BRENT SPAR oder die Zukunft der Meere

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Brent Spar: Greenpace-Aufstand auf Hoher See Volks-Abstimmung an der Zapfsäule Beobachtung einer Kampagne Von Jochen Vorfelder

Dieses Manuskript erschien im Herbst 1995 gekürzt und redigiert als “Greenpeace-Report”

Brent Spar oder die Zukunft der Meere Beck’sche Reihe 1142 München, 1995, C.H. Beck Verlag ISBN 3-406-39242-3, vergriffen


Inhalt

Vorwort

4

1. Der zwanzigste Juni: Greenpeace

6

2. Wohin mit einer Ruine?

15

3. GijĹ› fixe Idee

24

4. Krisengebiet Nordsee

32

5. Meuterei bei der Seebestattung

47

6. Der Multi mit der sauberen Muschel

54

7. Strategien und Krisenmanagement

71

8. Wer hat hier Boykott gerufen?

95

9. Der zwanzigste Juni: Shell

104

10. Welche Zukunft hat das Meer?

113


Vorwort

In der letzten Aprilwoche 1995 war der Begriff Brent Spar nur einer verschwindend kleinen Zahl von Menschen bekannt. Brent Spar - das war eine ausführliche Handakte, geführt von Mitarbeitern der Shell Expro Ltd. im schottischen Aberdeen, und ein Vermerk in den Auftragsbüchern einer Handvoll Offshore-Spezialisten. Ansonsten beschäftigte sich mit dem Thema nur: Greenpeace. 50 Tage später füllten Berichte und Reportagen über die Plattform Brent Spar die Spalten der Tageszeitungen und Magazine in Europa. Zwischen Ende April und dem 20. Juni 1995 verfolgten Millionen von Fernsehzuschauern Bilder, die die Brent Spar zu einem Synonym für verfehlte Umweltschutzpolitik, für die Arroganz eines Weltkonzerns, für erfolgreiche Greenpeace-Arbeit und für die aus einem tiefen Schlummer erwachte Macht der europäischen Verbraucher machten. Aus Shells rostiger Offshore-Ruine war ein weltweites Symbol geworden. "Umweltbewegung, Greenpeace und die Bevölkerung" hatten den drittgrößten Konzern der Welt in einem unerwartenden Kraftakt in die Knie gezwungen. Denn während auf dem Nordatlantik eine "Seeschlacht" tobte - was die Brent Spar immer weiter in den Hauptnachrichten hielt - war auf dem Festland eine BoykottBewegung entstanden, die in dieser politischen Durchschlagskraft und Vehemenz niemand erwartet hatte. Shell hat kurz vor dem geplanten Versenkungsort die Notbremse gezogen und die Brent Spar nach Norwegen zurückgeschickt. Aus "Angst vor roten Bilanzzahlen und dem Imageverlust", sagen die einen, aber "bar jeglicher technischer und ökologischen Vernunft, die eine Seebestattung der Anlage vorgeschrieben hätte", die anderen. Der Streit, ob der Rückzug des Konzern ein "Zeitalter des wahren ökologischen Denkens und eine Renaissance der Bürgermacht" einläutet, oder in Zukunft "eine Gefahr für die Demokratie" besteht, dauert an. Man werde jedenfalls, orakelten etwa die politischen Bewegungsmelder der FAZ, in Zukunft "über die Macht von Greenpeace sprechen" und unbequeme "Fragen staatstheoretischer Natur" beantworten müssen. Dieses Buch will auf diesen großen Wurf verzichten. Doch in der Tat sind Überlegungen in aller Richtungen erlaubt: Hat Greenpeace, die "professionelle Spendensammlertruppe", die harmlose Brent Spar nur für seine schnöden Zwecke benutzt? Was ist das andererseits für ein Konzern, der


glaubte, "das Votum von Millionen" werde an ihm abperlen wie an einer Öljacke? Oder war der ShellBoykott gar nur eine moderne und billige Form des ökologischen Ablaßhandels?

Hamburg, den 6. September 1995


1. Der zwanzigste Juni: Greenpeace

Hamburger S-Bahnzüge, die vor sechs Uhr morgens in den Bahnhof Landungsbrücken einfahren, befördern außer den halb Bewußtlosen, die sich später an die Nacht auf der Reeperbahn kaum erinnern werden, eine besondere Klientel. Es sind die an Bord, deren Tagwerk beginnt, und die trotz ihrer verschlafenen Augen allesamt eine ganz eigene, bodenständige Entschlossenheit ausstrahlen. Die Bruderschaft der Werftarbeiter etwa, die mit den Barkassen zur Frühschicht bei Blohm & Voss übersetzten. Oder die Kollegen von den Container-Terminals, die Rangierer und Kranfahrer; sie wissen, was ihre Arbeit wert ist. Wenn die riesigen Containerschiffe die Elbe hochkommen, angedockt und geleichtert werden, zählt jede Stunde. Dann gilt: Es wird malocht, bis der Job erledigt ist. Gleiches könnte für Roland Hipp gelten. An diesem Dienstag, den 20. Juni 1995, verläßt auch er, wie an fast fünfzig Tagen zuvor, kurz nach fünf Uhr den S-Bahnhof. Er schlendert rund zweihundert Meter die Elbbefestigung entlang, und steigt in dem alten Patrizierhaus, in dem sich das deutsche Greenpeace-Büro befindet, in den vierten Stock. Hipp geht in die Pressestelle und schaltet den Computer ein, über den Hamburg in den internen Daten- und Informationsaustausch zwischen 30 Greenpeace-Büros weltweit eingebunden ist. Als nächstes überblickt er die Nachrichtenlage. Im "Tickerraum" sind während der Nacht rund vier Meter Umwelt-Nachrichten der Deutschen Presseagentur dpa aus der Maschine gelaufen. Hipp sortiert aus und sucht gezielt nach einem Stichwort: Brent Spar. Bei seinem ersten Kaffee, den er im Brent Spar-Aktionsraum zu den Nachrichten im Frühstücksfernsehen schlürft, macht Hipp auf einem Klemmbrett seinen Tagesplan. Das Klemmbrett mit diversen Zetteln, Zeichnungen und Listen ist seit Ende April Hipps ständiger Begleiter; es ist sozusagen der sichtbare Teil seiner Gedanken, die pausenlos nur um Shell, Plattformen und Strategien kreisen. Hipp ist seit Beginn von Kampagne und Besetzung einer der beiden Koordinatoren im deutschen Büro. Bei ihm laufen alle Greenpeace-Aktivitäten zur Brent Spar über den Schreibtisch. Hipp ist dafür eine ideale Besetzung: Der 35jährige untersetzte Schwabe, aus dessen Mund Brent Spar irgendwie nach Brännd Schpaa klingt, ist ein unermüdlicher Teamarbeiter, hat gleichzeitig aber


