Objekte im Rückspiegel sind oft näher, als man denkt

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190/191 Todesfalle?“, Opel-Chefkonstrukteur Dr-Ing. E. h. Karl Stiefs kühne Antwort: „Ich glaube nicht, dass sich die Gurte allgemein einbürgern werden.

Wir haben den Versuch gemacht, sie über unseren Kundendienst anzubieten, aber es kam nicht viel dabei heraus. Ich habe unseren Kundendienst angewiesen, nun erneut eine Art Kampagne zu starten, um diese Gurte anzubieten. Die Animo­ sität gegen diese Gurte ist aber sehr groß. Jeder fühlt sich eingeengt, wenn er sich angeschnallt hat.“9

Sicherheit: Wenige Erfindungen haben nachweislich so viele Menschenleben gerettet wie die des VolvoIngenieurs Nils Bohlin.

Sukzessive folgen alle anderen Hersteller, 1967 wandert die Dreipunktbefes­tigung sogar in den VW ‚Sparkäfer’ 1200. Um jene Kritiker zum Schweigen zu bringen, nach denen der Gurt zu mehr Genick­ brüchen führt, kommen nicht viel später auch Kopfstützen in die Autos, zunächst nur vorne, später auch auf der Rückbank. Gleichzeitig steigt die Zahl der Unfalltoten jährlich, analog zur boomenden Autoproduktion. Eine gewisse Renitenz bleibt bis heute:

In meinem Auto entscheide ich, was gemacht wird. Unfall als möglicher Fall: Spiegel Titel 1957

Volvo begründet die serienmäßige Einführung des Anschnallgurts in sozial­ pädagogischem Duktus: Autos würden von Menschen gesteuert, darum legten sie besonderen Wert auf die ¦Sicherheit ihrer Fahrzeuge. Anders der Ton bei Porsche. Der Hersteller von kleinen Serien – tatsächlich Rennwagen für den Semi-Privatgebrauch, beispielsweise von Hollywoodstars – hat nicht erst seit James Deans Unfalltod 1955 Becken­ gurte in den Autos, ab 1956 Diagonalgurte, und bewirbt das auf der Frankfurter Automobilausstellung anstatt mit dem Stichwort „Sicherheit“ ganz sportlich: Man spricht von „Flugzeugbauart“, dem „Gurt zum Anschnallen“.

Noch 1972 tritt Rudolf Walter Leonhardt eine Lawine der Entrüstung los, als der Stellvertretende Chefredakteur der ZEIT in seiner „pro und contra“-Serie nach Rassentrennung, Pornografie, Todesstrafe, Literaturkritik das Für und Wider des Anschnallens behandelt10: „Die Rede ist nicht von Perversionen und nicht von Irrenhäusern. Sondern: der gleiche Mensch, der als Flugpassagier lässig bis gierig einer weiblichen Mikrophonstimme folgt, die ihn auffordert sich anzuschnallen, tut als Autofahrer nichts dergleichen. Braucht er eine weibliche Mikrophonstimme?“11 Er braucht, wie sich ab 1976 zeigt, die starke Stimme der Politik. Der Gurt wird Pflicht, zeitgleich mit einer Richtgeschwindigkeit von 130 km/h auf Autobahnen. Zehn Jahre später muss man sich auch auf den Rücksitzen anschnallen, sonst werden DM 40,– Bußgeld fällig.


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