No Robots Magazine #1: Neu

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No Robots Magazine #1, August 2016


ichi h C t t a t s n e h sc Normale Men de strophal. a von kath a h t a K : e heut

u o y , Girl ! d o o g k o lo


Oh, Hallo! Der norwegische Sänger Jarle Bernhoft bezeichnet sich als "One man - full band". Und ich? Bin jetzt wohl sowas wie ein "One woman - full magazine". Denn auf deinem Desktop flimmert gerade die allererste richtige Ausgabe des No Robots Magazines! Alles neu, sozusagen. Aber so ganz richtig ist das mit dem "One woman" ja gar nicht. Denn ich habe viele tolle Autorinnen gefunden, die mich bei dieser Ausgabe unterstützt haben: Christina und Verena beginnen ein neues Leben. Bei Roxy ist das neue Leben schon Normalität. Aber sie weiß noch genau, wie es sich anfühlt, als Flüchtling anzukommen.

Außerdem in dieser Ausgabe: Alles, alles zu dieser "feministischen Idee". Und eine Liebesgeschichte. Have fun! Deine

Larissa

Impressum Larissa Strohbusch Klingerstr. 8 81369 München redaktion@norobotsmagazine.de Larissa Strohbusch

Titel, S. 5, S. 8-9, S. 12-13, S. 15-17, S. 18: Pexels.com


e g n ä f n A e d n e ß Flie

von Corinne Luca

wurden. Kleine, unbemerkte Alltagsentscheidungen können es sein. Ich kenne solche Geschichten auch von anderen. Der Tag, an dem man nicht mehr den Bus ins Büro nahm, sondern das Fahrrad, eher spontan und wenig durchdacht, wurde zum Beginn eines neuen Körpergefühls, das schließlich zu einem Jobwechsel führte. Ein kurzes Treffen mit einer alten Studienkollegin und ihrem Kind, welches sich schließlich zu der Erkenntnis auswuchs, das man selbst Mutter werden will. Aber nicht mit dem jetzigen Partner an der Seite.

ind Geschichten ein Grundbedürfnis wie Essen und Trinken? Vielleicht nicht auf den ersten Blick. Und doch erzählen wir uns alle Geschichten. Die über uns selbst ist womöglich die Wichtigste. Wie wir diese erzählen, wie wir erklären, was wir getan haben, was wir tun werden, sagt etwas über uns aus. Über unsere Persönlichkeit. Mehr noch, die Geschichte über uns selbst ist unsere Persönlichkeit. Sie ist nicht starr, sie fließt. Sie passt sich an. Alle Geschichten haben einen Anfang. Sie haben Zäsuren, an denen die Dinge neu beginnen. Im Rückblick scheint es ganz klar zu sein. Hier ging es los, die Reise, das Unbekannte. Aber sind Anfänge wirklich so einfach zu erkennen? Oder legen wir sie selbst als Ordnungsmarken in unseren eigenen Erzählfluss - und das meistens im Rückblick?

Unsere Anfänge bestimmen wir selbst im Nachhinein

Mit Anfängen ist es ein wenig wie mit Entscheidungen. Es zeigt sich erst in der Rückschau, was wurde. Selten erfährt man, was gewesen wäre. Ein wenig müssen wir also immer in der eigenen Vorstellung konstruieren. Wie wir unsere Lebensgeschichte schreiben, unserer Existenz einen Sinn geben, wird gern untersucht. Unsere Erzählung verändert sich ständig, sie ist geprägt von unseren Emotionen im Moment der Erzählung und wird zum Ende unseres Lebens hin immer positiver. Wir erzählen sie gern wie einen Roman, in Kapiteln, die Ereignisse bündeln. Und wir werden beeinflusst von kulturellen

Wann ist der Punkt, dass es ein Anfang ist?

Es ist mir einige Male passiert. Wenn ich dachte, nun geht es los, das ist ein Anfang, dann war es doch nicht so neu. Man geht ins Ausland, zieht in eine neue Stadt. Das sind alles einschneidende Erlebnisse. Es sind Begebenheiten, die Neues mit sich bringen, die einen zwingen, sich Neuem zu stellen. Aber waren es die Punkte, die ich im Rückblick als Anfänge wahrnehme? Der Punkt, an dem man etwas neu gesehen hat, sich veränderte, noch nicht beschrittene Wege testete? Nicht immer waren sie das. Nicht zwangsläufig. Dafür habe ich beinahe unbemerkte Momente, die wichtige Anfänge

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Titelthema

Normen, unsere Geschichte entsteht nicht in einem Vakuum. In einer Zeit, die die Veränderung preist, die Selbstoptimierung, das sich-selbst-neu-erfinden beklatscht, erzählen wir besonders gern Anfänge. Bewusste, selbstgewählte Anfänge. Dies sind die Geschichten von dem Jahr Auszeit, in dem man sich einen ganz neuen Blick auf die Welt ersegelte. Von DEM beruflichen kalten Sprungs ins Wasser. Es sind aktive Geschichten, in denen wir als Protagonisten sichtbar werden. Als die, die sich selbst ihre Veränderungen ins Stammbuch schreiben. Die ihr Leben in die Hand nehmen und die Dinge neu formen.

mögen gern Anfänge suchen, aber sie werden uns finden. Ich bin mir sicher, wirkliche Ursprünge sind nicht selten leise und unbemerkt. Sie sind weniger Startpunkte, an denen man sich in vollem Bewusstsein an die Ziellinie begibt und auf den Ton zum Loslaufen wartet, als vielmehr fließende Übergänge. Sie machen sich tonlos auf, schwellen an und reißen uns erst dann mit. Und manchmal wird uns ihre Gegenwart erst bewusst, wenn wir uns bereits ganz und gar im Strudel des Neuen befinden.

Unsere Anfänge sind fließende Übergänge

Corinne, *1982, ist Autorin des makellosmag. Dort schreibt sie über das Leben und unseren Platz in der Welt - und vor allem über die Stupidität unserer Gesellschaft.

