Lucys Rausch Nr. 4

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zur Haustür in die Quere kam. Die Wodka-Gruppe blieb beim verabredeten Set und Setting. Wir gerieten mehr und mehr in eine Hochstimmung. Am Morgen beim gemeinsamen Frühstück tauschten wir unsere Eindrücke aus. Niemand fühlte sich betrunken oder müde. Allen gemeinsam war das Gefühl einer großen Klarheit und Wachheit. Einer der Teilnehmer verglich unsere Bewusstseinslage mit dem Zustand nach dem Konsum mehrerer Joints. Sergius hatte recht behalten. Richtig genutzt, besitzt auch Wodka ein psychoaktives Potential. Ein Quell fruchtbarer Ideen Das große Anwesen in Allmendingen mit dem außergewöhnlichen Haus im Bauhausstil, der 1934 erbauten Villa Caldwell, das Sergius nach der Zeit in Interlaken 1982 erwarb, wurde schnell zur Durchgangsstation für ganz viele Besucher. Man traf bei ihm die interessantesten Menschen: Psycho-Gurus, Medien, Künstler, Schriftsteller, Diplomaten, Prinzessinnen. Für alle hatte Sergius ein offenes Ohr und guten Rat. Er war ein Quell fruchtbarer Einfälle und außerordentlich großzügig darin, Ideen an andere weiterzugeben, andere anzuregen, sie selber zu werden und etwas zu machen, was sie sich vorher nicht zutrauten. Ich bin über Jahrzehnte öfters dazu gestoßen, wenn Sergius einen Vortrag gehalten hat. Er versuchte immer erst einmal, dem Publikum zuzuhören, die Stimmung zu erspüren, herauszufinden, wo das Bedürfnis ist, und setzte dann dort an. Er sprach den Menschen aus dem Herzen. Viele erlebten ihn als eine Offenbarung für sich. Ich erinnere mich noch an einen Vortrag in Thüringen, wo eine alte Dame in Tränen ausbrach, später zu ihm ging und sagte, er habe ihr ein Stück ihrer Kindheit zurückgegeben durch das, was er erzählt hatte. Er verstand es meisterhaft, unbewusste Inhalte aufzurufen. Er besaß die Fähigkeit, Inhalte weniger über Rationales als über Geschichten, Anekdoten und Sprachbilder den Zuhörern nahezubringen. Sein Credo: «Die überragende Art zu dichten ist das Erzählen.» Seine Sätze hatten oft keinen Anfang, kein Ende, keine Mitte. Es waren eher die Beschwörungsformeln eines Magiers. Sergius interessierte sich denn auch sehr für die alten mit Sigillen, Runen und Charakteren ausgeschmückten Zauberbücher und faustischen Höllenzwänge, die bei den Menschen auf dem Land auch im 20. Jahrhundert noch im Gebrauch waren. In seinen Schriften weist er darauf hin, dass

Lucy’s Rausch Nr.4

die von Staat und Kirche geschmähten und verfolgten Praktiker der Schwarzen Künste (für Sergius «nigro­mantische Poeten») durch ihre für Verstand und Vernunft sinnlos erscheinenden, lautmagischen und hypnotischen Zaubergedichte, sowie mit seltsamen Zeremonien und intensiven Pflanzenräucherungen bei ihren Kunden sehr wohl mystische Stimmungen zu erzeugen vermochten. In seiner kleinen Schrift Dada im Mittelalter – Notizen zu einer Antiliteratur (Berlin 1981) schreibt er auf Seite 38: «Das Zauberbuch Claviculae Salomonis weiß: ‹Die wahrhafte Geisterkunst hat ihren Grund darin, dass wir zuerst die Geister absonderlich in Uns, und hernach die Geister, die in allen Elementen sind, in ihrer rechten Geisternatur erkennen.› So von ihren Vertretern verstanden,

«… die alte Magie als Mittel der Erfassung des eigenen Wesens.» ersteht heute die alte Magie zu einem bewunderungswürdigen Mittel der Erfassung des eigenen Wesens, des Unter- oder Urbewusstseins in uns und damit des Weltganzen: Die okkulte Philosophie der großen Fahrenden wie Paracelsus, Agrippa von Nettesheim, Faust, die Tarot-Jahrmarkt-Gaukler usw. erscheint uns damit nicht als primitive Vorstufe der modernen Seelenforschung, sondern als ein bewunderungswürdiger Vorstoß des menschlichen Bewusstseins zu seinen erhabensten Zielen; als ein mächtiger Versuch, dessen Bedeutung und Erfahrungen leider lange genug in Vergessenheit gerieten.» BUCHTIPP  Erik Golowin: Sergius Golowin: Aufbruch ins psychedelische Zeitalter. Synergia 2015 (siehe Seite 105)

WOLFGANG BAUER, (*1940). Studium der Psychologie und begleitend der Volkskunde. Tätigkeit als Psychotherapeut in Frankfurt am Main. Herausgeber und (Mit-)Autor vieler Bücher zu den Themen Symbolkunde, Altes Wissen und Volks- und Ethno­ botanik. Letzte Veröffentlichung zusammen mit herman devries und Katja Redemann: Rauschpilze: Märchen - Mythen - Erfahrungen. Nachtschatten Verlag, Solothurn 2015.

www.amanita-wolfgang-bauer.de


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