Imperium

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Imperium Exil in der Südsee 2009 Das Meer, seine endlose, stille Weite. Wie viele sind schon darin verloren gegangen, ob sie es wollten oder nicht. Es ist das Ende jeder Zivilisation. Seine tiefsten und entferntesten Punkte sind keine Orte mehr, sie entziehen sich jeder Kontrolle. Weiter kann sich ein Mensch nicht entfernen von der Gesellschaft, niemand hat hier etwas verloren. Dennoch sehnen wir uns hierher, wenn wir aus unserer gewohnten Umgebung fliehen wollen, an diese unbestimmbaren Punkte auf leeren Seekarten, an denen sich niemals etwas ändert, an denen andere Gesetze herrschen. An denen wir nichts zählen, auch das. Wir erkennen hier, wenn überhaupt irgendwo, daß die Umstände, in denen wir leben, vergänglich sind, daß sich durch uns nichts ändert. Wir wollen das zuerst nicht einsehen, bis wir merken, wie beruhigend diese Erkenntnis ist: Daß wir nur uns selber etwas bedeuten können und den Menschen die uns wichtig sind.




Nissan, eine unbewohnte Inselgruppe, zweihundert Kilometer entfernt vom Bismarck-Archipel, dem ehemaligen deutschen Schutzgebiet in Papua-Neuguinea. Hier gibt es nichts außer Kokospalmen, Orchideen und Sandbänken mit Fischschwärmen, seit dem zweiten Weltkrieg hat niemand für diesen verlassenen Flecken eine Verwendung gehabt. Für eine neue Gesellschaft von Zivilisationsflüchtlingen könnte es keinen passenderen Schauplatz geben. Die sandige Insel, immer von Unwettern bedroht, kommt als dauernde Bleibe aber nicht infrage. Zu schwerwiegend wäre der Eingriff in die natürliche Umgebung. Es entsteht eine künstliche Insel, auf der die Exilanten vor den Einflüssen der Natur geschützt leben können, ohne mehr als nötig in diese einzugreifen. Die vorgelagerten tropischen Eilande werden zu Orten der Erholung und des Nahrungserwerbs, werden aber ansonsten nicht angetastet. Mittelpunkt der neuen Gesellschaft ist die gebaute Insel, die jedem Bewohner eine standardisierte, geschützte Unterkunft und eine zum Leben notwendige Infrastrutur bietet. Jeder, der aufgrund veränderter Einstellungen, wegen unerträglicher Lebensumstände oder auch wegen drohender Strafverfolgung seine gewohnte Umgebung verlassen möchte ist hier willkommen. Niemand wird jemals nach seiner Vergangenheit fragen. Die Insel ist als Versuchsobjekt einer Vielzahl beteiligter Nationen konzipiert, die damit ihren Bürgern einen Ort schaffen, an den sie sich aus persönlichen und schwerwiegenden Gründen aus der Gesellschaft zurückziehen können - ein heterotopischer, also ein Anderer Ort, keine paradiesische, von allen Sorgen freie Utopie. Damit verbunden ist der Verzicht auf jede weitere potentielle Strafverfolgung der Exilanten, die hier, fernab der Heimat und unter der sozialen Kontrolle der neuen Gemeinschaft keine Gefahr mehr für ihre Mitmenschen darstellen, sofern sie aufgrund einer falschen Entscheidung in ihrem Leben ihr Land verlassen. Die Gesellschaft, die hier neu entsteht ist international und vielsprachig, geprägt von den unterschiedlichsten Erfahrungen. Sie liefert den Ausgewanderten neue Impulse und Anregungen, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben - und an einem erst zu errichtenden Gemeinwesen mitzuwirken.




Eine Prüfung der Motive, hierher zu ziehen findet mit Absicht nicht statt. Für jeden Bewohner, der hier nach einer letzten Schiffsreise eintrifft, ist es daher der letzte Ort, an dem er leben wird, es wird für niemanden ein Leben danach geben. Die weite Entfernung von besiedeltem Land und die unüberwindbare See verhindern jede Rückkehr. Nur in medizinischen Notfällen darf ein Rettungshubschrauber auf der dafür vorgesehenen Plattform landen. Die Bewohner ernähren sich durch Fischfang, von eigenen Anbauprodukten aus den höher gelegenen Bereichen der Inseln, sowie von natürlich wachsenden Früchten. Ihr Leben ist damit mit genügend Arbeit ausgefüllt, dem elementaren Lebenserwerb. Weitere notwendige Waren, etwa Medikamente, Werkzeuge, Schreibwaren und Bücher erhalten sie im Austausch gegen eigene Produkte bei den Handelsschiffen, die mehrmals im Jahr hier anlegen. Kraftstoffe benötigen sie nicht, da sie durch unter Wasser, zwischen den Pylonen angebrachte Rotoren aus der Meeresströmung elektrische Energie beziehen. Zur Gewährleistung höchster Stabilität gegen die Meeresströmung ist die Konstruktion dreieckig angelegt. Zugleich spiegelt diese richtungslose Form die freie, beziehungslose Stellung des Gebäudes inmitten der leeren Weite des Meeres wieder. Nach dem Vorbild von fest verankerten Ölbohrinseln wird auf drei Fundamenten ein möglichst widerstandsfähiges, dauerhaftes Offshore-Bauwerk errichtet. Unter Wasser als versenkte Betonhohlkörper, die Basis der drei Pylone, an der Oberfläche als leichtere Stahlkonstruktion. Die Segmente der Gittermasten werden gleich denen eines Turmkrans hydraulisch nach oben geschoben, an den fertigen Pylonen werden zuletzt die aussteifenden Träger, die Etagen mit den Wohn- und Gemeinschaftsräumen mittels wassergefüllter Gegengewichte emporgehoben. Die schwimmende Plattform im Zentrum, der Versammlungsplatz der neuen Gesellschaft, ist aus drei Stahlbetonhohlkörpern zusammengesetzt. Alle Teile werden auf Schiffen hergebracht oder schwimmend herangezogen.