Diese Erzählungen werden dann zur selbst gestalteten Visitenkarte. Sie sollen anderen zeigen, wer wir sein wollen. Und sind dann oft mehr Bewerbung bei als Chronik. Dabei ist es keine Schwäche geformt zu werden, von den Umständen, vom Leben - ohne aktiv einzugreifen oder danach zu suchen. Wir

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Über die Grenze von Roxana Schwind die Familie nachzuholen. Alles musste geheim sein, niemand durfte von unseren Ausreiseplänen erfahren. Da erzählte man insbesondere einer vierjährigen Quasselstrippe nichts. Meine Familie behauptete, meine Oma wäre jetzt längere Zeit auf Kur in Herculane. Ja ja, die Oma kommt bald wieder. Ja, ganz bald. Ich vermisste sie schrecklich. Zwei Jahre war sie fort.

ir alle sind mal neu. Neu in der Klasse, neu im Büro, neu in einer Stadt. Ein wenig seltener passiert es, dass man neu in einem Land ist. Ich erinnere mich noch an unsere Zeit der Ausreise aus Rumänien. Nicht deutlich, aber dafür aus dem Blickwinkel einer Sechsjährigen. Das erste an das ich mich erinnern kann ist, dass meine Oma dauerhaft verschwunden ist. Sie war Banater Schwäbin, gehörte also zu einer deutschen Minderheit in Rumänien und konnte somit über deutsche Verwandte relativ einfach aus dem kommunistischen Rumänien nach Deutschland reisen und die Staatsangehörigkeit bekommen, um dann

Und wenn sie uns an der Grenze anhalten? Ich erinnere mich kaum an die Vorbereitungszeit. Ich habe keine Ahnung, ob wir Kisten gepackt haben. Aber ich weiß

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e

Titelthema noch, dass die Erwachsenen viel davon sprachen irgendwelche Sachen verkaufen zu müssen. Und über noch etwas wurde sehr viel gesprochen: etwas, das sich “Grenze” nannte. Es schien die Erwachsenen sehr umzutreiben. Irgendwie klang es nach Gefahr. Ob sie uns wohl an der Grenze anhalten? Ich wollte endlich meine Oma wiedersehen. Von der Zugfahrt weiß ich noch folgendes: Ich wachte auf und ich glaube, dass es spät nachts war. Wann sind wir denn endlich an dieser Grenze? Ich wollte sie sehen, wollte wissen wie so eine Grenze denn nun aussieht. So viel wie die Erwachsenen darüber gesprochen haben, muss das ja etwas sehr spektakuläres sein. Ein richtiges Abenteuer! Da sind wir schon vorbei, mein Schatz. Was? Wie kann das denn möglich sein? Wie kann man denn nur eine Grenze verschlafen? Da muss doch irgendwas passieren! Ich wusste zwar nicht was, aber es wäre doch auf jeden Fall spannend und womöglich auch mit Lärm verbunden, also kann man das doch unmöglich verschlafen! Stockbetten statt Einhörnern Wir kamen in Burgkirchen an - glaube ich zumindest - im östlichsten Oberbayern. Unser erstes Heim im neuen Deutschland, dem Land der Verheißungen, Feen und Einhörner, war eine Asylunterkunft. Ein Zimmer voller Stockbetten, das wir uns mit einem fremden Ehepaar teilten. Meine Mama, mein Papa, mein Opa und ich. Und dieser neue Onkel und die neue Tante. Und das große Bad auf dem Flur, in das ich nur mit meiner Mama zusammen hin durfte. Anfangs war das Ganze ein großes und schönes Abenteuer. Wir mussten immer irgendwelche Behördengänge machen, aber dank meiner hinreißenden blauen Kulleraugen bekam ich von den strengen Männern hinter den Schreibtischen ein Lächeln und kleine Spielsachen oder ein Bonbon. Und außerdem hatte ich endlich

meine Oma wieder. Als es langsam anstrengend wurde, mit den fremden Leuten immer im gleichen Zimmer zu wohnen, konnten wir erst mal alle in der Zwei-Zimmer-Wohnung meiner Oma in Waldkraiburg unterkommen. Eine Klopapierrolle namens Kerze Und ich kam in den Kindergarten. Mit meinen sechs Jahren war ich dafür zwar schon zu groß, aber da ich kaum deutsch sprach, wurde ich erst ein Jahr später eingeschult und durfte währenddessen im europäischen Kindergarten mit vielen anderen Ausländerkindern zusammen sein. Was ich damals nicht verstand: Obwohl ich eine rumänische Kindergärtnerin hatte, durfte ich mit ihr nicht rumänisch sprechen. Und man nannte die Kindergärtnerinnen auch nicht mehr “Genossin”, sondern beim Vornamen und duzte sie. Eine ganz neue Erfahrung! Was ich damals schnell verstand: deutsch. Mein erstes Wort war “Kerze”. Es war eine aus Tonpapier und einer Klopapierrolle gebastelte Kerze. Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Kerze? Papier, das um eine Klopapierrolle geklebt ist, nennt man Kerze? Irgendwann kam ich dann drauf … Ich hörte auf, überall rumänische Fahnen zu malen. Keine Kindergärtnerin erwartete mehr von mir ein gutes Kommunistenkind zu sein. Erst waren es Häuser und Boote mit beiden Flaggen, dann nur die deutsche, dann irgendwann verschwanden die Flaggen ganz. Stattdessen hatten wir nun einen Videorecorder und ich durfte in Endlosschleife „Arielle“ schauen.

Roxy, *1983, kam als Sechsjährige mit ihrer Familie aus Rumänien. Heute bloggt sie unter earlybirdy.de und beweist. dass auch aus einem rumänischen Flüchtlingskind eine Architektin werden kann.