einen ausgeprägten Sinn für klare Verantwortlichkeiten und zielorientiertes Arbeiten. Gelernt hat der Kaufmann dies als Geschäftsführer einer Firma auf der schwäbischen Alb, bevor er zu Greenpeace stieß und Atom-Kampagner wurde. Derzeit arbeitet er in der Aktionsabteilung und ist unter dem bunt gemischten Volk der Greenpeace-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter leicht zu erkennen: Die Aktionisten tragen ein Leatherman-Werkzeug am Gürtel und geben ihre Funktelefone ungern aus der Hand. Beides ist zugegebenermaßen nützlich und im Alltag praktisch. Aber auch lästig, denn im Hause Greenpeace werden die Gegenstände unschwer als Statussymbole erkannt und sind daher ein unerschöpflicher Quell für Spott. Hipps persönliches Handy klingelt kurz nach sechs Uhr; am anderen Ende der Leitung ist Harald Zindler, Aktionskoordinator an Bord des Greenpeace-Schiffes Altair. Die Altair verfolgt die Brent Spar, seit die Plattform vor acht Tagen vor den Shetland-Inseln in Schlepp genommen wurde und auf dem Weg durch den Nordatlantik ist. Die morgendlichen Gespräche der beiden folgen einem eingespielten Ritual. Zindler, im Jahr 1980 einer der Gründer von Greenpeace Deutschland und somit Aktivist der ersten Stunde, gibt zunächst die aktuelle Position der Flotte durch und faßt die Ereignisse der Nacht zusammen. Dann beschwert er sich - wie jeden Morgen -, daß er zu wenig über die aktuelle Kampagnen-Situation in Deutschland erfährt. Wie verhält sich die Deutsche Shell, wie entwickelt sich der Tankstellenboykott, hat es neue Brandanschläge gegeben, wo bleiben die versprochenen Faxe mit den Zeitungs- und Magazinartikeln vom Vortage, wo die Briefwechsel mit den Rechtsanwälten? Nicht zuletzt davon hängen die strategischen Entscheidungen vor Ort und die Art der weiteren Aktionen ab. Hipp kennt das schon, murmelt: "Ja, Harald. Paß auf, wir tun unser Bestes...", und nörgelt dann seinerseits, daß er mehr über die Lage auf der Altair wissen sollte. Schließlich sind er und sein Team das Sprachrohr und das logistische Hinterland für die Aktivisten vor Ort. Szenen einer Ehe. Zindler und Hipp haben gemeinsam schon so viele Greenpeace-Aktionen koordiniert, daß sie sich im Grunde blind vertrauen. Dennoch grummeln sie sich aus Gewohnheit jeden Morgen an, wohlwissend, daß inzwischen fast alle Radio- und Fernsehstationen in Westeuropa die Satellitentelefonnummer der Altair verzweifelt anwählen. Das wird zunehmend zu einem Problem; die Leitung wird damit auch für die interne Greenpeace-Kommunikation langsam dicht.


