Stones in Exile, ein Dokumentarfilm erzählt die Entstehungsgeschichte eines mythischen Stones-Albums. Sie beginnt im Frühjahr 1971 – und findet im Sommer 2010 eine überraschende Fortsetzung …
F
rühsommer 1971 – Villefranche-sur-Mer, Côte d’Azur. In der Villa von Gitarrist Keith Richards herrscht der ganz normale Wahnsinn: Übervolle Aschenbecher, leere Flaschen und Reste von Joints auf dem Esstisch. Ständig kommen neue Leute ins Haus, Kinder laufen umher. Der Hausherr sitzt im Keller, um gemeinsam mit seinen Bandkollegen das neue Stones-Album Exile on Main Street einzuspielen. 19. Mai 2010 – Filmfestspiele Cannes, Palais Stéphanie. Draußen halten Polizisten Heerscharen von Fans in Schach. Gleich wird Stones in Exile präsentiert, der Dokumentarfilm läuft außerhalb des Wettbewerbs. Drinnen vibriert der Saal vor freudiger Erregung. Die Journalisten auf den vorderen Plätzen können sich kaum halten, als Mick Jagger, leichtfüßig und agil wie ein Tänzer, die Bühne betritt. Viele springen auf, klatschen und jubeln ihm zu. Keine Spur von journalistischer Distanz, zu groß scheint der Magnetismus – immer noch. Der 66-jährige Stones-Boss begrüßt seine Gäste höflich auf Französisch und Englisch. Er trägt Sneakers zum Anzug, zeigt gute Laune und beste Manieren: „Ich hoffe euch geht es gut. Habt
32 room55.de EDITION 16
einen schönen Abend bei Stones in Exile.“ Der Dokumentarfilm ergründet die Entstehung des legendären Stones-Albums Exile on Main Street. Die Band war gerade nach Frankreich ausgewandert, ihr gewähltes Exil, um in der Heimat den immensen Forderungen des Fiskus zu entgehen. Der Abschied aus England fiel ihnen schwer, neben finanziellen Problemen belasteten Rechtsstreitigkeiten ihr Leben. An strukturiertes und effizientes Arbeit war kaum zu denken: Das Aufnahmestudio war ein Truck, der auf Richards Anwesen stand. Die Stones spielten im Keller, ohne Sichtverbindung zu den Tontechnikern im LKW. Strom wurde illegal von einem Mast abgezapft. Hitze und Feuchtigkeit verstimmten die Gitarren. Die Bandmitglieder, in Frankreich verstreut, konnten sich während der Sessions nicht immer alle zur gleichen Zeit treffen. Hausherr Richards arbeitete sowieso nach eigenem Rhythmus, in dem der Drogenrausch nicht selten den Takt vorgab. Trotz aller Widrigkeiten trieb die Band ihre Kreativität in ungeahnte Höhen. Der schwül-warme Keller von Richards Haus wurde zur Keimzelle von bis heute hochgelobten Stücken wie „Tumbling Dice“, „Rocks Off“ oder
„Shine a Light“. Exile on Main Street gilt bis heute als ein Meisterwerk. Stones in Exile und Exile on Main Street sind gleichzeitig Kaleidoskop einer bewegten Zeit. Die Siebziger starteten mit gnadenloser Wucht ins neue Jahrzehnt. Drogen- und Alkoholexzesse forderten ihren Tribut. Ikonen der Sechziger wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison mussten sterben oder waren bereits tot. Die Illusion einer glücklicheren und heileren Welt, die die Blumenkinder sich herbeigeträumt hatten, wich einer harten Realität. In Vietnam tobte immer noch ein grausamer Krieg und USPräsident Nixon ließ seine politischen Gegner abhören. Mit den Stones verband damals eine ganze Generation einen Aufschrei gegen Unterdrückung, Heuchelei, Bürgerlichkeit und Langeweile. Cooler Lifestyle bedeutete mehr als ein