n-ost-REPORTAGEPREIS 2016

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n-ost REPORTAGE PREIS 2016 10 Jahre


n-ost REPORTAGEPREIS 2016 • VORWORT

VORWORT Zum zehnten Mal zeichnen wir in diesem Jahr mit dem n-ost-Reportagepreis herausragende, hintergründige Geschichten aus Osteuropa aus. In diesen zehn Jahren hat sich der Raum, um den es uns geht, verändert: „Osteuropa“ ist noch heterogener und vielgesichtiger geworden. Konfliktlinien haben sich aufgetan, wo niemand sie für möglich gehalten hat. Die großen Herausforderungen der vergangenen Jahre – die Flüchtlingsbewegung, der Aufstieg der Rechtspopulisten, die Eurokrise – sind gesamteuropäische Phänomene, die Ost und West gleichermaßen betreffen. Die Gräben verlaufen kreuz und quer durch Europa und seine Gesellschaften. Diese Veränderungen möglichst zeitnah nachzuvollziehen, neue Bilder zu zeigen und uns von eingefahrenen Wahrnehmungsmustern zu befreien – das ist die Aufgabe guter Auslandsberichterstattung. Oft genug tut sie zum Glück genau das. Die in diesem Jahr ausgezeichneten und nominierten Autoren und Fotografen sind das beste Beispiel dafür. Neun Reportagen und ihre Autoren stellen wir Ihnen auf den folgenden Seiten vor, jeweils drei in den Kategorien Text, Radio und Foto. Sie erzählen Geschichten jenseits der tagesaktuellen Schlagzeilen. Sie begleiten nicht nur Flüchtlinge und Leiharbeiter auf ihrem Weg quer durch Europa, sondern verfolgen auch den Weg, den Steinpilze von Rumänien ins Edelrestaurant nach München zurücklegen. Sie nehmen uns mit in eine Gegenwart, die wie Vergangenheit wirkt – nach Transnistrien und in ein aussterbendes russisches Dorf. Und sie zeigen Aufbruch – beispielsweise das Erwachsenwerden der Kinder von Tschernobyl.

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Nach zehn Jahren unterziehen wir den n-ost-Reportagepreis einer Revision. Unter anderem möchten wir sicherstellen, dass unserem Auge künftig noch weniger Reportagen entgehen. Deshalb führen wir den informellen Leserhinweis ein: Wann immer Sie in Ihrem täglichen Medienkonsum über eine besonders bemerkenswerte Osteuropa-Reportage stolpern, dann lassen Sie uns das bitte wissen (>> reportagepreis@nost.org)! Wir danken allen Bewerbern für die Einsendung von insgesamt 152 Reportagen, die wir in diesem Jahr erhalten haben! Herzlichen Dank den Juroren für ihr unermüdliches Engagement, der Robert Bosch Stiftung für die erneute Unterstützung und unseren Partnern, Renovabis und Brot für die Welt, für die Zusammenarbeit!

Viel Vergnügen bei der Lektüre!

Salome Ast, Projektleitung


n-ost REPORTAGEPREIS 2016 • INHALT

INHALT

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TEXTREPORTAGE

RADIOREPORTAGE

FOTOREPORTAGE

RECHERCHEPREIS OSTEUROPA

06 07 08 18 26

34 35 36 38 40

45 46 58 62

69 Preisträger 2016 70 Preisträger 2015

Vorjury Jury Preisträger Nominierter Nominierter

Vorjury Jury Preisträgerin Nominierter Nominierte

Jury Preisträgerin Nominierter Nominierter

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Shortlist Förderer Über n-ost Impressum 3



Textreportage Christoph Cadenbach Michael Martens Tim Neshitov

Guter Stiel | Osamas Leute | Das Dorf

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✍ TEXTREPORTAGE VORJURY

ULRIKE BUTMALOIU Dozentin und Journalistin

KATHRIN KLETTE Redakteurin, Neue Zürcher Zeitung

KNUT KROHN Redakteur, Stuttgarter Zeitung

TOBIAS KÜHN Redakteur, Jüdische Allgemeine

INGA NIEMANN Projektmanagerin, Literarisches Colloquium Berlin

LISA PALMES Freie Literaturübersetzerin

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✍ TEXTREPORTAGE JURY

CHRISTIAN BÖHME

FABIAN DIETRICH

WERNER D’INKA

Redakteur, Der Tagesspiegel

Chefredakteur, Dummy Magazin

Herausgeber, Frankfurter Allgemeine Zeitung

HENRIK KAUFHOLZ

SONJA MARGOLINA

UWE NEUMÄRKER

Redakteur, Politiken, Kopenhagen

Publizistin und Autorin

Direktor, Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas

HORST PÖTTKER

Fotos: privat

Professor emer. am Institut für Journalistik, TU Dortmund

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TEXTREPORTAGE PREISTRÄGER

✍ GUTER STIEL VON CHRISTOPH CADENBACH Süddeutsche Zeitung Magazin‚ 23.10.2015 Ionel Crest ist ein Mann, dem man glaubt, wenn er sagt, er habe sich noch nie vor Arbeit gedrückt. So einer neigt nicht zu Tagträumen, so einer träumt höchstens im Schlaf. Und wenn, dann von Steinpilzen, denn die finanzieren Crests gesamte Familie und dazu sein halbes Roma-Dorf im Apuseni-Gebirge in Rumänien. Zum Pflücken kommen hochschwangere Frauen und Jugendliche in dünnen Trainingsanzügen, mit Plastiktüten um die Knöchel, als Schutz vor Regen und Schlamm. Christoph Cadenbach hat sie begleitet, und er beschreibt den Weg und den Wertzuwachs der Pilze von den Karpaten bis zum Kurfürstenplatz nach München. Seine Reportage macht richtig Appetit auf Steinpilze mit Semmelknödeln. Werner D’Inka, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Fotos: Matthias Ziegler


Foto: Matthias Ziegler

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CHRISTOPH CADENBACH Christoph Cadenbach (*1979) arbeitet als Reporter für das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Sein Schwerpunkt sind gesellschaftspolitische Themen. Zuvor hat er Medienwissenschaften studiert und an der Berliner Journalistenschule volontiert. Von den Pilzsammlern in Rumänien erzählte ihm ein deutscher Umweltschützer, der in den rumänischen Karpaten einen Nationalpark aufbaut und sich über die Sammler beschwerte. Als Cadenbach dann mit einer Roma-Familie durch die Wälder wanderte, sie in ihrem Dorf besuchte und miterlebte, wie sehr sie in Rumänien ausgegrenzt und auch gehasst werden, verstand er, wie wichtig die Pilze als Einkommensquelle für diese Menschen sind. 9


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GUTER STIEL

von Christoph Cadenbach Der Steinpilz wird in Deutschland immer begehrter. Die meisten der Delikatessen werden von Roma in Rumänien gesammelt – für sie sind die Pilze eine große Chance. Wir haben das Geschäft in diesem Herbst von den Karpaten bis nach München-Schwabing verfolgt.

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in Fichtenwald in den rumänischen Karpa- die Berge gefahren, auf Straßen, die selbst für rumäten, am Morgen um sechs, fahles Licht, Ne- nische Verhältnisse in keinem guten Zustand sind. bel hängt zwischen den Bäumen. Steine schlugen gegen die Auspuffanlage, Wasser Im Zickzack läuft Ionel Crest den Berghang hi- spritzte aus meterbreiten Pfützen, und Ionel Crest nauf, springt über Bäche, kämpft sich durch Brom- trat aufs Gas. Er gehört zur Roma-Minderheit, das beerbüsche und taunasse Farnfelder, den Blick im- Pilzesammeln ist im Moment seine beste Chance, mer auf den Waldboden fixiert, auf das Moos, die Geld zu verdienen. heruntergerieselten Fichtennadeln, die verwelkten Steinpilze sind ein rares Produkt. Man kann Buchenblätter. Dann, endlich, entdeckt er, was sie nicht anbauen wie Gemüse. Sie wachsen zu er sucht, und dreht es vorsichtig aus der feuchten bestimmten Jahreszeiten, bei bestimmten WetterErde. Der Stiel ist fest und knollig, die Kappe eng bedingungen, in bestimmten Wäldern. Vor allem anliegend und kastanienbraun. Ein Steinpilz wie im September und Oktober, wenn sich Regen aus dem Bilderbuch. Crest legt ihn behutsam in und Sonne abwechseln. Fichtenwälder sind gut, seine grüne Plastikkiste. „Ein leerer Korb“, sagt er, Buchenwälder auch. Möglichst naturbelassen. In „wiegt schwerer als ein voller.“ Europa existieren mindestens vier verschiedene In Deutschland ist Pilzesammeln ein Freizeit- Steinpilzarten, für den Markt interessant ist vor vergnügen, in Rumänien eine lebensnotwendige allem Boletus edulis, der Fichtensteinpilz. Wegen Einkommensquelle. Ionel Crest ist 52, ein breit- seines festen Fleisches und seines intensiven, nussischultriger Mann mit kräftigen Händen, an denen gen Geschmacks wird er auch Herrenpilz genannt Erde klebt. Man glaubt ihm sofort, wenn er sagt, er und zu den Edelpilzen gezählt. Schon die Römer habe sich noch nie vor Arbeit gedrückt. Um 3:45 sollen ihn als Speise geschätzt haben. Natürlich ist Uhr ist er an diesem Septembersamstag aufgestan- er bio und vegan. In Deutschland kostet er so viel den, hat nicht gefrühstückt, aber gebetet. Ist dann wie Rinderfilet. Trotzdem hat sich der Konsum in zwei Stunden mit seinem klapprigen VW-Bus in den vergangenen zehn Jahren beinahe verdoppelt: 10


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2006 wurden 260 Tonnen frische Steinpilze im- eine Baumkrone unter der Erde. Die weißen Stieportiert, 2013 waren es 470 Tonnen. Der Großteil le mit den braunen Hüten, die Ionel Crest pflückt, davon stammt aus Rumänien. In Deutschland ist sind nur die Fruchtkörper des Pilzes. Unter der Erde dockt das Mycel an die Wurdas kommerzielle Sammeln fast gänzlich verboten (einige regionale Naturschutzbehörden erlassen zeln der Fichten an und liefert Wasser und MineSondergenehmigungen), in Rumänien ist es jedem ralstoffe. Die Bäume werden dadurch stärker und erlaubt (wie auch in den anderen osteuropäischen weniger anfällig für Krankheiten. Im Gegenzug Ländern). Verlässliche Zahlen über die Exportmen- gibt der Baum Glukose, also Zucker, das Produkt ge sind in Rumänien nicht zu bekommen, jedoch seiner Photosynthese, zu der der Pilz nicht fähig weiß man, dass allein Italien, das wichtigste Absatz- ist. Diese Lebenspartnerschaft trägt den Namen land, mehr als 2.300 Tonnen rumänische Steinpilze Mykorrhiza. Sie ist der Grund dafür, dass man Steinpilze – genau wie Pfifferlinge oder Kaiserlinpro Jahr einführt. Es ist ein Handschlaggeschäft über innereu- ge – nicht kultivieren kann. Champignons, Ausropäische Grenzen hinweg. Viele Händler kennen ternpilze oder Kräuterseitlinge hingegen schon, sich, einige sind reich geworden. Und es verbindet deshalb findet man sie ganzjährig im Supermarkt. wohlhabende Genießer mit Menschen, die bisher Sie gehören zu den saproben Pilzen: Sie leben auf kaum Perspektiven in ihrem Leben hatten. Men- abgestorbenen Pflanzen, die sie zersetzen und von schen wie Ionel Crest stillen jetzt den deutschen denen sie sich ernähren. Die ersten Sonnenstrahlen haben sich durch Appetit nach dem Exklusiven. Wenn er abends im Bett die Augen schließe, die Äste gedrückt, Ionel Crests grüne Plastikkiste sehe er die Grün- und Brauntöne des Waldbodens füllt sich. Er trägt sie an einem Gurt über die Schulwieder, und ab und zu blitze ein Steinpilz vor sei- ter gehängt. Im Magen hat er immer noch nur ein nem inneren Auge auf, erzählt Crest, während er paar Schluck Kaffee, im Kopf aber die Hoffnung, unermüdlich seine Suche fortsetzt. Den Hang hin- dass es weiter aufwärts geht in seinem Leben. Crest wurde im Februar 1963 in einem Dorf auf, den Hang hinab, in schwarzen Gummistiefeln und olivgrüner Strickjacke. Mit seinem Spazier- im Nordwesten Rumäniens geboren, in Budureasa, stock schiebt er kniehohe Grasbüschel beiseite, dort er wohnt dort noch heute, am Ende der Dorfstraße, sei es schön feucht, sagt er: „Die Steinpilze mögen wo die Häuser keinen Wasseranschluss haben, am das.“ Dann zeigt er auf die Baumstämme, die mit äußersten Rand, im Roma-Viertel. Rumänien ist eines der ärmsten Länder der EU, mintgrünen Flechten überwachsen sind. Die Fichten hier sind zwanzig Meter hoch und Jahrzehnte das Nettodurchschnittsgehalt liegt bei 388 Euro im Monat. Schlechter stehen nur die Bulgaren da. Und alt. „Auch das mögen die Pilze.“ Damit Ionel Crest erfolgreich ist, muss im Erd- noch schlechter die Roma wie Ionel Crest, wären reich unter seinen Füßen eine besondere Beziehung sie ein Volk mit Staat. Offiziell leben in Rumänien rund 600.000 entstanden sein, nämlich zwischen den Wurzeln der Bäume und einem Fadenwesen: dem eigentlichen Roma, inoffiziell sind es nach Schätzungen der Pilz. Dieses sogenannte Mycel kann beim Steinpilz Vereinten Nationen mindestens 1,5 Millionen. viele Quadratmeter groß werden, es ist verästelt wie Viele würden bei Volkszählungen falsche Angaben 11