Im Anschluß gibt Christian Bussau, einer der Kampagner an Bord, durch, welche Frühinterviews er bereits gegeben hat und welche Sender sich für die nächsten Stunden angekündigt haben. Bussau, Meeresbiologe und Fischereispezialist, stimmt - wie Zindler auch - mit Hipp das "wording" ab. Der Anglizismus, in der internationalen Organisation nichts ungewöhnliches, bedeutet nicht mehr und nicht nicht weniger, als daß sich alle Greenpeace-Sprecher zur Brent Spar, sei es auf den Schiffen, bei Greenpeace UK, in den Niederlanden oder in Lerwick auf den Shetland-Inseln, möglichst auf eine gemeinsame Sprachregelung einigen. Hipp achtet, wenn er Bussaus Interviews im Radio verfolgt, auf die feinen Nuancen: "Christian, paß auf. Ihr kommt gut rüber, aber die Sender kriegen das mit den Wasserkanonen der Norweger bisher nicht auf die Reihe. Ihr müßt bei euren Interviews genauer erklären, welcher Druck auf den Rohren ist und was passiert, wenn unsere Leute auf der Spar damit getroffen werden. Versprochen?" Bussau verspricht, vereinbart den nächsten Routineanruf gegen Mittag und gibt noch durch, daß eine der Aktivistinnen an Bord sich Sorgen um ihre Katze macht. Sie bittet darum, daß man ihre Nachbarin anruft. Hipp notiert sich den Punkt und legt nach ein paar aufmunternden Grüßen an den Rest der Besatzung auf. Mehr Worte sind nicht nur überflüssig, sondern auch teuer. Satellitenkommunikation, auf die Greenpeace bei Aktionen auf See baut, verschlingt Geld wie ein Strudel. Hipp geht die Lage in Gedanken kurz durch. Shell hat die Plattform am 23. Mai nach über drei Wochen Besetzung räumen lassen. Nach Hipps Einschätzung zwei schwere Fehler des Konzerns: sowohl die Räumung, als auch der Zeitpunkt. Wenn er im Krisenstab des Ölmultis gesessen hätte, wären die Greenpeacer noch immer an Bord - kein Hahn würde nach ihnen krähen, kein Mensch über Shell, Plattformen oder über die Bedrohung der Nordsee reden... Doch Shell hat nicht nur geräumt, sondern auch kurz nach Ende der Vierten Nordseeschutzkonferenz im dänischen Esbjerg mit dem Abschleppen der Anlage begonnen - ein Affront an die Adresse der Öffentlichkeit und der europäischen Politiker. Die hatten mit Ausnahme der Briten und Norweger in Esbjerg für ein generelles Versenkungsverbot von Plattformen ausgesprochen. Inzwischen hat sich die Situation auf See dramatisch zugespitzt. Der Flottenverband - die Brent Spar im Schlepptau der Smit Singapore und der Präsident Hubertus, dazu vier Shell-Begleitschiffe, ein englisches Militärboot und das Greenpeace-Schiff Altair - ist nur noch 36 Stunden vom geplanten Versenkungsgebiet entfernt. Seit vier Tagen ist die Brent Spar wieder besetzt; ein Hubschrauber hat


zwei Kletterer abgesetzt. Die Shell-Flotte versucht, jeden Kontakt zwischen den Besetzern und dem Greenpeace-Schiff zu verhindern. Drei Sicherheitsschiffe beschießen die Plattform-Besetzer und die Altair mit Wasserwerfern, und werden stündlich aggressiver. Hipp vermutet, daß es damit zusammenhängt, daß die norwegischen Besatzungen der Schiffe sich für so manche Schlappe ihrer Walfang-Kollegen rächen wollen. Er befürchtet, daß Shell die Kontrolle über die Besatzung der Begleitschiffe und somit über die Situation vor Ort verloren hat. Auch politisch ist die Brent Spar Shell aus dem Ruder gelaufen. Aus der Räumung, den ersten Informationsbesuchen von Greenpeacern an Shell-Tankstellen und einer EMNID-Umfrage zur Boykottbereitschaft der Bundesbürger hat sich eine Massenbewegung von Shell-Verweigerern entwickelt, an deren Spitze das fast geschlossene Bundeskabinett steht. Inzwischen ufert der Druck auf den Konzern, der sich in Deutschland bereits in 30 Prozent Umsatzeinbußen ausdrückt, weiter nach Dänemark, in die Niederlande und nach Großbritannien aus. Doch Shell UK zeigt trotz konzerninternem Druck aus Deutschland und dem Stammhaus in Den Haag immer noch keine Bereitschaft zum Einlenken. Langsam füllt sich das Büro. Gegen acht Uhr ist das Brent Spar-Team vollzählig vertreten. Hipp delegiert bei einer kurzen Besprechung die diversen Jobs. Er selbst hält die Fäden in der Hand, und sorgt dafür, daß alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Er knüpft weiter den Kontakt zu der Altair auf hoher See, zu den englischen und niederländischen Büros, zum internationalen Pressezentrum der Organisation in London, und zum Aktionsbüro auf den Shetlands. Und nicht zuletzt: Er kümmert sich um die Katze. Barbara Börner und Dörte Schüler sind für die permanente Betreuung der bundesweit über siebzig Greenpeace-Gruppen zuständig. Die Gruppen, allesamt ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, haben in den vergangenen Wochen geackert wie selten zuvor, und an über 300 Shell-Tankstellen Flugblätter und Protestpostkarten verteilt. Während das Hamburger Team kaum aus dem Büro herausgekommen ist, haben sie in Tausenden von Einzelgesprächen mit den Kunden an der Zapfsäule die Greenpeace-Argumente vertreten. Börner und Schüler achten außerdem unauffällig darauf, daß das "Großraumbüro" auf 20 Quadratmetern, mit fünf Telefonen, fünf Schreibtischen und unzähligen Ablagen, nicht im Chaos versinkt. Zwei Kampagner, Andreas Kleinsteuber und Jörg Feddern, beantworten in den nächsten Stunden