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Neuanfang von Christina Wunder

Christina hatte dieses Jahr anders geplant: Hochzeit, Eigenheim. Doch dann fiel ihr Leben von einem Moment auf den anderen zusammen. Sie gab nicht auf und wagte einen Neuanfang - ein neuer Job in einer neuen Stadt in einem anderen Land. ine gute Woche ist mein Neuanfang in Brüssel jetzt alt. Und ich liebe jeden einzelnen Tag davon. Ich befinde mich zwar immer noch in einer Übergangsphase – denn ich wohne momentan noch bei einem Freund und warte darauf, dass meine wunderschöne Wohnung frei wird, und mein Hab und Gut irgendwann von Deutschland hierher transportiert wird. Aber was tut das schon, aus dem Koffer zu leben, wenn alles andere passt? Wenn der neue Job toll ist, die Kollegen noch toller, und man sich morgens darauf freut aufzustehen und abends mit einem erschöpften, aber zufriedenen Lächeln ins Bett legt? Mein altes Leben habe ich – zumindest die unschönen Teile davon – hinter mir gelassen; habe es abgestreift, wie eine kalte, nasse Jacke. In meinem mentalen Köfferchen habe ich nun nur noch die Menschen und Erinnerungen, die ich bei mir haben möchte. Jeder einzelne Aspekt meines Lebens richtet sich gerade neu aus. Und dieses Wort, NEU, es ist wie eine schöne Farbe, die alles in ein warmes Licht taucht. Ich wache morgens in einer neuen Umgebung auf, esse neues Frühstücksmüsli, spaziere meinen neuen Weg zur neuen Arbeit entlang und schnuppere neue Luft. Alles ist spannend, faszinierend, schön – einfach, weil es neu ist.

Alles glänzt so schön neu Ich setze mich an meinen neuen Schreibtisch in meinem neuen Büro und plaudere mit neuen, tollen Kollegen. Ich arbeite mich in meine neuen Aufgaben ein, die so interessant sind, wie ich es mir nur hätte erträumen können. Ich gehe abends mit meinen neuen Kollegen auf ein Feierabendbier aus, das den Abend wie immer viel zu spät werden lässt – denn aus einem werden ruck zuck fünf – und freue mich. Schön, dass ich endlich mal nicht diejenige bin, die den Altersdurchschnitt um Generationen senkt. Es ist genau das, was ich gebraucht habe, dieser Neuanfang im Schnelldurchlauf. Denn von dem Moment, in dem ich den Job angeboten bekam bis zu meinem ersten Arbeitstag sind nur vier Wochen vergangen. Es ging so rasend schnell, dass ich manchmal, ganz außer Puste, stehen bleibe und innehalte. Ich blicke zurück, bin erstaunt und fasziniert, wie das Leben einem manchmal die tollsten Geschenke macht. Ich bin einfach nur dankbar für jeden Moment davon. Und dennoch, furchteinflößend ist so ein Neuanfang auch. Denn:


Titelthema Es heißt wieder ganz von vorne anfangen Und ganz von vorne heißt ein bisschen auch wieder bei Null. Es erinnert mich irgendwie an damals, als ich von der Grundschule aufs Gymnasium wechselte. Als Viertklässlerin gehörte man noch zu den Coolen, zu den Älteren eben. Man wusste wie der Hase läuft, und damit wiegte man sich auch automatisch in einer Sicherheit, die einem nur eine vertraute Umgebung zu geben vermag. Und dann, ja, dann verlässt man ebenjene vertraute Umgebung, und begibt sich plötzlich woanders wieder ganz ans Ende der Fresskette – zumindest gefühlt. Natürlich, man würde es nicht anders haben wollen. Denn Neuanfänge, vor allem wenn sie einen Schritt „nach oben“ bedeuten, gehören zum Leben dazu, ohne sie wäre es trist und langweilig. Aber jetzt fühle ich mich eben wie die Fünftklässlerin, die wieder ganz neu auf der Schule ist. Fühle mich erneut prüfenden Blicken ausgesetzt. Will zeigen was ich drauf habe und mich von neuem beweisen. Die gruseligsten Herausforderungen sind die lohnendsten Ist es nicht so? Je furchteinflößender eine Aufgabe, umso atemberaubender das Gefühl, wenn man es sie gemeistert hat. So ist es wohl auch mit einem neuen Job. Nach einer Woche kann ich keineswegs sagen, dass ich nun alles kann und weiß. Die vielen Puzzle-Teile, die kreuz und quer vor mir ausgebreitet liegen, kann ich beim besten Willen noch nicht zusammenfügen. Noch. Aber ich weiß, dass diese Puzzle-Teile irgendwann ein wunderschönes Bild ergeben werden.

Und bis dahin stürze ich mich ins Abenteuer, betrachte die einzelnen Stücke und versuche, sie irgendwie zusammenzubringen. Oh wie schön wird es sein, wenn ich irgendwann einen Schritt zurück treten und das Bild betrachten kann, das ich da zusammengefügt habe.

Christina, *1989, kennt sich mit Neuanfängen aus: Auf Chapter One Mag schreibt sie über Berufeinstieg, Bewerbungen und Berufliche Positionierung. dieser Artikel erschien zuerst auf Chapter One Mag.


Zum lernen ist es nie zu spät von Verena Grouls

„Ich träume nicht, ich wage meinen Traum.“ Das Zitat vom deutschen Philosophen und Schriftsteller Manfred Hinrich trifft ganz gut, wovon ich euch erzählen möchte. Als ich eingeschult wurde, habe ich mir gesagt: „Nach der Grundschule gehe ich auch auf das Gymnasium. Wie mein Bruder!“ Wahrscheinlich wusste ich gar nicht, was das ist. Aber es klang gut. Ich war tatsächlich auf dem Gymnasium. Doch das Abitur habe ich erst elf Jahre nachdem ich es eigentlich gemacht hätte, erreicht. Mein Lebenslauf ist nicht so geradlinig, wie sich manche ihn vorstellen: Er beginnt zwar ganz normal, doch mittendrin gibt es einen Knick. Seit ich vierzehn bin, leide ich unter einer generalisierten Angststörung und Panikattacken. Bis dahin war ich eine durchschnittliche, ruhige Schülerin und fehlte fast nie. Der Tag, der schließlich alles über einen Haufen warf, war ein grauer Tag im Februar 2000.

