myp MAGAZINE #17 feat. The Kooks

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MYP MAGAZINE


T H E M Y PA G E S M A G A Z I N E






LA PLUPART DES GENS VIVENT DANS LES RUINES DE LEURS HABITUDES. JEAN COCTEAU




XVII

MEIN RITUAL T H E KO O K S FOTO GR AFIERT V O N M O R I T Z J E K AT




PROLO G

ESSEN MACHEN. KAFFEE MACHEN. SAUBER MACHEN. DICH SEHEN. ARBEIT MACHEN. MUSIK MACHEN. SPORT MACHEN. DICH SEHEN. SORGEN MACHEN. HOFFNUNG MACHEN. LUFT MACHEN. DICH SEHEN. LIEBE MACHEN. EINSCHLAFEN. AUFWACHEN. DICH SEHEN. DU BIST MEIN RITUAL. MEIN RITUAL BIST DU.


THE KOOKS MAXIMILIAN MUNDT CHRISTOPHER ENGELMANN LUISA BILKE GIULIA OGAZA MARIEKE MUCKS ANNA BULLARD-WERNER FELIX ADLER HENNING KREITEL SERAPHINA THERESA PHILIP JONATHAN SCHWARZ ELISABETH MOCHNER DILEK OYRAN HANNAH FRONTZEK FRANCESCO FUTTERER KORNELIUS SILVAN PAEDE MELF MAYER MARTIN VALENTIN FUCHS BALLERINO KARIN PARK MERTEN MEDERACKER OCCUPANTHER TJADA ANDRASCHKO JONAS MEYER

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INHALT


GEWIDMET ALLEN, DIE SICH VERÄNDERN MÜSSEN, UM SICH TREU ZU BLEIBEN.



TH KOO


LUKE PRITCHARD UND PETER DENTON SIND TEIL DER BAND THE KOOKS UND LEBEN IN LONDON.

HE OKS

WWW.THEKOOKS.COM






LISTEN TO YOUR HEART INTERVIEW & TEXT: JONAS MEYER FOTOS: MORITZ JEKAT


Wir sind mal ausnahmsweise viel zu früh da – passiert uns ja nicht oft. Seit etwa zwanzig Minuten stehen wir vor der Columbiahalle im Berliner Stadtteil Tempelhof und warten auf Viktor, unseren Kontaktmann von Universal Music. Doch was sind schon unsere zwanzig Minuten Wartezeit gegen das, was die vielen jungen Fans noch vor sich haben, die sich bereits jetzt zu Dutzenden vor der Konzerthalle versammeln? In Grüppchen sitzen und stehen sie auf den Treppenstufen vor dem Eingang und warten darauf, heute Abend hier The Kooks feiern zu können – idealerweise direkt von der ersten Reihe aus. Einlass ist um acht, jetzt ist es kurz vor zwei. Nur noch sechs Stunden also, die es zu überbrücken gilt. Sind die denn verrückt geworden? Mal Hand auf’s Herz: Was würde man selbst denn alles tun und geben für die eigene Lieblingsband? Wie viele Stunden, wie viele Tage würde man warten, um die eine große Show zu erleben? Spätestens seit dem Tag, an dem man als Siebenjähriger auf Papas Schultern Genesis vor 80.000 Leuten erlebt hat, kann man doch gar nicht anders, als

Musik als etwas Großes, etwas Magisches zu begreifen, das alles Rationale über Bord wirft. Kopf aus, Herz an – ein Ritual des Rock’n Roll. Viktor ist da, pünktlich auf die Minute. Gemeinsam laufen wir über den Parkplatz der Konzerthalle zum Hintereingang, vorbei an dunkelgrauen Tour-Bussen und einem wortkargen Wachmann mit Bulette in der Hand. Kaum haben wir den Backstage-Bereich betreten, kommt uns Tony Brookes entgegen, seit etlichen Jahren der Manager von The Kooks. „Schaut Euch doch einfach um und sagt Bescheid, wo ihr das Interview machen wollt!“, ruft er uns freundlich zu. Na wenn das keine Ansage ist! Im ersten Stock der Columbiahalle finden wir eine Ecke, die einen äußert gemütlichen Eindruck macht – umso wichtiger, wenn es draußen so ungemütlich ist wie heute. Einige Minuten später. Luke Pritchard, LeadSinger von The Kooks, und Bassist Peter Denton stehen plötzlich vor uns. Drummer Alexis Nunez und Gitarrist Hugh Harris lassen sich entschuldigen, nach der langen Anreise mit dem Tourbus wollen sie sich noch etwas ausruhen, um fit für die Show zu sein.






Jonas: Vor kurzem habt ihr in Amsterdam eure diesjährige Europa-Tour gestartet. Ist die erste Show einer Tour immer etwas Besonderes? Luke: Wenn man nach einer Pause von drei Jahren mit neuem Material auf Tour geht, ist man natürlich immer ein wenig aufgeregt: Man weiß nie, was einen erwartet. Da wir aber vor dem Tourauftakt in Amsterdam bereits einige Konzerte in Australien gespielt haben, waren wir gewissermaßen schon im Rhythmus. Jonas: Ihr habt seit eurer Gründung im Jahr 2004 unzählige Shows gespielt. Empfindet ihr vor einem Auftritt trotzdem noch so etwas wie Nervosität? Peter: Wirklich nervös bin ich nie, eher energiegeladen. Luke (lächelt): Um ehrlich zu sein, habe ich vor unserer Europa-Tour schon eine gewisse Nervosität gespürt – aber die hat sich mit der ersten Show in Luft aufgelöst, meine Nerven

waren nach kürzester Zeit beruhigt. Jonas: Die Sorgen waren ja auch eigentlich unbegründet – euer neues Album wirkt wie ein guter Freund, der einige Jahre um die Welt gereist ist und nun darauf brennt, alles zu erzählen, was er erlebt hat. Wie habt ihr selbst die Zeit nach „Junk of the Heart“, eurem letzten Album aus dem Jahr 2011, empfunden? Luke: Mit The Kooks hatten wir immer Ups und Downs. Aber vor allem diese letzten drei Jahre haben sich für uns als Band überaus turbulent angefühlt – die Arbeit an der neuen Platte war Zerstörung und Neuerschaffung zugleich. Wir alle wollten nach „Junk of the Heart“ auf eine völlig andere Art und Weise Musik machen. Und so war „Listen“ letztendlich für uns so etwas wie eine Katharsis – eine seelische Reinigung. Uns bedeutet dieses Album nicht nur musikalisch sehr viel, sondern auch lyrisch: Ich habe das Gefühl, dass ich beim Schreiben der Texte viel tiefer in mein Inneres vorgedrungen bin als je zuvor. Das war wie eine Therapie – was Musik ohnehin auch immer sein sollte.


WIR ALLE WOLLTEN NACH „JUNK OF THE HEART“ AUF EINE VÖLLIG ANDERE ART UND WEISE MUSIK MACHEN.

Jonas: Das hört sich nach einem sehr heilsamen Prozess an. Luke: Ja, für mich war es wie Medizin. Peter: Schreiben ist grundsätzlich etwas sehr Beruhigendes und Heilsames. Luke: Wir hatten das Glück, mit einem Brian Eno­-artigen Producer zusammenarbeiten zu können: Unser Produzent Inflo war für uns fast wie ein Guru. Peter: Stimmt! Er hat uns dazu gebracht, dass wir wirklich alles streng danach ausgerichtet haben, wie wir uns in dem jeweiligen Moment fühlten: Wir sind in uns gegangen und haben daraus spontan und völlig frei Songs entwickelt. Aus mentaler Sicht war daher die Arbeit an dem neuen Album absolut fantastisch. Gleichzeitig bedeutete dieser Prozess für uns alle eine große Veränderung: Keine Drogen, keine Partys – wir wollten uns ausschließlich auf die Musik konzentrieren, intensive Gespräche führen und

diese Inhalte in unsere Texte einfließen lassen. Das Album ist daher weitaus durchdachter als seine Vorgänger – nicht verkopft, aber mit einer gewissen Tiefe. Mit jedem der Songs versuchen wir, einen Akzent zu setzen. Luke: Es war wirklich großartig, wieder den Fun zurückzugewinnen. Peter: Den Fun – und den Funk. Luke (lacht): Genau, den Fun und den Funk! Ich glaube, bei diesem Album kann man wirklich den Spaß und die Freiheit spüren, die wir bei der Arbeit daran hatten. Für mich wirkt „Listen“ fast debutartig – vielleicht erinnert es mich deshalb auch ein wenig an unser erstes Album. Wir haben es geschafft, den Ballast früherer Platten völlig von uns abzuschütteln und dabei trotzdem wie The Kooks zu klingen. Unser neues Album ist Welten entfernt von allem, was wir davor gemacht haben. Und dabei steht es wie keine andere Platte für uns als Band. Das ist wahre Freiheit.








ES SCHIEN, ALS WÜRDEN WIR MIT ALLER KRAFT DAGEGEN ANKÄMPFEN, WER WIR SIND. Jonas: Zwischen den Veröffentlichungen eurer vier Alben lagen bisher immer zwei bis drei Jahre. Wie wichtig ist es, sich nach einem Release und der anschließenden Tour zurückzuziehen und physisch wie mental zu regenerieren? Peter: Ein Album zu produzieren und auf Tour zu gehen, ist immer ein sehr intensiver und kräftezehrender Prozess. Daher ist es für uns extrem wichtig, auch Phasen zu haben, in denen wir entspannen können und den Kopf frei bekommen. Natürlich würden auch wir gerne mehr Zeit im Studio verbringen und schneller neue Alben veröffentlichen. Aber manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit – eine neue Platte kann man nicht erzwingen. Jonas: Trotzdem ist man immer dem Druck des Marktes ausgesetzt: denn je besser das Produkt, desto höher und drängender die Nachfrage. Peter: Ja, aber um so etwas Komplexes wie ein Musikalbum zu erschaffen, muss man in einer bestimmten mentalen Verfassung sein. Sobald man sich zu kreativer Leistung zwingt, geht es mit Sicherheit schief. Jonas: Die Arbeit an dem neuen Album hat euch

ermöglicht, Musik auf eine – wie ihr sagt – völlig andere Art und Weise zu machen. Heißt das in der Konsequenz, dass ihr auch die Muster über Bord geworfen habt, wie ihr euch bisher habt inspirieren lassen? Luke: Für uns hat sich alles wie ein absoluter Neustart angefühlt, was nicht zuletzt an unserem Produzent Inflo lag: Er hat wesentliche und für uns wirklich neue Impulse gesetzt. Doch dieser Neustart war für uns gar nicht so einfach: In den ersten Tagen und Wochen breitete sich ein seltsames Gefühl innerhalb der Band aus. Es schien, als würden wir mit aller Kraft dagegen ankämpfen, wer wir sind – nicht weil wir uns selbst hassten, sondern weil wir das große Bedürfnis hatten, in irgendeiner Form eine neue Magie zu erschaffen. Dabei hat keiner von uns diese Gedanken tatsächlich in Worte gefasst – es gab eher ein stilles Einverständnis, dass wir nichts auf den Tisch packen wollten, was uns irgendwie an die Vergangenheit erinnert hätte. So haben wir letztendlich alle an einem Strang gezogen, es gab unter uns einen großen gemeinsamen Nenner. Jeder wollte ein Teil des neuen, großen Ganzen sein. Jonas: Dieser umfassende Neustart erklärt die vielen Musikstile auf „Listen“, die zu dem typischen Kooks-Sound addiert wurden.


Darüber hinaus wirkt das Album insgesamt sehr energetisch. Welche Rolle hat euer neuer Drummer Alexis Nunez bei der Entwicklung der neuen Songs gespielt? Peter: Alexis ist ein unglaublich talentierter Schlagzeuger, der unsere Musik mit seinem lebendigen Spirit auflädt. Ich glaube, dass unser aktueller Sound wesentlich von ihm geprägt wurde. Für den gesamten Entwicklungsprozess des neuen Albums war es enorm wichtig, einen Drummer mit solch einem Durchhaltevermögen zu haben. Jonas: Wie seid ihr auf ihn aufmerksam geworden? Luke: Wir haben Alexis im Jahr 2011 über einen gemeinsamen Freund namens Nat Jenkins kennengelernt. Wir waren damals auf der Suche nach einem neuen Drummer. Peter: Wieder einmal. Luke: Ja, wieder einmal. Es ist nie wirklich leicht, einen guten neuen Drummer zu finden, wenn ein anderer die Band verlassen hat. Wie auch immer – Alexis

spielte damals bei den „Golden Silvers“ und ich war ein großer Fan dieser Band. Irgendwann einmal erzählte mir Nat eher nebenbei, dass sich die Gruppe aufgelöst hatte. Ich fragte Nat sofort nach Alexis’ Nummer und habe mich mit ihm auf ein Guiness verabredet. Und nach diesem Bier war er unser Drummer. Dabei dachte ich noch auf den ersten Blick, dass dieser Kerl niemals ein guter Schlagzeuger sein könnte: Er wirkte einfach zu cool. Aber kurz darauf hat Alexis uns allen bewiesen, wie verdammt gut er sein Instrument spielen kann – und was für eine gute, treue Seele er ist. Jonas: Ich kann mir vorstellen, dass es gar nicht so leicht ist, seine eigenen Ideen einzubringen, wenn man der Neue ist. Luke: Das stimmt, aber Alexis hat sich von Anfang an voll eingebracht. Dabei hätte er ja auch einfach nur die Lücke ausfüllen können, die unser letzter Drummer hinterlassen hatte – aber dafür ist er zu ambitioniert und zu gut. Wenn wir im Studio sind, herrscht ohnehin eine sehr offene Atmosphäre unter allen Beteiligten. Es gibt zwar eine generelle Richtung, die wir mit unserer Musik verfolgen, aber wenn die Chemie stimmt, probieren wir gerne alles Mögliche aus und schauen, ob es funktioniert.