die Pressenachfragen. Sie sind mit den Radio-Interviews, Hintergrundgesprächen und den Filmteams, die sich die Klinke in die Hand geben, voll ausgelastet. Die beiden arbeiten mit Pressesprecher Fouad Hamdan zusammen, einem Deutsch-Libanesen, der bereits an einer weiteren Presseerklärung feilt: Am Wochenende wurde Greenpeace in London ein behördeninternes Papier anonym zugespielt. Es erhärtet den Verdacht, daß sich an Bord der Brent Spar noch wesentlich mehr Öl, Ölschlamm und Chemikalien befinden, als Shell beim Versenkungsantrag angegeben hatte. Darunter befindet sich auch die Chemikalie Glyoxal: Der Stoff muß nach englischem Recht zwingend an Land entsorgt werden. Ist die geplante Versenkung damit nicht nur ein Anschlag auf den klaren Menschenverstand, sondern auch rechtlich illegal? Hamdan muß die komplexe Sachlage möglichst klar und in wenigen Worten zusammenfassen. Eben das richtige "wording" finden. Schon um neun ist Hipps schöner Arbeitsplan für den Vormittag völlig über den Haufen geworfen. Hamdan flucht auf arabisch und muß seine Presseerklärung umschreiben; die beiden Kampagner haben ein neues Thema bei ihren Interviews. In der Nacht ist ein weiteres Greenpeace-Aktionsschiff, die Solo, vom Panama-Kanal kommend zur Brent Spar gestoßen. Es war geplant, sie zunächst im Hintergrund zu halten und als Plattform für ein weiteres Dutzend Journalisten zu nutzen. Was allerdings keiner ahnte, und auch von der Altair nicht durchgegeben wurde: Es waren weitere Kletterer an Bord der Solo. Und Paula Huckleberry, die Pilotin des roten Bordhubschraubers, hat es im ersten Anflug geschafft, zwei weitere Besetzer auf der Plattform abzusetzen. Noch ist keine eigene Greenpeace-Meldung in Umlauf, aber der ZDF-Reporter an Bord der Solo hat die glückliche Landung soeben im Frühstücksfernsehen vermeldet. Von einer Minute auf die andere sind die Chemikalien in den Brent Spar-Tanks, die eine Versenkung doch rechtlich in Frage stellen und im Grunde wichtiger sind als die Anzahl von Besetzern, für die Medien kein Thema mehr. Im Aktionsraum laufen die Telefone heiß. Wer sind die vier Besetzer, wer ist Paula Huckleberry, stimmt es, daß sie Vietnamkriegs-Veteranin ist? "Nein, das stimmt nicht. Wir wissen nicht, welcher Journalist dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat." Woher stammt der Hubschrauber, wieviele Leute sind jetzt an Bord, schweben sie in Lebensgefahr? Haben sie ein Photo, können wir mit Frau Huckleberry telefonieren, können wir die Besetzer live ins Studio schalten? "Nein, tut mir leid, wir geben die Namen der Besetzer nicht bekannt. Ja, wissen Sie, wir versuchen selbst seit einer halben


Stunde, Kontakt zur Solo aufzunehmen. Klar, das kann ich machen, ich gebe ihre Telefonnummer gerne weiter an das Schiff, aber versprechen kann ich derzeit beim besten Willen nichts." Hamdan, Kleinsteuber und Feddern reden wie mit Engelszungen zu den Redakteuren und Hörfunkjournalisten, die ob der schlechten Verbindung zu den Greenpeace-Schiffen allesamt ein Komplott gegen ihre Person vermuten, und sich beschweren, daß ausgerechnet ihr Sender keine Direktleitung in den Nordatlantik hat. Das Brent Spar-Lagezentrum, vor wenigen Wochen noch ein ruhiger Besprechungsraum, gleicht wie so oft in den Tagen zuvor einem Tollhaus. Schlechte Luft, schlechtes Licht. Wände voller Entwürfe für Shell-Plakate, Seekarten mit Positionsangaben und Schreibtafeln, die mit kryptischen Kürzeln und Legionen von Telefonnummern verunstaltet sind. Leute rennen raus und rein; stolpern über Telefonschnüre und Computerkabel. Eine Kaffeemaschine röchelt und wetteifert mit dem Hintergrundrauschen des Fernsehers. Aschenbecher qualmen; die zwei Nichtraucher im Team haben den Kampf bereits seit Wochen aufgegeben. Die neuen dpa-Meldungen; die Kolleginnen von der Pressestelle haben sie bereits kopiert und verteilen sie auf den überlaufenden Schreibtischen. Eine Tüte mit belegten Brötchen wird gebracht und in einer Ablage vergessen. Es klingelt immerzu, überall, pausenlos. "Südwestfunk? Moment, ich verbinde." Klingeln. "Greenpeace, Guten Morgen." Kurze Pause. "Geben Sie mir einfach Ihre Adresse durch, wir schicken Ihnen die Aktions-Postkarten dann heute noch raus. Und Danke für Ihre Unterstützung." Klingeln. "Ach, Sie sind Shell-Pächter." Lange Pause. "Das ist schön, daß Sie unsere Aktion unterstützen." Sehr lange Pause, Griff zur Zigarette. "Ja, wir wissen, daß Sie und Ihre Kollegen am härtesten getroffen werden. Es haben auch schon Kollegen von Ihnen angerufen, die gesagt haben, daß sie den Kundenrückgang noch höchsten zwei oder drei Wochen durchstehen. ... Nein, das finden wir auch nicht gut. Aber Sie müssen auch uns verstehen, wir haben den Boykott nicht ausgerufen." Lange Pause, Feuerzeug gefunden. "Ich an Ihrer Stelle würde mich jetzt mit den anderen Pächtern zusammentun und richtig Druck bei Shell machen. Die sind die Einzigen, die die Sache mit einem Schlag beenden könnten." Lange Pause. "Ja, finden wir auch. Danke für Ihren Anruf." Am frühen Dienstagabend, kurz nach 18 Uhr, kehrt endlich etwas Ruhe ein. Irgendjemand gibt eine Runde Eis am Stiel aus. Ein anderer vermerkt lapidar, daß er es den achten Tag in Folge