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machen, meinen die UN-Experten, aus Angst vor Diskriminierung. Damit fängt es schon mal an. 15 Prozent der Roma in Rumänien können nicht lesen und schreiben. 33 Prozent sind arbeitslos – von der Gesamtbevölkerung sind es 6,7 Prozent. Jeder zweite Roma hat zu Hause keinen Zugang zu Trinkwasser, und nur einer von hundert studiert. Die Kindersterblichkeit ist dreimal höher als im rumänischen Durchschnitt, die Lebenserwartung um sieben Jahre geringer. Crests Vater verdiente etwas Geld als Musiker, er spielte Geige, die Mutter kümmerte sich um Ionel, seine vier Brüder und seine Schwester. Wenn sie Hunger hatten, stromerten sie durch den Wald auf der Suche nach Beeren und Pilzen, die sie einkochten oder am Straßenrand an Leute aus den Nachbardörfern verkauften. Mit 18 heiratete Crest, aber Gott, so sagt er es, schenkte ihnen keine Kinder. Bezahlte Arbeit fand er nur als Tagelöhner auf dem Bau. Doch vor 15 Jahren etwa, Anfang der Zweitausender, änderte sich etwas. Kleinlaster stoppten in seinem Dorf, und die Fahrer kauften Pilze und Beeren auf. Sie waren unersättlich, sie nahmen alles mit, was Crest sammeln konnte. Er musste nicht mehr stundenlang am Straßenrand warten, ob ihm jemand seine Tagesernte abnahm. Das Risiko, auf Pilzen sitzen zu bleiben, war plötzlich weg. Rumänien war damals eine junge Marktwirtschaft, ein Staat zwischen Pferdefuhrwerk und Neuwagen. Als 1989 das pseudokommunistische System – und damit die Planwirtschaft – unterging, wurde der Weg frei für Geschäftsleute aus dem Westen. Sie sahen ein Land mit maroder Infrastruktur, aber auch vielen Möglichkeiten. Eine davon boten die weiten Wälder des Karpatenbogens, durch die noch Bären und Wölfe streifen und die zu den größten verbliebenen Urwäldern Europas zählen. 12

Ein Bio-Schatz. Ionel Crest war auf einmal Teil einer europäischen Waren- und Wertschöpfungskette. Im Mai, Juni und Juli sammelt er nun Blaubeeren und Pfifferlinge, von Mitte August bis Mitte November Steinpilze. Sechs Tage die Woche. Steinpilze sind sein einträglichstes Geschäft: Die Einkäufer der Pilzhändler zahlen umgerechnet zwischen 2,50 Euro und sechs Euro pro Kilo für gute, feste Ware, je nachdem, wie knapp gerade das Angebot ist. Gibt es viele Pilze, sinkt der Preis. An diesem Tag liegen nach neun Stunden 28 Kilo in Crests grüner Plastikkiste. Erschöpft setzt er sich auf einen Stein am Straßenrand, hinter ihm der Wald, aus dem er gerade herausgestapft ist, vor ihm sein geparkter VW-Bus. Die anderen sind schon da und rauchen. Seine Brüder Gratian und Florin, dessen Ehefrau Maria, die Schwägerin Alina, der Nachbar Ilie, dessen Sohn Gabi mit seiner Frau Roxana, und Pele, 16, der Jüngste, ebenfalls Ilies Sohn. Die Pilze finanzieren Crests gesamte Familie und dazu sein halbes RomaDorf. Etwa 600 Pflücker, schätzt Crest, kämen jeden Tag in der Saison in diese Gegend gefahren, das Apuseni-Gebirge. In den Wäldern trifft man hochschwangere Frauen, die Steinpilze sammeln, und Jugendliche in dünnen Trainingsanzügen, die sich zum Schutz vor Regen und Schlamm Plastiktüten um die Knöchel gebunden haben. Crest hat mit Abstand die meisten Pilze gepflückt. Er raucht nicht, trinkt nicht, wirkt ruhiger, ernster als die anderen. Die Autorität, die er besitzt, entsteht, ohne dass er laut ist. Früher, erzählt er, habe auch er gesündigt. Alkohol, Zigaretten, das Übliche. Aber dann, mit 22 Jahren, habe er einen schweren Unfall gehabt, bei dem er fast gestorben wäre. Als es ihm wieder besser ging, ließ er sich taufen. Gemeinsam mit dem Pastor stand er in einem Wasserbecken, wurde untergetaucht


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und als Pfingstler wiedergeboren. Mittlerweile ist er selbst Pastor in der Pfingstgemeinde seines Dorfes. Fragt man ihn, ob er eine Krankenversicherung hat, weil ja seine Arbeit in den Bergwäldern nicht ganz ungefährlich ist, antwortet er: „Jesus ist meine Versicherung.“ Pfingstgemeinden lehren ein gottesfürchtiges Leben, fördern aber auch das Streben ihrer Anhänger nach wirtschaftlichem Aufstieg. Weltweit schließen sich zurzeit Millionen Menschen dieser jungen christlichen Bewegung an, vor allem jene, die wenig besitzen und darauf hoffen, dass die Erlösung schon zu Lebzeiten beginnt. Auf der Rückfahrt sitzt Crest wieder hinter dem Steuer. Die anderen blödeln herum. Sie zeigen einander Videos auf ihren Handys von den Pilzen, die sie gefunden haben. Wer hat den Größten? Der Exporteur Ein betonierter Hof, dahinter Lagerhallen, ein Nachmittag um fünf, die Abendsonne scheint auf mannshoch gestapelte Holzkisten voller Steinpilze. Alin Lutz, dem die Hallen gehören, hatte mit weniger Ware gerechnet. Er steht auf einer Laderampe neben einer großen Waage und beobachtet den Andrang unter ihm im Hof: Fünfzig, vielleicht sechzig Pilzsammler, Frauen und Männer, die meisten Roma, die meisten in schmutzigen Kleidern, entladen die Tagesernte aus ihren Autos. „Der Preis ist viel zu hoch“, sagt Lutz. 25 rumänische Lei, etwa 5,70 Euro, hat er den Sammlern für heute pro Kilo versprochen. Er schaut auf sein Smartphone, als könnte es ihm helfen. Dann klingelt es tatsächlich, ein Geschäftspartner aus Italien. Lutz, 32, ein großer Mann mit kleinem Wohlstandsbauch, sitzt auf einem Knotenpunkt im europäischen Pilzbusiness. Er trägt eine marineblaue Daunenjacke von Tommy Hilfiger, sein wichtigstes

Arbeitswerkzeug ist sein Handy. Ständig klingelt es. Ständig tippt er darauf herum. Lutz wirkt hektisch wie ein Börsenhändler. Seine Firma Aliro Biofunghi exportiere jedes Jahr rund 300 Tonnen frische Steinpilze plus hundert Tonnen Tiefkühlware, sagt er. Die Lagerhallen stehen in Beius, einer Kleinstadt an den Ausläufern des Apuseni-Gebirges, im äußersten Westen von Rumänien, nah an der ungarischen Grenze und damit nah an Österreich, Italien, Deutschland. Beius ist das Zentrum der rumänischen Pilzbranche, eine Handvoll Exportfirmen sitzt hier. Die Händler kaufen direkt von den Sammlern. Auch Ionel Crest hält mit seinem VW-Bus nun auf Lutz’ Hof, sortiert seine Ernte in Holzkisten und schleppt sie zur Laderampe auf die Waage. 28 Kilo, das sind 700 Lei, etwa 160 Euro. Auf dem Bau habe er 100 Lei am Tag gemacht, 22 Euro, hatte er im Wald erzählt. Ein rumänischer Arzt verdient durchschnittlich 700 Euro im Monat. Bei seinem Bruder ist es nicht ganz so gut gelaufen. Florin und seine Frau Maria haben zusammen 16 Kilo gepflückt, 90 Euro. Vor dem Wiegen inspiziert ein Mitarbeiter von Alin Lutz kurz die Pilze. Manchmal würden die Sammler Steine in die Stiele stecken oder Wasser hineinspritzen, damit sie schwerer sind, hat ein anderer Pilzhändler erzählt, Robert Kunz, der mit Alin Lutz befreundet ist. Insgesamt kauft Lutz an diesem Septembertag 2,5 Tonnen. Drinnen, in den Lagerhallen unter Neonlicht, kümmern sich seine Angestellten um die Frischware. Frauen in grünen Schürzen mit blauen Plastikhandschuhen über den Händen kratzen mit Messern die Erde von den Stielen und schubbern mit trockenen Küchenschwämmen die Hüte blank. Schubbschubbschubb, kratzkratzkratz. Ansonsten ist es still. 13


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Die Deutschen, erklärt Lutz dann, würden nur geputzte Pilze kaufen, am liebsten halbiert, damit sie sicher sein können, dass die Ware nicht wurmstichig ist. Die Italiener bevorzugten dagegen die Pilze so, wie sie aus dem Wald kommen, damit das Aroma erhalten bleibt. Lutz ist in das Pilzgeschäft hineingewachsen. Seine Mutter hat in den Neunzigerjahren die Firma aufgebaut. Ein italienischer Händler war an sie herangetreten: Ob sie nicht den Einkauf koordinieren könnte? Alin Lutz ging damals noch zur Schule, anschließend studierte er Umweltwissenschaften. Mittlerweile beschäftigt die Firma in der Hochsaison hundert Mitarbeiter, sie exportieren Walnüsse, Blaubeeren, Pilze. Seit Rumänien EU-Mitglied ist, seit 2007 also, sei das Geschäft noch besser geworden, sagt Lutz, weil es keine Zölle mehr gibt und weniger Grenzkontrollen. Er profitiert von Europa. Seinen Urlaub verbringt er neuerdings in der Dominikanischen Republik. Größer als sein Unternehmen ist in Beius nur die Firma Emilian Funghi. Deren Chef Emil Potora kommt im mattschwarzen Hummer-Jeep auf seinen Hof gefahren. Er trägt Sonnenbrille, das Hemd weit aufgeknöpft, und wenn er über seine Pflücker spricht, sagt er abfällig „Zigeuner“. Besonders stolz ist er auf seine neue Schockfrostanlage. Allein 500 Tonnen tiefgekühlte Steinpilze exportiere er im Jahr, sagt Potora. Die seien profitabler als die frischen Pilze, weil er die Ware einfacher lagern und transportieren könne, und weil nichts verderbe. Ionel Crest, der Sammler, verkauft ein sensibles Rohprodukt, Emil Potora, der Produzent, praktisch verpackte, haltbare Supermarktware. Je mehr Verarbeitungsschritte, desto höher der Gewinn, das ist Potoras Vorteil. Eines seiner einträglichsten Exportgüter sind zurzeit Smoothies, die er aus Waldbeeren herstellt und für das Zigfache des Rohstoffpreises 14

verkauft. In Japan wächst ein Speisepilz, der mindestens so begehrt ist wie der Steinpilz in Europa: der Matsutake. Auch er zählt zu den Mykorrhizapilzen, auch ihn kann man also nicht kultivieren. 1950 wurden in Japan noch mehr als 6.000 Tonnen im Jahr geerntet, Ende der Neunzigerjahre waren es weniger als 200 – weil der Bestand stark geschrumpft ist. Die Ursachen? Vermutlich vielfältig: Industrialisierung, Abgase, Holzschlag, exzessives Pflücken. Wird es auch in Rumänien so kommen? Das Land verliert seine Wälder. Jede Stunde werden drei Hektar gefällt, schreibt Greenpeace in einer Studie. Und je mehr der Wohlstand steigt, desto mehr spritschluckende Jeeps werden auf den Straßen Abgase in die Umwelt blasen. Pilze vermehren sich über Sporen, in denen ihr Erbmaterial sitzt. Bei Steinpilzen reifen diese winzigen Kapseln auf der Unterseite des Hutes heran, millionenfach. Die Unterseite sieht aus wie ein Schwamm. Sie besteht aus dünnen, dicht aneinander liegenden Röhren, die man erst erkennt, wenn man den Hut zerschneidet. Ist der Steinpilz ausgewachsen, rieseln die Sporen aus dem Schwamm und verbreiten sich über die Luft. Auf dem deutschen Markt verkaufen sich am besten sehr junge Steinpilze. Wegen ihrer Größe und ihrer Form werden sie Champagnerkorken genannt. Sie sind besonders fest und innen strahlend weiß. Ihr Hut hat sich noch nicht wie ein Regenschirm aufgespannt, sondern klebt am Stiel. Die Sporen: eingeschlossen. Ob es für den Bestand schädlich ist, auch diese jungen Exemplare zu pflücken, ist wissenschaftlich umstritten. Ionel Crest nennt sie „Babys“ und lässt sie lieber stehen. Noch rollt das Pilzgeschäft in Rumänien. Gegen 18 Uhr fährt ein weißer Mercedes Sprinter vom Hof von Alin Lutz. Die geputzten Steinpilze lagern