War es vielleicht nur eine „Phase“, wie eine Psychologin nach einem Gespräch sagte? Oder hatte ich Angst vor der Schule, weil mir morgens am Frühstückstisch immer schlecht war? Es dauerte einige Zeit, bis die Diagnose feststand. Doch in der Zeit waren meine Fehlzeiten bereits sehr hoch. Wenn ich in der Schule war, wollte ich am liebsten nur noch raus. Ich schob es auf den Kreislauf, wollte frische Luft. Hauptsache, raus aus dem Klassenzimmer. Es fiel mir immer schwerer, mich in der Schule zu konzentrieren. Ich war mittlerweile in ambulanter Therapie, doch diese sollte schon bald auf einen

Aufenthalt in der Tagesklinik auslaufen. Für die Psychologen stand fest: Die ist überfordert auf dem Gymnasium. Jahre später, als ich mir noch mal Gedanken darüber machte, fiel mir ein, was ich ihnen hätte sagen sollen: dass sie mal mit Panikattacken im Unterricht sitzen sollen. Denn überfordert war ich nicht. Die Panikattacken hatten Überhand genommen und raubten mir meine Konzentration. Ständig kreisten in meinem Kopf diese Gedanken. „Was wäre wenn … du jetzt umkippst/die Kontrolle verlierst.“ Der Wechsel auf die Realschule sollte alles besser machen. Ich ging außerdem zu einer örtlichen Therapeutin. Zunächst sah auch alles gut aus, doch in der 10. Klasse brach alles wieder über mich hinein. So konnte ich die Schule nicht mit der Fachoberschulreife mit Qualifikationsvermerk verlassen. Dabei hatte ich mir geschworen, danach wieder auf das Gymnasium zu wechseln.

Der erste Versuch, den Realschulabschluss nachzuholen, ging schief, denn schon nach wenigen Wochen wurde ich stationär in die Psychiatrie eingewiesen. Ich war siebzehn, hatte keinen Plan, was ich machen sollte und stand wieder am Anfang. Doch nach und nach rappelte ich mich wieder auf. Ich fand eine neue, sehr nette Therapeutin für Erwachsene und mit ihrer Hilfe gelang es mir, mit meinen Ängsten umzugehen. Den Realschulabschluss holte ich mit neunzehn auf einem Berufskolleg nach. Meine Fehlzeiten reduzierten sich drastisch und es ging aufwärts. Doch ich wusste immer noch nicht, was ich „später“ mal machen sollte.

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Titelthema Also versuchte ich es mit einer schulischen Ausbildung. Die Idee dahinter klang sehr verlockend: Ausbildung zum IT-Assistenten und Fachabitur in einem. Die Realität sah jedoch weniger schön aus: Der Stundenplan war voll gepackt mit Fächern wie Programmieren, Datenbanken, Elektrotechnik, … Interessante Inhalte, allerdings für mich zu schwer. Dann war da ja auch noch Mathe. Psychisch ging es mir wieder besser, schulisch lief es leider nicht gut. Irgendwann, ich war mittlerweile dreiundzwanzig, begann ich eine „echte“ Ausbildung. Sie war eigentlich wie für mich geschaffen: Fachangestellte für Medienund Informationsdienste mit der Fachrichtung Bibliothek. Leider wusste meine Ausbilderin von meinen psychischen Problemen. Trotzdem stellte man mich ein, nur, um mich kurz vor Ende der Probezeit wieder zu kündigen. Begründung: Man hatte Sorge, dass ich einen Rückfall bekäme. Übrigens: Nichts deutete auf einen solchen hin. Im Gegenteil: Ich fehlte nie, war immer pünktlich und mir ging es gut.

Bevor ich die besagte Ausbildung nach drei Jahren erfolgreich abschloss, kam mir eine Idee: Ich hole das Abitur nach! Also informierte ich mich und schnell wurde aus der Idee Wirklichkeit. Mit Ende zwanzig noch mal die Schulbank drücken - das klingt für viele sicher nach einer ungeheuren Umstellung. Für mich war es das aber gar nicht. Schließlich bin ich schon viel länger als üblich zur Schule gegangen. Ich war sozusagen noch im Lernmodus. Meine Eltern fragten, als ich den Wunsch äußerte, das Abitur nachholen zu wollen, ob es denn das Richtige sei. Wegen Mathe. Mathe und ich standen schon immer auf Kriegsfuß. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Dank der Hilfe meines Freundes gelang es mir, ganz gute Noten in Mathe zu schreiben und sogar die Abiprüfung bestand ich, ohne in die Nachprüfug zu müssen. Es macht mich stolz, dass ich es geschafft habe. Ab Herbst werde ich studieren. Bald werde ich auch wissen, ob ich die Zulassung zu meinem Traumstudiengang bekomme. Dann beginnt wieder ein neues Kapitel in meinem Leben. Eines, dass spannend und interessant wird! Jeder kann seinen Traum verwirklichen, wenn er sein Ziel verfolgt und darauf hinarbeitet.

Aber vielleicht musste es so sein, denn sonst hätte ich womöglich niemals mit dem Gedanken gespielt, das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen. Zuerst jedoch machte ich eine neue Ausbildung. Diesmal war es weniger eine Traum- als eine „Zweckausbildung“. Es war Zufall, dass ich die Ausbildungsstelle zur Pharmazeutisch-kaufmännischen Angestellten bekam. Der Beruf ist nach wie vor nicht das, was ich mein Leben lang machen möchte. Ich will nicht sagen, dass der Beruf schlecht ist. Denn er ist interessant. Aber eben nicht das, was ich will.

Verena, *1985, bloggt auf flying-thoughts.de über Bücher, Handarbeit und ihren Weg zum Abitur.

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Alles neu!

