Nr. 5 / 2020

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Nr. 05 / 2020  – August / September

Magazin

Ins

Offene

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D 7,90 € Ö 8,50 € CH 14,50  SFr Benelux 8,50 €

Wie lebe ich mit der Ungewissheit?

Liegt die Zukunft der Arbeit zu Hause?

Hegel und der Fortschritt

„Die Wahrheit über Israel zu zensieren, leistet dem Antisemitismus Vorschub“

Dossier und Sammelbeilage

Pro & Contra

Interview mit Omri Boehm


Mit Beiträgen von

S. 11

S. 38

Ivan Krastev

Barbara Bleisch

Was lehrt uns die Coronakrise? Zum Beispiel, dass man nicht reisen muss, um Kosmopolit zu sein, meint der bulgarische Politologe im Interview und verweist auf den Weltbürger Kant, der Königsberg zeitlebens nicht verließ. Krastev ist einer der bedeutendsten Denker Osteuropas. Jüngst erschien von ihm: „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert“ (Ullstein, 2020).

Zusammen mit der Rechtswissenschaftlerin Andrea Büchler erörtert sie in der Rubrik Leben den Umgang mit Reproduktionsmedizin. Dabei sprechen die beiden sich klar gegen pauschale Verbote aus. Ihr gemeinsames Buch „Kinder wollen. Über Autonomie und Verantwortung“ ist soeben bei Hanser erschienen. Barbara Bleisch ist promovierte Philosophin und moderiert die „Sternstunde Philosophie“.

Omri Boehm

S. 32

S. 52

Jürgen Feder

Gerd Gigerenzer

Er ist leidenschaftlicher Botaniker. Doch seine Forschungsgebiete sind nicht unberührte Wälder und blühende Wiesen, sondern Rastplätze, Autobahnen und Industriebrachen. An diesen Nichtorten findet Jürgen Feder faszinierende Pflanzenarten, die erst durch den menschlichen Einfluss gedeihen. Ein Porträt von Florian Werner über einen Mann, der die gängige Unterscheidung von Natur und Kultur infrage stellt.

„Wir sollten die Illusion der Gewissheit verlernen“, fordert der Psychologe mit Blick auf die Pandemie. Im Dossier erläutert er, warum Risiko und Ungewissheit unterschieden werden müssen. Gerd Gigerenzer ist Direktor des HardingZentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ (C. Bertelsmann, 2013).

„Der Neigung, Israel eine separate moralische Ordnung zuzubilligen, sollten wir widerstehen“ Gespräch: Kritik an israelischer Politik steht schnell unter Antisemitismusverdacht. Doch nur eine rationale Debatte kann dem Antisemitismus entgegenwirken, meint Omri Boehm. Er ist Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York.

Die nächste Ausgabe erscheint am 10. September 2020 04

Philosophie Magazin Nr. 05 / 2020

Fotos: picture alliance/Robert Newald/picturedesk.com/Robert Newald; Mirjam Kluka; Stefan Falke/laif; Roman Pawlowski; privat

S. 16


August/ September

Dossier: Ungewissheit

Nr. 05 / 2020

46 Die Verantwortung der Freiheit 50 52

Intro

03 Editorial 04 Beitragende

56 58

Arena

62 64

08 Denkanstöße 10 Einwurf

Fotos: Benjakon; The New York Times/Redux/laif; Illustration: Joni Majer

Für Ambiguitätsaktivismus / Lehren aus der Coronakrise: Interview mit Ivan Krastev / Globaler Maskenball 14 Sinnbild 16 Perspektive „Die Wahrheit über Israel zu zensieren, leistet dem Antisemitismus Vorschub“ Gespräch mit Omri Boehm 22 Fundstück Elias Canetti: „Masse und Macht“ 24 Pro & Contra Liegt die Zukunft der Arbeit zu Hause? Martin Gessmann versus Susanne Schmetkamp 26 Dorn denkt Fass mich nicht an! Kolumne von Thea Dorn

S. 44

Was tun, wenn nichts sicher ist? Dossier zum Umgang mit Ungewissheit

36 38

42

68 Hegel und der Fortschritt

Bücher S. 24

Pro & Contra: Liegt die Zukunft der Arbeit zu Hause?

30 Weltbeziehungen

32

Klassiker

Essay von Peter Neumann 74 Überblick Was ist Neuplatonismus? 76 Zum Mitnehmen Spinozas „Ethik“ 78 Menschliches, Allzumenschliches Comic von Catherine Meurisse

Leben

Der innere Feind / Stoischer Höhenflug / Aftselakhis Der Extrembotaniker Jürgen Feder im Porträt Von Florian Werner Lösungswege Welchen Sinn hat Angst? „Familie ist kein Naturereignis“ Gespräch mit Barbara Bleisch und Andrea Büchler Unter uns Die Sache mit dem Schweiß Kolumne von Wolfram Eilenberger

Von Nils Markwardt Stell dich der Kontingenz „Wir sollten die Illusion der Gewissheit verlernen“ Interview mit Gerd Gigerenzer Konzentrier dich aufs Wesentliche Mein Halt Reportage von Svenja Flaßpöhler Setz dich aufs Spiel Verliebt euch! Essay von Theresa Schouwink

82 Kurz und bündig

Kolumne von Jutta Person 83 Buch des Monats

Paul B. Preciado: „Ein Apartment auf dem Uranus“ 84 Thema Arbeit am Mythos 100 Jahre Hans Blumenberg 86 Scobel.mag Kolumne von Gert Scobel 90 Sommerkurztipps aus der Redaktion

Finale

92 Ästhetische Erfahrung

S. 42

Die Sache mit dem Schwitzen: Kolumne von Wolfram Eilenberger

Musik: Joan As Police Woman / Serie: „Snowpiercer“ / Ausstellung: Hannah Arendt 94 Agenda 96 Leserpost / Impressum 98 Phil.Kids Philosophie Magazin Nr. 05 / 2020

05


Foto: Yaakov Israel, Breslav Hasid Praying, Petrol Station, HaBiqah, 2011. From the series „The Quest for the Man on the White Donkey“, (2002–2012)


Arena

Raum für Streit und Diskurs

08 10

Denkanstöße Einwurf

Ambiguitätsaktivismus / Lehren aus der Coronakrise: Ivan Krastev im Interview / Globaler Maskenball 14 16

Sinnbild Perspektive

„Die Wahrheit über Israel zu zensieren, leistet dem Antisemitismus Vorschub“ Gespräch mit Omri Boehm 22

Fundstück

Elias Canetti: „Masse und Macht“ 24

Pro & Contra

Liegt die Zukunft der Arbeit zu Hause? Martin Gessmann versus Susanne Schmetkamp 26