Jonas: Der deutsche Musikblog „laut.de“ bezeichnet euren Song „Westside“ als eine „cheesige Dance-Hymne, die einen Gruß an Metronomy schickt“. Seht ihr das ähnlich? Luke (lächelt): Wir alle sind große Metronomy-Fans, ich persönlich liebe diese Band total. Aber diesen Vergleich höre ich tatsächlich zum ersten Mal. Weder bei „Westside“ noch einem anderen Song war es unsere Intention, diesen ganz speziellen Metronomy-Sound zu interpretieren. Zwar ist unser neues Album von einer Vielzahl guter Bands beeinflusst – darunter beispielsweise Ariel Pink und natürlich auch Metronomy – aber ich glaube, dass wir einen ganz eigenen Style of Rock’n Roll haben. Jonas: Vor etwa einen Jahr haben wir Joseph Mount portraitiert, den Gründer und Frontmann von Metronomy. Wir hatten damals zu unserem Gespräch den Cornwall-Reiseführer „Eat. Surf. Live.“ mitgebracht, in dem viele wunderschöne Fotos der südenglischen Küste abgebildet sind. Joseph erzählte uns von dem Einfluss dieser Landschaft auf sein erstes Metro­

nomy-Album „The English Riveira“. Ist eure Musik ebenfalls inspiriert von eurer Umwelt – von den Orten, an denen ihr lebt und arbeitet? Luke: Joseph scheint zu den Menschen zu gehören, deren Kunst in ganz besonderer Art und Weise von ihrer Umwelt inspiriert ist. Ich erinnere mich an ein Fernsehinterview mit ihm, in dem er ausführlich über die Französische Riviera spricht und erzählt, wie seine Musik zu der damaligen Zeit von dieser Landschaft konzeptionell beeinflusst wurde. Für uns selbst und unsere eigene Musik spielen zwei Städte eine ganz besondere Rolle: London und Los Angeles. In London haben wir seit unserer Gründung im Jahr 2004 unzählige Songs produziert und in L.A. sind viele Tracks des neuen Albums entstanden. In sie ist ein gewisser „Californian Vibe“ eingesickert. Generell würde ich aber sagen, dass unser Songwriting weniger von der Landschaft beeinflusst ist, sondern vielmehr von unseren innersten Gefühlen. Jonas: Was hat euch in L.A. denn am meisten beeindruckt?


DAS BILD EINES HERAUSGERISSENEN HERZENS BESCHREIBT RECHT PASSEND DAS, WAS ICH IN DEN LETZTEN JAHREN ERLEBT HABE. Peter: Für mich ist L.A. gerade deshalb so inspirierend, weil man überall von einer gewissen Scheinheiligkeit umgeben ist. Die meisten Menschen dort tragen zwei grundverschiedene Charaktereigenschaf­ ten in sich, die in einem ständigen Wettstreit miteinander stehen: Auf der einen Seite haben sie eine extrem positive Lebensenergie, die wahrscheinlich im kalifornischen Klima begründet liegt. Auf der anderen Seite tragen sie eine mysteriöse Dunkelheit in sich – wie in einem David Lynch Film. Alle sind irgendwie durchgeknallt. Und wirklich jeder könnte ein Serienmörder sein. So jedenfalls fühle ich mich, wenn ich in L.A. bin – ein wirklich skuriller Ort. Die Stadt bietet einem dafür aber auch mehr Freiheitsgrade: Vieles ist wesentlich günstiger als in Europa, man kann sich für wenig Geld wochenlang ein Auto mieten und durch die Gegend fahren. Und wenn ich ehrlich bin, mag ich auch diese wirklich verrückten HipHop-Clubs total, die es dort überall gibt. Jonas: Dafür sieht es dort in Sachen elektronische Musik leider schlecht aus. Peter: Das stimmt. In Downtown L.A. gibt es aber

ein paar Electro-Clubs, die ganz ok sind. Jonas: „Listen“ ist die erste Platte von The Kooks, bei der auf dem Cover kein Foto zu sehen ist, sondern eine Illustration in Form eines blauen Herzens. Welche Bedeutung hat das Artwork des neuen Albums für euch? Luke: Als wir angefangen haben, mit unserem Grafiker Hayden das Artwork von „Listen“ zu besprechen, hat er uns einige wirklich coole Vorschläge gemacht. Aber es fehlte die eine, große Idee. Als ich daraufhin seine Mappe mit allen bisherigen Arbeiten und Skizzen durchblätterte, hatte ich plötzlich dieses Herz vor meinen Augen. Diese Zeichnung hat sich irgendwie direkt mit mir verbunden, es hat Klick gemacht. Das Herz ist das zerbrechlichste, intimste Organ des Menschen und Sinnbild für seine verwundbare Seele. So steht diese Illustration für alles, wofür auch das Album steht – und stellt nebenbei auch noch einen direkten Bezug zu mir ganz persönlich her: Das Bild eines herausgerissenen Herzens beschreibt recht passend das, was ich in den letzten Jahren erlebt habe. Aber diese Geschichte ist zu privat.






Jonas: Wenn man das Albumcover eine Zeit lang betrachtet, scheint das Gehirn irgendwie den Titel „Listen“ mit dem illustrierten Herz zu kombinieren: Plötzlich hat man den Satz „Listen to your heart“ im Kopf – ein interessanter Effekt. Luke (lächelt): Schön, oder? Jonas: Auch wenn ihr euch bei diesem Albumcover zum ersten Mal für eine Illustration entschieden habt, gibt es eine Konstante, die sich seit „Inside In/Inside Out“ – eurer ersten Platte aus dem Jahr 2006 – nicht verändert hat: die unverkennbare The Kooks-Schriftart. Man könnte sie fast als ein Sinnbild für eure Band-DNA bezeichnen. Luke: Wir wollten von Anfang an ein Logo haben, das auf der einen Seite eher subtil wirkt, auf der anderen Seite aber einen hohen Wiedererkennungswert besitzt. Dieses Logo verändert sich nicht – aber dafür alles drumherum.

Jonas: Bob Dylan hat es sich bei seinem neuesten Album „Shadows in the Night“ nicht nehmen lassen, ebenfalls diese Schrift für das Artwork einzusetzen. Peter (lächelt): Ja, das finde ich ziemlich cool – und spricht für die Schrift. Jonas: Eure Band gibt es jetzt seit elf Jahren. Seid ihr euch der Tatsache bewusst, dass es Menschen gibt, die sozusagen mit eurer Musik groß geworden sind – und die bestimmte Kooks-Songs mit ganz persönlichen Lebensphasen verbinden? Peter: Das wird uns immer wieder klar, wenn wir mit den Fans sprechen. Ich empfinde es als etwas ganz Besonderes – auch weil es mich daran erinnert, wie ich selbst Musik erlebt habe, als ich noch an der Uni war. Luke: Manchmal hören wir auch, dass Leute zu einem unserer Songs geheiratet haben. So etwas ist absolut großartig!


ICH GLAUBE, DASS WIR ÜBER DIE JAHRE GEMEINSAM MIT UNSEREN FANS GEWACHSEN SIND.

Peter (lacht): Manchmal habe ich aber das Gefühl, dass das Publikum gar nicht so wirklich altert. Gestern Abend zum Beispiel waren die Leute verdammt jung. Aber im Ernst: Es bleibt ja niemand so, wie er ist. Man entwickelt sich im Leben ständig weiter. Ich glaube daher, dass wir über die Jahre gemeinsam mit unseren Fans gewachsen sind. Jonas: Ihr habt im Laufe der Zeit einige echte Klassiker geschrieben, Songs wie „Naive“, „Ooh La“ oder „She Moves In Her Own Way“ haben auf YouTube viele Millionen Klicks. Habt ihr selbst einen Lieblingssong von The Kooks? Peter (lacht): Ich hasse „Naive“! Wir müssen diesen Song an jedem verdammten Abend unseres Lebens spielen. Wir hätten diesen Track nie aufnehmen dürfen. Luke (lächelt): Hör auf, sonst denken die Jungs, wir meinen das ernst! Ich muss mal nachdenken: Hmm, ich mag eigentlich alle unserer Songs. Aber

es gibt einige, die für mich eine ganz besondere Bedeutung haben: “Ooh La“ vom ersten Album zum Beispiel. Oder „Sway“ von unserer zweiten Platte. Live haben diese Songs nochmal eine ganz andere Energie. Im Moment ist aber „See me now“ mein Favorit. Peter (grinst): Das wäre doch super für eine Show: ein Set, das nur aus zwei, drei Songs besteht. Luke: Können wir ja mal ausprobieren, die Kids mögen’s bestimmt. Peter: Mein absoluter Favorit unter allen Songs, die wir jemals geschrieben haben, ist „Around Town“. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass dieses Lied weltweit so erfolgreich werden würde. Das Besondere an diesem Song ist, dass er sich über die gesamte Länge ständig verändert. Für mich ist er daher auch ein Symbol für die generelle Wahrnehmung von Musik – die verändert sich bei jedem Menschen ständig. Genauso wie sich auch der Mensch ständig verändert.






MAXIMILIAN MUNDT IST 18 JAHRE ALT, SCHAUSPIELER UND FOTOKÜNSTLER UND LEBT IN HAMBURG.

WWW.IXAMMUNDT.TUMBLR.COM

MAXIM MUN


MILIAN NDT




ICH IN WIEDERHOLUNG TEXT & FOTO: MAXIMILIAN MUNDT


Ein Ritual ist eine Regelmäßigkeit, eine Angewohnheit, der wir uns hingeben. Dem ersten Eindruck zu verfallen, voreingenommen zu sein und Neuem misstrauisch gegenüber zu stehen. Mein Ritual besteht aus einer sich wiederholenden Tätigkeit, die mir Ordnung und Halt gibt. Halt, den ich brauche, um klar zu sein. Das Theater ist ein Ort, an dem ich gelernt habe, wer ich bin. Ein Ritual, mich selbst zu spielen, zu fühlen und zu meinen Gedanken zu stehen. Ohne mein Ritual kann ich nicht kreativ werden. Ich brauche etwas, an dem ich mich festhalten kann, um Neues zu schaffen und mein Begehren nach Neuem aufrecht zu erhalten. Ich klatsche zweimal an den Türrahmen, wache morgens auf und schlafe abends ein. Ich bin ein Ritual, dass sich bewegt, verändert und entwickelt.


CHRIST ENGEL


CHRISTOPHER ENGELMANN IST 23 JAHRE ALT, STUDENT UND MUSIKER UND LEBT IN BERLIN.

WWW.SOUNDCLOUD.COM/ACIERATE

TOPHER LMANN




Schrill schreiend steht sie vor mir. Ihre Gesichtszüge verzerren sich zu einer Fratze, während sie einen stetig stärker glühenden Rotton annimmt. Ihr Blut scheint zu kochen. Alles wird dumpf um mich herum. Ich höre nur noch halb zu. Ich habe gelernt, nur noch halb zuzuhören. Einst dachte ich, ein ehrlicher und gleichberechtigter Dialog sei die Lösung für alles. Da lag ich wohl falsch. “Silentium est aureum.“ So heißt es unter dem ersten Holzschnitt in Roman Polanskis “Die neun Pforten“. Neun Holzschnitte bilden die Hinweise auf neun Pforten. Es ist ein Neun-Schritt-Ritual, um den Teufel herbeizurufen und in sein Reich einzuziehen. Durchschreitest du die neunte Pforte, bist du bei ihm. Doch sollte ich nicht besser sagen: bei ihr? Denn ich weiß, wo sich die neunte Pforte befindet. Es ist die Tür zu meiner WG. Sind wir ehrlich mit uns selbst, so fallen uns Fehler in unserem eigenen Verhalten auf. Menschen machen Fehler und für einige werden sie sogar geliebt. Mit den Fehlern aus meinem Leben könnte man sicherlich ganze Bücher füllen, doch habe ich mich so falsch verhalten, dass meine Mitbewohnerin zum Teufel wurde? Habe ich unbewusst die ersten acht Pforten im Zusammenleben durchschritten und eines Tages, als ich die Wohnungstür aufschloss, trat ich durch die neunte Pforte in das Reich der Schatten?