Behauptet die Modeindustrie. von Nina M. Jaros

In Neonbuchstaben prangen Aufkleber an den Schaufenstern. Die neue Kollektion ist da. „Hurra, genau darauf hast du gewartet“, jubeln meine Gedanken und der Sarkasmus trieft nur so. Die Gier nach Neuem, nach ständig Neuem treibt nicht nur die Modeindustrie an. was daran wirklich neu ist. Mode ist ein Metier, das sich ständig mit dem Wort „neu“ schmückt. Mode gibt vor, sich immer wieder zu erfinden, fresh, sexy, trendy zu sein und dabei spielt sie in fast berechenbarer Gleichmäßigkeit mit alten Mustern, Designs, Farben. Oftmals sogar in den alten Kombinationen. Ja, natürlich sehe ich mal einen schwarzen, mal einen weißen Balken, der breit über die Augen geschminkt ist, natürlich sind da die bunten Lidschatten auf perfekten Werbefotografien. Nur selten bringt die Mode wirklich Neues hervor. Der große Wunsch nach Neuem

as Leben besteht aus dem Wechselspiel von Veränderung und Beständigem. Immer wieder ändern sich die Umstände, das Lebensumfeld, der Arbeitsplatz, die Menschen, die wir um uns haben. Jeder Tag, der beginnt bringt auch Veränderung mit sich. Trotzdem nennen wir den Alltag grau und unsere Tage laufen in gewohnten Mustern die altbewährten Bahnen unseres Lebens. Auf dem Weg durch die Stadt bleibe ich an einem Schaufenster stehen. In eleganter Schrift wird am Fenster für die neue Make-Up Kollektion geworben. Als ich den Blick über die Farbtöne der Lippenstifte, Lidschatten und Nagellacke streifen lasse, stelle ich mir die Frage,

Anders sieht es da schon in den Medien aus. In den letzten Jahren tauchten so viele neue Formate auf, dass ich den Überblick verloren habe. Aber ein Muster ist geblieben: was Erfolg hat, wird wiederholt oder fortgesetzt. Ob die Jackass Filme, Germany Next Topmodel, Deutschland sucht den Superstar oder Big Brother, alles wird wiederholt und wenn die Quoten nachlassen wird etwas „Neues“ eingebaut. Da stehen auf einmal nicht mehr zwei Kandidatinnen im Finale, da tauscht man ein Jurymitglied aus, auf jeden Fall wird einem Praktikanten im Sender die Chance gegeben, das Format zu verändern. Umso schwieriger ist es, wenn das Leben selbst in die Formate eingreift und durch den Tod eines Moderators ein neuer benötigt wird.

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Titelthema

Der Wunsch nach Neuem ist beim Publikum gerade im Bereich der Medien sehr groß. Umso erstaunlicher ist es, dann die Reaktionen auf Neuerungen zu verfolgen. Bei der Europameisterschaft durfte erstmals eine Frau ein Turnierspiel kommentieren. Claudia Neumannn wurde vielfach für ihre Sachlichkeit gelobt und beinahe schien es, als wäre endlich jemand da, um Bela Rethy abzulösen. Über Herrn Rethy liest man ja viel und selten Gutes. Aber gegen die Kommentatorin regte sich breiter Protest. Ja, 2016 ist es noch ein Thema, ob eine Frau ein Männerfußballspiel kommentieren darf. In den sozialen Medien überschlugen sich erst die Gegner, dann die Befürworter. Und alles blieb beim alten. Das Wichtige kommt ohne Glitzer Was ist also richtig neu? Was ist in letzter Zeit passiert, das wirklich dieses Label verdient? Nichts. Die Dinge, die wirklich zu tiefgreifenden Veränderungen führen, kommen selten mit Neonfarbe, Glitzer und in Großbuchstaben. Vor einigen Jahren sah man im Schwimmbad fast nur schlanke Menschen. Es war fast so, als wäre gäbe es eine Obergrenze für Körperumfang in den Schwimmbädern. Menschen, die nicht einer gewissen

körperlichen Norm entsprachen, waren in gewissen Bereichen des Lebens einfach unsichtbar. Diese Scham vor der eigenen Erscheinung, das Bodyshaming, weicht in manchen Bereichen langsam dem Bewusstsein, dass es keinen Grund gibt, den vermeintlich schönen Menschen die Welt zu überlassen. Ja, die Entwicklung passiert im Schneckentempo und vielen fehlt einfach noch der Mut, sich die Freiheit zu nehmen, einfach so zu sein, wie sie sind. Schlankheits- und Fitnesstrends kommen und gehen so schnell, wie neue Diättipps und Lippenstiftfarben in den Frauenmagazinen. Das Neue ist verlockend, faszinierend und verspricht den Alltag zu verändern, aber hält es dieses Versprechen wirklich? Das zeigt sich oft erst, wenn etwas Neues langsam seinen Glanz verliert, zur Gewohnheit wird und trotzdem weiter besteht.

Nina, *1972, neugierige Bloggerin auf fraupapa.wordpress.com schreibt nicht nur über ihre Regenbogenfamilie.

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Leben. und s0.


Das mit der feministischen Idee

von Larissa Strohbusch

Mit dem Wort fängt es ja schon an. Bist du eine Feministin? Gefühlt die Hälfte der Frauen sagt: Ja, aber natürlich! Die andere Hälfte sagt: Igitt, nein! Obwohl, eigentlich ja doch. Welche Frau ist denn nicht für die Gleichberechtigung der Geschlechter? Außer ein paar religiösen Fanatistinnen vermutlich keine - und religiöse Fanatisen nehme ich grundsätzlich nicht ganz ernst. Gut, Gleichberechtigung also, und weiter? Und da haben wir's ja schon: Was ist denn eigentlich diese feministische Idee?

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Was ist also Feminismus? Wo fängt er an? Wo hört er auf? Was sind seine Ziele? Konsens gibt es, wie so oft, keinen - nicht mal innerhalb der Gruppe. Und doch, will der Feminismus nicht am Ende nur eines? Ich lehne mich weit aus dem Fenster und sage: Feminismus ist, wenn jeder Mensch der Welt das gleiche Recht auf Glück hat. Oder ist das kein Feminismus, sondern einfach nur der der Kategorische Imperativ? Ach, vielleicht habe ich mich vor lauter Utopismus auch zu weit hinausgelehnt und stürze weit weit in die fantastischen Tiefen des Idealismus.