Dorn denkt

Fass mich nicht an! Kolumne von Thea Dorn

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Arena / Einwurf

Denkmäler: Holt den Vorschlaghammer raus? / Pandemie: Isolierte Weltbürger / Infektionsschutz: Das Spiel mit der Maske

Kolonialismus

Kulturelles Gedächtnis

Für Ambiguitätsaktivismus

Bristol, Juni 2020: Demonstrierende stürzen das Denkmal des Sklavenhändlers Edward Colston

Nachdem ein Denkmal des englischen Kaufmanns und Sklavenhändlers Edward Colston von Demonstranten im Hafenbecken von Bristol versenkt wurde, folgten rund um den Erdball ähnliche Aktionen. In Boston köpfte man etwa eine Statue des Christoph Kolumbus, in Belgien wurde ein Reiterbild Leopold II. mit dem Schriftzug „Mörder“ versehen. Zudem wird in vielen Ländern intensiv diskutiert, ob man ver10

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gleichbare Denkmäler abmontieren und mit dem Kolonialismus in Verbindung stehende Straßennamen austauschen sollte. Gegner solch einer Form der buchstäblich umstürzlerischen Aufarbeitung argumentieren, dass sich in derlei Selbstermächtigungen ein jakobinischer Reinheitsfanatismus Bahn breche, der nicht nur die geschichtliche Gewordenheit dieser Monumente verkenne, sondern auch

kein Ende finden könne, weil man in letzter Konsequenz dann auch nicht mehr an historische Größen wie Immanuel Kant, Martin Luther oder Mahatma Gandhi öffentlich zu erinnern vermag. Schließlich finden sich in deren Schriften auch rassistische und antisemitische Passagen. Zudem müssten historische Persönlichkeiten immer, und auch das ist richtig, im Kontext ihrer Zeit bewertet werden. Es bedarf

Fotos: picture alliance/NurPhoto/Giulia Spadafora; picture alliance/Robert Newald/picturedesk.com/Robert Newald

Angestoßen durch die Black-Lives-Matter-Bewegung werden weltweit Denkmäler zerstört. Dabei gäbe es zwischen Ehren und Stürzen eine dritte Lösung


also stets eines Bewusstseins dafür, dass sie einer spezifischen geschichtlichen Epoche entstammen, in der spezifische Normen und Werte herrschten. Dementsprechend braucht es im Umgang mit Geschichte in der Tat das, was der Arabist Thomas Bauer in seinem 2018 erschienenen Essay „Die Vereindeutigung der Welt“ als „Ambiguitätstoleranz“ beschrieb: die Fähigkeit, Vagheiten, Uneindeutigkeiten, ja Widersprüche auszuhalten. Nur heißt das aber keineswegs, dass man alles so lassen könnte, wie es ist – und die erinnerungspolitischen Forderungen der Black-Lives-Matter-Bewegung damit obsolet wären.

Covid-19

So kann man beim Abwägungsprozess sehr wohl zu dem Schluss kommen, dass ein Monument demontiert gehört. Der als Philanthrop gefeierte Edward Colston etwa war massiv in den Handel mit westafrikanischen Sklaven involviert, von denen in seiner Amtszeit schätzungsweise 18 000 allein bei der Überfahrt nach Amerika starben: Einem Massenmörder gebührt keine Heldenverehrung. Und ist es bei komplexeren Fällen wie Kant und Co. nicht gerade die Black-LivesMatter-Bewegung, die unseren Blick für deren dunkle Seiten schärft, die Eindeutigkeit der Verehrung mithin aufbricht und uns dazu auffordert, die buch-

stäblich brutalen Ambivalenzen anzuerkennen? Umso mehr allerdings wäre zu wünschen, dass die Aktivisten zwischen Zerstören und Ehren eine dritte Möglichkeit erkennen: nämlich das Verändern. Durch künstlerische Verfremdung etwa. Oder die Umsiedlung ins Museum. Oder die Ergänzung durch ein Gegendenkmal. So würde es gelingen, die Ambiguität in den Aktivismus selbst zu überführen, um die Zwiespältigkeit des Erinnerns als solche aufzuzeigen und, mit Walter Benjamins Worten, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“. Kurzum: Was wir brauchen, ist ein Ambiguitätsaktivismus. / Nils Markwardt

Zukunft

„Man muss nicht reisen, um kosmopolitisch zu sein“ Die Paradoxien der Gegenwart zeigen sich aktuell deutlicher denn je, meint der Politologe Ivan Krastev. Interview über die Lehren aus der Coronakrise Herr Krastev, eine der Paradoxien der Pandemie, die Sie benennen, lautet: Obwohl viele Staaten ihre Grenzen geschlossen haben, ist kaum ein Erstarken rechter Tendenzen zu erkennen. Warum? Während das „Wir“ während der sogenannten „Flüchtlingskrise“ mittels kultureller Kategorien wie Herkunft und Kenntnis der Sprache gedacht wurde, tritt aktuell etwas völlig anderes in den Fokus. Die Frage ist nicht mehr: „Wer wurde hier geboren?“, sondern: „Wer ist gerade hier?“ So machte etwa die portugiesische Regierung zeitlich begrenzt keine Unterscheidung zwischen Asylsuchenden und Bürgern. Wir können uns den Luxus des Ausschließens schlicht nicht mehr leisten. Bedeutet das auch, dass autoritäre Regime nicht so stark von dieser Krise profitieren, wie viele erwartet haben? Grundsätzlich funktionieren autoritäre Regime gut im Krisenmodus – allerdings nur, wenn sie die Krisen selbst produziert haben, sich also aussuchen können, auf welche sie reagieren wollen, wie es Carl Schmitt ausdrückt. Doch die Coronakrise

ganz konkrete Furcht gibt, wie aktuell jene vor einer Ansteckung, herrscht der Wunsch vor, dass sich jemand um das eigene Wohl kümmert. Etwas, worin Diktatoren nicht besonders gut sind.

Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Im Juni erschien sein Buch „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert“ (Ullstein)

ist anders. Sie war einfach da und zwar – was wichtig ist – für alle in vergleichbarem Maß. Das Virus erzeugte die Illusion, man könne die Effizienz von Regierungen objektiv vergleichen, indem man sich einfach die Zahlen ansieht. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Diktatoren eher mit Angst als mit Furcht arbeiten. Erstere ist abstrakter. Wenn Menschen von diffusen Ängsten geplagt werden, wollen sie jemanden, der ihnen zuhört und ausspricht, was sie denken. Wenn es allerdings eine

Womit wir bei der Fürsorge wären. Ihrer Meinung nach ist es der EU nicht gelungen, ihre Mitglieder durch koordinierte Maßnahmen zu schützen. Was bedeutet das für ihre Zukunft? Die Isolation vieler europäischer Staaten hat deutlich gemacht, dass der Nationalstaat kein wirtschaftlich tragfähiges Modell mehr ist. In Deutschland zeigte sich das unter anderem in der Abhängigkeit von osteuropäischen Erntehelfern; in anderen Ländern von ausländischer Medizintechnik. Paradoxerweise könnte also die Angst vor Tendenzen der Deglobalisierung die europäische Idee wirksamer festigen als das Vertrauen in die Globalisierung, die wir so lange erlebt haben. Auf lange Sicht könnte Covid-19 die EU also mit Zusammenhalt und Solidarität infiziert haben? Philosophie Magazin Nr. 05 / 2020

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Arena / Perspektive Erinnerungspolitik

Debattenkultur

„Die Wahrheit über Israel zu zensieren, leistet dem Antisemitismus Vorschub“ Gerade in Deutschland steht Kritik an israelischer Politik schnell unter Antisemitismusverdacht. Der israelische Philosoph Omri Boehm wendet sich gegen eine Mythisierung des Holocausts und fordert eine Rationalisierung der Debatte. Ein Gespräch über falsche Identitätspolitik – und eine Utopie namens Israel Das Gespräch führte Theresa Schouwink / Aus dem Englischen von Michael Ebmeyer

Omri Boehm ist Philosoph und hat eine Professur an der New School for Social Research in New York inne. Er forscht und veröffentlicht insbesondere zu Kant. 2014 erschien „Kant’s Critique of Spinoza“ (Oxford

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University Press). Über israelische Politik schreibt er unter anderem für die New York Times und Die Zeit. Gerade ist sein Buch „Israel – eine Utopie“ (Ullstein, 2020) erschienen

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Philosophie Magazin: Herr Boehm, Sie wuchsen in einer jüdischen Familie im Norden Israels auf. Ihre Großeltern väterlicherseits flohen 1939 aus Deutschland, Ihr Großvater kam aus einer traditionsbewussten iranisch-jüdischen Familie. Wie wurde in Ihrer Familie über israelische Politik diskutiert? Omri Boehm: Meine Familie wählte Meretz, eine linksliberale Partei. Sie standen immer weit links, waren aber zugleich unbeirrte patriotische Zionisten – meine Eltern sind beide Reserveoffiziere der israelischen Armee. Der Besetzung standen sie seit jeher kritisch gegenüber, aber wenn sie sich zwischen Liberalismus und Zionismus entscheiden mussten, zogen sie den Zionismus vor. Das ist oft der Fall bei israelischen Linken, bis hin zu Identifikationsfiguren wie Amos Oz und David Grossman. Als ich begann, den Zionismus kritisch zu sehen, war es anfangs schwierig, darüber zu Hause zu diskutieren. Inzwischen teilt mein Vater zumindest meine Hoffnungen für die Zukunft Israels. Meine Mutter ist eine härtere Nuss.

Sie sagen, vor allem in Deutschland herrsche große Zurückhaltung, wenn es darum geht, Israels Politik zu kritisieren. Als Jürgen Habermas einmal zu seiner Meinung über Israel befragt wurde, sagte er, dass „die gegenwärtige Lage und die Grundsätze der israelischen Regierung“ eine „politische Bewertung“ erforderten, diese aber nicht „Sache eines privaten deutschen Bürgers meiner Generation“ sei. Das ist exemplarisch für die deutsche Haltung zu Israel. Und es ist schädlicher, als es scheint. Man kann Habermas’ Reaktion sehr verständlich und besonnen finden. Was ist problematisch daran? Natürlich ist sie verständlich. Dennoch richtet sie als symbolische öffentliche Stellungnahme Schaden an. Die Frage ist: Brauchen wir, um den Antisemitismus zu bekämpfen, eine rationalere oder weniger rationale Debatte über Israel? Und offensichtlich ist mehr Rationalität gefordert. Eine rationale Debatte aber ist unbedingt eine öffentliche – Habermas weiß


Foto: Yaakov Israel, Military Barrier, The Judean Desert, 2011. From the series „The Quest for the Man on the White Donkey“, (2002–2012); Autorenfoto: Stefan Falke/laif

Militärkontrollpunkt an der Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland

selbst am besten, dass eine private rationale Debatte ein Widerspruch in sich ist. Indem er symbolisch Zuflucht im Privaten suchte, gab er ein Beispiel dafür, wie eine rationale deutsche Haltung zu Israel verweigert wird. Wenn wir uns heute Skandale wie den um Achille Mbembe (Denker des Postkolonialismus, Anm. d. Red.) oder um das Jüdische Museum Berlin anschauen –, dann sehen wir, was für Folgen das Fehlen einer rationalen Debatte hat. Nicht einmal die Fakten zu Israel werden in Deutschland als legitim betrachtet. So entstehen viele falsche Urteile von Deutschen über nichtdeutsche und jüdische kritische Stimmen, obwohl gerade diese die Situation oft besser kennen. Die Deutschen glauben zum Beispiel, Israel habe eine große jüdische Bevölkerungsmehr-

heit – und dass drei Millionen Palästinenser im Westjordanland gezählt werden, die innerhalb der Grenzen Israels leben, sei ein Akt von Radikalen, die dem Staat Israel das Existenzrecht absprechen wollten. Wo selbst die Fakten delegitimiert sind, ist die Debatte weit weniger rational, als die Leute glauben. Und ich fürchte, die Wahrheit über Israel zu zensieren, leistet dem Antisemitismus Vorschub.

„Indem Habermas symbolisch Zuflucht im Privaten suchte, gab er ein Beispiel dafür, wie eine rationale deutsche Haltung zu Israel verweigert wird“

Aber wirkt sich nicht die Sprecherposition auf die Bedeutung des Gesagten aus? Wäre es nicht etwas anderes, wenn Habermas, dessen Vater NSDAP-Mitglied war, Israel kritisieren würde? Ich wollte nie behaupten, dass Habermas oder jemand anderes unabhängig von Philosophie Magazin Nr. 05 / 2020

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Leben

Zeit für existenzielle Fragen

30

Weltbeziehungen Der innere Feind / Flugtaxis / Aftselakhis

32

Porträt

Forschungsobjekt Rastplatz: Der Extrembotaniker Jürgen Feder 36

Lösungswege

Welchen Sinn hat Angst?