Was richtig und was falsch ist kann sehr subjektiv sein. Und es scheint, dass ich für sie diese Fehler begangen habe. Auch wenn das, außer ihr, sonst niemand so sieht. Ich sei das Problem, sagt sie immer so gerne. Ich frage mich jedes Mal, warum dann auch mein Mitbewohner auszieht. Post-its pflasterten unsere WG. Und hätte ich mir ihre Orte genauer angeschaut, sie hätten sicherlich ein umgekehrtes Pentagramm ergeben. Dies ist falsch und das ist falsch, Hauptsache in klebender Form ausgedrückt. Irrationalität begleitete jeden Streit, denn Ursprung dessen war eigentlich nur, dass die Fürstin der Finsternis keine Frage oder gar Widerrede duldete. Sie lebt nun einmal seit Anbeginn in dieser Hölle und ist deren Herrscherin. Und wenn die Peitsche knallt, dann knallt sie! Und sowieso, dies ist der Tag des jüngsten Gerichts! Waschmaschinenverbot! Kühlschrankverbot! Und von allem, was mir gehört, lässt du die Finger! Dafür hab‘ ich mal einen Abschlag gezahlt und dafür auch! Und dass ich dich nie gefragt habe, ob du dafür auch was zahlen kannst, da das hier schon seit langem vor deiner Zeit zum WG-Eigentum gehört, ist egal! Was ist es, das am Ende bleibt, wenn ich hier weg bin? Negativerfahrung wäre ein passendes Wort. Und ... vielleicht der Nachhall einer Warnung? “Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“


DIE NEUNTE PFORTE TEXT & FOTO: CHRISTOPHER ENGELMANN


LUISA BILKE IST 20 ALT, ARBEITET BEI EINER MUSIKSHOW UND LEBT IN BERLIN.

LUI BIL


ISA LKE




WIE KLEBER TEXT & FOTO: LUISA BILKE Es ist Freitag. Feiern, feiern und mehr davon. Samstag schlafen, bis drei, bis vier, Frühstück für den Kater, duschen, weiterschlafen. “Und du wirst 21, 22, 23 und du kannst noch gar nicht wissen, was du willst”. Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag ist fast schon Freitag, Freitag ist feiern. Feiern, Feiern. Du bist Licht in der Nacht. Samstag, Sonntag. “Und du wirst 24, 25, 26, und du tanzt nicht mehr wie früher.” Du willst es, willst bleiben im gewohnten Trott, denkst nicht weiter, schiebst vor dir her, was du nicht kennst, ich könnt´s nicht besser. Wann brichst du aus? Wie brichst du aus? Wann gehst du aus? Gewohnheit klebt ätzend. Gewohnheit klebt wie roher Teig unter den Fingernägeln, trocknet an den Handgelenken. Wer wartet, ist lange beschäftigt mit den Resten, die rote Streifen in die Haut gravieren. Wann löst du dich? Wann muss ich es tun?



GIULIA OGAZA IST 23 JAHRE ALT, PSYCHOLOGIESTUDENTIN UND LEBT IN BERLIN.

GIU OGA


ULIA AZA




MITTWOCH– ABEND


TEXT & FOTO: GIULIA OGAZA

Meine Arbeit wurde mein Zuhause. Ein Zuhause, in dem ich Menschen kennenlerne, die mich prägen, die mich wachsen lassen und die mich auf meiner Reise begleiten. Menschen, die auf einmal da waren. Und immer noch da sind. Menschen, die zu Freunden wurden. Freunde, die mir viel bedeuten. Ein Zuhause, in dem all meine Freunde zusammen kamen, sich kennenlernten ... und zu Freunden wurden. Ein Ort, an dem wir an warmen Sommernächten am Fenster saßen, zusammen tranken, rauchten, Musik hörten, tanzten, feierten, lachten. Bis in die frühen Morgenstunden. Ein Ort, an dem wir an kalten Winterabenden auf der Couch sitzen, trinken, rauchen, philosophieren, die Gesellschaft in Frage stellen, die Erde als Mutter wertschätzen, uns aufbauen, uns helfen, uns unterstützen, uns herausfordern. Füreinander da sind. Seit ein paar Wochen also kommt diese kleine Familie jeden Mittwochabend zusammen. Mit Vorfreude, mit offenem Herzen, mit neuen Erfahrungen, neuem Wissen, neuen Selbsterkenntnissen. Und diese Familie wird immer größer, zieht immer mehr Menschen an ... und jeder einzelne trägt dazu bei, dass diese Familie

noch harmonischer wird - zu einem großen Ganzen wird! Mittwochabend. Mein Ritual. Mein Abend in der Woche, den ich nicht mehr missen möchte. Denn es ist ein Abend, an dem ich mit einem Strahlen auf meinen Lippen nach Hause laufe, mit leichtem Herzen und dem Glauben, dass alles besser sein kann. Wenn wir, die all das, was zur Zeit passiert, nicht mehr länger unterstützen wollen. Wenn wir aus der Welt ein Zuhause machen wollen. Wenn wir wieder in Einklang miteinander leben wollen. Wenn wir uns zusammentun, um uns gegenseitig zu helfen und zu unterstützen. Wie lange noch sollen wir warten? Wann hören wir auf, die Verantwortung an andere abzugeben? Warum lassen wir uns so klein reden? Wieso vertrauen wir nicht unserer inneren Kraft? Jeder Einzelne von uns hat einen Held in sich stecken! Einen Teil, der zu dem Ganzen gehört. Der das Ganze erst definiert. Mein Ritual gibt mir Kraft zu kämpfen. Mein Ritual zeigt mir, dass dort andere sind, die kämpfen wollen! Für sich. Für mich. Für dich.


MARI MUC


MARIEKE MUCKS IST 17 JAHRE ALT, SCHÜLERIN UND LEBT IN STADE.

RIEKE CKS





DU, MEIN RITUAL TEXT & FOTO: MARIEKE MUCKS

Du, mein Ritual. Du gibst mir Halt. Du gibst mir Licht. Du gibst mir Alltag. Du gibst mir Hoffnung. Du gibst mir Sicherheit. Du gibst mir Ordnung. Du, mein Ritual. Auf dich kann und Will ich nicht verzichten. Du, mein Ritual.


ANN BULLARD-


ANNA BULL ARD-WERNER IST 22 JAHRE ALT, SCHAUSPIELERIN UND LEBT IN PHIL ADELPHIA, PENNSYLVANIA.

WWW.ANNABULLARD.COM

NNA -WERNER






ZWISCHEN DEN WELTEN INTERVIEW & TEXT: JONAS MEYER FOTOS: STEVEN LÜDTKE


In der Kinobranche gilt: Die Masse macht’s. Sogenannte Filmpaläste schießen überall wie Pilze aus dem Boden. „Erlebniskino“ ist ihr größtest Wahlversprechen: Filmvorstellungen auf mehreren Etagen, Dienstleistung rund um die Uhr. Wie Wurstmaschinen saugen sie von vorne große Zuschauerpor­ tionen an, um sie nach erfolgtem Film- und Genussmittelkonsum hinten wieder auszuspucken. Vollautomatische Unterhaltungsfabriken aus Glas, Stahl und Beton – gepolt auf Erfolgsmaximierung und Kosten­effizienz. Was hilft bei so viel Maximierungswahn? Ganz einfach: die Gelassenheit des Alters. Wer wie das kleine und sympathische Kino Intimes im Berliner Stadtteil Friedrichshain auf eine über hundertjährige Geschichte blickt, kann im Leben nicht alles falsch gemacht haben. Das Intimes gehört zu den wenigen Berliner Filmhäusern, in denen seit Beginn des 20. Jahrhunderts der Spielbetrieb nahezu durchgehend aufrecht erhalten wurde: Filme zeigt man hier seit 1909. Und mit seinen 83 Sitzplätzen zählt es obendrein noch zu den kleinsten Kinos der Hauptstadt – na, wenn das mal nicht entspannend ist. Ein Samstagmorgen im Januar. Vor dem tra-

ditionsreichen Intimes, das noch unter dem Namen „Lichtspiele des Ostens“ gegründet wurde, treffen wir die 22-jährige Schauspielerin Anna Bullard-Werner. Zwar wirkt ihre eigene Filmgeschichte im Vergleich zum alten Lichtspielhaus geradezu jugendlich: Vor zehn Jahren stand sie zum ersten Mal vor einer Kamera. Bezogen auf ihr Alter aber ist das knapp ihr halbes Leben. Eine Mitarbeiterin des Hauses hat uns die Tür aufgeschlossen. Kaum haben wir das Intimes betreten, eröffnet sich uns schon nach wenigen Schritten das Herzstück des Hauses: der Kinosaal. Urgemütlich ist es hier: Mit seinen roten Plüschsesseln, großzügigen Holzvertäfelungen und Großmutters Blumenvase auf dem Kachelofen wirkt der gesamte Raum wie ein Wohnzimmer aus den Siebzigern. Anna lässt sich auf einem Sessel in der mittleren Reihe nieder. So ganz ohne Publikum wirkt der kleine Kinosaal fast ein wenig andächtig. Also muss Musik her. Auf den Playlists unserer Telefone ist schnell etwas gefunden, und so liefern Sekunden später „The War on Drugs“ und „Future Islands“ den Soundtrack zu unserem ganz persönlichen Kinotag.








Jonas: In deiner Vita findet man unter „Wohnmöglichkeiten“ die Angaben „Philadelphia/USA, Esslingen“. Wie kommt es zu dieser eher ungewöhnlichen Kombination? Anna (lächelt): Ich bin in Esslingen aufgewachsen, lebe aber in Philadelphia. Nach dem Abi stand ich vor der Entscheidung, mich entweder an einer deutschen Schauspielschule zu bewerben oder raus in die Welt zu ziehen. Irgendetwas in mir hat mir gesagt, dass ich noch ein wenig von der Welt sehen muss – und so wurde es Option zwei. Jonas: Und warum fiel die Wahl gerade auf Philadelphia? Anna: Ich habe mich in den USA an diversen Unis beworben. Dass es ausgerechnet das Harverford College in Philadelphia wurde, liegt unter anderem an meinem Patenonkel – er hat selbst mal dort studiert. Über ihn bin ich auf die Hochschule aufmerksam geworden, habe mich für ein Stipendium beworben und wurde genommen. Seitdem studiere ich dort internationale Beziehungen, Wirtschaft und Politik. Jonas: Würdest du aus heutiger Sicht sagen, dass du damals die richtige Entscheidung getroffen hast?

Anna: Absolut! Ich mag meine Uni und das Studium sehr. Und da ich jeweils ein Auslandssemester in Paris und Shanghai absolvieren konnte, habe ich in den letzten Jahren auch tatsächlich einiges von der Welt gesehen. Jonas: Dein Vater ist Schwabe, deine Mutter Amerikanerin. Waren die USA etwas so Neues für dich? Anna: Etwas Neues nicht, immerhin haben wir jedes Jahr in den Sommerferien für einige Wochen meine Großeltern in Kalifornien besucht. Zwar habe ich neben der deutschen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft, aber richtig in den USA gelebt habe ich nie. Ich wollte das unbedingt einmal ausprobieren und mehr über diesen amerikanischen Teil in mir herausfinden – diese Kultur gehört ja irgendwie auch zu mir. Jonas: Heißt das, dass du zuhause mit zwei Kulturen aufgewachsen bist? Anna: Ja, dieses Gefühl habe ich total. Meine Eltern haben sich Ende der 80er während ihres Studiums in San Francisco kennengelernt und sind nach ihrer Hochzeit nach Tübingen gezogen. Im Schwabenland


MEINE ELTERN SIND BEIDE PFARRER, SCHAUSPIELEREI IST ÜBERHAUPT NICHT IHRE WELT.

wirkt meine Mutter mit ihrem amerikanischen Akzent immer noch wie eine Exotin, auch wenn sie mittlerweile seit über 20 Jahren in Deutschland lebt. Wenn sie mir früher etwas vorgelesen hat, waren das immer englischsprachige Bücher – ich glaube, mein gesamtes Englisch habe ich mir als Kind nur aus diesen Geschichten und aus amerikanischen Kinderserien angeeignet. Jonas: Würdest du Esslingen als deine Heimat bezeichnen? Anna: Ich würde eher sagen, dass das Land Deutschland meine Heimat ist. Esslingen ist mein Zuhause, weil meine Familie dort lebt. Seit vier Jahren fühle ich mich aber auch genauso in den USA zuhause, weil ich dort lebe und studiere. Und komischerweise ist für mich in den letzten Jahren Berlin immer wichtiger geworden, weil ich hier gedreht und viel Zeit im Synchronstudio verbracht habe. Und da ich mich nach dem Abschluss meines Studiums im Mai voll und ganz auf die Schauspielerei konzentrieren will, gibt es definitiv die Überlegung, hierher zu ziehen – oder nach New York. Jonas: Ist das, was du studierst, nicht sehr weit weg von der Schauspielerei?

