MYP Magazine #18 feat. Apparat

Page 94

— Jonas: Du bist in den 80ern in Neukölln aufgewachsen. Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit? — Jurassica (lacht): Ich bin in der Upper-Eastside von Neukölln groß geworden: in Britz. Britz ist nicht wirklich Neukölln, sondern ein kleiner Mikrokosmos für sich – alles super beschaulich. Was Neukölln angeht, erinnere ich mich, dass die Karl-Marx-Straße zu Mauerzeiten noch eine klassische Einkaufsstraße war. Die vielen Handyshops und Dönerbuden gab es in den 80ern noch nicht. Damals hatte Neukölln auch noch nicht dieses Ghetto-Image, das man dem Stadtteil heute gerne zuspricht. In Britz hatte ich eine wunderschöne und wohl behütete Kindheit. Mein Vater hatte eine Autowerkstatt, in der er an alten Oldtimern geschraubt hat. Als ich xx Jahre alt war, sind wir leider nach Rudow gezogen – in ein kleines Einfamilienhaus, das direkt an der Mauer lag. Sonntags sind mein Vater und ich manchmal mit dem Rad zur Mauer gefahren. Dann sind wir auf einen dieser Aussichtstürme geklettert, von denen aus man auf den Todesstreifen schauen konnte. Das war für mich als Kind total normal, ich habe das nicht wirklich hinterfragt. Wenn wir zu unseren Verwandten nach Ost-Berlin gefahren sind, war das für mich sehr befremdlich. Alles sah so anderes aus, so grau. Am Alex gab es damals ein Kaufhaus, in dem heute Kaufhof sitzt. Ich weiß noch, dass ich mich immer gewundert habe, wieso es da nicht wirklich etwas zu kaufen gab. — Jonas: Wolltest du beruflich nicht in die Fußstapfen deines Vaters treten? — Jurassica: Mein Vater musste irgendwann einsehen, dass ich nicht der geborene KFZ-Mecha-

niker bin. Schon mit 15 war mir klar, dass ich in die Werbung will. Daher habe ich nach dem Abi hier in Berlin Grafikdesign studiert und anschließend in einer Werbeagentur gearbeitet. — Ben: Irgendwann hast du damit angefangen, abends aus Mario eine Frau werden zu lassen. Wie kam es dazu? — Jurassica: Der Drang, Frauenkleider zu tragen, war schon immer in mir. Als Kind habe ich es geliebt, mir Mamas Klamotten anzuziehen. Meine Oma war Schneiderin und hat den Spaß mitgemacht – und mich damals immer wieder als Frau verkleidet. Wenn sie heute noch leben würde, wäre sie sicherlich eine Schwulen-Mutti. Die Szene habe ich relativ spät entdeckt. Mit 19 war ich zum ersten Mal schwul aus und habe im Berliner Nachtleben die vielen Transen gesehen, die mich unglaublich fasziniert haben. Irgendwann fing ich selbst an, damit zu experimentieren. Und im Oktober 2004 bin ich zum ersten Mal als Transe ausgegangen: auf den Berliner HustlaBall. Ich habe mich damals von einer Freundin schminken lassen und sah furchtbar aus. Von heute aus betrachtet muss ich als Transe eine absolute Katastrophe gewesen sein: völlig aufgedreht und in viel zu hohen Schuhen, in denen ich überhaupt nicht laufen konnte. Aber ich fand das super! Damals habe ich sofort Blut geleckt und für mich in der Travestie einen Kanal gefunden, über den ich Energie ablassen konnte – es war sofort um mich verloren. In den folgenden Wochen und Monaten bin ich aus Spaß an der Freude immer öfter als Transe in Clubs gegangen. Und irgendwann fing es damit an, dass ich im SchwuZ am Schnapstresen Kurze verteilt habe und dann nach und nach bezahlte Auftritte dazukamen.


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.