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Face to Face
Zwei Menschen, zwei Sichtweisen: Karin Prien, (59; CDU), seit 2017 Kultusministerin in Schleswig-Holstein, und Prof. Dr. Axel Plünnecke, (53), am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) unter anderem seit 2004 verantwortlich für den „INSM-Bildungsmonitor“, diskutierten auf Einladung von NORDMETALL nach der jüngsten Veröffentlichung der renommierten Studie über Ergebnisse und Perspektiven.
Standpunkte: Kernthese des neuesten Bildungsmonitor 2024 ist, dass nicht der Migrationshintergrund generell, aber fehlende Deutschkenntnisse und Bildungsferne der Eltern stark negative Auswirkungen auf Bildungs- und spätere Arbeitsmarktchancen von Zuwandererkindern haben. Was unternimmt Schleswig-Holstein, um hier gegenzusteuern, Frau Ministerin?
Prien: Ich bin sehr froh, dass der Bildungsmonitor einen ganzheitlichen Blick auf Bildung hat. Das unterscheidet ihn von anderen Studien. Deutschkenntnisse müssen Kindern frühestmöglich vermittelt werden und das heißt schon vor Besuch der Grundschule. Schleswig-Holstein hat bereits 2017 eine Kita-Reform auf den Weg gebracht, mit nach unten gedeckelten Kitabeiträgen und bewusster Entscheidung für mehr Qualität in der Betreuung. Jetzt haben wir noch mal nachgelegt, um mehr Erzieherinnen und Erzieher sowie Sozialpädagogische Assistentinnen ausbilden zu können. Wir haben als Land nach dem Ausstieg des Bundes die Finanzierung der sprachlichen Programme übernommen und finanzieren zusätzliche Sprachbildung in den Kitas und in unseren Perspektivschulen. Damit reagieren wir auf den massiven Anstieg bei den Kitaplätzen.
Standpunkte: Sind denn Sprachdefizite tatsächlich die zentrale Problematik? Oder geht es hier nicht generell um Integrationsprobleme?
Plünnecke: Die Sprache ist das zentrale Thema, das zeigen auch unsere Auswertungen der PISA-Daten. Wenn Kinder in bildungsfernen Familien kein Deutsch sprechen, hat das häufig stark negative Auswirkungen auf ihre Kompetenzen. Vor zwei oder drei Jahrzehnten half vermutlich noch der Konsum deutschsprachiger TV-Programme, Hefte oder Bücher oder der Kontakt mit einheimischen Kindern aus der Nachbarschaft. Heute bleiben die Kinder und Jugendlichen vielfach auf muttersprachlichen Medien und in ihrer jeweiligen migrantischen Community, das erschwert den Spracherwerb. Das gilt gerade in sozialen Brennpunkten, in denen auch die Schulen mehrheitlich von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund besucht werden. Die Schulschließungen während der Pandemie haben diesen Negativtrend noch verstärkt.

Prien: Das Thema ist insgesamt komplex: Nicht nur die Zahl der Kinder mit Zuwanderungshintergrund hat sich zum Beispiel in Schleswig-Holstein in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Auch die Zahl der Kinder aus schwierigeren sozio-ökonomischen Verhältnissen hat deutlich zugenommen. Und dann gibt es ein verändertes Erziehungsverhalten quer durch die Gesellschaft: Bei der Mediennutzung werden zum Beispiel viele Kinder und Jugendliche sich selbst überlassen. Wir haben kognitive Schwierigkeiten bei vielen Kindern, auch solchen ohne Migrationshintergrund. Seit der Coronapandemie erkennen wir bei den Schülerinnen und Schülern auch vielfach Konzentrationsschwierigkeiten und einen Mangel an Bewegung. Zudem gibt es eine Zunahme an psychischen Erkrankungen. Es ist also eine Vielzahl von zusätzlichen Faktoren, die ausgeglichen werden müssen. Mit althergebrachten Rezepten kommen wir da nicht weiter. Wir müssen viel besser werden in der frühkindlichen Bildung. Jeder Euro, der hier investiert wird, verhindert spätere Bürgergeld-Karrieren. Auch müssen wir die ganzen Hilfesysteme rund um das Kind – also Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, aber auch Integrationsmaßnahmen – viel besser mit dem System Schule vernetzen. Wir sind da leider nicht gut genug, weil wir in unterschiedlichen Rechtskreisen und Strukturen organisiert sind.
Plünnecke: Wir haben auch Erkenntnisse darüber, dass eine frühe Social-Media-Nutzung schadet: Je höher die Stundenzahl, umso geringer sind die Kompetenzwerte der Jugendlichen. Die Kinder und Jugendlichen müssen eine dosierte Nutzung in ihrer Freizeit lernen. Und wir sollten Handys für die Privatnutzung so lange wie möglich aus Schulen heraushalten.
Standpunkte: Sie lassen in Schleswig-Holstein Handys an Schulen einsammeln, Frau Prien?
Prien: Ja, seit September 2023 an den Grundschulen. Der Erlass legt fest, dass die private Handynutzung dort nicht mehr erlaubt ist. Die Schulen haben einen gewissen Umsetzungsspielraum, aber mittlerweile machen nahezu alle Grundschulen mit. Die Akzeptanz für das Einsammeln ist hoch, auch bei Eltern und Lehrkräften. Andere Länder sind schon viel weiter: In den Niederlanden gibt es ein vollständiges Handyverbot für alle Schulen, über alle Altersstufen hinweg. Ich glaube, wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir mit privater Handynutzung umgehen. Ich bin grundsätzlich für eine Nutzung von digitalen Tools in Schulen, ab einem bestimmten Alter und richtig dosiert. Aber wenn uns Experten sagen, dass inzwischen über dreißig Prozent der Kinder ab zehn Jahren Social-Media-süchtig sind, dann müssen wir etwas unternehmen. Ich finde, dass bis in die Jahrgangsstufe sieben der weiterführenden Schulen eine private Handynutzung überhaupt nicht erforderlich ist, womöglich noch darüber hinaus.