Anna: Mein Studium und die Schauspielerei sind wirklich zwei absolut verschiedene Welten. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass mir mein Studium auch irgendwie schauspielerisch hilft, da ich durch die Uni viele interessante Menschen kennenlernen durfte und außergewöhnliche Orte auf der Welt gesehen habe. Das erweitert den Horizont sehr. Jonas: Deine ersten schauspielerischen Erfahrungen hast du bereits im Jahr 2005 gemacht, als du in der Kinder-Detektivserie „Ein Fall für B.A.R.Z.“ mitgespielt hast – mit gerade einmal 13 Jahren. Wie bist du zu dieser Rolle gekommen? Anna: Als ein halbes Jahr vorher im Raum Stuttgart das Casting für die Serie ausgeschrieben wurde, wollte ich unbedingt mitmachen. Ich habe mich einfach angemeldet und wurde nach einigen Wochen und mehreren Casting-Runden für die Rolle der „Detektivin“ Anja Westermann besetzt. Jonas: Du hast dich damals selbst angemeldet? Anna: Ja. Meine Eltern sind beide Pfarrer, Schauspielerei ist überhaupt nicht ihre Welt. Aber als die Zusage für die Rolle kam, haben sie gesagt: „Kannste machen.“










Ich bin meinen Eltern total dankbar, dass sie mich immer in allem unterstützt haben, was ich getan habe – auch wenn sie nicht unbedingt einen Bezug dazu gehabt haben. Sie haben mir auch später immer das Gefühl vermittelt, dass im Leben alles möglich ist. Besonders als junge Frau ist das unglaublich gut zu hören. Jonas: Mit dieser Serie hattest du recht früh den Fuß in der Tür zur Schauspielerei. Anna: Naja, richtige Schauspielerei war das damals noch nicht. Vor allem in den ersten Episoden merkt man deutlich, dass da ein kleines Kind am Werk ist, dass nicht so wirklich weiß, was es da tut. Eine Schauspielausbildung hatte ich nicht, aber mit jeder Folge wurde ich besser. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass diese Zeit für mich eine super Möglichkeit war, mich zu entwickeln und sehr viel zu lernen. Ich empfinde es als ein riesiges Geschenk, dass ich in dieser Serie mitmachen durfte. Jonas: Insgesamt warst du ganze drei Jahre in „B.A.R.Z.“ eingebunden – wahrscheinlich war dieser „Job“ für dich so selbstverständlich wie für andere Kinder der wöchentliche Schwimm- oder Geigenunterricht. Wie bist du damit umgegangen, als das Drehen plötzlich nicht mehr Teil deines Alltags war? Anna: Für mich war das sehr schade. Allerdings durfte ich nur kurze Zeit später schon eine

Nebenrolle im Stuttgarter Tatort spielen. Jemand vom SWR, der mich noch von der „B.A.R.Z.“-Produktion kannte, hatte mich dem Regisseur empfohlen. Also bin ich wieder einmal zu einem Casting gegangen und habe glücklicherweise auch diese Rolle bekommen. Jonas: Wurdest du damals schon von einer Agentur vertreten? Anna: Nein. Jaqueline Rietz, meine heutige Agentin, habe ich erst später kennengelernt. Nach dem Dreh für den Stuttgarter Tatort habe ich an einem offenen Casting für „Die wilden Hühner“ teilgenommen, Jaqueline war dort für die Besetzung verantwortlich. Ich habe zwar nicht auf die Rolle gepasst, aber sie mochte mein Spiel trotzdem und hat mich in ihre Agentur aufgenommen. Jonas: Hast du immer gezielt nach neuen Rollen und Möglichkeiten Ausschau gehalten? Anna: Ja, ich wollte dieses Schauspiel-Ding unbedingt machen, es gab da einen richtigen Drive in mir. Durch die Aufnahme in die Agentur habe ich auch immer mehr gedreht. Im Jahr 2011 habe ich sogar eine tragende Rolle im Münsteraner Tatort übernommen – eine der krassesten Rollen, die ich je gespielt habe. Jonas: Inwiefern?


VIELE SCHAUSPIELER KÖNNEN SICH DEN LUXUS NICHT LEISTEN, FREI ZU ENTSCHEIDEN. Anna: Ich habe in diesem Tatort eine inter­ sexuelle Tennisspielerin namens Nadine gespielt. Zum ersten Mal musste ich richtig viel Zeit und Arbeit in die Vorbereitung einer Rolle investieren. Vorher habe ich immer nur Figuren gespielt, die mir selbst sehr ähnlich waren und für die ich mich nicht großartig verändern musste. Diesmal aber war es völlig anders: Da Nadine zwar äußerlich wie eine Frau wirkte, innerlich aber ein Mann war, musste ich intensiv an meiner Stimme arbeiten und hartes Krafttraining über mich ergehen lassen. Mich hat diese Rolle gar nicht richtig losgelassen. Ich erinnere mich noch, dass ich damals sehr schlecht geschlafen habe, weil ich dauernd an die Person denken musste, die ich gespielt habe. Jonas: Das hört sich wie ein Wendepunkt an: vom Hobby zum Beruf. Anna: Das war es auch, sogar in doppelter Hinsicht: Zum einen habe ich durch diese Rolle gelernt, dass der Beruf eines Schauspielers richtig harte Arbeit bedeutet. Und zum anderen war es das allererste Mal, dass sogar mein Vater anerkennend genickt hat. Meine früheren Rollen wie etwa in der Kinderserie hatte er immer nur belächelt. Aber der Tatort war eine richtige Institution im TV – auch für ihn. Jonas: War dir damals bewusst, welche Bedeutung der Tatort im deutschen Fernsehen hat?

Anna: Nein, ich habe erst im Nachhinein gecheckt, wie viele Millionen Zuschauer mit diesem Format erreicht werden. Ich wurde nach der Ausstrahlung sogar einmal von jemandem beim Optiker angesprochen. Einfach verrückt. Jonas: Schauspieler zu sein bedeutet auch, Dinge auf einer anderen Ebene ansprechen zu können, beispielsweise wenn es darum geht, menschliche Probleme oder gessellschaftliche Missstände zu thematisieren. Anna: Diese Möglichkeit hängt leider wesentlich von der Rolle ab, die einem gegeben wird: Nur innerhalb dieser Rolle hat man die Macht, inhaltlich etwas zu transportieren. Zwar kann man natürlich immer grundsätzlich wählen, ob man eine Rolle annimmt oder nicht, allerdings gilt das oft nur für die Theorie: Viele Schauspieler können sich den Luxus nicht leisten, frei zu entscheiden – sie müssen nehmen, was ihnen angeboten wird, damit sie die Miete zahlen können. Ich finde es daher gut, dass es Formate wie den Tatort gibt. In solchen Formaten hat man in seiner Rolle die Möglichkeit, die Gesellschaft öffentlich zu hinterfragen und Dinge zu thematisieren, die wichtig sind. Für mich sind Filme immer dann am besten, wenn sie politische oder gesellschaftliche Themen behandeln. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich am liebsten nur solche Filme drehen.










Jonas: Das Theater übernimmt im Gegensatz zum Fernsehen bereits seit Jahrhunderten die Aufgabe, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Wäre die Bühne nichts für dich? Anna: Ich habe noch nicht professionell Theater gespielt, nur ab und zu mal beim Jugendschauspielclub und momentan eher laienhaft an der Uni. Als Schauspieler muss man auf der Bühne viel größer werden als vor der Kamera, dafür fehlt mir einfach die Technik. Wenn ich so darüber nachdenke, frage ich mich, ob ich mich nicht doch vielleicht mal an einer Schauspielschule bewerben sollte, um es von Grund auf zu lernen. In New York habe ich mal an einem Casting am Broadway teilgenommen. Am Anfang lief es wirklich super. Aber dann hat der Caster gesagt: „So jetzt, öffnen wir das mal!“ Dann ist er ist von der Bühne gegangen und hat sich hinter einen Tisch gestellt. Ich musste plötzlich ganz alleine den Raum füllen – und mit einem Mal lief es nicht mehr. Ich wusste einfach nicht, wohin mit meinem Körper. Und ich habe gemerkt, dass ich vor allem in Bezug auf das Theater noch sehr viel lernen muss.

Jonas: Im Jahr 2009 – zwei Jahre vor deinem Umzug in die USA – wurdest du für eine Rolle in der ZDF-Krimiserie „SOKO Stuttgart“ besetzt und hast bis 2014 die Tochter der Kommissarin Seiffert gespielt. Wie konnte es funktionieren, in den USA zu studieren und gleichzeitig in Deutschland eine Serie zu drehen? Anna: Ich hatte das Glück, dass die „SOKO“­ Drehs immer in den Semesterferien stattgefunden haben. Für die Produktionen bin ich regelmäßig nach Deutschland zurückgekommen und habe in dieser Zeit bei meinen Eltern in Esslingen gewohnt. Jonas: Nach fünf Jahren „SOKO“ hast du im Sommer 2014 für den Kinofilm „Freistatt“ von Regisseur Marc Brummund vor der Kamera gestanden – ein Jugenddrama, das unter anderem mit Louis Hofmann, Max Riemelt, Uwe Bohm und Alexander Held besetzt ist. Der Film hat vor kurzem auf dem MaxOphüls-Festival Premiere gefeiert und wurde mit dem Publikums- und den Jugendjurypreis ausgezeichnet. Worum geht es genau?


STELLENWEISE HATTE MAN AM SET EIN RICHTIG MULMIGES GEFÜHL IM BAUCH, WENN MAN DARÜBER NACHGEDACHT HAT, WIE BRUTAL AN DIESEM ORT MENSCHEN IM NAMEN DES HERRN MISSHANDELT WURDEN. Anna: Der Film spielt in den 1960er Jahren und erzählt die Geschichte eines Jungen, der in einer norddeutschen Erziehungsanstalt der Diakonie physisch und sexuell misshandelt wird. Das Drehbuch beruht auf wahren Begebenheiten, diese schlimmen Taten gab es dort tatsächlich. Ich habe die Rolle der Tochter des Anstaltsleiters übernommen: Sie verliebt sich in diesen Jungen, kann ihm aber nicht wirklich helfen kann, da sie selbst letztendlich auch ein Teil dieses Systems ist. Jonas: Ein sehr ernstes und brisantes Thema. Anna: Absolut. Daher war es auch umso wichtiger, darüber einen Film zu machen und die Geschehnisse aufzuarbeiten. Gedreht wurde am Originalschauplatz, die damalige Anstalt für schwer Erziehbare ist allerdings heute eine Anlaufstelle für Alkoholkranke. Stellenweise hatte man am Set ein richtig mulmiges Gefühl im Bauch, wenn man darüber nachgedacht hat, wie brutal an diesem Ort Menschen im Namen des Herrn misshandelt wurden. Ich hoffe sehr, dass dieser Film von vielen Menschen gesehen wird und in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür schafft, was damals passiert ist.

Jonas: Film kann eine erstaunliche Macht haben. Anna: Ja, aus diesem Grund kann ich mir auch gut vorstellen, später einmal in der Filmproduktion zu arbeiten. Schon als ich 2013 für ein halbes Jahr in Paris war, habe ich ein Praktikum bei der Arte Filmförderung gemacht. Das war absolut super, auch weil ich dort vorab einige spannende Drehbücher lesen konnte – beispielsweise das Skript des indischen Kinofilms „The Lunchbox“ oder das Drehbuch zu Lars von Triers „Nympho­ maniac“. Jonas: Kino scheint dich einfach nicht lozulassen. Anna: Im Kino kann man sich überall hin katapultieren lassen – an fremde Orte und zu Lebensgeschichten, von denen man vorher nichts geahnt hätte. Deshalb liebe ich das Kino über alles, ich weiß gar nicht, wie viel Zeit ich schon dort verbracht habe. Ich liebe einfach die Atmosphäre, den Popcorn-Geruch und die Vorfreude auf den Film. Für mich fühlt sich Kino immer wie ein Stück Zuhause an – der Ort, an dem man sich geborgen fühlt.






FEL ADL


FELIX ADLER IST 30 JAHRE ALT, FREIER FOTOGRAF UND LEBT IN LEIPZIG.

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LIX LER




ABENDS TEXT & FOTO: FELIX ADLER

Die Wunderelf ist im Halbfinale rausgeflogen – Schon wieder Spanien! Am Krawalleck, ein Pulk von Leuten. Links die deprimierten Fans. Rechts die übermütigen Antideutschen. Wir schütten 100 Flaggen auf die Kreuzung. Ich gebe Benzin hinzu und von Philipp kommt der Funke. Unter Jubel und Buh-Rufen verbrennen die Zeugnisse eines latent-gefährlichen Nationalismuses.



HENN KREI


HENNING KREITEL IST 32 JAHRE ALT, FOTOGRAF UND LEBT IN BERLIN.

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NING ITEL




DINGE DES BÖSEN TEXT & FOTO: HENNING KREITEL


Mein Vater ist schon lange tot. Er kam einst aus der großen Stadt hierher. Hat sich das alles aufgebaut. Mit Blut, Schweiß und einem Ziel vor Augen. Meine Mutter lernte er auf der Nachbarfarm kennen. Gemeinsam haben sie sieben Kinder großgezogen.

sehen. Das muss aufhören. Ich beobachte diese Kreaturen, ich weiß, was sie tun. Diese Würmer des Teufels fressen die Erde auf und spucken ihren Kot oben aus. Mit ihren Krallen schaben sie alles kaputt. Ich höre die Highlands schreien. Jeden Morgen höre ich sie.

Meine Geschwister sind fast alle weg. Leben jetzt in der Stadt. Bis auf meine Schwester. Ihr gefällt es bei uns. Wir leben zusammen. Die Berge und der Himmel sind ganz allein für uns. Unser Leben folgt alten Traditionen. Wir gehen ins Bett, wenn es dunkel wird. Stehen auf mit dem ersten Hahnenschrei. So war es und wird es immer bleiben. Komme was wolle.

Diese Würmer rauben dem Boden alles. Wo sie waren, geht nichts mehr auf. Das überträgt sich auch auf Menschen. Meine Frau ist unfruchtbar geworden, weil sie über den von den Ratten des Teufels verseuchten Boden läuft. Das Land meines Vaters gehört mir. Ich habe ihm geschworen, gut darauf aufzupassen. Meine Nachbarn werden nicht heimgesucht. Nur ich. Warum bin ich verdammt? Hat Vater etwas verbrochen, wofür ich die Strafe zahlen soll?