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darin bei zwei Grad. Lutz verkauft sie heute für zehn Euro pro Kilo. Etwa zwölf Stunden Fahrt sind es bis Deutschland. Der Importeur Die Großmarkthalle in München, am Morgen um sieben, künstliches Licht, Zigarettendunst vermischt sich mit Verkaufsgesprächen. Hans Widmann hat es eilig. Er läuft an Pfirsich- und Orangenkisten vorbei, an Bananenstapeln und Bergen von Äpfeln, zu seinem Stand in Halle 1, Nummer 13–14. Die neue Ware ist eingetroffen, er will sie prüfen, aber auf seinem Weg dorthin schlägt ihm ständig jemand auf die Schulter. Griaß di, Hansi! Servus, Hansi! Der Großmarkt ist eine kleine Welt. Manchmal zu klein, sagt Widmann. Er ist hier aufgewachsen, die alten Hallen hat er zeitweilig öfter gesehen als sein Klassenzimmer. Schon sein Vater verkaufte Obst und Gemüse, Hans und sein Bruder halfen aus. Es sei nicht leicht gewesen, sich aus dieser Welt zu lösen, sagt er. Aber wichtig. „Einige Händler arbeiten hier noch genauso wie vor vierzig Jahren.“ Widmann ist 47, trägt die Haare raspelkurz und eine schwarze Funktionsjacke. Früher hat er mal geboxt, die Statur hat er noch immer. Als er zwanzig war, zog er von München nach Regensburg, um BWL zu studieren. Er hat sogar promoviert, in der Familie hieß er danach „der Gescheite“. Das Thema seiner Dissertation: die Großmarkthalle München. Natürlich sei er dorthin zurückgekehrt, sagt er. Gemeinsam mit seinem Bruder übernahm er Ende der Neunzigerjahre das Geschäft. Manche Kunden fragten ihn, den Doktor, nun, ob sie die Ware mit Rezept – höhöhö – nicht billiger bekämen. Seit der Dissertation wisse er aber auch, was wichtig sei für

seinen Erfolg, sagt Widmann: „Spezialisierung ist des Rätsels Lösung.“ Pfirsiche, Orangen, Bananen und Äpfel verkaufen viele Händler auf dem Großmarkt. Ihre Stände sind wie Supermärkte: von allem ein bisschen. Wer Blaubeeren, Himbeeren oder Steinpilze sucht, auch große Mengen, geht zu Widmann, dem Spezialisten. „Bei Steinpilzen sind wir die Nummer eins in München“, sagt Widmann, und das bestätigen auch seine Konkurrenten. Das Steinpilzgeschäft teilen sich in Deutschland wenige Firmen, die alle in Bayern sitzen und Familiennamen tragen. Widmann, Niklas, Stahl. Sie beliefern Supermärkte mit Tiefkühl- und Trockenware, vor allem Stahl und Niklas. Die frischen Pilze, auf die sich Widmann konzentriert, landen in der Gastronomie und auf Wochenmärkten. Steinpilze sind schneller verderblich und deshalb auch teurer als beispielsweise Pfifferlinge, von denen jedes Jahr mehr als 6.000 Tonnen nach Deutschland importiert werden. Daher gibt es frische Steinpilze fast nie beim Discounter zu kaufen, Pfifferlinge schon. „Pfifferlinge sind wie Kartoffeln“, sagt Widmann; der Steinpilz sei für ihn der König. Hundert Tonnen importierten sie im Jahr, alles aus Rumänien. 1,5 Tonnen davon sind an diesem Mittwoch Mitte September eingetroffen, in zwei Mercedes Sprintern. Diesmal ist keine Ware von Alin Lutz dabei, Widmann kauft von verschiedenen Zwischenhändlern. „Man muss in einem Land den Informationsvorsprung haben“, sagt er, „die besseren Kontakte.“ Seit 1999 fliegt er mehrmals im Jahr nach Rumänien. Anfangs seien die Sammler dort barfuß aus dem Wald gekommen, mittlerweile habe sich das Land aber entwickelt. „Taxifahrer schalten ihre Taxameter ein, Polizisten verlangen kein Schmiergeld mehr“, sagt Widmann. Nur beim Kunden habe Rumänien immer noch einen 15


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schlechten Ruf, deshalb würden einige Wochenmarkthändler die Pilze lieber als Ware aus Österreich deklarieren. Ein Gemüsehändler aus Schwabing kommt an Widmanns Stand, nimmt einen halbierten Steinpilz aus der Kiste, drückt den Stiel, klopft auf den Hut. Die Pilze treten nun den letzten Teil ihrer Reise an. Sie haben bereits ein wenig Aroma verloren, gewinnen nun aber umso mehr Wert. Widmann hat 10,50 Euro pro Kilo bezahlt, der Gemüsehändler Ahmet Uslu kauft sie für zwölf Euro. Seine Kunden schätzten saisonale Ware, sagt er, und ordert 39 Kilo. Drei Stunden später liegen die Pilze in Uslus kleinem Laden am Kurfürstenplatz und kosten 19,90 Euro pro Kilo. Die kleinen Champagnerkorken 29,90 Euro. Ionel Crest, der Sammler, will im nächsten Jahr aus dem Pilzgeschäft aussteigen. Es hat ihm bescheidenen Wohlstand gebracht, das schon: Sein Haus im Roma-Dorf ist frisch gestrichen, es leuchtet fliederfarben, gerade hat er eine neue Regenrinne ans Dach montiert. Wenn Gäste kommen, kann er Grillfleisch servieren. In seinem Wohnzimmer steht eine drei Meter breite Couch, an den gelben Wänden hängen bunte Plastikblumen. Aber Crest will nicht mehr nur auf sein Glück vertrauen, das buchstäblich aus dem Waldboden wächst. Sein Erspartes wird er nun investieren, in Bienenstöcke, hundert davon sollen es bis zum nächsten Sommer sein. Crest wäre dann nicht mehr Sammler, sondern Produzent. Süddeutsche Zeitung Magazin‚ 23.10.2015

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TEXTREPORTAGE NOMINIERTER

✍ OSAMAS LEUTE VON MICHAEL MARTENS Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2015 TV-Bilder von Flüchtlingen vor Zäunen und Grenzen hat es reichlich gegeben. Die Menschen auf solchen Bildern bewegen sich wenig. Michael Martens hat den syrischen Flüchtling Osama und seine Leute kurz vor der Schließung der ungarischen Grenze ein Stück auf ihrem beschwerlichen Marsch begleitet. Es gelingt ihm in seiner Reportage, das Flüchten als eine fortgesetzte Bewegung, ein Unterwegssein mit alltäglichen Unwägbarkeiten und konkreten Wünschen zu zeigen. Das Miterleben wird für den Leser auch dadurch möglich, dass der Reporter sich als Beteiligter an der Situation zu erkennen gibt, aus der er berichtet. Horst Pöttker, Professor emer. am Institut für Journalistik, TU Dortmund

Foto: Daniel Pilar

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Foto: Daniel Pilar

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MICHAEL MARTENS Michael Martens (*1973) ist in Hamburg und der Lüneburger Heide aufgewachsen. Bald nach dem Abitur arbeitete er als Redakteur für verschiedene russlanddeutsche Zeitungen mit Stationen in Kirgistan, Kasachstan, der Ukraine und Russland. 2001 trat er in die Nachrichtenredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein. Sieben Jahre lang war Michael Martens als Korrespondent in Belgrad tätig und dort zuständig für die Nachkriegsberichterstattung vom Balkan. Ab 2009 beobachtete er die Türkei und den Balkan von Istanbul aus. 2015 zog er nach Athen um und berichtet von dort über die griechische Krise sowie weiterhin über die Türkei und den Balkan – und über die Flüchtlinge auf der Balkanroute. 19


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OSAMAS LEUTE von Michael Martens Bisher war es kinderleicht, illegal in die Europäische Union einzureisen. Der von Budapest errichtete Grenzzaun ist ein Witz, und zur Begrüßung gibt es für die Völkerwanderer islamische Brötchen und antifaschistische deutsche Kartoffelsuppe. Ein Spaziergang von Serbien nach Ungarn.

W

ir kennen uns vielleicht eine halbe Stunde, da fragt Osama: „Glauben Sie an Gott?“ Er blickt dabei auf den Boden, denn wir laufen auf einem Bahngleis, und da kommt man am besten voran, wenn man immer auf die Schwellen tritt, nicht auf den Schotter dazwischen. Als Osama die Antwort hört, schweigt er einige Schwellen lang, dann sagt er: „Nicht alle Menschen, die an Gott glauben, sind gut – und nicht alle Ungläubigen sind schlecht.“ Terroristen zum Beispiel, sagt Osama. Er meint die Männer vom ‚Islamischen Staat‘, der Terrorgruppe, die er „Daesh“ nennt. „Bei ‚Daesh‘ glauben sie an Gott, aber falsch. Das gibt es: Man kann falsch an den richtigen Gott glauben.“ An der linken Hand führt Osama seinen jüngsten Sohn mit sich, in der rechten trägt er eine Tasche mit zusammengerollten Isomatten und dünnen Decken. „Unsere Betten“, sagt Osama. Vor ein paar Wochen, vor der Überfahrt nach Lesbos, als sie sich in einem Wald an der türkischen Küste versteckten, hätte er seinen Sohn beinahe verloren. Es war früh am Morgen, noch dunkel fast, es musste plötzlich ganz schnell gehen, es war chaotisch, und auf einmal war Mohammed nicht mehr da. Es wäre fast das Ende gewesen. „Meine Frau würde mich 20

töten, wenn ich mich aus Deutschland melde ohne Mohammed“, sagt Osama. Jetzt haben sie es bald geschafft. Das Gleis, auf dem Osama und seine Leute gehen, führt nach Ungarn. Osama ermahnt Mohammed, er solle auf seine Schritte achten. Damit nicht noch etwas passiert so kurz vor dem Ziel. Es sind nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze. Wir passieren die letzten Häuser von Horgos, dem letzten serbischen Dorf vor der Grenze. Ein Bauer und seine Frau stehen am Gartentor und betrachten schweigend die fremden Völkerscharen, die da wenige Meter von ihrem Haus entfernt nordwärts wandern. Sie brauchen keine Fernsehnachrichten, denn das Weltgeschehen zieht an ihrem Haus vorbei, live, seit Stunden, seit Tagen. Tausende und Abertausende sind unterwegs von Serbien nach Ungarn, der Menschenstrom hat keinen Anfang und kein Ende. Menschen aus Syrien, dem Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan und anderen fernen Ländern, von denen der schaulustige Bauer und seine Frau vermutlich ebenso wenig wissen wie die an ihnen vorbeiziehenden Massen von Serbien. Oft kommen Familien mit Kindern. Die sind müde, manche quengeln oder weinen und wollen


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endlich da sein, die Babys brüllen. Aus Pakistan sind fast nur junge Männer unterwegs, oft in großen Gruppen, als seien ganze Dorfgemeinschaften gemeinsam aufgebrochen. Wenn sie schweigend vorbeilaufen, zu Dutzenden, hört es sich an, als marschiere ein Trupp Soldaten über einen Platz. Schwarzafrikaner gehen dagegen meist allein, sie sind eine Minderheit auf den Gleisen. Osama ist mit seiner Schwester, zwei von seinen drei Söhnen und einem halben Dutzend anderen Verwandten unterwegs. Die Frau, der Vater und ein Sohn sind noch in Syrien. Es geht vorbei an einem dörflichen Potpourri aus Gemüsebeeten, Kartoffeläckern, Maisfeldern und weißgekalkten Bauernhäusern, aber Osama und seine Leute bekommen davon wenig mit. Immer auf die Schwellen achten! Er stamme aus Daraa, sagt Osama. Computeringenieur. Eigentlich habe er nicht fort gewollt aus seiner Heimat, wer wolle das schon. Aber irgendwann habe er eingesehen, dass der Krieg in Syrien wahrscheinlich länger dauern werde als der Rest seines Lebens. In diesem Syrien sollten seine Kinder nicht aufwachsen. Als bei seiner Schwester dann auch noch ein Gehirntumor diagnostiziert wurde, sei endgültig der Entschluss gefallen: nach Deutschland! „Meine Schwester hat Krebs im Kopf. Wir haben das Röntgenbild dabei. In Deutschland wird man sie operieren“, sagt Osama. Daraa im Süden Syriens ist von Horgos im Norden Serbiens laut Google Maps 2.680 Kilometer beziehungsweise 538 Stunden Fußmarsch entfernt. Google gibt auch zwei Warnungen aus: „Auf dieser Route gibt es eine Fährstrecke“, und: „Diese Route führt möglicherweise über Landesgrenzen.“ Osamas Erlebnisse der vergangenen Monate wären mit zwei anderen Hinweisen besser beschrieben: „Auf dieser Route werden Sie möglicherweise von