Entlang einer inneren, geschützten Passage, den öffentlichen Straßen im Gebäude, sind an den Trägern die Wohneinheiten angebracht, aufgehängt an Schienen, in die sie nach Bedarf eingesetzt oder entfernt werden können. Wie die Gesamtkonstruktion, die durch Einfügen neuer Mastsegmente und Träger erweitert werden kann, können auch einzelne Wohnmodule entfernt oder ergänzt werden. Vor allem aber erleichtert diese flexible Konstruktion das Umziehen der Bewohner innerhalb der Anlage - eine in Anbetracht des engen Zusammenlebens mit vielen bis dahin unbekannten Menschen wichtige Option zur Vermeidung von sozialem Stress und Gewalt. Mittels eines Portalkranes auf der obersten Trägerebene kann jede Wohneinheit innerhalb eines Gebäudeflügels in kurzer Zeit an eine andere Stelle, in ein anderes, passenderes soziales Umfeld versetzt werden. Jede Trägerebene umfasst zwei Stockwerke, die durch innenliegende Treppenläufe verbunden sind. Ebenfalls in das schubladenartige Schienensystem eingeschoben sind die stählernen Wetterschutzklappen, die die Wohnmodule vor Unwettern und Stürmen der hohen See schützen. Aufgeklappt verwandeln sie sich in Balkone mit Sonnenschutz als private Freibereiche der Bewohner.





Das Umsetzen der Wohneinheiten erfolgt mittels einer Hubvorrichtung mit Gegengewicht, eine eher aufwendige Einrichtung, die sich aber durch die Vorteile der Mobilit채t f체r die Bewohner rechtfertigt.



Als vertikale Tragelemente dienen Stahlseile, die zwischen den Konsolen des Ober- und Unterzuges eines jeden Tr채gers gespannt sind, und diesen zugleich stabilisieren. Aus dem Seibahnbau 체bernommene Verankerungen befestigen die Schienen zur Aufnahme der Wohneinheiten und der Wetterschutzklappen an den durchlaufenden Seilen. Alle verwendeten Stahlprofile, Seile, Rollen und Verbindungsmittel sind standardisierte Bauteile, die sich leicht ersetzen lassen.




In jedem der drei Masten führen, neben den Spindeltreppen, Personen- und Lastenaufzüge zu den Etagen, außerdem zu der ganz oben befindlichen Kanzel mit Hubschrauberlandeplatz und Räumen für Veranstaltungen und Freizeit. Am oberen Ende der Masten verbleiben, für den Fall eines künftigen Abbaus, die Umlenkrollen zum Heben und Senken der wassergefüllten Gewichte, mit denen die Trägerebenen und die Turmkanzel an den Masten heraufgezogen wurden.


Die Wohneinheit bietet den Bewohnern und Bewohnerinnen ausreichend Fläche für den eigenen Haushalt, alleine oder mit einem Partner. Neben einem Wohnbereich, in dem auch Gäste empfangen werden können, verfügt er über einen eigenen Sanitärbereich mit Dusche, eine Küchenzone und einen zurückgezogeneren, vor Einblicken geschützten Schlafbereich. Nur der Wohn- und Eingangsbereich ist von der angrenzenden Passage einsehbar, an der Außenseite aber bietet der Raum ungehinderten Ausblick.





Zur Gewichtsersparnis ist die Wohneinheit in leichter, dennoch sehr widerstandsfähiger Bauweise zusammengesetzt. Imprägnierte Schichtholzplatten um einen dämmenden Kern aus Mineralwolle bilden ein einziges, quadratisches Wand-, Boden- und Deckenelement, das in eine Pfosten-Riegel-Konstruktion aus Brettschichtholz eingefügt ist. Diese ist zusätzlich an ihren Kanten durch Stahlprofile vor mechanischer Beschädigung geschützt. Die einfache, elementierte Konstruktion erlaubt die zerlegte Anlieferung und den selbstständigen Zusammenbau duch den künftigen Bewohner und seine neuen Nachbarn.



Imperium Konstruktiver Entwurf Sommersemester 2008 Lehrstuhl f체r Konstruktives Entwerfen Prof. Mirko Baum Fakult채t f체r Architektur RWTH Aachen




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