Aber etwas hat sich verändert. Etwas Gravierendes. Dinge des Bösen passieren. Es begann mit zwei Hügeln. Dann wurden es immer mehr. Von Jahr zu Jahr. Vor allem im Sommer, wenn der Weizen wachsen soll, sind die Schandflecke überall. Bald sind auf den Feldern nur noch Hügel zu

Man muss sie zur Hölle zurückschicken und ich habe endlich ein Gegenmittel gefunden. Meine ganz spezielle Technik und es scheint zu funktionieren.


SERAPHINA THERESA IST 20 JAHRE ALT UND LEBT IN DÜSSELDORF.

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SERAP THER


PHINA RESA




TEXT & FOTO: SERAPHINA THERESA

PENDULUM ANIHPARES


Kinderschrei Wie das Grün eines Sprösslings sind wir kräftig bei pulsierendem Leibe aus nicht endend lebendem Blute, nicht endend, so lang, bis dann uns die Mutter begräbt, und ihre Wurzeln uns umarmend trinken, dass ein neuer Sprössling lebt. Derweilen im Morgengold fortwährend neues Erwachen macht suchend und schauend des Sprösslings Wahl macht Blüten und Groll in dein lieblich Tal. Und versunken im Nebel schwebend im Suchen das Glühen der Blüten im Blühen der Gluten greifst du dein Leib mit Armen von Herzen bis dein Geist rein und verkommen den Takt hat übernommen um abendlich auf neues Leid auf neues Glück gen Träume zu stürzen.


PHILIP JO SCHW


PHILIP JONATHAN SCHWARZ IST 19 JAHRE ALT, FOTOKÜNSTLER UND WOHNT IN GÖPPINGEN.

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ONATHAN WARZ




TEXT: PHILIP JONATHAN SCHWARZ FOTO: YAKOP TOLUNAY

UN CAFFÈ PER FAVORE


Ein alter Fiat 500 knattert über die holprigen Pflastersteine. Ein anderer hält am Straßenrand. Ein bärtiger, grau melierter Mann steigt aus, lässt die paar Treppenstufen und die im Raum verteilten Tische hinter sich und bestellt an der Bar: „Un caffè per favore.“ Gemütlich durch die Zeitung blätternd bestreitet der Italiener sein tägliches Ritual. Nicht dass es um den Kaffee ginge, sondern viel mehr um das Treffen von Bekannten und die tägliche Dosis Information. Knapp zehn Minuten später verlässt er das Café auch wieder und geht seines Lebens Wege. Bin ich an irgendeinem fremden Ort, lässt sich immer ein solcher Platz finden. Das ist zu meinem Ritual geworden: Ich folge den Einheimischen, suche mir ein gemütliches Café und beobachte die Menschen. So ergaben sich Begegnungen und Tipps, die schon Türen öffneten und spannende Einblicke ermöglichten, die sonst nicht zustande gekommen wären. Man lernt fremde Städte und Kulturen aus Sicht der Einheimischen kennen und kann Eindrücke gewinnen, die weit spannender sind als die gewöhnlichen Touristenattraktionen. Ob Wohnzimmerkonzert in Berlin, Privatführung durch die Pariser Katakomben oder Wanderung zu einem Traumstrand in Sardinien - in all diesen kleinen Geschichten stand irgendwo ein Kaffee am Anfang. Zurück in einem kleinen Café in Italien: Diesen Mann gilt es doch zu beneiden. So unscheinbar dieses Ritual scheint, um so wichtiger ist es. Es sind diese kleinen Dinge, die Freuden, die das Leben ausmachen. Mal schauen, welche nächste Geschichte es zu erzählen gibt.


ELISABETH MOCHNER IST 23 JAHRE ALT, FOTOGRAFIN UND PHILOSOPHIE-STUDENTIN UND LEBT IN STUTTGART.

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ELISA MOCH


ABETH HNER




RITUALE IM ZEITALTER DER GRAUEN SISYPHOS-HERREN TEXT & FOTO: ELISABETH MOCHNER


Ein ständiges Blicken auf die Uhr, die ständige Angst, zu spät zu kommen, zu spät dran zu sein, zu kurz zu kommen … graue Alltäglichkeit. Rituale hingegen verlangen Zeit, Muße, Hingabe – im Idealfall ein Kollektiv an gleichgesinnter Offenherzigkeit. Attribute, die dem zuwiderlaufen, was ich täglich um mich sehe. Zeitsparende graue Herren hetzen zielorientiert durch graue Betonstädte, nicht nach links und rechts schauend, immer nur auf die eigene Person fixiert und auf das eigene Vorankommen. Das narzisstische Streben nach Erfolg und Prestige erscheint als der moderne Gottesdienst, bürokratische Schreibtisch– kapellen inklusive. Die kollektive, verbindende Kraft eines Rituals – wo ist für sie noch Platz im kurzlebigen und doch langweiligen Alltag des modernen Sisyphos-Menschen? Im ständigen Bemühen darum, seinen Stein den Berg hinaufzurollen, bleibt ihm kein Freiraum. Oder vielmehr, er gönnt ihn sich nicht. Lass doch den Stein einmal hinunterrollen, lass ihn dort liegen …


DILEK OYRAN IST 25 JAHRE ALT, FOTOGRAFIN UND GRAFIKDESIGNERIN UND WOHNT IN ESSEN.

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DIL OYR


LEK RAN




FÜR IMMER


TEXT & FOTO: DILEK OYRAN

Türkei. Das Land der Heimat und der Fremde zugleich. Das Land des Fernwehs und des Vermissens. Istanbul. Die Stadt, die zwei Kontinente harmonisch miteinander verbindet. So individuell die Menschen dort sind, so unterschiedlich sind auch meine Rituale, die sich wiederholen, wenn ich meinen Sommerurlaub in der Türkei verbringe. Das morgendliche Moccatrinken, wenn man in den frühen Morgenstunden die bereits warme Sonne auf der Haut verspürt. Die Bazaare in den nächstgelegenen Dörfern nicht verpassen, um die interessantesten Andenkstücke als ein Stück Heimat mit nach Deutschland nehmen zu können. Den bunten und aufregenden Tag bei Mitternacht unter dem Sternenhimmel mit dem sanften Klang des wehenden Windes und der noch angenehmen Wärme ausklingeln zu lassen. Dieses Mal natürlich mit türkischem Tee und dazugewonnene Momente, die unvergesslich bleiben werden. Für immer.


HANNAH FRONTZEK IST 19 JAHRE ALT, STUDIERT LITERATUR-KUNST-MEDIEN UND LEBT IN KONSTANZ.

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HANN FRON


NNAH NTZEK




TEXT & FOTO: HANNAH FRONTZEK

PORRIDGE UND TEE


Der beste Start in den Tag ist für mich mein morgendliches Ritual: Die Kombination aus Porridge und Tee. Dieses Ritual habe ich mir während meiner Zeit in Irland angewöhnt: Wecker ausschalten, langsam aufstehen. Vorhang auf, Fenster zu. In der Küche schnappe ich mir einen Topf und den Wasserkocher. Während das Wasser zu kochen beginnt, vermische ich in dem Topf Wasser mit Haferflocken und lasse es ebenfalls kurz aufkochen. Ich lausche dem Geräusch des kochenden Haferbreis, des Füllens der Tasse und lasse den sanften Duft des Tees in meine Nase steigen. So riecht für mich der Morgen. So riecht mein Ritual. Ein paar gemütliche Minuten später ... Porridge aufgegessen: gestärkt für den Tag. Grünen Tee getrunken: die Müdigkeit mit fairen Mitteln bekämpft. Zu dieser Zeit des Tages bin ich völlig ungestört, um mein Ritual zu vollziehen. Dabei kann ich ich selbst sein und ich habe die Möglichkeit, es nach meinen Vorstellungen zu gestalten. In einem bestimmten Ablauf übe ich mein Ritual jeden Morgen aus und genau deshalb, weil es mich glücklich macht und einen schlechten Start in den Tag erst gar nicht erlaubt. Meine Rituale lassen mir meine Freiheit und sind eine der wenigen Dinge, die ich selbst entscheiden und auch umsetzen darf. Ein Ritual ist eine Struktur, die für selbstverständlich gehalten wird und doch ist es das Ausleben der Persönlichkeit auf eine individuelle Art und Weise. Das Schönste daran ist, dass Rituale Menschen zusammenführen können. Ein Ritual muss nicht einsam sein, es kann gemeinsam sein.


FRANC FUTTE


FRANCESCO FUTTERER IST 24 JAHRE ALT, STUDIERT KOMMUNIKATIONSDESIGN UND LEBT IN HEIDELBERG.

WWW.FRANCESCOFUTTERER.DE

CESCO ERER




TEXT & FOTO: FRANCESCO FUTTERER

Beim Betreten des Gebetsraumes empfängt mich eine angenehme und vertraute Wärme. Trotz der vielen einzelnen Kacheln, Muster und Kalligrafien an den Wänden, die einen erschlagen müssten, wirkt der Raum still. Alles ist aufeinander abgestimmt. Die Weichheit des roten Teppichs quillt durch meine Socken zwischen den Zehen nach oben und ich habe plötzlich den Drang, mich hinzusetzen. Der Teppich bedeckt den kompletten Boden und es ziehen sich helle Streifen durch ihn. Der Raum ist groß. In der Mitte hängt ein goldener Kronleuchter und an der vorderen Wand stehen rechts und links der Gebetsnische zwei Pendeluhren — die Pendel bewegen sich zwar, doch man hört sie nicht … Ein lauter, langer Ruf reißt mich aus meinem Tagtraum. Menschen strömen in den Raum. Sie verteilen sich und langsam werden die im Teppich eingewebten Reihen gefüllt. Die Leute unterhalten sich auf türkisch. Kinder springen mit großer Freude zwischen den Menschen hin und her. In mir legt sich eine Stille nieder. Ich bin immer noch so fasziniert von der Räumlichkeit, dass sich alles andere ausblendet. „Was machen sie hier?“ „… Bitte?“ „Was machen sie denn hier mit der Kamera?“ „Ah … Ich fotografiere ihren Imam hier in der Moschee. Ich möchte seinen Alltag zeigen … Ich bin wirklich fasziniert von diesem Raum.“ „Das haben wir alles selbst

gemacht. Hat sechs Jahre gedauert. Ok, dann viel Glück bei Ihren Bildern … Bekommen wir sie dann auch zu sehen?“ Ich sage ihm noch ein „bestimmt“ hinterher. Der Mann war aber schon zu einer anderen Stelle gegangen und nahm Platz. Der Imam betritt das Pult und es wird still. Er beginnt auf türkisch zu sprechen. Wieder kann ich nichts verstehen, dennoch genieße ich die Ruhe. Es ist erstaunlich, wie die Wirkung des Raumes alles andere ausblendet. Wieder werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Alle stehen plötz­lich auf und das Gebet beginnt. In einem ritualähnlichen Rhythmus verneigen sich die Menschen, knien sich auf den Boden und erheben sich wieder. Die Stille während des Gebets wird nur durch die Worte eines Mannes aus Lautsprechern unterbrochen. Nach fünfzehn Mi­ nu­­ ten ist alles vorbei. Die Menschen stehen auf. Die Kinder rennen wieder zwischen ihnen hindurch und lachen. Es werden sich Hände gereicht und man gibt sich gegenseitig Küsse auf die Backen. Nach und nach leert sich der Raum und die Stille kehrt wieder ein. Jetzt treffe ich den Imam. Wir begrüßen uns und ich erkläre ihm, wie wir vorgehen. Anschließend nimmt er auf der anderen Seite des Raumes Platz und ab jetzt durchbricht die Stille nur noch das leise Klacken der Kamera.


ROTER TEPPICH


KORNELIUS SILVAN PAEDE IST 26 JAHRE ALT, STUDENT UND KL ANGFORSCHER UND LEBT IN AUGSBURG.

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KORN SILVAN


NELIUS N PAEDE




NACHT– RITUALE ODER ODEN AN PASITHEA I. TANZTEMPEL Wie singen die Nachtsirenen so schön -: am Abend, im Taumel der Frühe, im Nebel des Jetzt. Wie schön singen sie, und wie schön strömen traurige Zaghaftigkeiten durch meine Illusion von Versenkung beim Anblick der totengleichen Adoleszenz. So schwelgen heute die Parzen im Dämmerlicht -: schließen die Augen und wogen im Rhythmus der Monotonie. Sie wenden sich ab von den großen Vorsehungen und gehen flugs schwanger mit Rauch, Schnaps und Kondensat. Und ich kann nicht fassen, wie schön der Sirenen Gesang, wie alle Parzen sich einlullen, selbstvergessen, fast wie im Traum, und sie tanzen, bis über den Morgen hinweg wieder hinein in die Nacht und hinauf in gefrorenen Tau. Und ich tanze vielleicht mit den Parzen, alleine, und weiß nicht warum oder wie. So sie wissen was wird, müssen sie alles vergessen, die Welt und den Tag. Und ich bin die ganze verbliebene Zeit einfach nur dagesessen und hab mich bemüht auch etwas zu verlieren; und hatte dann in vollem Bemühen dich schließlich aus meinem Kopf gesoffen, als die Sirenen endlich verstummten und die Vögel zu singen begannen. Wie jedes Mal erneut.