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Quellen: www.zeit.de www.welt.de www.telegraph.co.uk www.themorningbulletin.com.au www.bento.de www.etonline.com hollywoodlife.com editionf.com www.businessinsider.com feminismus101.de www.youtube.com


Ein Ring, ihn zu binden ine Hochzeit, das ist heutzutage keine einfache Entscheidung mehr. Es ist ein Event. So eine Hochzeit, die muss von der ersten Sekunde an perfekt sein. Ja, das beginnt ja schon bei dem Antrag. Wo früher noch ein "Sollen wir vielleicht heiraten?" gereicht hätte, ach, vielleicht sogar ganz ohne Antrag, einfach eine einvernehmliche Entscheidung, nein, da muss heute schon was Aufwendigeres her. Und dann erst der große Tag. Nein, Moment, meistens sind es ja zwei große Tage: Erst auf's Standesamt und später (teilweise viel später, Jahre später) dann noch die echte Hochzeit, die mit der Kirche und dem weißen Kleid und alles. Dafür blättern Deutsche gut und gerne um die 6.500 Euro hin (durchschnittlich - in München kann man

von Lar

allein für Essen und Lokalität ohne großen Luxus schon 10.000 Euro hinlegen). Es soll ja schließlich der schönste Tag des Lebens werden. Selbstverständlich heiratet man nur ein Mal. Aber die Deutschen sind da ja durchaus noch bescheiden. In den USA gibt's dazu noch Verlobungsfeiern, Rehearsals, gefühlte 10.000 Brautjungfern, alle im gleichen Kleid und Flitterwochen auf dem Mond obendrauf. Ist das nur ein vages Gefühl oder sind Hochzeiten trendiger denn je? Ständig gibt es Gerüchte und Überlegungen. Heiraten Liam und Miley jetzt doch noch? OMG, wann fragt er mich endlich? Es gibt unzählige Brautmodengeschäfte, Hochzeitsmagazine, Hochzeitsbücher und

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natürlich Hochzeitsblogs. Hochszeits-DJs, Hochzeitssäle, Hochzeitsfotografen, Hochzeitstorten, Hochzeitsfriseure und bestimmt auch gemietete Blumenkinder. Es scheint, desto gewöhnlicher es wird, nicht zu heiraten, desto aufwendiger muss es dann auch sein, wenn man es tut. Aber, hey, all in the name of love.

Beispiel bei Lehrern, die damit mehr Chancen auf ihren Wunscharbeitsort haben). Der einzige anerkannte Grund scheint aber weiterhin die Liebe zu sein. Ein Ring ihn zu binden Etwas über ein Jahr bin ich nun schon verheiratet. Geändert hat sich seitdem ... nichts. Und ich schäme mich nicht, es zu sagen: Wir haben nicht aus Liebe geheiratet. Was natürlich nicht bedeutet, dass wir uns nicht lieben. Aber wofür das ganze Tamtam?, sagten wir uns. Macht endlich einen Deckel auf den Topf, sagten sie. Und übersahen, dass wir das schon längst getan haben. In unseren Herzen schon vor vielen Jahren. Verbindlicher wurde es, als ich für ihn nach München gegangen bin. Als wir unsere Möbel in eine gemeinsame Wohnung stellten - und gemeinsame Besitztümer kauften. Und spätestens als wir sagten: Lass uns ein Kind bekommen. Macht einen Deckel auf den Topf. Heißt übersetzt: Steck ihm einen Ring an, damit er gebunden ist. Die Scheidungsrate ist hoch, klar, aber Scheiden ist nervig. Da hält man es lieber doch noch eine Weile aus. Romantisch ist das nicht. Es gibt viele Gründe noch zu bleiben, obwohl die Liebe schon lange nicht mehr reicht - gemeinsame Kinder, gemeinsamer Besitz, Ehepapiere oder einfach nur der Stress, sich eine andere Wohnung suchen zu müssen. Nein, geben wir es doch zu: Verbindlichkeit ist kein Freund der Romantik. Findet man wahre Romantik am Ende nicht viel eher dort, wo es keinerlei Verbindung gibt? Dort, wo die Herzen frei in der Luft hängen, jederzeit aufbruchsbereit? Dort, wo es keinen Halt gibt als die Liebe?

"Also, aus Liebe heiraten die mal nicht!"

Die Ehe ist längt kein Muss mehr. Kann man machen, man kann es aber auch lassen. Das bleibt jedem Paar heute selbst überlassen und es rissa Strohbusch erwachsen sich kaum Voroder Nachteile daraus. "Wilde Ehen" sind gesellschaftlich akzeptiert und vollkommen normal. Grundsätzlich. Dennoch müssen Paare sich nach einer gewissen Zeit doch die üblichen "Wann heiratet ihr denn endlich?"-Fragen, bis hin zu "Macht doch endlich mal einen Deckel auf den Topf"Vorwürfen gefallen lassen. Wer sich liebt, der muss auch unter die Haube. Einen "Knoten knüpfen", wie man im Englischen schön sagt. Es verbindlich machen. Was spricht denn dagegen? Dagegen sind ja oft die Männer, die das ganze Tamtam nicht brauchen - während die Frauen sehnsüchtig auf Ring und Rosenblätter und Kniefall warten und von der Prinzessinnenhochzeit träumen. Dabei gibt es ja auch einige gute Gründe dafür: Kinder, Aufenthaltsgenehmigung, Steuern, der Glaube an das Sakrament der Ehe, Vorteile bei der Arbeitssuche (zum

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Erzähl mir von ...