Terroristen entführt“, und „Auf dieser Route könnten Sie im Mittelmeer ertrinken.“ Drei Tage habe „Daesh“ sie festgehalten, sagt Osama, aber er spricht keineswegs schlecht von den Terroristen. „Sie haben uns zu trinken gegeben und zu essen, jeden Tag drei belegte Brötchen.“ Warum hat man sie denn festgehalten? „Weil sie überprüfen wollten, ob wir mit Assad sind oder mit einer anderen Gruppe, gegen die sie kämpfen. Sie hassen nämlich alle außer sich selbst.“ Die Männer von „Daesh“, sagt Osama, hätten ihre Informanten in Daraa angerufen, um sich über ihn zu erkundigen. „Sie haben dort angerufen und gesagt: ‚Was wisst ihr über diesen Osama, den wir hier haben? Ist er einer von Assads Leuten?‘“ Aber er habe nichts zu befürchten gehabt, sagt Osama: „Wir sind normale Leute. Wir lieben weder Assad noch die Terroristen. Wir lieben Gott, wir lieben Ruhe.“ Und Angela Merkel natürlich, die beliebteste Pfarrerstochter der islamischen Geschichte. „Lieben Sie Merkel?“, fragt Osama, wartet anders als bei der Frage nach Gott aber eine Antwort vorsichtshalber gar nicht erst ab und sagt: „In Syrien lieben wir Merkel.“ Osama strahlt, er hat schöne Zähne. Ein Afrikaner überholt Osamas Leute, er zieht einen Rollkoffer über Schotter und Schwellen hinter sich her. Der Rhythmus liegt noch einige Minuten lang in der Luft, wird langsam leiser, dann sind der Afrikaner und sein Koffer nicht mehr zu hören. Wenige Kilometer vor der ungarischen Grenze kommt in einer Gruppe vor uns Unruhe auf. Auf einmal kommen uns Menschen entgegen, sie gehen zurück, Richtung Serbien. Was ist da los? Osama wirkt besorgt. „Ich werde fragen“, sagt er und spricht mit den zurückkehrenden Männern, die ebenfalls aus Syrien stammen. „Sie haben gehört, dass die Polizei in Ungarn Fingerabdrücke nimmt, 21


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davor haben sie Angst. Weil sie nach Schweden wollen, nicht nach Deutschland“, berichtet Osama schließlich. „Sie wollen warten, bis es Nacht wird, und dann heimlich über die Grenze gehen, damit die Polizei sie nicht sieht.“ Einer der Männer in der Gruppe spricht Englisch und erläutert das Problem: Man habe auf Facebook gelesen, dass nur Deutschland alle Syrer aufnehme. Alle anderen Länder, auch Schweden, schickten Flüchtlinge dagegen in das EU-Land zurück, in dem ihnen zum ersten Mal Fingerabdrücke abgenommen wurden. In Griechenland habe zum Glück niemand nach Fingerabdrücken gefragt und in Ungarn werde man auch keine geben. „Wir wollen nicht in Ungarn leben“, sagt der Mann. Ein anderer mischt sich ein: Er habe gehört, auch Schweden schicke Syrer nicht zurück nach Ungarn. Unsinn, sagt ein Dritter. Die Diskussion wogt hin und her, schließlich wird Osama ungeduldig: „Gehen wir. Das geht uns nichts an. Wenn Ungarn von uns Fingerabdrücke will, bekommt es Fingerabdrücke.“ Wir kommen an einem Serben vorbei, der am Rande des Bahndamms einen kleinen Verkaufsstand eröffnet hat. Sein Angebot hat er auf umgedrehten Pappkartons ausgelegt: Wasser, Cola, Kartoffelchips, Zigaretten. Wegzehrung für die Reise nach Europa. Osama hat Verständnis für den Mann. „Er hat bestimmt Frau und Kinder und muss Geld verdienen. Hier müssen die Menschen auch leben.“ Die Preise sind annehmbar. Die Literflasche Wasser verkauft der Mann für 120 Dinar, das ist ein Euro. Osama kauft trotzdem nichts. Er will sein Geld zusammenhalten, denn er macht sich Sorgen wegen Ungarn. Auf Facebook hat er viel Schlechtes gelesen über das Land. Die Ungarn bauen einen Zaun, sie stecken die Menschen in Lager, lassen sie nicht weiterreisen. „Aber meine Schwester hat es nach 22

Deutschland geschafft“, sagt Osama. Gestern habe sie sich über Whatsapp aus Frankfurt gemeldet, alles sei in Ordnung. Aber die Schwester hat die Passage durch Ungarn schon einige Tage früher geschafft. „Wir haben gehört, dass Ungarn Menschen jetzt in Lager sperrt. Wir haben Angst vor Ungarn“, sagt Osama. Irgendwo vor dem Niemandsland zwischen Serbien und Ungarn fragt er: „Warum will Ungarn nicht, dass Deutschland Syrien hilft?“ Am Bahndamm haben Afghanen ein Feuer entfacht, sie braten Maiskolben vom Feld neben sich. Etwas abseits von ihnen sitzt der Afrikaner mit dem Koffer im Gras, die Rollen sind kaputt. Auf der anderen Seite, im Schatten des letzten serbischen Wachtturms an der Grenze, haben sich wohl an die hundert Männer versammelt, die nun offenbar doch nicht über die Grenze wollen, jedenfalls nicht bei Tag. Zumindest sind sie sich unsicher, es wird erregt diskutiert. Immer wieder geht es um die Frage, ob alle, die der ungarischen Polizei ihre Fingerabdrücke geben, in Ungarn bleiben müssen. Etwas weiter hat sich eine Gruppe von Irakern gesammelt. Sie wollen nach Deutschland, haben aber ebenfalls Angst davor, in Ungarn Fingerabdrücke zu hinterlassen. Osama spricht mit einem der Iraker und kommt kopfschüttelnd zurück. „Sie wollen eine Gruppe von 500 Leuten bilden und dann einfach über die Grenze stürmen. Sie glauben, dann kann die ungarische Polizei sie nicht aufhalten, weil sie zu viele sind.“ Nach allem, was er über die ungarische Polizei gehört habe, sei das sehr gefährlich. Osama macht sich ohnehin Sorgen wegen des Zauns, den die Ungarn bauen. Seine Schwester kam noch durch. Doch was, wenn der Zaun inzwischen fertig ist? Während Osama noch von seinen Ängsten spricht, kommt eine Gruppe Syrer auf ihn zu. Irgendwie haben sie mitbekommen, dass Osama mit


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einem Journalisten aus dem Land von Angela Merkel unterwegs ist. Osama muss ihre Fragen übersetzen: Kann man nach Schweden weiterreisen, wenn man in Ungarn einen Fingerabdruck abgegeben hat? Stimmt es, dass alle, die sich bei der ungarischen Polizei melden, mindestens zwei Wochen in einem ungarischen Lager eingesperrt werden? Ist es wahr, dass es täglich einen Sonderzug von Budapest nach Berlin gibt für zehn Euro pro Person? Können allein reisende Kinder ihre Eltern und Großeltern nach Deutschland holen, sobald sie als Asylanten anerkannt sind? Ein junger Mann sagt: „Warum behandelt man uns wie Terroristen? Wir sind doch selbst vor Terroristen fortgelaufen!“ Es kostet Mühe, den Menschen deutlich zu machen, dass ein Journalist kein Polizist oder Anwalt ist und all die Fragen nicht beantworten kann. Die Menschen sind trotzdem dankbar, verabschieden sich freundlich: „Germany good, Merkel good“. Einige hundert Meter weiter liegen dann diese Zettel auf dem Gleisbett. In roter Schrift auf weißem Grund steht da geschrieben: „Ungarn sind gastfreundlich, aber die strengsten Maßnahmen werden ergriffen gegen jene, die versuchen, illegal in Ungarn einzureisen. Das illegale Überqueren der Grenze dieses Landes ist ein Verbrechen, das mit Haft geahndet wird. HÖRT NICHT auf die Menschenschmuggler. Ungarn wird es illegalen Immigranten nicht gestatten, sein Territorium zu durchqueren. Die Regierung Ungarns.“ Osama liest den Zettel aufmerksam. Ratlosigkeit. Was jetzt? Umkehren? Nein, das ist keine Option. Schon gar nicht so kurz vor der Grenze. Weiter also. Das Grenzgebiet ist dünn besiedelt. Ab und zu noch ein verlassenes Gehöft, ein aufgegebener Hof, schon lange verödet. Einst verlief hier die Grenze zwischen dem Warschauer Pakt und

dem blockfreien Jugoslawien, eine der am schärfsten bewachten Trennungslinien des Kontinents, der Limes zwischen dem Imperium Moskaus und Titos zwischen Sozialismus und verkorkster Marktwirtschaft changierendem Belgrader Zwitterreich, dessen Bürger in den Westen ausreisen durften. Osama erzählt gerade von seiner Frau und seinem Vater, die noch in Syrien sind, als die Grenze in Sicht kommt. Ungarn, das ist zunächst nur ein silbrig glänzender Zaun am Horizont. Als wir näher kommen, zeigt sich, dass der Zaun nicht fertig ist. Die Pfähle sind schon in den Boden gerammt, aber noch nicht durch Gitter miteinander verbunden. Davor liegen nur Rollen mit Nato-Draht. Wer die massiven Zäune gesehen hat, die Bulgarien und Griechenland an ihren Grenzen zur Türkei errichtet haben, wird sich nicht wundern, warum Ungarn die beliebteste Route der Flüchtlinge und Völkerwanderer ist. Selbst wenn er fertig ist, wird der ungarische Zaun im Vergleich zu den griechischen und bulgarischen Grenzbefestigungen harmlos wirken. Das Wichtigste aber: Der Bereich um den Bahndamm ist vollkommen offen, es gibt keinen Draht, keine Polizisten, keine Grenzschützer, nichts. Man kann einfach von Serbien nach Ungarn spazieren. „Ist das wirklich Ungarn da vorne?“, fragt Osama, der nicht glauben kann, dass es so einfach sein soll, nach Ungarn zu gelangen. Eine Windbö streicht durch die letzten serbischen und die ersten ungarischen Maisfelder, wirbelt grenzübergreifend den Plastikmüll links und rechts der Schienen durcheinander. Die hölzernen Schwellen der staatlichen Eisenbahnen Serbiens werden von den Betonschwellen der ungarischen Staatsbahn abgelöst, und so, ganz unspektakulär, kommen Osama und seine Leute in Ungarn an, in der Europäischen Union, im Schengen-Raum. 23


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Nach allem, was sie über den ungarischen Zaun gehört und gelesen haben, geht es vielen wie Osama: Sie können nicht glauben, dass es so einfach sein soll, nach Ungarn zu gelangen. „Entschuldigen Sie, Sir, sind wir jetzt in Ungarn?“, fragt ein Syrer in formvollendetem britischem Englisch. Etwa zweihundert Meter nach dem Zaun wird dann selbst den größten Zweiflern klar, dass wir in Ungarn sind. Eine Hundertschaft von Journalisten richtet ihre Kameras auf die Flüchtlinge, es gibt kein Entrinnen, Öffentlichkeit überall. Kaum in Ungarn, wird ein Syrer aus der Gruppe vor Osama abgefangen. Nicht von der ungarischen Polizei, sondern von einer Mitarbeiterin der „Finn Church Aid“, einer Hilfsorganisation, die offenbar einen eigenen Medienkanal hat. „Wie groß war das Boot, auf dem Sie geflüchtet sind, und wie viele Leute waren an Bord?“ lautet ihre erste Frage. Der Kameramann von Reuters filmt auf dem Gleisbett und schreit seine Kollegen an, sie sollen ihm nicht ständig durchs Bild laufen. Einige Schritte weiter beginnt das Reich der Hilfsorganisationen. Die „Hungarian Islamic Community“ verteilt belegte Brötchen und Wasser. Nebenan schält die „Antifaschistische Aktion“ aus Deutschland Kartoffeln für eine Suppe. Die Antifaschistenflagge hat sich mehrfach um sich selbst gewickelt, daher ist nur noch das Wort „Aktion“ zu lesen. Daneben ein Banner mit Schmetterlingen, die über einen Grenzzaun flattern: „Ain't no wall high enough“ steht darunter. Osama und seine Leute haben sich auf einer Brache neben einem Maisfeld niedergelassen. Der junge Mann, der nach Schweden will und Angst vor Fingerabdrücken hat, ist auch da. Er will warten, bis es dunkel wird, und dann durch die Felder gehen, um sich irgendwo ein Taxi nach Budapest zu suchen. Ein Hubschrauber kreist über dem Gelände. Osama und Mohammed holen sich 24

Kleidungsstücke und Schuhe von einer Hilfsorganisation, die anderen warten auf dem Feld. Sie sehen erschöpft aus, aber nicht verängstigt. Die Europäische Union ist ein Feld, über dem ein Hubschrauber kreist, und dazu gibt es belegte Brötchen mit antifaschistischer Kartoffelsuppe aus Deutschland, das ist für den Anfang nicht schlecht. Sobald er in Deutschland sei, werde er eine EMail schreiben, hat Osama zum Abschied versprochen. Er wollte nach Frankfurt, zu seiner Schwester. Bisher hat er sich nicht gemeldet. Am Montag berichteten ungarische Medien, der letzte Durchlass an der Grenze zu Serbien sei nun ebenfalls geschlossen worden. Man habe Güterwaggons auf die Gleise gestellt und den Rest mit einem Zaun abgeriegelt. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2015 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH


