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Experten-Talk
Biomechanische Belastung der Schulter im Profi-Tennis
Foto: Julian Schiemann / Unsplash
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mit Dr. Boris Ulrich
Koordinierender Trainingswissenschaftler am Olympiastützpunkt Niedersachsen

In dieser Rubrik sprechen wir mit Experten aus Grenzgebieten der Orthopädie und Neurochirurgie, um den berühmten »Blick über den Tellerrand« beizubehalten.
Viele Erkenntnisse zur effektiven Prophylaxe von Verletzungen stammen aus dem Hochleistungssport. Auch die Konzepte für eine möglichst schnelle Rehabilitation von Patienten sind häufig im Leistungs- und Profisport etabliert worden.
Um unserem Namen treu zu bleiben, möchten wir solche Konzepte möglichst vielen Patienten zugänglich machen. Dies gelingt nur durch eine Kooperation mit anerkannten Experten in den jeweiligen Gebieten.
Sehr geehrter Herr Dr. Ullrich, wir freuen uns sehr, dass wir Sie als koordinierenden Trainingswissenschaftler des Olympiastützpunkts Niedersachsen für unseren Experten-Talk gewinnen konnten. Sie waren selbst lange Jahre im Leistungstennis aktiv und Ihr Sohn zählt zu den besten niedersächsischen Nachwuchstalenten im Tennis. Neben der praktischen Erfahrung sind Sie ein Experte für die biomechanische Analyse von Bewegungsabläufen u. a. von Tennisspielern.
Schultermuskulatur kompensiert werden (Fleising et al.,
Profi-Tennis-Spieler wie Tommy Haas hatten im Verlauf ihrer Karriere vielfach mit Problemen am Schultergelenk zu kämpfen (Anm.: Tommy Haas wurde bis zum Ende seiner Karriere viermal an der Schulter operiert). Welche biomechanischen Belastungen führen hier zu Problemen?
Hochleistungssportler in (repetitiven) Überkopfsportarten wie Volleyball, Badminton und Tennis zeigen sowohl anhand der sportmedizinischen Praxiserfahrung als auch in internationalen Studien (Stuelcken et al., 2008; Hurd et al., 2011) Prävalenzen von ca. 40 bis 50% für wiederkehrende Schmerzen im Schulterkomplex. Am Beispiel der Profi-Tennisspieler wurde errechnet, dass in mehrstündigen Matches bis zu 400 Aufschläge geschlagen werden können (Reid & Duffield, 2014). Biomechanisch vereinfacht ausgedrückt handelt es sich dabei um ein Bewegungsmuster mit hochexplosiver Humerus-Innenrotation bei ca. 90°-Abduktionsstellung der Schlagschulter (Mont et al., 1994; Martin et al., 2016). Dabei erfährt das Gleno-Humeralgelenk hohen repetitiven mecha-
Spielers ausreichend sind, um z.B. die erforderlichen Auf-
nischen Stress (Wilk et al., 2009).
Als eine zentrale Verletzungsursache werden hohe exzentrische Belastungen
schlagbewegung im Hochleistungsbereich funktioniert als fähigkeiten durch. Aus diesen Daten fertigen wir ein indivi-
in der Abbremsphase explosiver sportlicher Überkopfbewegungen wie dem Tennisaufschlag beschrieben.
Dieses repetitive exzentrische »Overloading« kann Mikrotraumen der Bindegewebsstrukturen verursachen und im weiteren Prozessverlauf ein chronisches Entzündungsbild mit Reduktion der muskulären Fähigkeiten der gelenksstabilisierenden Rotatoren-Manschette (Hurd et al., 2011). Wird hier den Alltagszwängen des Berufssports ohne eine mehrwöchige Belastungsreduktion und Therapiephase stattgegeben, entwickeln sich die oben angesprochenen chronischen Karriereverläufe (Kekelekis et al., 2020).
Welche Kennwerte ergeben sich bezüglich des Beschleunigungs- und Abbremsverhalten des Schlagarmes beim Tennisaufschlag?
