Die Entführung aus dem Serail

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war indes eine Aporie. Insofern beschränkte man sich auf das Ersinnen von Stra­ tegien, wie man den Bruch zwischen Singen und Sprechen mildern könnte. Die Entwicklung solcher Strategien war jedoch nicht nur eine Sache der Theo­rie, sondern sie kennzeichnet auch die Dramaturgie der Singspiel-Textbücher selbst, vor allem derjenigen Goethes. «Nun, das ist ein geschwätz von der opera; aber es muss doch auch seyn»: In diesem Satz spiegelt sich Mozarts ganzes Misstrauen oder besser: seine ganze Abneigung gegenüber dieser theoretischen Reflexion wider. Er zeigt – zugespitzt formuliert – die Distanz eines Komponisten aus der südlichen Hemisphäre gegenüber der Theorielastigkeit des norddeutschen Singspiel-Genres, wo ver­ sucht wurde, die Musik einer bestimmten Funktionalität innerhalb des Dramas zu unterwerfen. Dieses Problem muss Mozart bei der Lektüre von Bretzners Textbuch ganz deutlich vor Augen getreten sein.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Die Frage von Eifersucht und Treue www.opernhaus.ch/shop Da nun Mozart aber einen Text aus eben dieser Tradition benutzte und an der Vorlage gravierende Änderungen vorgenommen hatte, musste er – nolens volens oder am Vorstellungsabend im einen Foyer – dem Theaterpraktiker Stephanie erklären, warum er beispielsweise Sprechdialog durch eine Arie ersetzt haben wollte oder warum sich an ein ein­ faches Lied einOpernhauses Duett anschliessen sollte. Mehr noch aber musste er Stephanie des erwerben plausibel machen, warum er ausgerechnet die grosse Entführungs-Szene, die bei Bretzner und André in Musik gesetzt war (dort Finale II) durch eine andere Musiknummer ersetzt und die eigentliche Entführung dann in einen Sprechdia­ log transfomiert haben wollte. Das heisst: An der entscheidenden Stelle der Handlung verändert Mozart das Original dahingehend, dass die Entführung durch eine grosse eingeschobene Szene gewissermassen hinausgezögert wird, in der die Liebenden endlich aussprechen, was sie im Innersten bewegt: die Fra­ ge von Eifersucht und Treue. Diese von Mozart ersonnene «neue Intrige» ist das grosse Quartett am Ende des zweiten Aktes. Die eigentliche Entführungs­ szene findet dann erst zu Beginn des dritten Aktes statt – und zwar fast voll­ ständig im Dialog. Hier geht Mozart also den umgekehrten Weg, er lässt ein Ensemble aus dem Bretznerschen Original zurück in gesprochenen Dialog

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