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TEXTREPORTAGE NOMINIERTER

✍ DAS DORF VON TIM NESHITOV Süddeutsche Zeitung, 5.12.2015 Jeder, der jemals mit dem Auto durch Russland gefahren ist, kennt das traurige Bild am Straßenrand: Ein leeres Dorf nach dem anderen. Die Häuser verfallen, die Obstbäume wachsen wild, überall Unkraut. Nur manchmal hört man das Bellen eines Hundes, der sich in der Einsamkeit beschwert. Genau so ein Dorf hat Tim Neshitov in seiner klassischen Reportage beschrieben. Er versetzt die Leser ins westrussische Sakulino, nur zehn Kilometer von der Grenze zu Lettland entfernt. Dort wohnen Polina und Sascha, seit fünfzig Jahren ein Paar. Die beiden Rentner haben das Dorf für sich. Alle anderen sind entweder gestorben oder weggezogen. Nicht einmal mehr der Lebensmittelwagen fährt Sakulino an. Tim Neshitov lässt uns am täglichen Überlebenskampf der alten Eheleute und an ihren Erinnerungen teilhaben – eine Reportage pur und ein großer Lesegenuss. Henrik Kaufholz, Redakteur bei Politiken (Kopenhagen)

Fotos: Eve Arnold / Tim Neshitov

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Foto: privat

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TIM NESHITOV Tim Neshitov (*1982) ist in Leningrad aufgewachsen, dem heutigen Sankt Petersburg, und studierte dort Journalismus. Während des Studiums schrieb er für die deutschsprachige St. Petersburgische Zeitung. Seit 2004 lebt er in Deutschland. Er versuchte hier zu studieren, arbeitete als Korrespondent für die türkische Zeitung Zaman und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Seit 2011 ist er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, erst in der Außenpolitik, dann im Feuilleton, nun als Reporter auf der Seite Drei.

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DAS DORF von Tim Neshitov Im russischen Sakulino leben noch zwei Bewohner. Über Putin reden sie nie. Eher über Rattengift.

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or einigen Jahren wurde die russische Polizei und Sowchosen mit marxistischer Präzision ausumbenannt. Sie hieß früher „Milizija“, was beutet wurden. Was war noch mal der Unterschied bei Nichtrussen Unbehagen hervorrief. Nun zwischen einer Kolchose und einer Sowchose? Unheißt sie „Polizija“, was wiederum bei älteren Russen nötiges Wissen heute. „Chose“ (spricht sich aus wie unangenehme Erinnerungen wachruft, denn „Po- Hose) steht jedenfalls für „chosjastwo“, Wirtschaft. litsaj“ wurden einst Schergen der SS und deren Kol- Also Kolchose: kollektive Wirtschaft, Sowchose: solaborateure in den besetzten Gebieten genannt. Im wjetische Wirtschaft. Beides tot. Das Dorf aber lebt, Westen und Süden Russlands leben noch Menschen, noch. 37 Millionen Russen leben auf dem Land, die als Kind den Krieg überlebten und bei dem Wort von den 147 Millionen. Man könnte sogar sagen, dass gerade hier, auf Polizei zusammenzucken. Es ist die Generation, die von „dem Deutschen“ spricht. Der Deutsche hängte dem Land das andere Russland lebt, jenes Russmeine Mutter auf, der Deutsche schenkte mir eine land jenseits von Moskau und Sankt Petersburg, Zigarette. Aus dieser Generation kommen die ein- das so wenig Beachtung findet, weil ein Wladimir zigen Menschen, die überhaupt noch in den russi- Putin schon viel Beachtung beansprucht. Auf dem schen Dörfern leben wollen. Die Jungen ziehen weg Land lebt der Russe. In einem Dorf wie Sakulino wegen Urbanisierung und Globalisierung bezie- in Westrussland spricht man wenig über das Welthungsweise weil das russische Dorf einfach ausstirbt, geschehen, man spricht über das neue Rattengift unwiederbringlich und unaufhaltsam, als wäre’s ein der Marke „Tod der Ratte No 1“, über den Traktor MT3-80 (achtzig Pferdestärken!), über die Elstern, von Newton übersehenes Naturgesetz. Es ist für die Alten kein einfaches Leben auf die irgendwie verschwunden sind. Liegt das an dem Land, wobei, so richtig gut ging es russischen der Erderwärmung oder gibt es hier einfach nichts Bauern sowieso nie, weder als Leibeigene im Zaren- mehr zu klauen? Auch über Putin spricht in Sakureich, noch als sie in den sowjetischen Kolchosen lino niemand. 28


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Sascha geht öfter vor die Tür eine rauchen, der Erstens weil in Sakulino nur noch zwei Menschen leben. Das Dorf liegt 140 Kilometer südlich kleine, heisere Hund – er heißt Kastanie – kommt von Pskow (auf den Karten der Wehrmacht hieß mit. Die Luft ist ein Meer aus Sauerstoff und, Gott Pskow Pleskau), zehn Kilometer von der EU-Gren- segne alle Tiere, mückenfrei. Seit Sascha vor einigen ze entfernt. Zweitens, weil für diese beiden Putin Jahren betrunkenerweise im Schnee eingeschlafen ist, sind seine Beine unzuverlässig. Er läuft mit einicht Russland ist. Polina und Sascha, beide 1941 geboren, sind nem langen, zittrigen Stock. Es sieht wie Puppenein Paar seit fünfzig Jahren. Sie nennt ihn Sascha, er theater aus. Kastanie dreht besorgte Runden um ihn. sie Polina, keine Kosenamen mehr. Sakulino liegt Polina geht kaum noch hinaus. Sie hat gepflegan der Grenze zu Lettland. In dieser Region hat sich te, noch dichte Haare, aber ihre Beine sind arg anRusslands tiefstes demografisches Loch aufgetan. gelaufen. Sie liegt stundenlang im schummerigen, Ein Viertel aller Dörfer im Pskower Gebiet sind aus- nach Brot und Milch riechenden Wohnzimmer gestorben. In den restlichen leben jeweils zwischen und sieht fern. Wenn sie spricht, dehnt sie ihre Vokale, sie einem und zehn Menschen. Das geduckte Holzhaus von Sascha und Polina steht am südlichen Rand von singt sie fast, aber sie spricht wenig. Sie mag MuSakulino. Die anderen dreizehn Häuser stehen leer. siksendungen, vor allem Volkslieder über Pferde, Früher habe es hier Hochzeiten gegeben, sagt Sa- dichten Nebel und Sonnenaufgänge. Sascha mag scha, und Taufen. Später veranstaltungstechnisch Filme mit Sylvester Stallone und Al Pacino. Es ist nur noch Begräbnisse. Heute kann niemand mehr erstaunlich, wie unzugänglich dieses Paar für die politische Propaganda geblieben ist, die ihm aus begraben werden, weil alle schon gestorben sind. Die Kolchose, in der sie früher alle gearbeitet dem Fernsehen entgegenströmt. Polina sagt, sie haben, hieß „Erinnerung an Iljitsch“, also an Wla- schlafe bei Nachrichtensendungen und Laberrundimir Iljitsch Lenin. Wer Lenin einfach Iljitsch den gut ein. Unter der Decke in ihrer Küche hängt ein nannte, suchte Nähe zum Revolutionsführer, Wärme. In der Sowjetunion gab es unzählige Kolchosen, Streifen Klebeband, eine Attrappe, an der Dutzendie „Erinnerung an Iljitsch“ hießen. Sascha fuhr de von Fliegen kleben. Einige zappeln noch, aber ohne Leidenschaft. Zur nächsten Kreisstadt, KrasTraktor. Polina molk. Im Spätherbst lagen in Sakulino überall Äpfel nogorodsk (offiziell 3.729 Einwohner) fährt man und Pflaumen, weil hier so viele Obstbäume wach- über eine steinige Straße eine Viertelstunde. Früher sen, die niemand mehr erntet. „Ein Baum erinnert kam aus Krasnogorodsk ein Wagen mit der Wahlursich an gute Hände“, sagt Sascha. „Du kümmerst ne, sobald irgendetwas oder irgendjemand gewählt dich um ihn, dann stirbst du, aber der Baum gibt wurde, Staatspräsident, Duma, Gebietsparlament. weiter Früchte.“ Es schneit neuerdings selten vor In den letzten Jahren schickten die Wähler von SaSilvester, aber nachts legt sich Reif auf die ewigen kulino diesen Wagen immer zurück. Oft lief es so ab: Der Wagen hupte, Sascha Äpfel und Pflaumen im Gras, und sie werden davon erst mehlig und dann matschig. Die mannshohen kam mit Kastanie heraus. Die einzige Straße von Brennnesseln, die den Zugang zu den leeren Häu- Sakulino ist eng und löchrig. Der Wagen parkte in sern versperren, stechen ab Oktober nicht mehr, der Mitte des Dorfes, wo man am schnellsten umdrehen kann, vor dem Holzspeicher von Genja und aber im Frühling wachsen neue nach. 29


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Proskowja. Genja hielt Bienen und machte fan- der steinernen Überreste des gräflichen Pferdestalls. tastischen Honigwodka und Apfelwein. Ein alter Beim Grafen waren die Vorfahren von Polina und Freund aus der Kolchose-Zeit. Er hatte das Kreuz Sascha Leibeigene. Man habe diese Gegend früher „China“ geeines Riesen und hackte bis ins hohe Alter Holz. Genja weinte, als bei ihm Krebs gefunden wurde, nannt, sagt Sascha, weil hier so viele Menschen und nachdem er im vergangenen März starb, hol- lebten. Die Grenzschützer mussten sogar eins ihrer ten die Kinder seine Witwe zu sich in die Kreisstadt. schicken Backsteinhäuser für eine zusätzliche SchuGenjas Bienen bewohnen noch die Waben vor dem le zur Verfügung stellen. Es gab an den Schulen in den Zeiten des späten Stalin das Fach „Verfassung“, kalten Haus. Sascha erzählt, sie hätten den Vertretern der in dem die Verfassung von 1936 unterrichtet wurde. Wahlkommission beim letzten Mal gesagt: Wegen Die war auf dem Papier eine der demokratischsten uns braucht ihr nicht zu kommen! Bei euch ge- auf dem Planeten. Sascha weiß also seit langem, winnt sowieso, wer gewinnen soll, und wir haben was Propaganda ist. Nach der Schule ließ er sich zum Traktorfahrer ausbilden (auf 50 Pferdestärken keine Zeit zu verschwenden. Zeit haben sie in Sakulino jede Menge, aber damals). Nach Genjas Tod im vergangenen März pastrotzdem keine zu verschwenden. Sascha liest Conan Doyle, eine solide, sowjetische Ausgabe der sierte etwas Unangenehmes. Der LebensmittelwaAbenteuer von Sherlock Holmes mit aufwendigen gen kam nicht mehr. Er kam früher zweimal die Illustrationen und ohne einen einzigen Tippfehler. Woche, parkte dort, wo auch der Wahlurnenwagen Seine Bildung besteht aus acht Schulklassen. Das immer parkt, vor den Bienenstöcken. Ein Minivan. ist viel für sakulinsche Verhältnisse. Polina hat nur Eine geschminkte Verkäuferin aus Krasnogorodsk fünf Klassen Bildung. Ihre Mutter nahm sie von der reichte durch die aufgeklappte Hintertür Zucker, Schule, weil sie Hilfe im Haushalt brauchte, nach- Bonbons, Salz, Brot, Fleisch, Käse, Seife, Kwas, dem Polinas Vater nicht aus dem Krieg zurückge- das traditionelle russische Getränk, Streichhölkommen war. Die Mutter war Melkerin und mach- zer, manchmal Wassermelonen, sie trug fingerlose te aus Polina, der einzigen Tochter, eine Melkerin. Handschuhe. Nicht im Angebot: Eier, Kartoffeln, Zwiebeln, das hat man auf dem Land in eigener Sie schlug Polina. Sascha und Polina lernten sich in der Schule Herstellung. Für zwei Menschen mag die Verkäufekennen, wo sie sich eine Bank teilten. Das war im rin Sakulino nicht mehr anfahren. Polina und Sascha haben eine Tochter und Nachbardorf Jakuschowo zwei Kilometer weiter. Dort stand damals ein eher symbolischer Grenzpos- einen Sohn, die in einem Nachbardorf leben. Der ten, der die innersowjetische Grenze zwischen Russ- Sohn arbeitet in einem Holzverarbeitungsbetrieb in land und Lettland bewachte. Russische Bäuerinnen Krasnogorodsk, die Tochter ist mit einem Mitardeckten sich in Lettland mit Zucker ein, sonst war beiter dieses Betriebs verheiratet. Die Enkelkinder nicht viel los. Heute verläuft die Grenze zur Nato- gehen in Krasnogorodsk zur Schule, der Schulbus Macht Lettland etwas weiter westlich. Die Schule kommt noch. Die Kinder bringen mit dem Auto von Jakuschowo ist eine dreistöckige Ruine mit immer wieder Vorräte nach Sakulino. Die Enkeleinstürzenden Treppen und Öfen, in denen der kinder brauchen mit ihren Fahrrädern eine ViertelWind heult. Sie steht unweit einer anderen Ruine, stunde. Im Winter kommen die Kinder manchmal 30