Es sei darauf hingewiesen, dass die höchsten SchulterInnenrotations-Winkelgeschwindigkeiten nicht im Tennis, sondern bei Baseball-Pitchern auftreten: Hier werden in der Beschleunigungsphase der Wurfbewegung ca. et al., 2006). Obwohl der Tennisaufschlag zu den explosiven sportlichen Überkopfbewegungen zählt, werden hier im Vergleich »nur« Innenrotations-Geschwindigkeiten von ca. 2300bis2800°/s erzielt (Martin et al., 2016). Beim Tennisaufschlag müssen Geschwindigkeiten des Armes von über 100km/h innerhalb kürzester Zeit durch die Schultermuskulatur abgebremst werden Diese hohen Innenrotations-Geschwindigkeiten müssen in der Abbremsbewegung durch exzentrische Muskelkontraktion der posterioren 1994). Auch hier werden in der Fachliteratur »exzentrische Bremsbelastungen« in Regionen der Körpermasse des Sportlers genannt (Fleising et al., 1994). Durch das hohe repetitive Aufschlagvolumen in internationalen Turnierwochen ergibt sich ein enormes Gesamt-Belastungsvolumen bei gleichzeitig hoher mechanischer Reizdichte (d. h. viele Matches in wenigen Tagen).
Wie messen Sie, ob die muskulären Fähigkeiten eines schlagsgeschwindigkeiten im Profitennis zu erreichen?
Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich den Fokus etwas vom »reinen Schulterkomplex« hin zur »mehrsegmentalen biomechanischen Impulskette« wenden. Die Tennis-Aufeine fein-koordinierte Summation von Teilimpulsen, ausgehend von der unteren Extremität über die Rumpfmuskulatur bis zum Schulter-Arm-Schläger-Komplex. Basierend auf diesem Verständnis analysieren wir am Olympiastützpunkt Niedersachsen unter Nutzung isokinetischer Testgeräte (IsoMed 2000-Labor) die Kraftfähigkeiten der Beinextensionskette, der Rumpfmuskulatur (Extensoren, Flexoren und Rotatoren) sowie der Schulter-Innen- und Außenrotatoren. Zusätzlich führen wir Tests zur Bestimmung explosiver Kraft6500bis7200 °/s beschrieben (Fleising et al., 1994; Yildiz
duelles „Kraft- und Power-Profil“ sowohl unter Aspekten der Leistungsoptimierung als auch der Verletzungsprävention an.
Welche Möglichkeiten hat ein ambitionierter Hobby-Tennisspieler, der keinen Zugriff auf professionelle Analysemethoden hat, um seine Schulter auf diese Belastungen vorzubereiten?
Im ersten Schritt empfehle ich stets ein selbstkritisches Hinterfragen der persönlichen Trainingsgestaltung. Oftmals werden hohe Budgets für Material oder Saison-Vorbereitungswochen investiert, hingegen wird
sportphysiotherapeutische Expertise eher selten in Anspruch genommen. Gerade Hobby-Spieler/innen im mittleren oder höheren Lebensalter profitieren aber von einem fundierten Präventionsprogramm: Schmerzfrei macht der Tennissport einfach mehr Freude!
Bezüglich der Programmgestaltung empfehle ich, die Schulter nicht isoliert zu betrachten, sondern ein kombiniertes Rumpf- und Schulterprogramm zu erarbeiten.
Wichtige Aspekte sind hierbei eine gemeinsame funktionelle Kräftigung der Haupt-Rumpfmuskelgruppen, Schulterblattstabilisatoren und Rotatorenmanschette. Als Trainingsmittel sollten Therabänder in zwei bis drei Widerstandsstufen, Kleinhanteln im 1- bis 5-kg-Bereich sowie eine hochwertige Fitnessmatte zur Standard-Ausrüstung jedes Tennisspielers gehören. Mit zwei bis drei wöchentlichen Trainingseinheiten von jeweils 30 bis 45 Minuten kann schon eine Menge erreicht werden.