38

Gespräch

„Familie ist kein Naturereignis“ Barbara Bleisch und Andrea Büchler über ethische Herausforderungen der Reproduktionsmedizin 42

Unter uns

Foto: Stefanie Moshammer

Die Sache mit dem Schwitzen Kolumne von Wolfram Eilenberger

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Leben / Porträt

Der Extrembotaniker Da, wo niemand sein will, forscht Jürgen Feder. Auf Rastplätzen, Autobahnen, Industriebrachen entdeckt er eine Pflanzenwelt, die den herkömmlichen Unterschied zwischen Kultur und Natur aufhebt – und den Botaniker begeistert Von Florian Werner / Fotos von Roman Pawlowski

Florian Werner

Autorenfoto: Johanna Ruebel

ist Schriftsteller und promovierter Literaturwissenschaftler. Seine Sachbücher wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm „Auf Wanderschaft. Ein Streifzug durch Natur und Sprache“ (Duden, 2019). Außerdem ist er Musikkolumnist des Philosophie Magazins

Sommermorgen, Ferienzeit. Der Rastplatz an der A2 wimmelt von Menschen, aber Jürgen Feder ist schon von Weitem zu erkennen: Während andere Reisende hastig rauchen, Kaffee aus Pappbechern schlürfen, Kreislaufgymnastik machen oder Partner zur Weiterfahrt drängen, kniet Feder seelenruhig an der Bordsteinkante und betrachtet ein zwischen den Betonquadern hervordrängendes Kahles Bruchkraut. Auch sonst wirkt er so, als ob er sich nicht an einer sechsspurigen Autobahn befände, sondern auf Exkursion durch die Lüneburger Heide. Schwarze Wanderschuhe, eine zur kurzen Hose gestutzte alte Jeans, darüber ein quer gestreiftes bretonisches Langarmhemd. Die Gesichtshaut ist braun gebrannt, der Haarschopf sonnenblond, klar: Der Mann verbringt jede freie Minute an der frischen Luft. Und zwar egal, wo er gerade ist. Feder macht keinen Unterschied zwischen Autobahnen und Auenwäldern, Highways und Heidelandschaften: Neben naturnahen Biotopen studiert er vorzugsweise Güterbahnhöfe, Misthaufen, Mülldeponien, Truppenübungsplätze, Industriebrachen, Straßenränder und eben auch Raststätten und Parkplätze. „Ich bin gerne da, wo die anderen nicht sind“, erklärt er grinsend. „Ich gucke auch ständig an den Gullys, was da wächst. Wahrscheinlich bin ich der Einzige in Niedersachsen, der Gullybotanik macht.“ Das ist

sein Alleinstellungsmerkmal, seine ökologische Nische: Feder schreibt Bücher, hält Vorträge, leitet pflanzenkundliche Exkursionen. Dank seiner Begeisterungsfähigkeit fürs Abseitige, seinem breiten botanischen Wissen und der kantig-kauzigen Art, mit der er es vermittelt, zählt Jürgen Feder zu den bekanntesten Botanikern Deutschlands. Die Liebe zur Pflanzenwelt verdankt Jürgen Feder seinem Vater, der wiederum viel von der schlesischen Großmutter gelernt hat, die noch Kräuter sammelte und mit der Sense umgehen konnte: Das viel zitierte Sprichwort vom Apfel und vom Stamm erscheint hier ausnahmsweise passend. Sein Vater, selbst Gartenbauingenieur, habe ihm schon im Alter von zehn Jahren die unterschiedlichen Getreidearten beigebracht, so Feder. „Ich kannte alle Gehölze, ich hatte ein Gemüsebeet. Die Weiße Lichtnelke kannte ich schon mit zwölf. Beim Schulausflug habe ich unserem Biolehrer immer erzählt, was wir gesehen haben. Der hatte null Ahnung. Katastrophe!“ Feder spricht schnell, ohne Pause, trotz seiner knapp 60 Jahre mit geradezu jungenhafter Begeisterung – aber für Menschen, die ihrem Beruf nicht gewachsen sind, das wird umgehend klar, hat er keine Geduld. Er wolle einfach immer wissen, was er eigentlich sehe, die Welt um ihn benennen – das sei schon als Kind so gewesen. Ein Schlüsselerlebnis: Nach der Schule kam er zur Bundeswehr, „da haben wir auf Trockenrasen unsere Übungen gemacht, sind mit der Gasmaske über den Boden gerobbt“, er deutet die Szene pantomimisch an, blickt nach unten, reißt erstaunt die Augen auf. „Da habe ich gesagt: Was ist hier denn los?! Tolle Primeln! Tolle Schachtelhalme! Ein Gewöhnliches Windröschen! Ich werd’ verrückt!“ Nach dem Manöver, als seine Kameraden in die Kantine gingen, sei er daher erst mal los und habe ein Buch über das niedersächsische Bergland gekauft. „Gasmaske ab, geduscht, und dann habe ich geforscht.“ Natürlich nicht nur auf eigene Faust: Nach dem Bund machte Feder eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner, Philosophie Magazin Nr. 05 / 2020

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Leben / Lösungswege

Welchen Sinn hat Angst? Angst ist ein Gefühl erhöhter Fluchtbereitschaft – entgegen der Furcht jedoch ohne konkrete Gefahr. Wieso ängstigen wir uns? Drei Antworten Von Julia Werthmann / Fotos von Lukasz Wierzbowski

„Keinen, daher sollten wir gelassen bleiben“

Epikur

(341–271 v. Chr.)

Der Quell der Angst sitzt für den antiken Philosophen wesentlich in der Unergründlichkeit des Todes. Jedoch, so wirft er ein: „Solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr.“ Was geht er uns also an? Genau: nichts. Daher kann man diese Angst getrost, gleich einem meditativen Fluss, an seinem Geist vorbeiziehen lassen. Erst einmal befreit, eröffnet sich uns dann der Weg in Richtung Glück (eudaimonía). Also: Immer schön gelassen bleiben.

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„Sie ist ein Sprungbrett in die Freiheit“

Søren Kierkegaard (1813–1855)

Ausgangspunkt der menschlichen Angst ist für den religiös geprägten, dänischen Philosophen der Sündenfall. Im Paradies träumen Adam und Eva noch. Doch fallen sie aus der Unwissenheit, indem sie von der Frucht der Erkenntnis kosten – und finden sich vom Nichts umgeben wieder. „Welche Wirkung aber hat Nichts?“, fragt Kierkegaard. „Es gebiert Angst.“ Das Nichts ist Freiheit. Als ein für Entscheidungen offener Horizont provoziert es tiefe Unsicherheit. Das Individuum ist aufgefordert, sich im Taumel der Freiheit selbst zu entwerfen. Eine ebenso anziehende wie abstoßende Aufgabe.