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nicht durch. Wird Sakulino zugeschneit, räumt der Sohn von Polina und Sascha die einzige Straße mit dem Traktor. Die Alten hungern also nicht. Das Leben sei aber vorbei, sagt Polina, das Leben – und es gebe nichts, woran man sich erinnern könne. Sie war nie weiter als Krasnogorodsk, nicht einmal in Pskow. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr hatte sie dreißig Kühe zu versorgen. Kühe kennen kein Wochenende. Sie erinnert sich lethargisch an das Leben in der Kolchose. Manchmal tanzte man im Dorfclub, das sei ganz nett gewesen. Der Club ist heute ein Haufen Ziegelsteine. Man spielte Volleyball hinter dem Grenzposten. Die Männer prügelten sich, wenn sie getrunken hatten. Genja zum Beispiel, der Meister von Honigwodka, war sehr stark. Gehälter gab es nicht, man lebte davon, was man erwirtschaftete. Man erfüllte staatliche Abgabenormen. Der Staat forderte Milch, Fleisch, Eier, Getreide. Da drüben bei dem Strommast war die Abgabestation für Milch. Ein Leben wie Leibeigene, nur mit 80 Pferdestärken. In dem Haus auf der Anhöhe wohnt heute ein Fuchs. Sascha und Polina machen sich Sorgen um ihre Hühner. In dem Haus an der Straßenbiegung wohnte früher Mitka, der konnte sensen wie kein anderer. Das Feld war danach so glatt, sagt Sascha: „Da hätte ein Floh drüber laufen können.“ Sonst erzählt Sascha gerne von Kuba. Er war dort 1962 bis 1964 als Soldat stationiert, während der Kubakrise, die er aber nicht wirklich mitbekam. Er reparierte die Fahrzeuge seiner Kompanie, aß Obst, ging mit der sozialistischen kubanischen Jugend ins Kino. Damals liefen in Havanna viele sowjetische Filme mit spanischen Untertiteln. Sascha schrieb Polina nach Sakulino, denn sie liebten sich bereits. Bei einer Feier zum Jahrestag der Revolution verloren mehrere Kubaner das Bewusstsein in der gnadenlosen Hitze, daran erinnert sich Sascha, vor allem die Mädchen, die muchachas,

aber er, der Russe, sei schon immer hitzeresistent gewesen. Er war im Bauch eines Cargoschiffes nach Kuba gekommen, neben 400 weiteren schwitzenden Soldaten, getarnt als Fracht. Es gibt weder einen Fluss noch einen See in Sakulino, Trinkwasser kommt aus zwei Pumpen am Straßenrand. Im Nachbardorf hat sich ein Priester aus Sankt Petersburg ein Haus gekauft. Häuser sind hier nun billig. Der Priester versucht einen Teich anzulegen, aber der Teich füllt sich nicht. Es gebe bald einen Weltkrieg, sagt er, weise Greise hätten ihm das erzählt. Sascha und Polina glauben so etwas nicht. Sie wollen, dass sich in dieser Gegend Menschen niederlassen, die arbeiten wollen. Flüchtlinge, Südkoreaner, egal. Ein südkoreanischer Unternehmer baut in der Nähe Karotten an. Er zahlt gut, aber der Durchlauf an Arbeitskräften ist trotzdem hoch, weil die Menschen trinken. Es gebe keine Arbeitskultur mehr auf dem Land, sagt Sascha. Der russische Staat habe sie zerstört. Aber es sei herrlich still hier. Süddeutsche Zeitung, 5.12.2015

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 Radioreportage Mechthild Müser Dominik Bretsch Christoph Goldmann und Leif Karpe

Jede Nacht haben sie andere geholt | Abzocke im Schatten der Freizügigkeit Der Familienausflug oder Kalte Tage in Pinsk

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 RADIOREPORTAGE VORJURY

DIRK AUER Freier Hörfunkkorrespondent, Belgrad, Preisträger n-ost-Reportagepreis 2012

MELANIE LONGERICH Redakteurin, Deutschlandfunk

ANNETT MÜLLER Freie Radio- und Onlinejournalistin, Leipzig/Bukarest

THILO SCHMIDT Freier Journalist, Lehrbeauftragter für Kulturjournalismus, UdK Berlin

HENDRIK SITTIG Referent der Programmdirektion, Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)

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Fotos: privat

RADIOREPORTAGE JURY

MARION CZOGALLA

SILKE ENGEL

MARC LEHMANN

Freie Hörspielregisseurin

Sprecherin, Universität Potsdam

Redakteur und Autor, Schweizer Radio und Fernsehen SRF

UWE LEUSCHNER

JAKOB PREUSS

MARIANNE WENDT

Vice President Business Development CIS, DB Schenker Rail AG

Dokumentarfilmer

Freie Autorin und Regisseurin für Theater, Hörfunk und Film

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RADIOREPORTAGE PREISTRÄGERIN

 JEDE NACHT HABEN SIE ANDERE GEHOLT Vergewaltigung als Kriegsstrategie VON MECHTHILD MÜSER WDR 5/DKultur/BR, 04.06.2015 | 53:00 Gehört Vergewaltigung zum Krieg dazu, wie Granaten werfen oder schießen? Wann wird Vergewaltigung zur Kriegsstrategie? Diese Fragen werden analytisch, emotional und wissenschaftlich konsequent abgearbeitet. So verwebt Mechthild Müser das persönliche Schicksal eines Opfers im Bosnienkrieg gekonnt mit den Diskussionen bei der UNO, die sich lange schwer tat, Vergewaltigung als Kriegsverbrechen einzustufen. „Jede Nacht haben sie andere geholt“ schildert die tiefen physischen und psychischen Verletzungen bei den Opfern. Das Feature kommt ohne tränenerstickte Stimmen aus, mit wohldosierter dissonanter Musik und der schonungslosen Schilderung von Einzelheiten und Langzeitfolgen macht es den Schrecken greifbar. Eine thematisch relevante Reportage, bedrückend und mahnend zugleich, die den Hörer tief verstört zurücklässt. Jakob Preuss, Dokumentarfilmer

Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/radio_2016

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Foto: Cornelia Suhan

MECHTHILD MÜSER Mechthild Müser (*1950) stammt vom Rand des Ruhrgebiets. Sie studierte Mathematik, Geographie und Soziologie mit Schwerpunkt Entwicklungspolitik. Die Mutter zweier Töchter lebt und arbeitet in Bremen als Feature-Autorin für die ARD und als freie Redakteurin beim Nordwestradio. Mit dem Mikrofon im Rucksack hat sie eher die fernen als die nahen Länder der Erde bereist, ist begeistert von manch fremder Kultur, von Landschaften und Meeren, aber immer wieder entsetzt darüber, was Menschen einander antun. Für das Feature erhielt sie 2015 den Juliane Bartel Medienpreis. 37


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RADIOREPORTAGE NOMINIERTER

 ABZOCKE IM SCHATTEN DER FREIZÜGIGKEIT Über mafiöse Geschäfte mit Leiharbeitern in der EU VON DOMINIK BRETSCH SWR 2/WDR 5, 20.05.2015 | 49:02 In seiner Reportage zeigt Dominik Bretsch, wie erschütternd einfach und ungestraft sich eine Form von moderner Sklaverei in Deutschland schon seit einigen Jahren etablieren konnte. Betrügerische slowenische Bauunternehmen als unangreifbare Briefkastenfirmen, skrupellose deutsche Auftraggeber und zahnlose EU-Arbeitsrichtlinien bereiten den idealen Boden für die Ausbeutung entsendeter Arbeiter aus Serbien, Bosnien oder Mazedonien, die nie ihren vereinbarten Mindestlohn sehen werden. Und die so gut wie keine Chance gegen diejenigen haben, die sich unter diesen Umständen schon zu lange bereichern. Der Hörer begleitet den Autor auf seiner spannenden, investigativen Recherche und wird Zeuge, wie nur durch Verrat eines geschassten Mitbetrügers so etwas wie ein kleiner Schlag gegen diese mafiösen Machenschaften gelingen kann. Marion Czogalla, Freie Hörspielregisseurin

Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/radio_2016 38


Foto: Schnepp-Renou

DOMINIK BRETSCH Dominik Bretsch (*1982) stammt aus Heidelberg und arbeitet als TV-Produzent, Regisseur und Radio-Autor in Berlin. 2013 gründete er die Produktionsfirma „Weltrecorder“. Für Arte, WDR, SWR, Deutschlandradio, RBB und NDR realisierte er Reportagen und Features im In- und Ausland. Zwischen 2011 und 2013 berichtete er aus der Türkei, Israel und Palästina. Für das Doku-Format „Streetphilosophy“ (Arte/RBB) erhielt er 2016 den Grimme-Preis. Für seine Geschichten begleitet Dominik Bretsch Menschen, deren Alltag politische und gesellschaftliche Konflikte widerspiegelt – so wie die osteuropäischen Arbeiter, die im Schattenreich des europäischen Arbeitsmarktes ausgebeutet werden. 39


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RADIOREPORTAGE NOMINIERTE

 DER FAMILIENAUSFLUG ODER KALTE TAGE IN PINSK Die wahre Geschichte der Lila Binenstzok VON CHRISTOPH GOLDMANN UND LEIF KARPE DLF, 16.06.2015 | 43:14 Ein Geschenk zum 90. Geburtstag: Alfredo Sirkis – einst Guerillero, Bankräuber, Entführer, später Grünen-Abgeordneter im brasilianischen Parlament – lädt seine Mutter Liliana Binenstzok zu einer Reise ins belarussische Pinsk ein. Die alte Dame kehrt noch einmal in die Stadt ihrer jüdischen Kindheit zurück, aus der sie 1941 von der sowjetischen Armee nach Sibirien deportiert und so vor der Vernichtung durch die Nazis gerettet worden war. Christoph Goldmann und Leif Karpe begleiten die als Familienausflug getarnte, mit bürokratischen Hindernissen gespickte Spurensuche und malen ein liebevolles, dramaturgisch geschickt inszeniertes Porträt des ehemaligen Flüchtlingsmädchens, das in seinem zweiten Leben als Modeschöpferin die Haute Couture für Rio de Janeiros High Society schneiderte – und mit viel Selbstironie und melancholischer Lebensfreude über die Tragik der eigenen Existenz hinweggeht. Marc Lehmann, Redakteur und Autor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF

Das Feature können Sie sich anhören unter www.n-ost.org/radio_2016

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Foto: privat

LEIF KARPE

CHRISTOPH GOLDMANN

Leif Karpe (*1968) ist im Schwarzwald, in Brasilien

Christoph Goldmann (*1955) ist im Emsland und

und im Ruhrgebiet aufgewachsen. Heute lebt er in

in Bremen aufgewachsen. Er studierte in Hamburg

Berlin und arbeitet als freier Autor, Regisseur und

Lateinamerikanistik und Musikethnologie. Danach

Kameramann mit dem Themenschwerpunkt Kultur

reiste er zwei Jahre lang durch Südamerika. Nach

und Reise. Seit den 1990er Jahren war er an über

einem Zwischenspiel in Europa als freier Fernseh-

60 Filmproduktionen beteiligt. Als Buchautor hat

und Radioautor und Regisseur lebte er zehn Jahre in

er u. a. Geschichten über Sevilla und den Berliner

Brasilien. Dort stellte er als Betreiber einer lokalen

Tiergarten veröffentlicht. Mit Christoph Goldmann

Radiostation und eines Freiluftkinos eine Dorfwo-

betreibt er die Produktionsfirma Planet Pictures.

chenschau und Dokumentarfilme für verschiedene Organisationen her. Seit 2004 arbeitet er mit Leif Karpe u. a. für Arte und ZDF. 41



Fotoreportage Pepa Hristova Niels Ackermann Emile Ducke

The Bartered Bride | L’Ange Blanc | Transnistria 43


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Fotos: privat (7), Katharina Haak

FOTOREPORTAGE JURY

TINA AHRENS

VIVIAN BALZERKIEWITZ

LARS BAUERNSCHMITT

Bildchefin, Philosophie Magazin

Bildredakteurin, Süddeutsche Zeitung am Wochenende

Professor für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie, Hochschule Hannover

MICHAEL BIEDOWICZ

KIRILL GOLOVCHENKO

MICHAEL HAURI

Bildredakteur, Zeitmagazin

Fotograf

Geschäftsführer, 2470.media

TANJA RAECK Bildredakteurin, Cicero

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FOTOREPORTAGE PREISTRÄGERIN

THE BARTERED BRIDE VON PEPA HRISTOVA Art, 9/2015 Brautmarkt in Stara Sagora: In der Kleinstadt strömen Roma aus ganz Bulgarien zusammen. Auf einem Parkplatz entscheidet sich das Schicksal der jungen Frauen. Willigen sie ein, werden sie verkauft. Je hübscher sie aussehen, desto höher der Preis. Ihre engen Kleider tragen die Mädchen mit High Heels und pinkem Lippenstift. Pepa Hristova lässt sie vor tapezierten Stellwänden posieren. Dahinter zeichnet sich der zugemüllte Platz ab. Damit gelingt Hristova ein Kunststück: Sie lenkt unseren Blick auf die Körperhaltung und den Gesichtsausdruck der Mädchen. Und weckt zugleich die Neugier nach dem, was sich im Hintergrund abspielt. Diese Porträts haben einen doppelten Boden. Sie hallen nach. Michael Hauri, Geschäftsführer von 2470.media

Pepa Hristovas Fotoreportage wurde u. a. im Kunstmagazin Art und unter dem Titel „Brautschau“ am 17.10.2015 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.