Gibt es Übungen, die unter biomechanischen Gesichtspunkten besonders wertvoll sind, um Verletzungen vorzubeugen?
Da im Tennissport explosive Schulter-Innenrotationen dominieren, würde ich unter präventiven Aspekten Übungen zur Kräftigung der Rotatorenmanschette favorisieren. Unsere Präventionsprogramme am OSP beinhalten dabei den klassischen Unterarmstütz bei variablen Arm- und Fußpositionen, den PNF-Bogen (Anm.: PNF = Priopriozeptive neuromuskuläre Facilitation) mit diagonalaufwärts gerichtetem Zugmuster am Seilzug oder Theraband, Schulter-Außenrotationen mit angelegtem Ellenbogen oder in 90°-Abduktionsstellung sowie auswärtskreisende Theraband-Zugmuster in Bauchlage auf dem Pezziball. Kombinationsübungen mit Theraband und Pezziball ermöglichen dabei für Fortgeschrittene eine gleichzeitige Ansteuerung von Schulter- und Rumpfmuskulatur.
In Ihrer Arbeit am Olympiastützpunkt sind Sie exklusiv für die Betreuung von Bundeskader-Athleten zuständig. Welche Sportarten betreuen Sie neben Tennis-Spielern und gibt es auch für Nicht-Kader-Sportler die Möglichkeit, Ihre Beratung in Anspruch zu nehmen?
Unsere Arbeit am OSP Niedersachsen ist durch ein großes Sportartenspektrum bestimmt: u. a. betreuen wir die Sportarten Leichtathletik, Rudern, Kanu-Rennsport, Turnen, Trampolinturnen, Schwimmen, Judo, Boxen, Rugby, Wasserball, Tennis, Tischtennis, Handball, Sportschießen sowie einige paralympische Disziplinen. Zur Strukturierung haben wir Mitarbeiter mit besonderer Expertise für bestimmte Sportarten im Team, dies erleichtert die Kommunikation mit Trainern und Athleten. Meine Stelle am OSP

ist eine sogenannte BMI-bundesmittelfinanzierte Position und somit auf die Arbeit mit Bundeskader-Athleten mit internationaler Wettkampfausrichtung fokussiert. Über unseren Kooperationspartner, das Sportmedizinische Zentrum der MHH im Sportleistungszentrum (SLZ), gibt es aber diagnostische Möglichkeiten und Beratungsangebote auch für Nicht-Kader-Sportler aller Altersklassen. Bei Interesse ist hier eine Kontaktaufnahme über das Sekretariat der Sportmedizin unter 0511/167474–70 möglich.
Für Außenstehende kommen sportliche Erfolge manchmal überraschend, für professionelle Betrachter kündigen sie sich aber häufig an. Daher an Sie als Kenner der Szene die Frage: Wann sehen wir den nächsten deutschen Wimbledon-Sieger?
Trotz aller Testdaten endet an dieser Stelle eindeutig meine Kompetenz. Ich arbeite jetzt seit über zwölf Jahren an Deutschen Olympiastützpunkten und weiß, wie schwierig valide Erfolgsprognosen im Spitzensport sind. Es gibt einfach zu viele Variablen wie internationale Konkurrenz, individuelle Weiterentwicklung des Athleten sowie Krankheiten und Verletzungen. Oftmals werden Sieg oder Niederlage auf Weltklasseniveau in Unterschiedsbereichen von 1 bis 5% entschieden. Gerade in kommerziellen Sportarten wie Tennis herrscht eine große globale Konkurrenzsituation. Ein systematischer Leistungsaufbau im Tennis-Nachwuchsbereich ist aber selbstverständlich möglich: Hier trainieren am Bundesstützpunkt Hannover einige aussichtsreiche Akteure. Es bleibt spannend, ihre Entwicklung über die kommenden zwei bis drei Jahre zu beobachten.