„Angst zeigt einen Konflikt zwischen Gewissen und Trieben an“

Sigmund Freud

(1856–1939)

Kinder verinnerlichen Normen als Gewissen. Sie haben sozusagen Miniatureltern im Kopf. Aus Angst vor diesen verdrängen sie ihre Triebe. Sie lernen, bestenfalls, über Konflikte zu kommunizieren, anstatt dem Gegenüber an die Kehle zu springen. Allerdings geben die Triebe sich nicht einfach geschlagen: Sie drängen an die Oberfläche. Eine Unbere-

chenbarkeit, die das Subjekt wiederum ängstigt. Die Angst kommt somit, wenn man so will, von oben (Gewissen) und unten (Triebe) gleichzeitig. Angst ist nach Freud demnach ein Zeichen dafür, dass das Ich von zwei Seiten ins Kreuzfeuer gerät. Um dieses Kreuzfeuer zu entziffern, legen sich noch heute unzählige Menschen auf die berühmte Couch.

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Leben /   / Gespräch

„Familie ist kein Naturereignis“ Welche Technologien dürfen wir nutzen auf dem Weg zum Wunschkind? Sollte Leihmutterschaft erlaubt sein? Barbara Bleisch und Andrea Büchler erörtern die ethischen und rechtlichen Herausforderungen der Reproduktionsmedizin – und sprechen sich klar gegen Verbote aus Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler

Andrea Büchler ist Professorin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Sie forscht und lehrt zu Familien- und Medizinrecht, zudem ist sie Präsidentin der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin der Schweiz

Barbara Bleisch ist Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich und moderiert die „Sternstunde Philosophie“ beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF Bleischs und Büchlers Buch „Kinder wollen. Über Autonomie und Verantwortung“ ist soeben bei Hanser erschienen

Philosophie Magazin: Frau Bleisch, Frau Büchler, warum wollen die meisten Menschen eigentlich Kinder?

Andrea Büchler: Unbedingt. In diesem Vorurteil zeigt sich die Wirkmacht eines bürgerlichen, patriarchalen Familienideals, das es als weibliche Bestimmung ansieht, Kinder zu gebären. Frauen werden auch heute noch viel häufiger als Männer gefragt, ob sie Kinder wollen oder haben. Haben sie keine, werden sie bedauert. PM: Die globale Überbevölkerung ist ein entscheidender Grund für die ökologische Krise. Ist es vor diesem Hintergrund nicht fragwürdig, gar verantwortungslos, dass die Reproduktionsmedizin die Anzahl der Geburten zusätzlich in die Höhe treibt? Bleisch: Ob wir aufgrund der Klimakrise auf unsere reproduktive Freiheit verzichten sollten, ist strittig. Einige Philosophen wie Sarah Conly oder Travis Rieder plädieren dafür, aus ökologischen Gründen nur noch maximal zwei Kinder zu haben. Den totalen Kinderverzicht zu fordern, schiene selbst ihnen ein zu großes Opfer angesichts der zentralen Bedeutung, die die Gründung einer eigenen Familie für viele besitzt. PM: Reicht das als Argument?

Barbara Bleisch: Genau sagen können das die wenigsten. Könnten sie es, erschiene uns dies sogar eigenartig, als würden wir unseren Kindern eine bestimmte Funktion in unserem Leben zuweisen. PM: Keine Kinder zu wollen oder zu haben, ist immer noch mit einer Art Makel belegt, vor allem kinderlose Frauen nimmt man oft nicht für voll. Höchste Zeit, dieses Vorurteil abzuschaffen? 38

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Bleisch: Man kann auch grundsätzlich in Zweifel ziehen, ob Kinder auf ihren CO2 -Ausstoß reduziert werden sollten. Kinder bringen ja auch viel Gutes in die Welt – nicht zuletzt die Hoffnung, dass kommende Generationen vieles besser machen werden. PM: Vor Erfindung der Pränataldiagnostik Ende der 1950er-Jahre war eine Frau „guter Hoffnung“, wenn sie


entzogen waren, könnten angesichts der neuen Möglichkeiten rechtfertigungspflichtig werden: Warum habt ihr diesen Test gemacht und jenen nicht? Das Mehr an Kontrolle geht einher mit einer Explosion an Verantwortung. Insofern ist die neue Freiheit durchaus janusköpfig. PM: Reproduktive Verfahren wie Leihmutterschaft oder Eizellspende sind sehr umstritten, weil sie tief in den weiblichen Körper eingreifen, oft auch mit Ausbeutung verbunden sind. Dennoch halten Sie es für falsch, solche Praktiken per se zu verbieten. Warum?

Foto: Christopher Anderson/Magnum Photos/Agentur Focus; Autorinnenfotos: Ayse Yavas; Mirjam Kluka

Büchler: Zweifelsohne gehören diese reproduktiven Verfahren zu den herausforderndsten überhaupt. Frauen setzen ihren Körper in intimster Weise ein, um anderen zum ersehnten Kind zu verhelfen. Hormonstimulation und Eizellentnahme sind mit gesundheitlichen Risiken verbunden. Eine Schwangerschaft ist körperlich wie psychisch ein Ausnahmezustand. Doch was berechtigt zur Annahme, Frauen seien unter keinen Umständen in der Lage, selbstbestimmt in solche Verfahren einzuwilligen?

schwanger wurde. Heute gerät sie in ein System aus Voruntersuchungen, oft verbunden mit schweren Entscheidungen. Ist das Fortschritt – oder Überforderung? Bleisch: Mehr Freiheit bedeutet immer ein Mehr an Verantwortung. Büchler: Erst einmal ist das ein Fortschritt. Die pränatale Vorsorge hat wesentlich dazu beigetragen, die Mütter- und Kindersterblichkeit zu senken und Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt abzuwenden. Seit wenigen Jahrzehnten ist die genetische Diagnostik fester Bestandteil der Betreuung von schwangeren Frauen. Damit können Fehlbildungen des Fötus festgestellt werden, für die es keine Therapien gibt. Die Tests werden häufig zur Beruhigung in Anspruch genommen, dass schon alles „in Ordnung“ sei. Sie können aber Befunde zutage fördern, die in große Entscheidungsnöte führen. Bleisch: Dinge, die bis vor kurzem als naturgegeben vorausgesetzt wurden und unserer Gestaltungsmacht