Standpunkte: Hamburg führt ja seit Jahren eine Viereinhalbjährigen-Untersuchung durch, um Defizite und Förderbedarf bei Kindern festzustellen, nicht nur sprachliche. Muss so etwas nicht überall noch früher, etwa mit Dreieinhalb, durchgeführt werden und müssen als förderbedürftig eingestufte Kinder nicht verpflichtend in die Kita oder Vorschule, auch gegen den Elternwillen?
Prien: Die Viereinhalbjährigen-Untersuchung ist erstmal der richtige Weg, bei Bedarf auch mit verpflichtendem Kitabesuch und additiver Sprachförderung. Und eine frühe Förderung in der Kita und zwar nicht nur mit Blick auf die sprachlichen Kompetenzen ist sinnvoll. Es gibt auch andere Entwicklungsdefizite bei Kindern, bei denen – wenn früh erkannt – auch früh gegengesteuert werden kann. Wenn nötig auch mit dem verpflichtenden Besuch eines vorschulischen Settings. Wir steigen da in Schleswig-Holstein jetzt ein und konzentrieren uns zunächst auf die Kitas rund um unsere Perspektivschulen in herausfordernden Lagen. Und wir hinterfragen das Paradigma, dass Schulen möglichst viel Autonomie brauchen. Wir müssen mehr steuern, diagnostizieren und fördern, um Ergebnisse zu kennen und nachzusteuern. Wie in einem Unternehmen.
Standpunkte: Sie wollen die Viereinhalbjährigen-Untersuchung also auch auf Dreieinhalb vorziehen?
Prien: Mittelfristig halte ich das für richtig. Wir sollten es in ganz Deutschland schaffen, mit standardisierten Tests alle Kinder zu untersuchen und die mit erhöhten Förderbedarfen in vorschulische Maßnahmen bringen. Dafür ist nicht nur die Kultusministerkonferenz (KMK, d. Red.), sondern gleichermaßen die Jugend- und Familienministerkonferenz der 16 Länder zuständig. Als ich vor zwei Jahren KMK-Präsidentin war, haben wir erstmals mit den Jugendministerinnen und -ministern zusammengesessen und diese Thematik diskutiert. Da gibt es viel Gesprächsbedarf, weil das Bildungsverständnis sehr unterschiedlich ist. Wir haben in Deutschland einen starken Betreuungsfokus in der Kita, die Schulreife steht anders als in Frankreich, in den Niederlanden oder in Großbritannien nicht im Mittelpunkt. Das muss sich ändern.
Plünnecke: Ja, das stimmt, Aber es gibt ja schon Fortschritte, etwa bei den Bildungsstandards für Kitas. Angesichts des Betreuermangels wird es aber noch eine große Herausforderung, bis das vorschulische spielerische Lernen wirklich im Zentrum der Kita-Arbeit stehen wird.
Standpunkte: Noch ein Wort zu den schleswig-holsteinischen Ergebnissen im Bildungsmonitor. Das Land ist um einen Platz zurückgefallen, auf Platz zehn. Woran liegt das, Frau Ministerin?
Prien: Wir sind bei den Input-Faktoren – also dem Finanzaufwand – nicht so gut, dafür aber besser bei den Output-Faktoren. Schleswig-Holstein ist traditionell ein finanzschwaches Land, wir schrammen haarscharf an den Stabilitätskriterien vorbei. In allen Schularten liegen wir bei den Schülerkostensätzen zwischen 20 und 25 Prozent unter dem Hamburger Niveau, trotz aller Bemühungen. Auch im Ganztagsausbau kommen wir erst 2026/2027 mit einer großen Kraftanstrengung richtig voran. Das strukturelle Haushaltsdefizit von einer Milliarde muss über die nächsten Jahre auch vom Bildungsresort mitgeschultert werden, wenn auch nur mit unterdurchschnittlichem Anteil.
Standpunkte: Welche Schwächen haben Sie sonst im hohen Norden gesehen, Herr Prof. Plünnecke?
Plünnecke: Das Land ist in Hochschule und MINT schwächer, aber das korreliert mit der Stärke Hamburgs. Das ist zwischen Brandenburg und Berlin oder Niedersachsen und Bremen ähnlich, letztlich also strukturell bedingt. Dafür ist die Bildungsarmut im Ländervergleich geringer, vor allem gegenüber den Stadtstaaten.
Standpunkte: Ist die Zusammenarbeit in der Hochschullandschaft mit Hamburg gut oder ausbaufähig?
Prien: Die ist jedenfalls in den letzten Jahren deutlich besser geworden, aber da ist noch Luft nach oben – gar keine Frage. Dafür ist die Zusammenarbeit mit dem Bund im Augenblick leider nicht gut.
Standpunkte: Die Berufsorientierung, Praktika in Betrieben und ähnliches haben sehr unter der Pandemie gelitten. Wie steht es damit jetzt, Frau Ministerin?
Prien: Wir haben kurz vor Corona ein neues Berufsorientierungskonzept mit der Wirtschaft entwickelt, das alle Schulen einbezieht. Das ist gut, aber es gibt noch Nachbesserungsbedarf. Vor allem an der stärkeren Einbeziehung der Eltern werden wir noch arbeiten.
Standpunkte: Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Aufgezeichnet von Alexander Luckow