... deinem letzten Urlaub als Kind! von Larissa Strohbusch

Alle wollen vorwärts kommen. Zukunft, Kind, Karriereplan. Immer geht es um das Morgen. Aber wie war dein Leben denn, als du ein Kind warst? Wie war es denn als Teenager? Erzähl mal. Roxana vom early birdy, Sabine vom fadenvogel und ich tauschen jeden ersten Sonntag im Monat Erinnerungsstücke aus. Ein Thema – drei unterschiedliche Texte, drei unterschiedliche Frauen, drei unterschiedliche Leben. Vor dem Fenster sehe ich blauen Himmel und gelegentlich eine Schäfchenwolke vorüberziehen. Dahinter: tiefe Leere, und ganz weit hinten vielleicht das Meer. Würde ich mir die Mühe machen und mich aufrechter hinsetzen, sähe ich einen steilen Hang, trockene Wiesen, ab und an ein Haus. Aber ich bleibe lieber in Liegeposition. Zum einen ist es gruselig, nach unten zu schauen. Aus der Höhe des Wohnmobils erscheint es, als wäre wenige Zentimeter neben den Rädern gähnender Abgrund. Zum anderen fühlt es sich an, als hätte ich alles schon gesehen. Kilometer um Kilometer um Kilometer. Ich kuschele mich tiefer in den Sitz und gehe meinem epochalem Tagtraum nach. Vor dem Fenster ziehen die Wolken vorbei. Urlaub ist ja eine Philosophie für sich. AllInclusive-Club-Urlaub, Abenteuerurlaub, Bildungsurlaub, Urlaub an der Nordsee, Exotenurlaub mit Strandcamping in Indien: Jeder hat da ganz spezielle Vorstellungen. Man sagt ja auch gerne, dass der erste gemeinsame Urlaub der ultimative Partnerschaftstest ist. Wenn das so wäre, hätten meine Eltern ihn mit Bravour bestanden: Wie man richtig Urlaub macht, da sind sie sich ausnahmsweise mal einig. Das Wohnmobil muss es sein, immer der

Sonne hinterher, irgendwo in Süd-Europa. Mein letzter Urlaub als Kind … wann war das? 2001? 2002? Ich glaube, ich war sechzehn oder siebzehn und fuhr aus Mangel an Alternativen mit. Als Mädchen vom Land kam ich ohne elterlichen Fahrdienst nicht mal zu den Freundinnen ins Nachbardorf. Also gut, dachte ich, noch ein letztes Mal Wohnmobil. Noch ein letztes Mal Ferien als Kind. Und so kletterte ich also die Stiegen ins fahrbare Zuhause hinauf, nahm meinen vertrauten Platz ein, mit dem Hund zu Füßen. Wie jeden Sommer winkte ich der Oma noch ein Mal zum Abschied, wie immer fuhr der Wagen rückwärts aus der Einfahrt, die Straße hinunter, durchs Dorf, über die Landstraße, auf die Autobahn. Und dann immer weiter, immer weiter. Kilometer um Kilometer, Kilometer. Was war das Ziel in diesem Urlaub? Gab es überhaupt eins? Ich erinnere mich an eiskalten Wind und die Sonne, die erbarmungslos auf uns knallte. Ich erinnere mich an Kopfschmerzen. Belgien, war es nicht Belgien? Ich erinnere mich dunkel an ein hübsches Städtchen, an Brücken und Schokolade. Wo waren wir? In Brügge vielleicht? Ein paar Tage hielten wir es aus. Ich wickelte mich in meinen Schal ein und jammerte. Also stiegen wir wieder ein, erst

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der Hund, dann ich. Die Eltern vorne, Mutter am Steuer, Vater mit der Karte. Damals gab es noch kein Smartphone, kein Wetterbericht upto-date. Wo könnte es wohl schöner sein? Im Süden. Fahren wir nach Süden. Punkte auf der Karte ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Mont St. Michel und dazu das Lied von Mike Oldfield im Kopf. Paris. Hitze und ein leidender Border Collie. Weiter, weiter, immer weiter. Lyon. Liebe Eltern, schaut, hier war ich auf Schüleraustausch, wisst ihr noch, damals? Und über die spanische Grenze. Weiter, weiter. Wir hielten in den Pyrenäen, besuchten Dalí in Figueres. Und dann, was kam dann? Hier gehe ich verloren. Wo waren wir? Es war eine Stadt, es gab eine Promenade am Strand mit Abzocke-StrandVerkäufern. Aber trifft das nicht auf alle spanischen Touristen-Gebiete zu? Was haben wir dort gemacht? Haben wir gebadet? Haben wir uns etwas angesehen? Worüber haben wir gesprochen, wovon habe ich geträumt? Ich sehe meine Eltern in einem Restaurant sitzen. Nichts Elegantes, nur eine Pizzeria für Touristen. Was haben wir dort gegessen? Hat es geschmeckt? Ich höre meine Eltern streiten. Ich sehe mich, wie ich den Hund nehme und einfach gehe. Ich gehe aus dem Restaurant, zum Strand, die Promenade entlang. Weiter, weiter, immer weiter. Auf der Rückfahrt saß ich vorne auf dem Beifahrersitz neben meinem Vater. Sah hinab auf die Autos, wie die Prinzessin der Autobahn. Ich legte die Beine aufs Armaturenbrett und freute mich auf die Heimat. Ja, ich muss siebzehn gewesen sein. Ein paar Monate später begann ich den

Führerschein. Und im Sommer darauf? Blieb ich zu Hause und tauschte Strand und Meer gegen die heimatlichen Berge. Die Prinzessin der Autobahn war nun die Königin der Landstraße – mit ihrem eigenen Auto und einer voll aufgedrehten Anlage, laut singend on the road, irgendwo im südwestfälischen Nirgendwo.