TEXT: KORNELIUS SILVAN PAEDE FOTO: ULRICH STARK

II. SOUTERRAIN Zwanzig vor Drei. Und entweder wispert der Tinnitus hypochondrisches Delirium herbei, oder es schläft trotzdem keiner. Und mir fehlen die Worte für das diesige Licht und die Farbe der Straßenlaternen. Ich hab eine Projektionsfläche lieb. Es spiegeln sich nachts alle Lampenschirme im Fenster. Sie sehen dort aus wie der Mond, selbst mit Vorhof, nur größer, nur strahlender. Der Mond ist abschaltbar, wie nichts nach dem Einfall, hineinzuhorchen. Beim stillen Zerteilen der Ganzheitlichkeit ist zu wenig vage, lädt man sich auf. Da windet der Winter und wird aus dem Fenster mich reißen. Ich hab euch ja kaum halb so fremd wie der Nachtverkehr Liebe. Kurz nach irgendwas habe ich noch schnell gute Nacht sagen wollen, und dass die Laterne jetzt aus ist, genau wie der Mond, und dass ich schon wieder an wen gedacht habe. D.911


MELF MAYER IST 16 JAHRE ALT, SCHÜLER UND LEBT IN LÜNEBURG.

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ME MAY


ELF YER




TEXT & FOTO: MELF MAYER

JEDES JAHR


Jedes Jahr, jede Woche stand sie jeden Montag auf. Um sieben Uhr. Da klingelte ihr Wecker. Um viertel nach sieben nahm sie ihr Frühstück zu sich. Um halb acht ging sie zum Bus, der um viertel vor acht abfuhr. Abends um zwanzig nach neun hielt derselbe Bus wieder an derselben Haltestelle. Dann stieg sie aus und kam um fünf nach halb zehn zuhause an. Damit begann ihre Woche. Sie sah keinen Sinn dahinter. Es gab wahrscheinlich auch keinen. Wie ihre Eltern eben früher jeden Sonntag eine Fahrradtour unternommen hatten. Und doch. Eines Tages wurden die Buszeiten umgestellt. Am nächsten Montag verpasste sie den Bus. Sie stand an der Bushaltestelle und wartete verzweifelt. Der nächste Bus fuhr erst eine dreiviertel Stunde später. Sie fühlte sich leer. Und unsicher. Sie war überrumpelt worden von der Busgesellschaft. Jetzt hatte sie das Gefühl zu fallen.


MARTIN VALENTIN FUCHS IST 22 JAHRE ALT, FREISCHAFFENDER FOTOGRAF UND LEBT IN WIEN.

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MARTIN V FUC


VALENTIN CHS




TEXT & FOTO: MARTIN VALENTIN FUCHS

DAS RITUAL DER KÜNSTLERISCHEN FREIHEIT


Kunst. Ein umstrittener Begriff. Ich persönlich würde mich nicht unbedingt als Künstler bezeichnen. Und die Frage nach der Definition des Terminus Kunst wird aufgrund der Subjektivität und Variabilität seiner Interpretation wohl nie eine einheitliche Antwort finden. Dennoch gibt einem Kunst Freiheit. Die Freiheit, Dinge zu tun. Dinge, die nicht der Norm entsprechen und Dinge, die für Außenstehende eigenwillig, befremdlich oder absurd wirken mögen. Aber man ist Künstler. Man darf. Diese Sonderstellung, dieses Privileg, das einem von der Gesellschaft als „Kunstschaffendem“ eingeräumt wird gilt es zu entdecken, zu erfahren und zu leben. Das gesellschaftliche Reglement begleitet und prägt einen von Kindheit an. Man fügt sich, gliedert sich ein und schwimmt mit dem Strom. Doch das Leben ist mehr. Es bietet Dir die Möglichkeit der Individualität und des Ich-seins. Es birgt Freiheiten. Freiheiten, die es zu nutzen gilt.

Eine Badewanne mit Säcken voller Blumen zu füllen, um danach einen Jüngling im Grün zu ertränken erscheint beinahe noch harmlos. Eine tote Fliege so lange auf seinen Lippen zu balancieren, bis man sie unwillentlich einatmet und kurz vor dem Erstickungstot ist, wirkt schon bedenklicher. Im äußersten Falle könnte man dem Notdienst allerdings noch erwidern: „Alles für die Kunst.“ Und so tut man diese Dinge. Und man tut sie unter dem Deckmantel des Begriffs Kunst. Und durch diese regelmäßigen Exzesse, die zu meinem Alltag gehören, wie für andere das tägliche Gebet, eignet man sich obendrauf Qualitäten an, die sonst kaum jemand besitzt. Aus Speichel eine Blase zu formen stellt allenfalls kein Problem mehr für mich da, auch wenn es mir mein durchnässtes Bettlaken nur schwer verzeihen konnte. Und so arbeite ich vor mich hin, eigne mir abstruse Fähigkeiten an und produziere „Kunst“. Im besten Fall in der Hoffnung, dass die gesellschaftlichen Normen zunehmend diffuser werden, damit das „künstlerische Ritual“ nicht länger als Vorwand für Individualität und Experimentierfreudigkeit herhalten muss.


ROBIN PAUL BRAUM ALIAS BALLERINO IST 23 JAHRE ALT, MUSIKER UND PRODUZENT UND LEBT IN LONDON.

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BALLE


ERINO




SCHWERT DES SAMURAI TEXT: ROBIN PAUL BRAUM FOTO: BARBORA MRAZKOVA


Dieser wundervolle Hauch Exotik inmitten der westeuropäischen Mittelschicht. Wenn ich morgens aufwache, ist eine fleischige Avocado mit ihren sinnlichen Kurven genau das, was mein schlaffer Körper und der lustlose Geist, den er beherbergt, brauchen. Wenn ihr seidiges Inneres meine Zunge verführt und umschließt, sind meine Sinne binnen Sekunden geschärft wie das Schwert eines Samurais. Als wäre sie direkt aus dem Schoß der heiligen Jungfrau Maria entsprungen, lässt sie mir all das Leben durch die Adern fließen, das mir zuvor fehlte. Ich lehne mich zurück, entspanne mich und bin aufgeregt zugleich. Falle jedes Mal aufs Neue in unerwartete Weiten und bin doch genau am richtigen Ort. Wenn ich dann letztendlich ankomme, sprühe ich nur so vor Energie und bin bereit für alles, was der Tag so bringt. Jeder hat so seine Tricks.


KAR PAR


KARIN PARK IS A SINGER-SONGWRITER LIVING IN DJURA, SWEDEN.

WWW.K ARINPARK.COM

RIN RK






APOCALYPSE INTERRUPTED INTERVIEW & TEXT: MAXIM TSAREV PHOTOS: ROBERTO BRUNDO


Winter in Berlin is rough. While the city isn‘t as snowy as Munich, or as windy as Hamburg, the incessant darkness wears you down day for day, week for week. After a while, the lack of sunlight gets to you. By the time we met with Karin Park, the acclaimed Swedish singer-songwriter, in mid January, that point had been surpassed, and there was only the drudgery of February to look forward to. In that atmosphere, listening to her newest album „Apocalypse Pop“ for the first time was a revelation. The soundscapes are lush with desolation, while the peaks and valleys that Park‘s voice probes are rife with sadness, tempered only hesitantly by hope. Darkness presses in from all sides, but there is a hint of spring in songs like „Shine“. At 1.90m Karin Park cuts an imposing figure. For her size, and striking appearance, she is surprisingly soft-spoken and elegant. She is also incredibly confident. When we met, she was self-assured enough to open the conversation while I was still fumbling with my recorder.






Karin: Are you from Berlin?

Maxim: The windy city. Was it cold?

Maxim: Not originally. I‘m an American. I haven‘t lived in the States for a long time though. I grew up in Russia, and now I live here – one of the expats who never goes home, I guess.

Karin: It was very cold when we first got there. Like 15 below. Not on the last day though. We took the day off to drive around, and it was like spring. It was really nice.

Karin: Where in the States are you from? Maxim: Kentucky. Famous for bourbon and horseracing. Do you know it? Karin: Of course. I was in Chicago yesterday, actually. I was home for five minutes before I flew on to Berlin. Maxim: So you only just flew in? Karin: Yeah, I woke up at four this morning to take the flight here. Maxim: Are you still jetlagged? Karin: I guess I should be but I don‘t think I ever really switched to begin with. I was there for a week, and I woke up at five o‘clock in the morning, every morning. And then I would go to bed at nine. We were recording in a studio, and when we were done, we were exhausted. But it was nice. We got to see a bit of the city.

Maxim: I saw on your twitter feed that you had recorded in London. Is that where you normally record, or do you go wherever it pleases you at that moment? Karin: No, normally I record with people in London. For this record I spent a lot of time there. But I have a studio at home, as well. I haven‘t had a fully equipped studio until now, so I‘m building one. Then I‘ll be able to record my synthesizers and vocals – do the sketches for songs – from home. If I need drums, I‘ll have to go somewhere else. Maxim: Speaking of drums, I saw that your brother sometimes tours with you. Do you get him in the studio often? Do you two jam together? Karin: I bring him in when I want the rhythmic part of the song. Sometimes, but not often, he‘ll help me to write songs. Not on this album though. On this one I‘ve mostly written alone, or with other people. He does all of the drumming. In one of the songs he even plays the vacuum cleaner. Oh, and for one of the sessions he played the flute.


I BRING MY BROTHER IN WHEN I WANT THE RHYHMIC PART OF THE SONG.








Maxim: You grew up in a musically talented family? Karin: Yes, my brother started playing the drums when he was three. There was a point when my brother was playing the drums, my sister was playing the violin, my other brother was playing the cello, and I was singing and playing the flute. It was a very noisy period. But then it shifted. My brother started playing the electric bass, and my sister quit playing music completely. It was a bit quieter then. We were always playing something though. Maxim: You grew up in a small town in Sweden, right? Karin: I grew up in a town of 374 people. I lived there until I was seven, and then we moved to Japan. We stayed there for three years. Moving to the other side of the planet had a big impact on me. This was pre-internet, pre-mobile phone. We would call home once a month, and everyone would gather around the house telephone. My dad was the principal at a Swedish missionary school in Japan. It was in the jungle. The kids were aged anywhere between seven and eighteen, but there were only thirty of us. So I hung out with older kids. There was only one other person my age. We didn’t have European televi-

sion. We missed out on everything that young people had back home, including magazines and music. I lived three years without any commercial influence, and that impacted me significantly. Everything we do is emulated. Young people try to fit in by doing the same things as their peers. I had to develop my own identity without the benefit of youth culture. Later on, when we moved back to Sweden, it was impossible for me to fit back in. I didn’t understand what you were supposed to talk about, or the way you were supposed to talk about things. I was completely off when it came to clothes. I didn’t even realize that your clothes could tell someone else something about your personality. That’s what influenced me most during my childhood. I moved away as soon as I could. Maxim: How old were you? Karin: I was fifteen. Maxim: Do you ever go back? Karin: I actually bought the church in the village. I live there now. Maxim: Inside the church?


MUSIC WAS MY WHOLE WORLD. IT WAS THE ONLY THING I WANTED TO DO.

Karin: Yeah, it’s 500 square meters. I just bought it. Maxim: Congratulations. Karin: Thanks. We’re building a studio there. I’ve lived there for a while now, but I didn’t buy it until recently. We’ve had a little festival there, and we’re trying to get more started culturally. There wasn’t much going on before. Maxim: That’s incredible. I have missionaries in my family. They are Evangelicals, and they’ve lived in some very far-flung places. Did your parents actively pursue the mission in Japan? Karin: They were teachers for the missionary children. It was a Christian school but they weren’t missionaries in that sense. The children lived on the school grounds, and many only saw their parents once every five weeks.

Maxim: I myself grew up away from home. In Russia for the most part. Our house was incredibly far away from the place where my peers lived, so I had my own outlet. For me it was literature. Was music your outlet? Karin: No, not an outlet. Music was my whole world. It was the only thing I wanted to do. In Japan it was great because we played music together with friends and family. After I came back though, the only thing I could think about was leaving home to become an artist and a musician. It’s what drove me. I hated going to school. Maxim: This is your fourth studio album, right? Karin: No, it’s my fifth. Maxim: I guess Spotify was a little off then. Karin: My second album isn’t on there because I don’t think it’s very good.

Maxim: You didn’t visit Sweden once in your time there?

Maxim: Oh, so you get to decide what goes on there, and what doesn’t?

Karin: No.

Karin: Yeah.






I WRITE ABOUT WHAT PREOCCUPIES ME, AND THEN I CAN GO ON LIVING LIKE A NORMAL PERSON.