versäumt hat, zur Bank zu gehen. Er leiht sich weitere fünfzig Mark. Hipp und Börner organisieren die Nachtschicht und bereiten den kommenden Mittwoch vor. Ein Kampagner und ein zweiter Pressesprecher werden noch bis Mitternacht die Stellung halten und die Pressemitteilung für den 21. Juni vorbereiten. Hipp muß noch ins Greenpeace-Lager im Hamburger Hafen und mit seinen Kollegen die nächsten möglichen Aktionen gegen Shell absprechen. Er bleibt dann die Nacht über per Handy für die Altair und das Büro auf den Shetlands auf Empfang. Das Team verabredet sich für sechs Uhr am nächsten Morgen; die Konfrontation mit Shell geht in die letzte und entscheidende Runde. Die Brent Spar ist jetzt nur noch 24 Stunden vom North Feni Ridge entfernt, dem Tiefseegraben im Nordatlantik, wo sie 2300 Meter tief versenkt werden soll. Barbara Börner erzählt später, daß an diesem Abend, am 20. Juni, eine seltsame Stimmung im Büro geherrscht habe: "Irgendwie wollte keiner so richtig nach Hause. Da lag was in der Luft, weil es Spitz auf Kopf stand. Alle waren sich sicher, daß wir Shell hart an der Grenze zur Kapitulation hatten, und machten sich gegenseitig Mut. Aber niemand konnte sich so richtig vorstellen, daß der Riese auch tatsächlich einknickt." Wie und wann sich die Nachricht schließlich verbreitete, darüber gibt es widersprüchliche Angaben. Die Einen behaupten, Pressesprecher Fouad Hamdan habe kurz vor 19 Uhr mitten in einem Telefonat mit einem Journalisten der BBC den Hörer fallen lassen, sei durch den Flur getobt und habe "Irre, Irre!" gebrüllt. Die Andern sagen, Birgit Radow, die Chefin der Pressestelle, sei kurz davor mit roten Flecken am Hals in den Brent Spar-Raum gekommen und habe ganz leise gesagt: "Leute, ihr werdet es nicht glauben, was ich gerade gehört habe. Ihr habt gewonnen." Roland Hipp traut dem Frieden nicht: "Das will ich erst schwarz auf weiß sehen." Dann, Minuten später, um 19.14 Uhr, läuft über den dpa-Ticker eine Eilmeldung ein. Die Presseagentur vermeldet lapidar, daß Shell UK in London verkündet hat, daß die Brent Spar nicht versenkt, sondern an Land entsorgt werden soll. Der Zettel mit den fünf Textzeilen wird wie eine Ikone von Hand zu Hand gereicht und laut verlesen. Es ist wahr: Der Riese ist eingeknickt. Kurze Besprechung. Ratlosigkeit. Was sagen wir dazu, wenn jetzt gleich die Telefone klingeln? Und dann: Innerhalb weniger Minuten strömen Greenpeacer aus allen Etagen durch die Tür. Es vergeht keine Stunde, da stehen die Menschen dichtgedrängt im Flur. Wie aus dem Nichts sind plötzlich Sektkisten und Blumen aufgetaucht, an Eßbares hat dagegen keiner gedacht. Gläser sind


Mangelware, die Flaschen gehen reihum. Passanten haben unten an der Tür geklingelt, Einlaß gefunden, und feiern jetzt mit. Ein Hamburger Greenteam, Mama und Papa im Schlepptau, kommt zu Gratulieren vorbei. Lokale Sender haben sofort ihre Teams losgeschickt; die TV-Reporter und Radio-Leute interviewen wahllos und zerren jeden vor die Kamera, der Worte findet. Ein Reporter befragt den Tonmann eines anderen Senders, ja, heute auch egal. Wildfremde Menschen rufen an, wollen weiter was tun, wollen Greenpeace-Mitglieder werden. Korken knallen im Licht der Scheinwerfer. In den etwas dunkleren Ecken haben sich diejenigen zurückgezogen haben, die ihren Tränen freien Lauf lassen. Alle paar Minuten rennt einer in den Tickerraum und kommt begeistert mit dem nächsten Schwung Faxe zurück, die seit der Tagesschau unaufhörlich aus der Maschine laufen. Die Faxblätter füllen inzwischen mehrere Wände: "Glückwunsch!" Greenpeace liegt sich in den Armen; die Anspannung der letzten Wochen entläd sich im Überschwang der Gefühle. Das Brent Spar-Team hat sich unbemerkt in seinen Raum zurückgezogen. Erste Telefonate mit den Freunden in London, auf den Shetlands, mit der Altair und der Solo. Glückliche Gesichter, Freude ohne viele Worte. Widersprüchliche Gefühle und Gedankenfetzen: Gewonnen. Wochenlang auf einer Welle der Begeisterung gesurft, Entscheidungen lange diskutiert und dann doch aus dem Bauch heraus getroffen. Freundschaften, Beziehungen, Familie vernachlässigt. Gehofft, gebangt, befürchtet. Kampagnenarbeit wie Achterbahnfahren im Dunkeln. Fünfzig Tage Rödeln ohne Ende - und jetzt? Fouad Hamdan bringt es mit seinem levanthischen Humor auf den Punkt: "Was meint ihr, gibt es ein Leben nach Brent Spar?" Lange nach Mitternacht; die spontane Feier ist schon etwas abgeebbt. Roland Hipp sitzt mit einem Kollegen im Halbdunkel des Treppenhauses, in der einen Hand eine Zigarette, in der andern ein Glas mit warmem Sekt. Die Beiden können schwer von ihren Gewohnheiten lassen, und genau wie in den fünfzig Tagen zuvor versucht Hipp, Ordnung in die Geschichte zu bringen. Die Besprechung mit den Aktionisten kann er absagen; weitere Aktionen gegen Shell sind nach Lage der Dinge wohl nicht angesagt. Auch die neuen Plakate, die nach der Versenkung bundesweit unter die Leute gebracht werden sollten, können storniert werden. Seine Jobliste wird in Gedanken lang und länger; auf seinem Klemmbrett sind schon neue Termine vermerkt. In vier Stunden soll er frischt geduscht vor der Kamera stehen und den RTL-Zuschauern erklären, wie es zu diesem Ende der Affäre kommen konnte.