Bleisch: Es ist überdies philosophisch strittig, worin eine Ausbeutung besteht: Geht es um unfaire Tauschverhältnisse? Falls ja, machen sich diese am Verfahren fest, also etwa daran, dass die Frauen nicht adäquat informiert wurden oder keine alternativen Erwerbsmöglichkeiten hatten? Oder am ungerechten Resultat, also an der Entschädigung, die die Frauen erhalten? Wir versuchen im Buch, genau aufzudröseln, worin eine Ausbeutung in diesem Kontext bestehen könnte, und kommen zu dem Schluss, dass unter eng gefassten Bedingungen entsprechende Verfahren denkbar sind, gegen die moralisch nichts einzuwenden wäre. PM: Generell plädieren Sie dafür, mit rechtlichen Interventionen sehr zurückhaltend zu sein, selbst wenn bestimmte Praktiken moralisch nicht unbedingt wünschenswert sind. Wie rechtfertigen Sie das? Büchler: Die Zurückhaltung, von der Sie sprechen, bezieht sich lediglich auf Verbote. Natürlich bedürfen Verfahren der Fortpflanzungsmedizin der rechtlichen Regulierung: zur Gewährleistung selbstbestimmter Entscheidungen, zum Schutz der Gesundheit und körperlichen Integrität der Frau und zum Schutz des Rechts des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung. Verbote hingegen sind selten zielführend. Zudem lässt sich ein derartig weitgehender Eingriff in die menschenrechtlich und grundrechtlich verfasste reproduktive Autonomie, das heißt in die Autonomie, selbst über die reproduktiven Angelegenheiten zu entscheiden, nicht leicht rechtfertigen. Philosophie Magazin Nr. 05 / 2020

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Dossier

Ins Offene – Wie lebe ich mit der Ungewissheit? 48

Intro

Die Verantwortung der Freiheit Von Nils Markwardt 50

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Weg 1: Stell dich der Kontingenz „Wir sollten die Illusion der Gewissheit verlernen“ Gespräch mit dem Risikoforscher Gerd Gigerenzer

Weg 2: Konzentrier dich aufs Wesentliche

Foto: Ryan McGinley, Falling (Light Leak), 2013

58 Mein Halt

Nichts ist sicher, nichts vorhersehbar. In der Coronakrise spitzt sich eine Ungewissheit zu, die fundamental für unser Leben ist. Wie umgehen mit dieser Schwebe?

Drei Menschen erzählen von ihrem Umgang mit Ungewissheit Reportage von Svenja Flaßpöhler 62

Weg 3: Setz dich aufs Spiel

64 Verliebt euch!

Essay von Theresa Schouwink

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Dossier

Ungewissheit

„Wir sollten die Illusion der Gewissheit verlernen“ Wie können wir uns in einer unsicheren Gegenwart richtig entscheiden? Der Psychologe und Risikoforscher Gerd Gigerenzer über gelingende Kontingenzbewältigung und die Kraft der Intuition Das Gespräch führte Dominik Erhard

Philosophie Magazin: Herr Gigerenzer, seit Jahrzehnten forschen Sie zu der Frage, wie Menschen mit Ungewissheit umgehen. Wie erleben Sie vor diesem Hintergrund die aktuelle Situation? Gerd Gigerenzer: Die Pandemie hat gezeigt, wie schwer es ist, Risiken einzuschätzen. Der britische Premierminister schüttelte so lange Hände, bis er mit Covid-19 auf der Intensivstation lag, der Präsident von Weißrussland empfahl, das Virus mit Wodka zu ertränken, und der amerikanische Präsident … Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die vor Angst nicht schlafen können und den ganzen Tag vor dem Computer sitzen, um Corona-Meldungen zu verfolgen, mit der Hand auf dem Telefon bei gedrückter 112. Statt Risikokompetenz herrschen vielerorts Leichtfertigkeit, Angst und Verunsicherung. Aber sind das angesichts einer Pandemie nicht nachvollziehbare und sogar wichtige Reaktionen? Angst ist überlebenswichtig. Doch ist es nötig, den Gegenstand seiner Angst zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren. Denn oft fürchten wir uns vor etwas, das eine relativ kleine Gefahr 52

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reduziert, zum Teil fast halbiert. Fehlende Risikokompetenz kann tödlich sein. Gerd Gigerenzer ist Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er trainiert Manager, amerikanische Bundesrichter und deutsche Ärzte im Umgang mit Risiken. Sein Buch „Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition“ (Goldmann, 2007) machte ihn international bekannt. Zuletzt erschien von ihm „Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ (C. Bertelsmann, 2013)

darstellt, wobei wir gleichzeitig in Situationen leichtsinnig verfahren, die tatsächlich größerer Vorsicht bedürften. Ein aktuelles Beispiel dafür sind Herzkranke, die aus Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 trotz akuter Beschwerden nicht oder zu spät ins Krankenhaus gehen. Sie riskieren es, aus Angst vor dem Virus zu sterben. Seit dem Beginn der Coronakrise in Deutschland hat sich die Anzahl der Patienten, die mit schweren Herzproblemen ins Krankenhaus kommen, deutlich

Was können wir dagegen tun? Wir sollten bei der Bildung ansetzen und Kinder bereits in jungen Jahren nicht nur die Mathematik der Gewissheit lehren, also Geometrie und Algebra, sondern ihnen auch die Mathematik der Ungewissheit, also statistisches Denken beibringen. Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen, dem Unterschied zwischen dem relativen und dem absoluten Risiko. Im Jahr 1995 wurden Frauen in England durch Pressemitteilungen aufgeschreckt, in denen zu lesen war, dass laut dem britischen Komitee für Arzneimittelsicherheit Antibabypillen der dritten Generation das Risiko einer lebensbedrohlichen Thrombose verdoppeln würden – also um 100 Prozent erhöhen. Das klingt erschreckend. Nicht wahr? Aufgrund dieser Meldung setzten viele Frauen die Pille ab, was zu ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen führte. Wie viel ist 100 Prozent? Die tatsächliche Studie besagte, dass von je 7000 Frauen, die die Pille der älteren, also zweiten Generation nahmen, eine Frau an Thrombose erkrankte.


Foto: Bruce Gilden/Magnum Photos/Agentur Focus; Autorenfoto: privat

Unter den Frauen, welche die Pille der neuen Generation nahmen, waren es zwei. Der absolute Risikoanstieg war also 1 bei 7000 Frauen, der relative aber 100 Prozent. Absolute Risiken sind leicht verständlich, mit relativen Risiken kann man Angst und Aufmerksamkeit erzeugen. Das Ergebnis waren geschätzte 13 000 Abtreibungen mehr als normal.

