewöhnliche Rolle für einen Intellektuellen, scheint doch sonst kaum noch jemand ernsthaft daran zu glauben, dass wir in der besten aller Zeiten leben. Pinker hingegen lässt sich weder von der Krise der liberalen Demokratie noch vom langen Schatten der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – ja nicht einmal vom Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus beirren. Er beharrt darauf, dass die Auf­ klärung ihren Zielen kontinuierlich immer näher kommt. Un­ sere Gattung hat Menschenopfer und Sklaverei hinter sich ge­ lassen, die Zahl der Morde ist seit dem Mittelalter drastisch gesunken, Kriege werden eingedämmt: Auch in seinem neuen Buch feiert Pinker diese jahrhundertelange Entwicklung als Triumph von Empathie und Vernunft. Bis heute hält er überdies an seiner hochkontroversen Ansicht fest, dass Männer und

Frauen, Afrikaner und Europäer mit ungleicher Begabung und Intelligenz geboren werden. Seine zuerst in dem Buch „Das unbeschriebene Blatt“ (2003) entwickelte Argumentation ist gegen jene Humanisten gerichtet, die meinen, dass Menschen nur von der Kultur geformt würden. Pinker zufolge existiert nicht nur eine menschliche Natur, sondern uns sind auch gene­ tische Determinationen eingeschrieben. Kann man also pro­ gressiv sein und zugleich einen in seinen Konsequenzen höchst fragwürdigen Naturalismus vertreten? Oder ist Pinker ein In­ tellektueller, dem es in erster Linie um die Kontroverse geht?

Philosophie Magazin: Schon immer stand für Sie die Erforschung der menschlichen Natur im Mittelpunkt. Bereits zu Beginn der 1980er-Jahre vertraten Sie eine sogenannte „komputationale“ Theorie, die das Gehirn als Maschine oder Supercomputer betrachtet. Können Sie das erläutern? Steven Pinker: Ich halte die komputationale Theorie des Ge­ hirns für eine der großen Entdeckungen der Moderne. Sie reicht bis zu Leibniz zurück. Doch ihren eigentlichen Aufschwung erlebte sie erst mit der „kognitiven Revolution“ der 1950er-

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Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 67


74 / Philosophie Magazin Februar / März 2018

Illustration: Emmanuel Polanco; Bildvorlage: picture-alliance


Ideen

Der Klassiker

Sunzi und das

strategische Denken Ein Konflikt, von dem noch nicht feststeht, ob er militärisch ausgetragen

wird, braut sich zusammen. Welches Vorgehen ist geboten, um als Sieger aus ihm hervorzugehen? Soll man sein Heil im Angriff suchen oder ist es aussichtsreicher, die direkte Auseinandersetzung zu meiden und den Gegner zu überlisten? Das chinesische Denken gibt dieser zweiten Option den Vorzug: Ablenkungsmanöver gelten als aus­ sichtsreicher als Frontalangriffe. Warum das so ist, wird in „Die Kunst des Krieges“ dargelegt, einem mehr als tausend Jahre alten Meisterwerk, das Sunzi zugeschrieben wird. Der Denker aus dem Reich der Mitte beschreibt die taktischen Kniffe und Kriegs­ listen, mit denen sich der Feind bezwingen lässt. Für Sunzi ist jedes Mittel recht, auch vor Täuschung und Spionage scheut er nicht zurück. Im Beiheft stellt Jean Levi diesen Klassiker der chinesischen Philosophie vor. Rémi Mathieu überführt die von Sunzi entwickelte Wissenschaft des Hakenschlagens in die Gegenwart und fragt, was die heutige chinesische Politik mit der „Kunst des Krieges“ zu tun hat. Doch auch im Alltag kann Sunzis Schrift nützlich sein. Sie vermag uns zu lehren, wie man sich beim nächsten Kräftemessen die Weisheit der chinesischen Strategie zunutze macht.

Philosophie Magazin Nr. 02 / 2018 / 75


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