Die Beiden räsonieren über die Frage still und versonnen. Vor wenigen Stunden ist offensichtlich etwas passiert, dessen Ursachen, Hintegründe und Folgen noch keiner überschauen kann. "Paß auf. Für heute ischs genug", bescheidet Hipp. Die Stufennachbarn stoßen nochmals an, diesmal aus einen anderen Grund. Hipp hat heute Geburtstag. Prost, Shell.


2. Wohin mit einer Ruine?

Ein Besuch in Fjordland an der Westküste Norwegens ist der Ausflug in eine grandiose Natur. Rauh, karg und weiß im Winter, doch im Sommer auch tief grün; bizarre und verwunschene Flecken, als hätten sie den nordischen Trollen als Abenteuerspielplatz gedient. Majestätische Gletscher und an die Hänge geduckte dichte Wälder, doch nie von ausgedehnter Weite. Von der offenen Küste der Nordsee winden sich immer enger werdende Buchten und Felsspalten tief ins Innere und teilen das Land. Unzählige kleine Inseln, hohe Gebirgsflanken und steile Schluchten; sie stoppen Wind und rauhe See und machen die Fjorde zu sicheren, rundum geschützten Häfen. Die Fjorde, die von klaren Bächen aus den Bergen gespeist werden, sind ein friedvolles Paradies für Segler, Sportfischer und Wanderer. Dennoch ist die Gegend zwischen Stavanger und Bergen zugleich eine geschäftige Industrielandschaft. Die Zufahrten zu den Fjorden sind mit bis zu 600 Metern Wasser unterm Kiel oft tiefer als breit und ein ideales Operationsgebiet für Ölkonzerne und Firmen, die jenseits der Küste, also "offshore", arbeiten. Rund um Stavanger und Haugesund liegen die besten Liegeplätze in Europa, um Erdgas- und Ölplattformen mit enormem Tiefgang zu montieren und auf den Transport hinaus in die Nordsee vorzubereiten. Von Sommer 1975 bis Frühjahr 1976 wurde im Bezirk Suldal im Erfjord, wo ansonsten nur ein kleiner Segelhafen, ein Kaufmannsladen mit Texaco-Tankstelle und eine kleine Poststation zu erwähnen wären, die Brent Spar montiert. Zwei Firmen aus den Niederlanden hatten im Auftrag von Shell die Decksaufbauten und den riesigen Unterwassertank in ihren Werften in Rotterdam und Schiedam getrennt gebaut und dann waagerecht nach Norwegen schleppen lassen. Im Erfjord wurden die Einzelsegmente zusammengefügt. Zunächst wurde der Tankkörper in neun Tagen vorsichtig geflutet und senkrecht gestellt. Offensichtlich nicht vorsichtig genug und mit Folgen: Technische Inspektionen ergaben später, daß die Außenhaut aus zwei Zentimeter dickem Stahl an einigen Schwachstellen, die sich erst im Betrieb auf der Nordsee herausstellen sollten, überbeansprucht worden war. Mit riesigen Schwimmkränen wurden schließlich die Wohn- und Maschinendecks, die alleine über 2.000 Tonnen wogen, aufgesetzt; die Anlage seefest gemacht. Im Frühjahr 1976 wurde die Plattform beim Schiffsregister Lloyd`s List in London zur offiziellen Klassifizierung angemeldet.


Die Brent Spar war ein beeindruckendes Bauwerk, auf das die Konstrukteure von Shell Research BV in Holland mit Recht stolz waren. Mit insgesamt 141 Metern Höhe, vergleichbar mit dem Kölner Dom, und maximal 29 Metern Durchmesser war sie konzipiert als senkrecht im Wasser stehender Öltanker. Sie wog leer insgesamt 14.500 Tonnen, und wurde von zwölf Ballasttanks und einem festen Eisenerz-Beton-Fuß in der Vertikale gehalten. Ein Schaft für die Aufbauten ragte knapp 30 Meter aus dem Wasser und trug die Kontrollräume, Quartiere für maximal 30 Mann Besatzung, ein Hubschrauberdeck, einen Kran sowie den Ladebaum für den Öltransfer. Der sollte aus den sechs Tanks erfolgen, die sich unter Wasser fast hundert Meter in die Tiefe erstreckten, und 300.000 Barrel - rund 47,7 Millionen Liter - Öl faßten. Der Ladebaum und die Übergabeschläuche charakterisierten die Aufgabe der schwimmenden Insel: Die Brent Spar war dafür vorgesehen, im britischen BrentÖlfeld den Bohrplattformen Brent A - gesprochen Alpha - und Brent B - wie Bravo - als Ölzwischenlager zu dienen. Tanker sollten andocken, Nordsee-Öl überholen, und die Ladung zu den Raffinerie-Häfen transportierten. Im Juni 1976 wurde die Spar zum Brent-Ölfeld geschleppt und mit Ketten sowie armdicken Stahlseilen an sechs Betonblocks verankert, die in 145 Meter Tiefe auf dem Grund der Nordsee in Position gebracht worden waren. Aus dem Boden der Brent Spar ragten zwei flexible Schlauchverbindungen, die mit dem "manifold", einer Pipeline-Pumpstation direkt unter der Insel, verbunden wurden. Damit war die Anbindung an die Förderplattformen Brent A und Brent B geschaffen, die das gewonnene Öl nunmehr in die Brent Spar pumpen konnten. Die Ladevorgänge folgten alle dem gleichen Muster: Der Tanker manövrierte sich an den Ausleger mit dem Ladegeschirr, und während das Rohöl in die Schiffstanks floß, wurde durch ein kompliziertes Rohr- und Ventilsystem Seewasser in die Öltanks der Brent Spar gepumpt, um Stabilität und Tiefgang zu wahren. Wieviel Liter Seewasser durch diesen fortwährenden Austausch in den Tanks mit Öl verseucht und beim nächsten Ladevorgang wieder in die Nordsee abgelassen wurden, ist nicht bekannt. Der Betrieb der Brent Spar stand unter keinem guten Stern. Bereits im Januar 1977 rissen während eines Umpumpvorganges die Schweißnähte an zwei Tanks; als mögliche Gründe wurden die Überschreitung des zulässigen Druckunterschieds sowie die Überbeanspruchung während des Aufrichtens im Erfjord genannt. Untersuchungen ergaben, daß eine Reparatur Monate in Anspruch