„Bei einer Pandemie hat man es mit einer Situation von Ungewissheit zu tun, nicht mit berechenbaren Risiken“

Zu Beginn des Corona-Ausbruchs verglichen Sie die Krankheit mehrfach mit dem H1N1-Virus, besser bekannt als „Schweinegrippe“. Stehen Sie heute noch zu diesem Vergleich? Ich hatte anfangs gehofft, dass es uns nicht schlimmer ergehen wird als bei der Schweinegrippe-Pandemie. In Deutschland zählte man etwa 250 Tote durch die Schweinegrippe, weltweit, schätzt man, einige Hunderttausende. Doch Covid-19 hat in Deutschland wesentlich mehr Menschenleben gekostet als die Schweinegrippe und auch als SARS. Und sie trifft ältere Menschen. Bei einer Pandemie weiß man erst im Nachhinein, ob man überreagiert oder unterreagiert hat. Der Grund ist, dass man es mit einer Situation von Ungewissheit zu tun hat, nicht mit einer Situation von berechenbaren Risiken. Auch Zahlen wie die Philosophie Magazin Nr. 05 / 2020

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Dossier

Ungewissheit

Mein Halt Wie lassen sie sich erkennen, die wahren Säulen unseres Seins, auf die wir uns gerade in unsicheren Zeiten stützen können – und durch die wir die Zuversicht nicht verlieren? Drei Menschen erzählen von ihren Erfahrungen auch jenseits der Coronakrise. Eine Reportage von Svenja Flaßpöhler

„Inneres Gewackel“. Mit diesen zwei Worten beschreibt Marianne Faust ihren gegenwärtigen Seelenzustand. Die 73-Jährige lehrt Deutsch als Fremdsprache an der Volkshochschule in Ratingen. Von ihrer Rente allein kann sie nicht leben, doch aufgrund der Coronakrise wurden alle Kurse gestrichen. Und ja, das Virus mache ihr auch gesundheitlich Angst. Ihre Tochter und ihre Enkelin, zu denen sie ein sehr inniges Verhältnis hat, sieht Marianne Faust derzeit aus Vorsicht nicht. Immerhin sei sie nicht mehr jung, und es habe Vorerkrankungen gegeben. „Die Todesahnung damals hat mich sehr sensibel gemacht für körperliche Veränderungen.“ Seither geht Marianne Faust „sehr vorsichtig mit sich um“, wie sie sagt – und fügt nach einer 58

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kleinen Pause hinzu: „Im Grunde ist Unsicherheit ein Stück weit mein Lebensthema.“ Große Entscheidungen zu treffen, falle ihr grundsätzlich eher schwer, zudem habe die Trennung von ihrem Mann zu ihrer tiefen Verunsicherung beigetragen. Was sie gegen ihr inneres Wackeln unternehme? Nun, sagt Marianne Faust, sie sei ein Ritualmensch. Brauche einen klar strukturierten Tagesablauf, beruhigende Wiederholungen wie zum Beispiel regelmäßiges Laufen. Und Musik. Vor allem Bach. „Routinen sind in der Tat ein sehr starkes Rüstzeug“, so kommentiert Christina Berndt diese Strategie. Berndt ist promovierte Biochemikerin, Journalistin und Autorin des Buches „Resilienz“. Resilienz bedeutet: Innere Widerstandsfähigkeit. Psychische Im-


„Ich widme mich den Dingen nun um ihrer selbst willen“

Foto: Daniel Chatard

– Marianne Faust

munität. „Wenn das Leben aus den Fugen gerät, das Neue mit Wucht über uns kommt, ist es wichtig, sich klare Abläufe zu schaffen, Haltepunkte, die durch den Tag führen“, sagt Berndt. Und vielleicht, ergänzt sie, sind es auch gerade die früheren Erschütterungen, die Marianne Faust jetzt helfen: „Zum psychischen Rüstzeug gehört wesentlich, dass man sich auf seine Stärken besinnt und sich zum Beispiel klarmacht, was man schon alles im Leben überstanden hat.“ Eine Krankheit etwa. Oder eine Trennung. Doch Marianne Faust hat während der Coronakrise auch eine ganz neue Seite an sich selbst entdeckt. Eine Art Verhaltensänderung, die sie „von innen funkeln lässt“. Früher seien Spaziergänge oder Sport eher „Programmpunkte“ in ihrem Le-

ben gewesen. Dinge, die man abhakt, die der Gesundheit dienen und aufgrund des vollen Kalenders schnell erledigt sein müssen. Da sie aber nun viel Zeit habe, unternehme sie täglich Ausflüge in die Natur, genieße die Farben, die Gerüche. „Ich widme mich den Dingen um ihrer selbst willen. Auch Musik höre ich gerade noch einmal anders. Intensiver.“ Für den Philosophen Gernot Böhme zeigt sich hier eine wesentliche Unterscheidung, die auf Aristoteles zurückgeht: Nämlich zwischen Poiesis und Praxis. „Unter Poiesis verstand Aristoteles menschliches Handeln, das sich erfüllt durch das, was dabei rauskommt. Praxis hingegen meint ein Tun, das seinen Zweck in sich selbst hat.“ Gernot Böhme lässt keinen Zweifel daran, dass für ihn die Praxis die eigentlich menschengemäße Tätigkeit ist, die allerdings in unserer zweckrationalen Welt viel zu kurz kommt: „Selbst aus einem Spaziergang soll noch ein Resultat herauskommen.“ Dieser Instrumentalismus sei, so Böhme, Teil unseres zivilisatorischen Begehrens nach Gewissheit. Einfach gehen, die Fantasie treiben lassen, noch nicht wissen, wo man hinwill? „Unser Leben ist doch ein abgekartetes Spiel“, sagt der Darmstädter Phänomenologe, der sich in seinen Büchern intensiv mit den entfremdenden Dynamiken des Kapitalismus und dem menschlichen Leibsein beschäftigt. „Wir sind auf Effektivität, Pünktlichkeit, Funktionalität, Lebensplanung dressiert. Das sind alles Abwehrreaktionen gegen das Pathische. Gegen das, was uns zustößt.“ Offenheit: Für Jochen Müller ist dieses Wort eine Verheißung. „Schauen Sie mal hier“, sagt der 43-Jährige und zeigt während eines gemeinsamen Spaziergangs durch den Berliner Leise-Park auf seine Schienbeine: „Die ganzen Macken habe ich mir in meiner Kindheit zugezogen. Ist mir doch egal, was hinter der Mauer ist, ich spring da runter!“ Auch beruflich bewege er sich „auf dem Terrain des Ungewissen“, immerhin sei er Wissenschaftler. Promovierter Biologe. Seine Stelle an der Berliner Charité, wo er an bildgebenden Verfahren für Schlaganfallpatienten geforscht hat, habe er jedoch vor einigen Jahren aufgegeben. „70 Stunden die Woche arbeiten, dazu ständig den Spruch im Nacken: ‚China schläft nicht‘, das habe ich irgendwann nicht mehr ausgehalten.“ Anstatt den Vertrag zu verlängern, begab sich Jochen Müller gemeinsam mit einem Freund für 15 Monate Philosophie Magazin Nr. 05 / 2020

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Klassiker / Dossier

Klassiker Große Ideen verstehen

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Hegel und der Fortschritt Mit einem Essay von Peter Neumann

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Was ist Neuplatonismus? Ein Überblick

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Zum Mitnehmen

Spinozas „Ethik“ / Der indische Religionsphilosoph Sarvepalli Radhakrishnan / Alkibiades über Alkoholgenuss 78

Menschliches, Allzumenschliches Comic von Catherine Meurisse

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Foto: Granger/Bridgeman Images; Dave King; Bildcollage: Madlen Holz Foto: akg-images (2)


Klassiker / Dossier

Hegel und der Fortschritt Für Hegel, der gerade 250. Geburtstag feiert, schritt die Geschichte unaufhaltsam ihrem Idealzustand entgegen. Die These wurde kritisiert, aktualisiert und erneut revidiert. Seit Beginn der Corona-Zeitrechnung scheint es, als könne das „Ende der Geschichte“ nur eines mit Schrecken sein. Oder drückt der fortschrittsbesessene Weltgeist noch mal ein Auge zu?