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Momentaufnahme zweier Menschen Eine Kurzgeschichte, basierend auf einer wahren Begebenheit. von Larissa Strohbusch

„Scheiß Studenten“, fluchte er, als er auf sein Handydisplay blickte. „Alter, was gibt’s?“ „Ich bin hier auf dieser Party, du musst unbedingt kommen!“ Sein bester Freund war deutlich hörbar bereits mehr als angetrunken. „Ich hab voll Stress mit den Frauen.“ „Scheiß Studenten“, murmelte er noch einmal. Es war Donnerstagabend, er lag bereits im Bett. Während alle seine Freunde problemlos die Nacht durchfeiern konnten, musste er am nächsten Morgen früh raus und in die Berufsschule. Seine Lust, müde und nüchtern den Abend mit völlig betrunkenen Idioten zu verbringen, lag nicht nur gleich Null, nein, sie lag sogar unter Null. Andererseits waren es bis zu besagter Party nur ein paar Minuten mit dem Fahrrad … Für ein Stündchen könnte er also doch mal eben noch rüber fahren … Er machte sich gar nicht erst die Mühe, sich ordentliche Kleidung raus zu suchen. Das verschwitzte alte Schlafshirt musste rei-

chen. Ihm doch egal, wenn er heute nicht mehr so gut roch. Er zog sich die nächstbeste Jeans vom Boden und einen verwaschenen alten Pullover über – raus in den kalten Oktoberabend. Wie erwartet traf er auf eine völlig überdrehte Meute, die bereits viel zu viel Alkohol konsumiert hatte, obwohl es noch lange vor Mitternacht war. Er wusste kaum, warum überhaupt gefeiert wurde. Wohl der Geburtstag des Mädchens, in das sein Kumpel verschossen war. Besagter stürmte sofort auf ihn zu und quatschte ihn mit seinen Problemen zu. Alter! Er nahm sich ein Bier. Eins konnte er ruhig trinken, dann wollte er wieder verschwinden. In neun Stunden begann der Unterricht. „Hallo, wer bist denn du?“ Ey, wo kam denn plötzlich dieses Mädchen in dem hässlichen Glitzershirt her? Und was wollte die jetzt von ihm? Sie schaute ihn


von unten mit großen Augen an und grinste leicht irre, wie es nur betrunkene Zwanzigjährige können. Er hatte heute kein Interesse, sich mit ihr zu unterhalten, wer sie auch immer war. Sein Kumpel platzte dazwischen, rempelte ihn an und verschüttete sein halbes Bier über seinem Arm. „Ey, kennst du meinen Kollegen hier schon? Der studiert Kommunikationswissenschaften!“ Das war gelogen. „Alter!“, schnauzte er seinen Freund an … the fuck?! Das Bier klebte an seinem Arm. Am besten, er verschwand zurück in sein warmes Bett. Er wollte nur noch mal schnell pissen gehen und dann nach Hause. „Ich mach mich wieder vom Acker!“ Er zog schon mal den Tabakbeutel aus der Tasche und fing an, sich eine Kippe zu drehen. „Drehst du mir auch eine?“ Glitzershirt rannte hinter ihm her. Zwei Uhr morgens. Das Wohnzimmer von irgendwem. Warum war er noch hier? Er sollte wirklich längst im Bett liegen. In sechs Stunden fing die Berufsschule an. Ach, scheiß drauf. Er würde die Ausbildung eh nicht beenden können. Glitzershirt hing immer noch an ihm. Die meiste Zeit des Abends war sie hinter ihm her gerannt. Ein Wunder, dass sie ihm nicht auch noch aufs Klo gefolgt war! Und das Schlimmste war: Sie wusste jetzt praktisch seinen ganzen Seelenscheiß. Eine Zigarette, nachdem sie sich an ihn gehängt hat, haben sie sich schon über ihre nicht vorhandenen Väter ausgekotzt. Ernsthaft! Wie krank musste er sein, um einer wildfremden, so was Persönliches zu erzählen? Und jetzt saßen sie also auf diesem Sofa und redeten. Großspurig erzählte sie von dem Buch, das sie neulich gelesen hat. Irgendwas mit Straight Edge und wie cool sie das fände. Kein Alkohol, kein Fleisch und alles total clean. Nicht gerade nah an der Realität, gemessen an ihrem Promillepegel. Und seinem. „Find ich geil“, sagte er. Wirklich. „Ich bin Vegetarier.“ „Ja? Das ist ja cool! Dann kannst du ja mal für mich kochen!“ „Ach, ja, na ja, ich bin nicht so der geilste Koch ...“

„Och, bitte!“ „Ja, na ja, können ja mal gucken ...“ Sie blickte ihn mit ihren großen Rehaugen an. „Okay, ich mach's. Versprochen.“ Am nächsten Tag würde die das eh nicht mehr wissen. Hoffte er. „Gib mir doch mal deine Handynummer!“ Das wäre wohl der logische Schritt. Im Leben nicht. „Hier, kannst gleich das ganze Handy haben. Ist eh Schrott.“ Drei Uhr morgens. Viel zu viel Alkohol. Definitiv kein Unterricht am nächsten Tag. Da war er sich sicher. „Ich muss jetzt echt mal los. Morgen ist Berufsschule.“ „Hast recht. Ich hab auch Uni.“ Also ob. Diese Studenten! „In welche Richtung musst du?“ Das fragt man so. Ist nur höflich. Wahrscheinlich wohnte sie eh ganz woanders. Dann also: Bye, bye, morgen kenn ich dich nicht mehr! „Da drüben im Wohnheim.“ „Ach, echt? Ich wohne gleich um die Ecke!“ „Echt? Na, dann können wir ja zusammen gehen!“ Und so schob er sein Fahrrad neben ihr her. Bis zu ihrem Wohnheimzimmer waren es nur ein paar Schritte. Und von da nur wenige Minuten bis zu ihm nach Hause. Es war nur richtig, dass er sie begleitete. Eine Lady ließ man nicht alleine durch die Dunkelheit laufen. So scheiße war er dann doch nicht. „Hier wohne ich.“ Sie hielten an einem der vielen identischen anonymen Eingänge. „Magst du noch mit hochkommen?“ Echt? Wirklich? Trotz stinkendem Schlafshirt und Bierfahne? Oh, wow! Okay, er gab sich hier als cooler Hund, aber eigentlich … Eigentlich hatte er dieses Mädchen jetzt doch ganz schön ins Herz geschlossen. Glitzershirt und Anhänglichkeit hin oder her. „Okay, aber Sex ist nicht.“ „Super! Dann kann ich ja meinen Entenschlafanzug anziehen!“ Er und sie sind seit mehr als acht Jahren ein Paar. Demnächst werden sie heiraten.



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