nehmen und Unsummen verschlingen würde. Shell entschloß sich, die Risse und Öffnungen nur notdürftig zu schließen, um die Statik der Anlage im Griff zu behalten, und ließ die beiden Öltanks permanent mit Seewasser fluten. Denn: Nach nur zwei Jahren auf See hatte die Brent Spar de facto ausgedient. Im Jahr 1978 ging das "Spar System", eine neue Pipeline-Verbindung, ans Netz und verband das gesamte Brent-Feld mit dem Öl-Terminal Sullom Voe auf den Shetland-Inseln. Die Plattform diente, nachdem das Verbundsystem den Betrieb aufgenommen hatte, nur noch als Reservelager für eine immer kleiner werdenden Tankerflotte und als Rückhalte-Tank während Reparaturen an der Pipeline. Die Brent Spar dümpelte eine Dekade fast vergessen vor sich hin. Erst 1991, nach fast fünfzehn Jahren im Brent-Feld, wurde die Anlage kritisch unter die Lupe genommen, weil die Unterhaltungskosten für Offshore-Anlagen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erheblich gestiegen waren. Eine interne Shell-Studie führte schließlich aus, daß es für die Anlage nur zwei Alternativen gab: entweder die hohe Investition von rund 225 Millionen Mark zur Generalüberholung oder die Schließung und Abwrackung innerhalb von drei bis fünf Jahren. Shell entschloß sich, die Brent Spar aufzugeben. Im Oktober 1991 wurde die Plattform komplett heruntergefahren, die Tanks zum letzten Mal mit Seewasser gefüllt. Im November 1991 waren die Verbindungen zur Pipeline gekappt und entfernt. Shell-Ingenieuren machten ein grobes Inventar, und rechneten hoch, wieviel Öl und Chemikalien sowie welche Mengen anderer Schadstoffen sich noch an Bord und in den Tanks befanden. Ein Shell-Mitarbeiter, der während dieser Phase an Bord war, sagte später: "Das Ganze glich einem überstürzten Abzug mit ganz schneller Kosmetik. Die Operation wirklich Großreinemachen zu nennen, wäre weit übertrieben." Die Brent Spar erhielt den Status einer "nicht permanent bemannten Installation" und als solche eine vorläufige "Aufenthaltsgenehmigung" im Brent-Feld bis zum Juni 1995. Während draußen im Brent-Feld die verlassene und rostende Ruine den Winterstürmen trotzte, wurde im schottischen Aberdeen über ihr Schicksal beraten - im Hauptquartier von Shell UK Exploration and Production Ltd., einer Tochtergesellschaft von Shell UK in London von besonderem Kaliber. "Sie hat es", so schreibt der Spiegel über die Shell Expro, "in schöner britischer Manier mit schwerem Gerät zu tun, ihre Mitarbeiter kennen die See und beachten die Vorschriften." Der Shell-Seebärenabteilung gilt die Nordsee als das feindliche Element, dem das schwarze Gold,


der Wertstoff Öl, mit allen Mitteln abzuringen ist. Shell Expro-Leute berauschen sich an millionenteuren Investitionen und immer neuen technischen Meisterleistungen, doch die Entsorgung von alten, abgeschriebenen Lasten wie der Brent Spar empfinden sie als lästige Pflicht. Umweltschutz scheint in ihren Augen eine Marotte verschrobener Landratten und verwirrter Hippies; er ist, wenn überhaupt, ein technisch zu lösendes Problem, und keine grundsätzliche Frage der Unternehmensphilosophie. Shell Expro sprach entsprechend im Jahr 1992 keine ausgewiesenen Umweltschutzfachleute, sondern pragmatische Offshore-Spezialisten wie die britische Firma McDermott International oder die Holländer von Smit Engineering in Rotterdam an, um sogenannte Machbarkeitsstudien erstellen zu lassen. Die Firmen sollten alle technischen Aspekte der Entsorgung ausloten. Im Spätjahr 1992 legte Smit Engineering die Ergebnisse des "Contracts No. 647100/DB5235" vor, der den Rückbau und die Verschrottung der Brent Spar in senkrechter Position untersuchte. Die zentralen Schlußfolgerungen von Smit Engineering waren klar und deutlich: Es war technisch ohne Probleme machbar, die Brent Spar in Norwegen senkrecht stehend abzubauen und an Land zu entsorgen. Der Abbau würde, folgt man der Smit Engineering-Studie, umgerechnet rund 24,5 Millionen Mark kosten. Welche weiteren Überlegungen und Aktivitäten diese Ergebnisse bei Shell Expro auslösten, bleibt bis zur Stunde noch Firmengeheimnis. Fakt ist nur, daß die Smit Engineering-Studie, die Norwegen als Abwrackort in Betracht gezogen hatte und von der Kostenseite her erstaunlich günstig schien, beim weiteren Vorgehen keine Rolle mehr spielte. Die interessanten Ergebnisse von "Contract No. 647100/DB5235" verschwanden in einer Shell-Schublade. Schließlich wurden Ingenieure von den Aberdeen University Research and Industrial Services (AURIS) von Shell unter Vertrag genommen, um herauszufinden, wie mit der Brent Spar weiter zu verfahren sei. Ihr klarer Auftrag: Kostenanalysen anzufertigen, mögliche technische Optionen der Entsorgung zu empfehlen, aber auch eventuell dabei entstehende Umweltschäden auszuloten. Die AURIS-Mitarbeiter machten sich ans Werk. Sie führten keine eigenen Mengenuntersuchungen oder Stoffanalysen an Bord der Brent Spar durch, sondern stützten sich bei ihrer Arbeit auf die ShellAngaben, die während der "Grundreinigung" der Anlage im Spätjahr 1991 geschätzt worden waren. Aus diesen vagen Schätzungen wurden die Hypothesen abgeleitet. AURIS arbeitete Hand in Hand mit der britischen Beratungsfirma Rudall Blanchard Associates Ltd. (RBA), die aus den AURIS-