Kein Gefühl drängt sich derzeit so auf wie das, in einer epochalen Zeitenwende zu leben. Dass nichts mehr so sein werde wie vorher, ist ein oft gehörter Satz in diesen Tagen. Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah sich damals, am Vorabend der Französischen Revolution, vor dem Anbruch eines neuen Zeitalters stehen. Wie Traumbilder fielen die bisherigen Vorstellungen in sich zusammen, die Bande der Welt waren aufgelöst. Während für Hegel jedoch feststand, dass die Geschichte, so verworren sie manchmal sein mag, am Leitfaden der Freiheit voranschreitet, weiß heute schon keiner mehr, wie die Welt am Ende des Tages, geschweige denn in einem Jahr aussehen wird. Die Frage, wohin die Geschichte steuert, wenn sie überhaupt einem Ziel folgt, ist inmitten der Coronakrise so umstritten wie nie. Hegels Philosophie der Geschichte steht wie die gesamte Geschichtsphilosophie unter einem schlechten Stern. Von den frühesten Geschichtsschreibern an hat die denkende Betrachtung der Geschichte für Irritationen gesorgt: Philosophie und Geschichte, das konnten nur Gegensätze sein, wie schon an Herodots „Historien“ und Thukydides’ „Geschichte des Peloponnesischen Kriegs“ zu studieren war. Es gab das Tatsachen- und Prinzipienwissen und es war klar, auf 68

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Peter Neumann ist Schriftsteller, Publizist und lehrt Philosophie an der Universität Oldenburg mit dem Schwerpunkt Deutscher Idealismus. 2018 erschien sein Buch „Jena 1800“ (Siedler)

welche Seite die Geschichte gehörte: Während sich die Philosophie mit Logik und Argumenten herumschlagen musste, jedoch nie in Verlegenheit kam, sich die Hände schmutzig zu machen, hatte es die Geschichte mit dem Unvorhersehbaren, Inkalkulablen zu tun, das aus heiterem Himmel über uns hereinbrach. Hegel konnte ein solcher aus der Luft gegriffener Gegensatz nicht überzeugen – und er machte sich an die Arbeit, die Geschichte an und für sich zu begreifen. Er wollte sie erkennen mit allen ihren großen und kleinen Umbrüchen, mit all ihren Konflikten und ungelösten Widersprüchen, die sich am Ende aber doch nur als die Momente einer großen, alles umfassenden Bewegung des Weltgeists bestätigen sollten. Hegels philosophische Grundüberzeugung in seinen langjährigen an der Berliner Universität gehaltenen „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ ist, dass die Geschichte, so viele Um- und Irrwege sie mitunter einschlägt, von Vernunft beherrscht wird. Vernunft und Geschichte bedingen sich als Momente der Freiheit gegenseitig. Das ist die große Idee, mit der Hegel das Denken um 1800 revolutioniert: Die Vernunft kaut nicht bloß auf ihren eigenen Gedanken herum. Sie geht aus sich heraus und sucht ihre eigene, noch unverwirklichte Freiheit in der

Foto: akg-images; Autorenfoto: Dirk Skiba

Von Peter Neumann


Steckbrief: Hegel Hauptberuf Georg Wilhelm Friedrich Hegel bildet gemeinsam mit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) die Dreifaltigkeit des Deutschen Idealismus. Als wichtigster und bis heute lebhaft rezipierter Vertreter amtiert Hegel quasi als Gottvater. Sein Werk ist einer der letzten großen Systementwürfe der europäischen Denktradition. Hegel gilt wahlweise als Denker der Restauration, als Wegbereiter der Weltrevolution, als Kritiker und Apologet der Religion oder als Philosoph der Freiheit.

Nebentätigkeit Spätzünder unter den philosophischen Wunderkindern des 19. Jahrhunderts. Hegels ehemaliger Kommilitone Schelling hatte mit 23 eine Professur inne und galt offiziell als Genie. Hegel hingegen veröffentlichte sein erstes wichtiges Werk im reifen Alter von 37 Jahren. Bevor er 1818 eine Professur in Berlin antrat und endlich berühmt wurde, verdingte er sich als Erzieher, Journalist, Gymnasialdirektor und unehelicher Vater des Kindes seiner Haushälterin.

Leben 1770 Geburt am 27. August in Stuttgart 1806 Am 13. Oktober sieht Hegel Napoleon, die „Weltseele zu Pferde“, in Jena 1807 Die „Phänomenologie des Geistes“ erscheint 1818 Professur in Berlin 1820 Veröffentlichung von „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ 1831

„DIE WELTGESCHICHTE IST DER FORTSCHRITT IM BEWUSSTSEIN DER FREIHEIT“ – Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte

Tod am 14. November in Berlin

Freunde

Karl Marx (1818–1883): Ökonom, Übervater des Kommunismus, erster und maßgeblicher Linkshegelianer Carl Schmitt (1888–1985): Staatsrechtler, Politischer Philosoph, „Kronjurist des Dritten Reiches“, Rechtshegelianer Francis Fukuyama (*1952): US-Politikwissenschaftler, verkündete 1992 das Ende der Geschichte, denkt inzwischen über Identitätspolitik nach, Hegel-Querfront

„Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ – Grundlinien der Philosophie des Rechts

Feinde Unter allen Schmähungen, die Hegel von Zeitgenossen und Nachwelt ertragen musste, gehören diejenigen Arthur Schopenhauers (1788–1860) zu den glühendsten: „Die größte Frechheit im Auftischen baren Unsinns, im Zusammenschmieren sinnleerer, rasender Wortgeflechte, wie man sie bis dahin nur in Tollhäusern vernommen hatte, trat endlich im (sic) Hegel auf und wurde das Werkzeug der plumpsten allgemeinen Mystifikation, die je gewesen, mit einem Erfolg, welcher der Nachwelt fabelhaft erscheinen und ein Denkmal Deutscher Niaiserie bleiben wird.“

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