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Foto: Ivo Leonkev

PEPA HRISTOVA Pepa Hristova (*1977) ist in Bulgarien aufgewachsen. Sie hat an zahlreichen Serien über Osteuropa gearbeitet. Ihre Faszination für die gebrochene Schönheit des Ostens und ihr Interesse an sozialen Phänomenen und archaischen Traditionen führten die Fotografin dazu, sich mit der unbekannten, im Wandel begriffenen Seite Europas auseinanderzusetzen. Hristova erhielt für ihre Arbeit zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, u.a. den C/O Berlin Talents Preis und den Otto-Steinert-Preis für subjektive Fotografie. Ihre Arbeiten wurden u. a. in den Deichtorhallen Hamburg, bei C/O Berlin und in der Akademie der Künste Berlin ausgestellt.

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Zweimal im Jahr kommen in der bulgarischen Stadt Stara Sagora christlich-orthodoxe RomaFamilien zusammen, um ihre Töchter im heiratsfähigen Alter feilzubieten. Wer die attraktivste Offerte unterbreitet, erhält den Zuschlag. Es geht dabei – je nach Schönheit und Jugend der Braut – um Beträge von 5.000 bis 20.000 Euro. Viel Geld für die Familie des Mädchens in einem Land, in dem die Wirtschaft schwach und das Auskommen der Roma schwierig ist.

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Riesige Bildtafeln, die Naturidyllen oder den Glanz früherer sozialistischer Prunkbauten vorgaukeln, schotten den vermüllten Parkplatz von der jahrmarktähnlichen Brautschau hinter dem Zaun ab. Vor diesen Bildwänden, abseits vom Geschehen, porträtiert die Fotografin die herausgeputzten Mädchen und jungen Frauen.

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Was auf die Fotografin beim ersten Besuch wie Menschenhandel wirkt, beurteilt sie mit der Zeit differenzierter. Im Verkauf an einen gut situierten Ehemann sehen die Mädchen die Chance auf ein wohlhabendes und abgesichertes Leben. Wie Ware kommen sie sich nicht vor, vielmehr sind sie stolz, Teil dieser jahrhundertealten Tradition zu sein.

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In Bulgarien, das 2007 der EU beigetreten ist, sind die Roma stark diskriminiert und gesellschaftlich isoliert. Umso mehr halten sie sich an ihre archaischen Bräuche, die Identität schaffen und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken.

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Ehen dürfen nur innerhalb der Roma-Minderheit geschlossen werden, so die Tradition. Deshalb fahren Familien mit ihren Kindern aus ganz Bulgarien zum Brautmarkt. Es ist meist die einzige Möglichkeit für die Mädchen, auszugehen – und die beste Gelegenheit, einen Lebenspartner zu finden. Die Familien der Bräutigame sparen oft seit der Geburt ihrer Söhne für den Brautpreis.

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FOTOREPORTAGE NOMINIERTER

L’ANGE BLANC VON NIELS ACKERMANN Das Magazin, 16.05.2015 In seiner Fotoreportage lässt uns Niels Ackermann feinfühlig und atmosphärisch am Leben der heranwachsenden Julia in der jüngsten Stadt der Ukraine teilnehmen. Slawutytsch entstand 1986 nach dem Super-Gau im Atomkraftwerk Tschernobyl und wurde zur Heimat derjenigen, die an der Schutzhülle über der Reaktorruine arbeiten. Julias Leben ist geprägt von Partys, Beziehungen und Arbeit. Das Spannungsfeld zwischen der Tristesse der Stadt und der Unbekümmertheit der Jugend fängt der Fotograf mit einer sinnlichen und gleichzeitig dokumentarischen Bildsprache ein, vermittelt das Lebensgefühl von Julia und ihren Freunden und erinnert uns an unser eigenes Erwachsenwerden. Neben einem sorgenvollen und ängstlichen Blick auf das Vergangene scheint dabei auch die Zukunft durch, eine Zukunft für eine junge Generation. Tanja Raeck, Bildredakteurin bei Cicero

Niels Ackermanns Fotoreportage wurde unter dem Titel „Julia oder eine ukrainische Jugend“ in Das Magazin veröffentlicht. Eine größere Auswahl von Bildern erschien im April 2016 im Fotobuch „L’Ange blanc“ bzw. in englischer Ausgabe „The White Angel“ bei Les Editions Noir sur Blanc (Fotos: Niels Ackermann / Text: Gaetan Vannay / Vorwort: Andrey Kurkov)

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Foto: Anna Shumeiko

NIELS ACKERMANN Niels Ackermann (*1987) ist in der Schweiz aufgewachsen. Der Fotojournalist arbeitet für die internationale und Schweizer Presse und hat die Fotoagentur Lundi13 mitgegründet. Seit Februar 2015 lebt Niels Ackermann in Kiew. Seine Bilder brechen mit dem stereotypen Ukrainebild: Er zeigt eine andere, positive Seite des Landes und porträtiert insbesondere junge, kreative Ukrainer. Für seine nominierte Fotoserie aus Slawutytsch über die Kinder von Tschernobyl erhielt er den Swiss Press Photo Award 2016.

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Drei Jahre lang beobachtete der Schweizer Fotograf Niels Ackermann die junge Ukrainerin Julia beim Erwachsenwerden: vom Partyleben mit wechselnden Kurzbeziehungen bis zur Heirat im Rathaus von Slawutytsch – sie in Weiß und der Bräutigam in kurzen Hosen.

40 Kilometer von Slawutytsch entfernt liegt das stillgelegte Kernkraftwerk Tschernobyl. Die umliegenden Felder sind immer noch radioaktiv verseucht. Doch in Slawutytsch sterben mehr Menschen an Drogen und Alkohol, als an den Folgen der Nuklearkatastrophe, sagt einer von Julias Freunden.


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Julia fährt mit einem Freund zurück vom Wakeboarden auf dem Dnjepr.


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FOTOREPORTAGE NOMINIERTER

TRANSNISTRIA VON EMILE DUCKE Fog Magazin, 20.06.2015 Geografisch verortet zwischen Moldawien im Westen und der Ukraine im Osten, historisch das Ergebnis des Zerfalls der Sowjetunion, politisch ein Land, das es nicht gibt – Transnistrien. Emile Ducke beobachtete die alltägliche Absurdität eines Landes, das als Gründungsmitglied der Gemeinschaft nicht anerkannter Staaten und geopolitischer Spielball zwischen den Fronten eines eingefrorenen Konfliktes steht. Geprägt vom allgegenwärtigen Erbe aus der Zeit der Sowjetunion scheint die Zeit still zu stehen. Postsozialistischer Alltag zwischen Plattenbau und Trachtentanz, zwischen Überschallflugzeug und Pferdefuhrwerk. Lars Bauernschmitt, Professor für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover

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Foto: Tamina-Florentine Zuch

EMILE DUCKE Emile Ducke (*1994) stammt aus München und studiert seit 2013 Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover. Für seinen Fotoessay über Transnistrien reiste er mehrere Male in das De-factoRegime. Seine Arbeit wurde auf zahlreichen Festivals vorgestellt, u. a. auf dem Lumix-Festival für jungen Fotojournalismus in Hannover, dem Organ Vida Festival für internationale Fotografie in Zagreb und dem Visa-Off in Perpignan. Derzeit arbeitet Emile Ducke während eines Auslandssemesters an der Staatlichen Universität Tomsk, Russland, an einem Fotoessay über Sibirien.

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Ilin Sergej Wjatscheslawowitsch muss von seinem geringen Gehalt seine Familie durchbringen. Er arbeitet als Tagelöhner auf dem Friedhof von Tiraspol.

Landarbeiter gönnen sich eine Pause von der Lavendelernte. (l.) Transnistrien ist völlig verarmt und nur dank der finanziellen Unterstützung durch Russland überlebensfähig. (r.)

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Im Stadion von Tiraspol nehmen verschiedene militärische Einheiten an einem Wettkampf teil. In Transnistrien sind viele Strukturen aus Sowjetzeiten erhalten geblieben, darunter Militär, Miliz und der Geheimdienst KGB – und nach wie vor zieren Hammer und Sichel das Wappen.

Am Stadtrand von Dubasari schauen sich Jugendliche im Auto Filme an. Das Wasserkraftwerk im Hintergrund ist von strategisch großer Bedeutung für Transnistrien. Heute verläuft genau dahinter die Grenze zu Moldawien.

Während seiner Reportage hat der Fotograf Tomasz Tomaszewski die eigenwilligen Bewohner Podlachiens ins Herz geschlossen: zum Beispiel den Maler und Kunstprofessor Leon Tarasewicz (o. li.), der mit großer Leidenschaft seltene Hühnerrassen sammelt. Oder Krzysztof Kawenczynski (o. re.), den alle nur den „König von Biebrza“ nennen. Der Einsiedler kennt sich wie kein anderer in den Sümpfen Podlachiens aus und besitzt eine große Auswahl an blechernen Teekesseln.

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Recherchepreis Osteuropa

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n-ost REPORTAGEPREIS 2016 • RECHERCHEPREIS OSTEUROPA

RECHERCHEPREIS OSTEUROPA Bereits zum dritten Mal wird der Recherchepreis Osteuropa vergeben: n-ost ist Partner dieses Stipendiums von Renovabis und Brot für die Welt. Der Preis ermöglicht jährlich die Produktion einer rechercheaufwändigen Reportage für deutschsprachige Printmedien. Er ist mit bis zu 7.000 Euro dotiert.

DIE JURY 2016 Petra Bornhöft, Kuratoriumsmitglied der taz Panter Stiftung • Hanno Gundert, Geschäftsführer n-ost • Burkhard Haneke, Leiter der Abteilung Kommunikation und Kooperation, Renovabis • Kerstin Holm, Feuilleton-Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ehemalige Kulturkorrespondentin in Moskau • Dieter Pool, Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Kooperation, Brot für die Welt • Jens Wiegmann, Redakteur im Ressort Außenpolitik, WeltN24

www.n-ost.org/recherchepreis_osteuropa

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Foto: Fabian Weiss

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RECHERCHEPREIS OSTEUROPA 2016

JUGEND OHNE FRIEDEN Eine neue Kriegsgeneration in Europa SIMONE BRUNNER UND FLORIAN BACHMEIER

Der Recherchepreis Osteuropa 2016 geht an die freie Journalistin Simone Brunner und den Fotografen Florian Bachmeier. Sie werden im Kriegsgebiet in der Ostukraine recherchieren und Jugendliche auf beiden Seiten der Frontlinie porträtieren. Die beiden Preisträger schreiben dazu:

„In der Ostukraine wächst die erste europäische Kriegsgeneration seit den Balkan-Kriegen heran. Wächst mit ihnen zugleich auch die Hoffnung auf einen baldigen Frieden? Wie unversöhnlich stehen sich junge Menschen, die mit diesem Krieg erwachsen werden, gegenüber? Wie tief sind die Wunden, wie groß ist die Distanz? Was bedeutet für sie Europa, was bedeutet die Zukunft und die Vergangenheit? Was trennt sie, was eint sie?“

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Zweitplatzierte* Recherchepreis Osteuropa 2015

DIANA LAARZ

FABIAN WEISS

Diana Laarz (*1982) ist in Mecklenburg-Vorpom-

Fabian Weiss (*1986) ist freischaffender Fotograf

mern aufgewachsen. Nach Studium und Volonta-

und Mitglied der Agentur Laif. Er lebt in Estland

riat lebte sie vier Jahre in Moskau und schrieb für

und Deutschland und arbeitet überwiegend im

deutschsprachige Magazine wie Geo, Brand Eins

Baltikum, Osteuropa und weiter östlich. In seinen

und Terra Mater. Inzwischen lebt sie in Hamburg,

fotografischen Essays erforscht er kulturelle Verän-

arbeitet als Redakteurin und Autorin, bereist immer

derungen in unserer bewegten Zeit. Seine intimen

noch am liebsten Osteuropa – und schreibt darüber.

Bilder zeigen nuancierte und durch feinfühlige Be-

Die baltischen Länder kannte sie bis dahin vor allem

obachtung entstandene Porträts im Kontext der je-

von Kurzurlauben. Im Herbst 2015 durchquerte sie

weiligen Kultur. Außerdem erarbeitet Fabian Weiss

mit dem Fotografen Fabian Weiss Estland, Lettland

gerne Magazine in Rekordzeit während seiner Lehr-

und Litauen und traf Armee-Angehörige, verängs-

tätigkeit bei der internationalen Workshopreihe

tigte Bürger und freiwillige Streitkräfte.

‚Publish Yourself!‘.