Maxim: Awesome, that’s really cool. I’ve listened to „Apocalypse Pop“ a couple of times now, and I noticed how dark the titles of songs were as I took them down. „Opium“ was a title that really stuck out. Your sound is very atmospheric. Are you excorcising demons here, or do you simply write about what interests you? Karin: I’m definitely working on my inner demons. On that song particularly. But all of them are about my inner life – it’s how I process my feelings. I write about what preoccupies me, and then I can go on living like a normal person. The way I write is dramatic because the books that I have at home, and the movies that I see are dramatic. Dante’s „Inferno“ has a special place on my bookshelf. I grew up with the Bible. All of that fascinates me. Good and bad. The Apocalypse is the end of the world but it also means that light wins out over the darkness in the end. That fascinates me. You think the album is dark but to me it’s just honest. I think it’s actually quite light in some ways. Not in a frivolous way, but it has tracks like „Shine“ on it that are very hopeful. It’s just the truth. Maxim: It’s like a cathartic thing? Karin: Yeah. Maxim: You also starred in a horror film, right? Do you have any plans to act in the future? Karin: I would do it if it was a role that I felt suited me. I was asked to play this role. They asked me to audition for another role but I didn’t get it. I was supposed to

speak Norwegian, and I think that I speak good Norwegian. It was supposed to be a special dialect though, and I guess they didn’t like my rendition of it. The roles I play have to be suited to me – I couldn’t just play anything. When I really get into something, I excel at it. As a kid I was really into fishing. I was obsessed with the hook, line, and sinker. I wanted a boat so badly. I think I broke my dad down psychologically because I wanted that boat so much. There wasn’t really anywhere to fish around where I lived though. But I get hung up on things. I totally get into it, and at some point I’m able to snap out of it. That’s what happens on stage as well. By the end of the show I couldn’t really say what happened. Maxim: Are you still passionate about fishing? Karin: Yes, I still love to fish. The problem is that I never catch anything. My boyfriend’s family lives by the sea, and we always go fishing when we’re there. But I never catch a fucking thing. Everyone else around me always catches something, so I’m a bit bored now. Maxim: My brother is the one who always gets the fish. Karin: So unfair, right? Maxim: I think I’m just a really bad fisher. Karin: Yeah, I think I just don’t have a natural talent for it, at all.




MER MEDER


MERTEN MEDERACKE IST 20 JAHRE ALT, STUDENT UND LEBT IN Gテ傍TINGEN

RTEN RACKE




MEILENSTEIN TEXT: MERTEN MEDERACKE FOTO: LISA QUELLE PHOTOGRAPHY


Hinter alter Fassade wohnt, von reglosen Augen bewacht, eine unsichtbare Macht, in Wort und Schrift und Tat. Das bunte Glas der Fenster bricht, das Licht unheilvoll doch feierlich. Große Gesten in kleinem Kreis, die schweigende Allgegenwart birgt Sicherheit. Seine Hand hält dich symbolisch, während Wasser deine Stirn benetzt. Du weißt von nichts, sie bestimmen es. Du füllst die Stille mit leisem Laut, als du schreist, gekleidet in weiß. Behütet sollst du sein, bis du es besser weißt. Und du weinst, denn dir ist kalt. Kalt wie der Stein, dem der Tropfen entspringt. Kalt, wie die Stimme, die singt: Willkommen, mein Kind.


MARTIN BRUGGER ALIAS OCCUPANTHER IST 25 JAHRE ALT, MUSIKER UND LEBT IN MÜNCHEN.

WWW.OCCUPANTHER.DE

OCCUPA


ANTHER




DOWN TO EARTH INTERVIEW & TEXT: JONAS MEYER FOTOS: FRANZ GRÜNEWALD


Seinen eigenen Kosmos zu verlassen, ist manchmal gar keine so schlechte Idee. Wohin es einen treibt, ist dabei aber gar nicht so entscheidend. Viel wichtiger ist das Bestreben, etwas Neues zu entdecken. Was kann es schon schaden, eine andere Perspektive einzunehmen – und sei es nur für eine bestimmte Zeit? Unser Ausbruch aus dem Alltäglichen beginnt an einem frühen Samstagmorgen im Berliner Stadtteil Dahlem, genauer gesagt an der U-Bahn-Station Oskar-Helene-Heim am Rande des Grunewalds. Im Vergleich zu vielen anderen Ecken, die man von der Hauptstadt so gewohnt ist, ist es hier geradezu unaufgeregt. Verfechter des Urbanitätshypes würden diesen Ort sogar als surreal bezeichnen. Und zugegeben: Viele Straßenzüge nördlich der U-Bahn-Station wirken mit ihren modern-funktionalen Neubaucontainern so sauber und glattgebügelt, als hätte dort noch nie ein Mensch gelebt. Oder zumindest ein Kaugummipapierchen fallen lassen. Trotzdem: Frische Luft tut gut. Und manchmal muss man einfach mal ins Grüne. Wir sind mit Martin Brugger unterwegs, der eigentlich in München lebt und seit gut einem Jahr unter dem Namen Occupanther die Welt mit feiner elektronischer Musik bereichert. Der 25-Jährige ist für einige Tage nach Berlin gekommen – zwar eher aus privaten Gründen, aber man

kann die Gelegenheit ja nutzen, um mit ihm mal über seine Musik zu plaudern. Irgendwie war uns heute nach Spazierengehen im Grunewald: Die Sonne scheint, die Vögel raffen sich zum ersten Zwitschern auf und Leute führen ihre Hunde aus. Kann man die Tiere noch halbwegs auseinanderhalten, wirken die Besitzer erschreckend konform: meist Anfang 40, meist in Grüppchen unterwegs, meist mit teuren Funktionsjacken und Sonnenbrillen dekoriert, meist in regelmäßigen Abständen ihre Vierbeiner herbeirufend oder -pfeifend. Sie heißen Lisa, Bertha, Luis oder George – die Hunde wohlgemerkt. In der einen Hand das iPhone, in der anderen Hand die Leine, kommen uns im Wald ihre Frauchen und Herrchen entgegen. Ab und zu haben wir das Glück, die inhaltlichen Höhepunkte ihrer Unterhaltungen aufzuschnappen. Unser Favorit: „Gott sei Dank habe ich eine Katzenhaarallergie. Eine gute Ausrede, um nicht dauernd zu meiner Schwiegermutter zu fahren.“ Wir schauen uns an und grinsen. Für einen Moment hatten auch wir das Gefühl, in einer surrealen Umgebung gelandet zu sein. Und das lag definitiv nicht am Wald – den kennen wir ja. Schließlich sind nicht nur wir in ländlichen Regionen aufgewachsen, sondern auch Martin Brugger alias Occupanther. Höchste Zeit, über seine Musik zu sprechen.






Jonas: Vor kurzem bin ich auf der Website des BR auf eine interessante Beschreibung deiner Musik gestoßen. Dort heißt es, dein Sound sei perfekt für lange Zug- und Autofahrten, außerdem passe er zum Joggen, Radfahren, Schwimmen, Chillen, Tanzen oder die Wolken anschauen. Ich musste sofort an so etwas wie eine Gebrauchsanleitung denken. Ist deine Musik ein Allzweckmittel? Martin: Das klingt zwar ganz lustig, aber ich weiß nicht, ob man so universell über Musik sprechen kann – dafür funktionieren schon alleine die ganzen Musikgenres zu unterschiedlich. Natürlich bin ich absolut dabei, wenn es heißt, dass Musik einen hoch- oder runterziehen kann: Wenn man schöne Musik hört, fühlt man sich einfach besser. Aber das war’s für mich auch schon – alles, was darüber hinaus geht, kann in meinen Augen sehr schnell esoterisch werden. Und davon möchte ich mich eher fernhalten. Ganz allgemein ist es ja nichts Neues, dass Menschen versuchen, Musik mit einem bestimmten Zweck zu verbinden. Wenn ein Musiker beispielsweise von sich sagt, dass er Clubmusik macht, hat diese Musik automatisch eine ganz besondere Funktion: Sie muss im Club so richtig bummsen. Das tut meine Musik zum Beispiel nicht. Ich möchte mich mit dem, was ich tue, auch gar nicht kategorisieren lassen. Natürlich muss der Sound immer irgendwie gut klingen und gewissen Standards gerecht werden. Aber da ich meine Musik eher als Zuhör-Musik beschreiben würde,

muss ich mir auch nicht die Frage stellen, ob sie in einen Club passt oder nicht. Es gibt sicher Musiker, die das als eine Einschränkung empfinden würden, vor allem in der elektronischen Musik. Aber ich persönlich mag es sehr, auch mal einen Track ohne irgendeinen Kick darin zu machen. Jonas: Wann in deinem Leben hast du gemerkt, dass Musik etwas Wichtiges und Relevantes für dich ist? Martin: Mit Musik in Berührung gekommen bin ich schon relativ früh. Als mein Zwillingsbruder und ich eingeschult wurden, hat uns unsere Lehrerin empfohlen, ein Musikinstrument zu lernen. An der Musikschule meines Heimatortes Planegg standen damals drei Instrumente zur Auswahl: Saxophon, Geige und Gitarre. Ich habe mich für die Gitarre entschieden und tatsächlich auch viele Jahre lang den Gitarrenunterricht besucht – und als ich auf’s Gymnasium kam, habe ich in der dortigen Schul-Big Band angefangen. Kurze Zeit später, da war ich etwa zwölf Jahre alt, habe ich meine erste eigene Band gegründet: Bei uns im Dorf gab es damals einen neuen Bandproberaum, der eigentlich eher ein Baucontainer war und der Jugend von der Gemeinde Planegg großzügig zur Verfügung gestellt wurde. Ich fand es irgendwie cool, dass in diesem Container Bands spielen durften, und habe meinen Eltern eröffnet, dass ich das auch machen will. Meinte Mutter sagte, das ginge nur, wenn ich eine eigene Band hätte.


ICH MÖCHTE MICH MIT DEM, WAS ICH TUE, GAR NICHT KATEGORISIEREN LASSEN. Also habe ich kurzerhand meinen Bruder zum Schlagzeuger gemacht und dazu noch einen Schulkameraden gefragt, der ebenfalls Gitarre spielte. Somit waren wir eine Band und durften im Container proben. Ich glaube, dass ab diesem Punkt Musik ein ziemlich großes Ding für mich geworden ist: Ich konnte mir das grundsätzlich für mein Leben vorstellen. Jonas: Es heißt, dass Menschen besonders durch die Orte beeinflusst werden, an denen sie leben oder längere Zeit verbringen. Fühlst du dich von der Gegend geprägt, in der du aufgewachsen bist? Martin: Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, dass der Mensch in erster Linie regional geprägt ist, durch seine Heimat und sein Zuhause – und nicht durch das Land oder die Nation. Deswegen empfinde ich auch diesen sogenannten Nationalstolz als eine äußerst schwierige Sache. Es ist etwas sehr Abstraktes, das sich anfühlt, als sei es von ziemlich weit hergeholt. Ich persönlich bin ganz sicher geprägt von der Region, in der ich aufgewachsen bin. Wie sich das aber konkret in meinem Charakter widerspiegelt, kann ich nicht sagen – das müssen andere beurteilen. Eine schwierige Kindheit hatte ich nicht, ich bin in einer sehr guten und intakten Familie groß geworden. Das war schon alles echt cool. Jonas: Wie du eben gesagt hast, hat Musik die Fähigkeit, einen Menschen hoch- oder

runterzuziehen. Hast du die Musik, die du als Teenager gehört hast, eher als aufbauend oder als deprimierend in Erinnerung? Martin: Das ist schwierig zu beantworten. Damals habe ich die Musik mit ihrer gesamten Funktionalität noch nicht so begriffen, wie ich das heute tue. Sie war einfach da und hat mich auf irgendeine Weise fasziniert. Wissenschaftlich hinterfragt habe ich das Ganze erst sehr viel später: als ich angefangen habe, Jazz-Bass zu studieren. Ab da habe ich mich wesentlich ernster und vielleicht auch auf einer gewissen philosophischen Ebene mit Musik befasst. In diesem Studium habe ich viele interessante Sachen aufgesaugt und für mich persönlich auch Einiges an Inspiration gefunden. Jonas: Ist dein Zwillingsbruder beruflich ebenfalls bei der Musik geblieben? Martin: Mein Bruder und ich haben bei der Einschulung zusammen mit der Musik angefangen, aber irgendwann war ich ihm einfach ein bisschen voraus. Er spielt aber immer noch Schlagzeug und ist seit längerer Zeit auch Drummer in einer Band namens „Hadern im Sternenhagel“. Die Band ist zwar ziemlich gut, aber hauptberuflich arbeitet mein Bruder als Filmemacher. Er hat für mich auch alle Occupanther-Clips produziert, worüber ich sehr glücklich bin.










Jonas: Dein Bruder erzeugt in diesen Videos eine ganz besondere Ästhetik. Ich denke da vor allem an die Clips „Chimera“ und „Down“, weil man hier als Zuschauer eine riesige Empathie für die Protagonisten entwickelt – in Kombination mit der Musik ist das einfach wunderschön. Martin: Vielen Dank! Ich glaube, die dargestellten Persönlichkeiten wirken deshalb so interessant, weil sie absolute Underdogs sind. Der Zuschauer kann bei ihnen alles zwischen Neugier, Mitleid und Schauer erleben. Jonas: Die Ästhetik der Clips scheint auch deswegen eine so besondere zu sein, weil plötzlich Menschen in den Mittelpunkt gestellt werden, die einem auf der Straße vielleicht gar nicht auffallen würden. Diesen Figuren wird dadurch eine enorme Würde und Authentizität gegeben. Martin: Meiner Meinung nach kommen die Figuren in den Videos deshalb so authentisch rüber, weil sie real sind. So ist beispielsweise der Alleinunterhalter in „Down“ auch im echten Leben Alleinunterhalter – zumindest nebenberuflich. Als mein Bruder ihn gecastet hat, ist er zu ihm nach Hause gefahren. Im Keller seines Hauses gab es ein kleines Privatkonzert: Mit leuchtenden Augen hat ihm der Mann seine ganzen Songs wie etwa „Summer of 69“ vorgespielt. Irgendwie war das schon witzig, aber trotzdem voll sein Ding. Ich glaube, dass es ganz allgemein bei solchen Musikvideos hilfreich ist, wenn

man nicht primär versucht, irgendwelche Rollen zu besetzen, sondern reale Personen zeigt – sofern das geht. Daher haben wir auch für den „Chimera“-Clip einen echten Tänzer ausgewählt. Jonas: Die Visualität deiner Videos wirkt sehr stringent und durchdacht. Hattest du dazu von Anfang an eine Idee im Kopf? Martin: Nein, das kam alles erst, nachdem ich die ersten Occupanther-Tracks fertig hatte: Erst als ich mir meine Musik wieder und wieder angehört habe, wollte ich sie irgendwie auch visuell umsetzen – und habe weitergesponnen. So haben sich dann nach und nach konkrete Ideen zu Bildern und Content ergeben. Jonas: Du hast in deinem Leben schon in diversen Bands gespielt und dich in den unterschiedlichsten Musikstilen ausprobiert. Hast du mit Occupanther einen Punkt erreicht, der dir das Gefühl gibt, musikalisch angekommen zu sein? Martin: Als ich mit dem Occupanther-Projekt angefangen habe, habe ich gemerkt, dass ich zum ersten Mal Musik mache, die aus mir ganz persönlich kommt und sich nicht an irgendetwas orientiert. Gleichzeitig ist mir klar geworden, dass ich bis zu diesem Punkt immer irgendeinem Sound nachgelaufen bin – quasi seit ich angefangen habe, mit Bands zu spielen. Ich habe dort einfach immer versucht, dem Sound der Musiker nachzueifern, die ich selbst cool fand.


ICH HABE MICH NIE GEFRAGT, WAS FÜR EINE ART VON KÜNSTLER ICH SEIN WILL. Im Nachhinein war es für mich absolut klar, dass da einfach die Roots gefehlt haben und es deshalb letzten Endes auch nicht authentisch war. So ist die erste EP, die ich unter dem Namen Occupanther produziert habe, auch eher im Affekt entstanden. Aber gerade dadurch hat sich das Ganze für mich so ehrlich angefühlt: Ich habe bei Occupanther nachhaltig das Gefühl, befreiter Musik zu machen. Diesen Zustand habe ich mir in der Vergangenheit oft gewünscht. Doch je länger man nach einem ganz bestimmten Schema Musik macht, desto schwieriger wird es, sich ganz und gar davon zu lösen. Jonas: Trotzdem ist es dir gelungen. Kann man sagen, dass das ganze Occupanther-Projekt alleine aus dem Instinkt heraus entstanden ist? Martin: Ich habe für diese Sache nie eine musikalische Agenda gehabt. Und ich habe mich nie gefragt, was für eine Art von Künstler ich sein will oder wie ich mich am besten auf der Bühne darstellen und bewegen muss. Von daher passt „aus dem Instinkt heraus“ vielleicht ganz gut. Leider wird das Wort Authentizität heute inflationär benutzt, aber ich glaube, genau darum ging es mir beim Start von Occupanther: Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich gemerkt habe, dass ich mich all die Jahre mehr oder weniger verstellt habe – und zwar in zweierlei Hinsicht: auf einer musikalischen Ebene, weil ich versucht habe, wie jemand anderes zu klingen oder einem Sound hinterherzurennen. Und auf einer persönlichen und optischen Ebene,

weil ich irgendwie die ganze Zeit nicht der war, der ich wirklich bin. Das Occupanther-Projekt kann man daher auch mehr oder weniger als eine Trotzreaktion beschreiben: „Ich mach’ das jetzt einfach so, wie es aus mir rauskommt.“ Jonas: Verspürst du eine gewisse Wehmut, weil du dich nicht schon viel früher getraut hast, so etwas wie Occupanther zu erschaffen? Martin: Nein, ich bin eher jemand, der froh ist, dass er diese Erkenntnis jetzt haben durfte und nicht erst in fünf Jahren. Ich könnte nicht dafür garantieren, dass ich mit 30 noch gesagt hätte, dass das genau mein Ding ist: Wenn man in dem Alter in der Szene noch nicht Fuß gefasst hat, wird es wirklich schwierig. Jonas: Zur Not hättest du ja ein zweites Standbein: Wie kam es, dass du irgendwann Produzent von Film- und Werbemusik geworden bist? Martin: In meinem Freundeskreis in München gibt es viele Leute, die im Film- und Werbebereich arbeiten. Das ist so eine Art Clique aus Regisseuren, Kameramännern, Cuttern und so weiter. Zu dieser Clique gehört auch mein guter Kumpel Alex Schiller, der im Jahr 2012 an einem Kurzfilm über die Formel 1-Legende Hans-Joachim Stuck und dessen Brüder gearbeitet hat. Er hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, die Musik für diesen Film zu komponieren. Ich habe zugesagt – und von da an ging es dann irgendwie immer weiter.










ICH PERSÖNLICH WÜRDE NIE AUFGRUND IRGENDEINES FEEDBACKS ETWAS AN MEINER MUSIK ÄNDERN.


Jonas: Vor einem halben Jahr haben wir eine skandinavische Band interviewt. Eines der Bandmitglieder hat ebenfalls eine Zeit lang Werbejingles komponiert – und war damit ziemlich unglücklich. Hast du damit ebenfalls Bauchschmerzen? Martin: Nein, ich sehe das absolut pragmatisch. Ich muss auch zugeben, dass ich mittlerweile das Glück habe, in diesem Bereich ziemlich viele coole Projekte machen zu können. Sagen wir mal so: Diese Projekte sind zwar auch Werbung, machen aber trotzdem Spaß. Natürlich ist das immer so ein Ding, an das man sich gewöhnen und mit dem man klarkommen muss: Sobald jemand Geld dafür zahlt, dass man irgendetwas komponiert, hat man halt nicht mehr das letzte Wort. Damit muss man sich abfinden. Aber ich persönlich sehe es eher als ein Privileg an, mit Musik Geld verdienen zu können – da kann man auch mal nachgeben. Jonas: Als Musiker hat man noch einen weiteren Vorteil: Plattformen wie YouTube und Soundcloud bieten einem heute die Möglichkeit, nicht nur mit seiner Kunst wesentlich mehr Menschen zu erreichen als noch vor 15 Jahren, sondern auch mit seinen Positionen zu bestimmten Themen.

Martin: Was den Teil mit der Musik betrifft, gebe ich dir recht. Zum zweiten Punkt muss ich sagen, dass natürlich auch ich zu vielen Themen eine Meinung habe – eine politische Meinung. Aber für mich ist das eher etwas Privates, das ich von mir als Künstler lieber fernhalten möchte. Mir geht es in erster Linie darum, die Musik in den Mittelpunkt zu stellen. Es passiert heutzutage auch viel zu schnell, dass man als Musiker für alle Ewigkeit auf eine ganz bestimmte Meinung reduziert wird, wenn man sich mal zu einem Thema geäußert hat. Jonas: Spielt es für dich eine Rolle, wie deine Musik bei anderen Menschen ankommt? Martin: Jeder Musiker freut sich, wenn er merkt, dass seine Musik den Leuten gefällt und sie ihm positives Feedback geben. Ich persönlich würde aber nie aufgrund irgendeines Feedbacks etwas an meiner Musik ändern – auch wenn ich merken würde, dass die Musik, die ich mache, nicht mehr so gut ankommen würde. In solch einem Moment muss man einfach konsequent sein Ding durchziehen. Das ist in jedem Fall nachhaltiger, als irgendwelche Trends zu bedienen.












WAS MEIN HEUTIGES DASEIN ANGEHT, VERSUCHE ICH IMMER ZU VERMEIDEN, DASS SICH IRGENDETWAS FESTFÄHRT.


Jonas: Du machst mittlerweile seit etlichen Jahren Musik. Stellst du fest, dass es bestimmte Dinge gibt, die immer wiederkehren? Hast du Rituale, die dich begleiten? Martin: Nicht wirklich. Was meine Zeit vor Occupanther betrifft, habe ich im Vergleich zu heute auf eine ganz andere Art Musik gemacht: Als Band sitzt man ja gemeinsam im Proberaum rum und probiert etwas aus. Daher könnte ich nicht sagen, dass ich mir aus dieser Zeit irgendetwas warm gehalten hätte. Was mein heutiges Dasein angeht, versuche ich immer zu vermeiden, dass sich irgendetwas festfährt. Eine gewisse Routine ist natürlich wichtig, trotzdem versuche ich immer, das Feld interessant zu halten. Was meinen Workflow angeht, probiere ich viele Sachen aus. Insgesamt bin ich aber mit allem recht entspannt, wahrscheinlich weil ich auch immer schon das Gefühl hatte, meine Skills ganz gut einschätzen zu können. Und mittlerweile bin ich sogar relativ diszipliniert, was das alles angeht.

Das liegt vielleicht auch ein wenig an meinem Musikstudium: Dort ist man die ganze Zeit von Leuten umgeben, die professionell Musik machen und für die Musik einfach nur ein Beruf ist. Da muss man niemandem etwas beweisen. Deswegen bin ich auch relativ „down to earth“. Jonas (lächelt): Ich war fast etwas enttäuscht, als ich gelesen habe, dass der Name Occupanther keine absolut ausgefeilte Wortneuschöpfung von dir ist, sondern „nur“ von dem Titel eines Albums deiner Lieblingsband „Midlake“ abgeleitet ist. Martin (lacht): Ein kleiner Geheimtipp: Bandnamen sind viel weniger deep, als man das allgemein annehmen möchte. Ich habe einfach einen Namen für mein Projekt gesucht und die Augen offen gehalten. Und als ich plötzlich über die Midlake-Platte „The Trials Of Van Occupanther“ gestolpert bin, die ich schon in meinen Teenagerjahren gehört habe, war der Name da. Ich fand es einfach passend.






TJADA ANDRASCHKO IST 19 JAHRE ALT UND ARBEITET ZUR ZEIT ALS AU-PAIR IN LONDON.

TJA ANDRA


ADA ASCHKO




TEXT & FOTO: TJADA ANDRASCHKO

ZUHAUSE


Mama nimmt meine kalten Füße zwischen ihre dünnen Hände und steht dann auf, um das Glas wegzuräumen, aus dem ich noch trinken wollte. Papa macht Witze, für die wir alle zu alt sind, und jeder lacht. Von Herzen. In der Küche riecht es nach Lasagne und am Esstisch wird laut diskutiert. Jemand zitiert „Pappa Ante Portas“. Meine Schwester ist die Kleinste von allen und ihre Beine nehmen trotzdem jeglichen Platz unter dem Tisch ein. Die zweite Schwester sagt ihre Meinung. Mein Bruder weiß es besser. Oma hört nichts mehr, während Opa vom Krieg erzählt. Sie haben Torte mitgebracht. Die Art, wie wir Dinge sagen, ohne sie auszusprechen. Wie jemand meine Hand nimmt, wenn ich friere. Wie ich meinen Kopf in eurem Schoß sicher weiß, wenn alles über ihn hinaus wächst. Vertraute Blicke wären noch untertrieben. Blicke, die sich kennen und lieben. All die kleinen Rituale, die zu einem großen werden, das sich Zuhause nennt. Und ich weiß, dass dieses Ritual eines Tages bloß eine Erinnerung sein wird. Aber dann die, mit der ich meine Augen schließe.


JON MEY


JONAS MEYER IST FREIBERUFLICHER ART DIRECTOR UND PUBLIZIST UND LEBT IN BERLIN.

NAS YER

WWW.JMVC.DE




ZEITENWENDE TEXT: JONAS MEYER FOTO: STEVEN LÜDTKE


Das erste Eis. Das erste Mal im T-Shirt raus. Der erste Kaffee in der Sonne. Das erste Bier im Park. Der erste Kuss im Freien. Die ersten Schmetterlinge. Die erste Party auf dem Dach. Der erste Sternenhimmel. Die ersten Endorphine. Der erste Tritt in die Pedale. Der erste Sprint. Das erste Herzklopfen. Das erste Grinsen im Gesicht. Jedes Jahr auf’s Neue.





DANKE

WIR DANKEN ALLEN, DIE UNS AUF UNSEREM WEG BEGLEITEN UND UNS JEDEN TAG IN DEM BESTÄRKEN, WAS WIR TUN.


UNSER BESONDERER DANK GILT CLAUDIA SCHMITTER, MAXIM TSAREV, NIKLAS SCHADER, BENEDICT FÖLL, MATS LICHT, VIVIEN MIERZKALLA UND DEM TEAM DES KINO INTIMES.



MYP MAGAZINE T H E M Y PAG E S M AGA Z I N E G EG RÜ N D E T VO N J O N A S M E Y E R & LU K A S L E I ST E R S C H L E S I S C H E ST R. 19, D-10997 B E R L I N + 49 (0) 30 . 22 39 31 72 I N FO@ M Y P- M AGA Z I N E.CO M

HERAUSGEBER & ART DIRECTOR JONAS MEYER

REDAKTION & INTERVIEWS J O N A S M E Y E R, M A X I M TSA R E V & M A X I M I L I A N KÖ N I G

LEKTORAT B E N E D I C T FÖ L L & N I K L A S S C H A D E R

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