* Preisträgerin des Recherchepreises Osteuropa 2015 war Inna Hartwich, die ihre Recherche erst im Herbst 2016 durchführen kann. 70

Daher lesen Sie auf den folgenden Seiten einen Ausschnitt aus dem zweitplatzierten Beitrag von Diana Laarz und Fabian Weiss.

Foto: Fabian Weiss

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PUTIN ANTE PORTAS Von Diana Laarz und Fabian Weiss

Im Baltikum proben junge Freiwillige in mehrwöchigen Lehrgängen den Guerillakampf gegen einen überlegenen Feind – für den Fall, dass russische Panzer in Estland, Lettland und Litauen einfallen.

Die 21-jährige estnische Wirtschaftsstudentin Maria absolviert in ihrer Freizeit den mehrwöchigen Offizierslehrgang des militärischen Freiwilligenverbandes Kaitseliit.

I

n einem Straßengraben in Estland hockt die Gefreite Maria, das Gewehr im Anschlag. Tarnklamotten, blonder Zopf unter der Filzmütze. Sehr junges, sehr harmloses Gesicht. Ihre Eltern glauben ihr nicht, wenn sie sagt, sie sei bereit, für ihr Land zu sterben. Autos rauschen auf der Straße vorbei. Die Gefreite duckt sich ins hohe Gras. Maria soll mit ihrer Gruppe einen Kilometer nach Süden marschieren. Und dabei nicht gesehen werden. Dort hinten rückt der Feind vor. Erste Regel der Landesverteidigung: den Feind stoppen.

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Maria gibt Handzeichen an die Männer hinter ihr. Vorwärts Marsch durch das Gebüsch parallel zur Straße, Formation wie bei einer Pfeilspitze, fünf Meter Abstand zueinander. Maria, 21 Jahre alt, sagt, sie sei der Sohn, den ihr Vater niemals hatte. Der Feind greift an diesem Tag nicht wirklich an. Maria und die anderen sind keine regulären estnischen Soldaten. Sie sind Mitglieder der Kaitseliit, des militärischen Freiwilligenverbandes. Dies sind die letzten Tage des mehrwöchigen Offizierslehrgangs der Reservekräfte. Die große Übung im Feld. 800 Teilnehmer zwischen Pferdekoppeln und ungepflügten Kartoffelackern. Der Feind in diesem Szenario greift mit Panzern an. Die Esten verteidigen ihr Land zu Fuß. Natürlich hat der Feind viele Panzer. Denn jeder bei dieser Übung weiß, dass der Feind der Russe ist. Und der kommt immer mit Panzern. Die estnische Armee hat keine. „Wir sind wie eine Guerilla“, sagt Erik Reinhold, Marias oberster Kommandant. Reinhold hat mit den US-Amerikanern im Irak gekämpft. „Damals waren wir die Besetzer und wurden von jedem Baum beschossen.“ So soll es den Russen in Estland ergehen. Maria möchte wie die meisten Männer und Frauen in ihrer Einheit ihren Nachnamen nicht nennen. Vorbereitung auf einen realen Kampf. „Die russische Aufklärung schläft nicht.“ Eigentlich studiert die Gefreite Maria im sechsten Semester Business Management. Esten, Letten und Litauer beschäftigen sich mit der Landesverteidigung, seit Russland vor gut zwei Jahren die Krim annektierte und Truppen in die Ostukraine schickte. 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten sich die Balten in einem friedlichen Leben eingerichtet. Eingebettet in die EU, geschützt durch den NATO-Artikel 5, die Verteidigungshilfe im Bündnisfall. 72

Das gilt im Prinzip immer noch, doch der Glaube an die Sicherheit ist erschüttert. Der Einmarsch in die nahe Ukraine hat alte Wunden aufgerissen. Nicht nur Russlands Premierminister Dimitri Medwedew spricht von einem Kalten Krieg. In diesem Krieg sind die baltischen Staaten die neuen Frontstaaten. Die Bürger greifen zu den Waffen. Nicht nur bei den Volksverteidigungskräften in Estland, sondern auch in Lettland und Litauen. Furcht treibt diese Menschen an. Und Furcht zieht sie immer weiter in den Kalten Krieg hinein. Lesen Sie die vollständige Reportage im Geo Magazin 07/2016.

Mitglieder der weiblichen Jugendabteilung des estnischen Verteidigungsbundes Kaitseliit nehmen an einer Schnitzeljagd teil.


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Zu Fuß gegen Panzer – Maria wird bei einer taktischen Übung in der Natur geprüft für ihren nächsten Offiziersrang.

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n-ost-REPORTAGEPREIS 2016

Shortlist aus 83 eingereichten TEXTREPORTAGEN:

Shortlist aus 42 eingereichten RADIOREPORTAGEN:

SIMONE BRUNNER: Strahlende Zukunft, Datum, 4/2015

MARIO BANDI: Rückkehr der Zauberflöte. Ein mongolisches Roadmovie, DLF, 27.11.2015

CHRISTOPH CADENBACH: Guter Stiel, Süddeutsche Zeitung Magazin, 23.10.2015 (PREISTRÄGER)

DOMINIK BRETSCH: Abzocke im Schatten der Freizügigkeit. Über mafiöse Geschäfte mit Leiharbeitern in der EU, SWR 2/WDR 5, 20.05.2015 (NOMINIERT)

CATHRIN KAHLWEIT: Im Irrgarten, Süddeutsche Zeitung, 15.6.2015

CHRISTOPH GOLDMANN UND LEIF KARPE: Der Familienausflug oder Kalte Tage in Pinsk. Die wahre Geschichte der Lila Binenstzok, DLF, 16.06.2015 (NOMINIERT)

KILIAN KIRCHGESSNER: Ein Dorf wird zum Event, Brand eins, 10/2015 CHRISTOPH LEHERMAYR: Der lange Schatten von Srebrenica, News, 20.06.2015

ANASTASIA GOROKHOVA: Wie ich Putin den Rücken kehrte. Junge Russen und ihre Suche nach einer neuen Zukunft, BR, 04.07.2015

MICHAEL MARTENS: Osamas Leute, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2015 (NOMINIERT)

CHRISTINE HAMEL: Krieg der Lügen, BR, 12.11.2015

TIM NESHITOV: Das Dorf, Süddeutsche Zeitung, 5.12.2015 (NOMINIERT)

CHARLOTTE MISSELWITZ: Der Atlas der Katakomben. Bericht aus dem Schmelztiegel Odessas, NDR/DLF, 22.12.2015

NADIA PANTEL: Hey, Schatzi, Süddeutsche Zeitung, 26.08.2015 JASMIN SIEBERT: Fahrije macht, was sie will, Chrismon plus, 1/2015 EMILIA SMECHOWSKI: Nennt mich Anna, Cicero, 7/2015

MECHTHILD MÜSER: Jede Nacht haben sie andere geholt. Vergewaltigung als Kriegsstrategie, WDR 5/ DKultur/BR, 04.06.2015 (PREISTRÄGERIN) HANNES OPEL: Auf den Spuren eines Verbannten. Pawel Potozkijs topographische Expedition, WDR 3, 18.07.2015 MARTIN SANDER: Zurawlow probt den Aufstand. Ein polnisches Dorf im Streit mit der Fracking-Industrie, DLF, 24.03.2015

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TOM SCHIMMECK UND DIMITROV VESSELIN: Die neue Teilung Europas. Bulgarien und der Grenzzaun gegen Migranten, DLF, 07.11.2015 RAINER SCHWOCHOW: United Nothing. Niederländische Blauhelmsoldaten 20 Jahre nach der Rückkehr aus Srebrenica, DLF, 24.02.2015 SVEN TÖNIGES: Schüsse im schwarzen Garten. Der gefrorene Krieg um Berg-Karabach, WDR 5/ DOK 5, 05.04.2015

Shortlist aus 27 eingereichten FOTOREPORTAGEN: NIELS ACKERMANN: L’Ange blanc, veröffentlicht unter dem Titel Julia oder eine ukrainische Jugend in Das Magazin, 16.05.2015 (NOMINIERT) EMINE AKBABA: Flucht aus Syrien. „Das ist kein Leben“, evangelisch.de, 15.03.2015 EMILE DUCKE: Transnistria, Fog Magazin, 20.06.2015 (NOMINIERT) CHRIS GRODOTZKI UND RUBEN NEUGEBAUER: Das Schweigen der Lämmer, Greenpeace Magazin, 4/2015 PEPA HRISTOVA: The Bartered Bride, u. a. veröffentlicht in Art, 9/2015, und unter dem Titel Brautschau in Süddeutsche Zeitung, 17.10.2015 (PREISTRÄGERIN) MARIYA KOZHANOVA: Declared Detachment, Emerge, 22.12.2015 CHARLOTTE SCHMITZ: Take me to Jermany, veröffentlicht unter dem Titel Momente der Hoffnung in Der Spiegel, 24.12.2015 DENIS SINYAKOV: Einsames Glück, Cicero, 9/2015 AGATA SZYMANSKA-MEDINA: Am Ende der Straße, Go-Magazin, 10/2015

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Wir danken unserem Förderer

Die Robert Bosch Stiftung gehört zu den großen unternehmensverbundenen Stiftungen in Europa. Sie hält rund 92 Prozent der Geschäftsanteile an der Robert Bosch GmbH und setzt die gemeinnützigen Ziele des Firmengründers und Stifters Robert Bosch (1861-1942) fort. Die Stiftung investiert jährlich rund siebzig Millionen Euro in die Förderung von ca. 800 eigenen und fremden Projekten aus den Gebieten der Völkerverständigung, Bildung, Gesellschaft und Kultur sowie Gesundheit und Wissenschaft. Insgesamt hat die Stiftung seit ihrer Gründung 1964 mehr als 1,3 Milliarden Euro für ihre gemeinnützige Arbeit eingesetzt. www.bosch-stiftung.de

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n-ost bringt Journalisten, Osteuropa-Experten und Medieninitiativen aus über 40 Ländern zusammen. Seine Mitglieder verbindet ein europäischer Blick und das Interesse, die Berichterstattung aus und über Osteuropa zu stärken.

Qualität im Journalismus möglich machen: Den Qualitätsjournalismus und rechercheaufwändige Formate wie Reportagen stärkt n-ost durch die Organisation von Journalistenreisen, die Vergabe von Stipendien und die jährliche Verleihung des n-ost-Reportagepreises.

Gemeinsam stärker: Die Mitglieder des Netzwerks setzen sich ein gegen Journalisten vernetzen und weiterbilden: wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Journalisten in Ost und West bietet n-ost Trainings, Einschränkungen journalistischer Arbeit. Gemein- Vernetzung und Recherchemöglichkeiten – etwa sam haben sie die Möglichkeit, auf eine faire Ver- auf der n-ost-Medienkonferenz, die jährlich in gütung hinzuwirken, zusätzliche Ressourcen für wechselnden osteuropäischen Städten stattfindet. aufwändige Recherchen zu erschließen und sich Das Informationsfreiheitsprojekt Legal Leaks zeigt Journalisten, wie sie ihre gesetzlich verankerten Ausgegenseitig zu qualifizieren. kunftsrechte gegenüber Behörden für ihre RecherNeue Bilder, Texte und Töne aus Osteuropa: che einsetzen können. (>>> www.legalleaks.info) Der Artikel- und Radiodienst von n-ost beliefert Zeitungen und Hörfunkanstalten, Stiftungen und Für unabhängigen Auslandsjournalismus: Unternehmen. Zusätzliche Akzente in der Bericht- Mit medienpolitischen Veranstaltungen, Publikatierstattung über Osteuropa setzt n-ost mit seinem onen und Stellungnahmen engagiert sich n-ost für Online-Magazin ostpol.de. Es bietet Lesern und einen aufgeklärten Auslandsjournalismus. Abonnenten hintergründige Reportagen, aktuelle Berichte, Foto-Strecken und spannende Multime- www.n-ost.org dia-Formate. (>>> www.ostpol.de) Für eine europäische Öffentlichkeit: Täglich verfolgt n-ost die großen Debatten in den Medien Europas und übersetzt die wichtigsten Kommentare in drei Sprachen – mit der Presseschau euro|topics, die n-ost im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung produziert. (>>>www.eurotopics.net)

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IMPRESSUM Herausgeber: n-ost Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung Alexandrinenstraße 2-3, Aufgang C 10969 Berlin Tel + 49-30-259 3283 0 Fax + 49-30-259 3283 24 www.n-ost.org Projektleitung: Salome Ast Bildredaktion: Stefan Günther Katharina Haak

Artdirektion und Design: Armen Vanetsyan www.cargocollective.com/avd Druck: print24 © n-ost Juni 2016

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Entdecken Sie die andere Hälfte Europas. ostpol ist das Online-Magazin für Osteuropathemen. Unsere Korrespondenten und Fotografen sind Beobachter vor Ort – in über 20 Ländern. Ihre Reportagen und Bildstrecken zeigen Ihnen, wo Osteuropa ähnlich ist und wo ganz anders als erwartet. Werfen Sie einen Blick hinter die Kulissen. Erfahren Sie, wie osteuropäische Intellektuelle von innen auf ihr Land und die Welt schauen. Kommen Sie mit auf eine Reise durch den halben Kontinent zwischen Polen und Sibirien.

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