Optionen die umweltverträglichste Lösung herausfiltern und die politische Akzeptanz der Entsorgungswege prüfen sollte. AURIS und RBA nahmen dazu Kontakt mit den britischen Fachbehörden auf, stimmten den Entscheidungsprozeß ab und klärten im Vorfeld, ob die Option, die später zur Genehmigung anstand, der Prüfung auch standhalten würde. Die Entsorgung der Brent Spar wurde, daß sollte sich später an einem Beispiel noch herausstellen, maßgeschneidert. Im Sommer 1994 - also nach gut zwei Jahren Prüfung - wurden zwei vorläufige RBA-Gutachten, die sich jeweils auf den AURIS-Report bezogen, Shell Expro vorgelegt. Das zentrale Gutachten trug bezeichnender Weise den Titel "Best Practicable Environment Option BPEO", die "am besten durchführbare, umweltverträglichste Option" - mit der Betonung auf "am besten durchführbar". Die Ergebnisse und Vorschläge entsprachen - das haben Gutachten honorarabhängiger Konsultanten oft so an sich - dem Tenor, den der Kunde gerne lesen mag. Sechs Optionen wurden bewertet und standen zur Auswahl. Sprengung und Versenkung vor Ort, "In-Field Disposal" genannt und im Offshore-Slang auch als "Walk Away"-Strategie bekannt, wurde sofort verworfen, weil sie nach Ansicht der RBA-Gutachter als "nicht genehmigungsfähig" galt. Auch zwei weitere Optionen, den Verkauf der Anlage und eine andere Nutzung durch Shell, standen nicht mehr zur Diskussion, weil kein potentieller Käufer in Sicht war und Shell selbst keinen anderen Verwendungszweck sah. Eine weitere Option, der Rückbau der Anlage in senkrechter Schwimmposition, wurde ebenfalls nicht weiter in Erwägung gezogen. RBA hatte diese Möglichkeit nicht näher untersucht, weil "in britischen Gewässern keine geeigneten Häfen" dafür zu finden waren. Daß Smit Engineering diese Option sehr kostengünstig angeboten und wie beim Aufbau einen norwegischen Fjord dafür vorgeschlagen hatte, wurde von RBA in seinem Gutachten mit keinem Wort erwähnt. Das wirft im Rückblick verschiedene Fragen auf. Wer hatte ausschließlich einen britischen Hafen als Entsorgungstätte vorgegeben? Und hatte Shell Expro die Smit-Machbarkeitsstudie von 1992 überhaupt zur Prüfung an Rudall Blanchard Associates weitergegeben? Wenn ja, warum war sie mit keinem Wort in die Überlegungen eingeflossen? Wenn nicht, warum war sie im Shell-Giftschrank verschwunden? Zur Entscheidung empfohlen wurden Shell Expro schließlich zwei Varianten, die beide als "technisch machbar" galten: waagerechter Rückbau der Anlage an Land oder Versenkung im


Nordatlantik. Beide Optionen kamen sich in einigen Entscheidungskriterien, die RBA angelegt hatte, sehr nahe. Beim waagerechten Rückbau an Land liege, so die Gutachter, das Risiko eines tödlichen Arbeitsunfalles bei "0,030 und 0,088 Prozent". Umweltschäden und Einflüsse auf die Umgebung beim Rückbau seien zu vergleichen mit dem "täglichen Einfluß küstennaher Industrieanlagen." Auch die Entsorgung der Stoffe an Bord sei zufriedenstellend in entsprechenden Anlagen und "authorisierten Deponien" zu lösen. Vergleichbares fanden die Experten von Rudall Blanchard für die Nordatlantikversenkung heraus. Tödliche Unfälle seien, da weniger Arbeitsschritte zu erledigen waren und das Drehen der Anlage in eine waagerechte Lage nicht nötig war, mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit zwischen 0,005 und 0,014 Prozent zu erwarten. Auch die Folgen für die Umwelt seien überschaubar und könnten "auf kleine lokale Ereignisse reduziert werden." Eine Versenkung bedeute in der Summe "ein kleines bis zu keinem Risiko für die Nordsee und die Küstenökosysteme." Gravierender Unterschied allerdings zu Gunsten der Versenkung: Die Entsorgungsarbeiten an Land, das Entleeren der Tanks und die Behandlung der Schadstoffe, erhöhten bei "unsachgemäßem" Umgang das Gesundheitsrisiko der Arbeiter. Beide Varianten waren von RBA politisch vorsondiert worden; beide würden, so die Aussage im BPEO-Gutachten, "für Behörden und interessierte Dritte akzeptabel sein." Was in Abwägung der beiden Optionen allerdings eindeutig für die Versenkung sprach, waren die Kosten, die das Gutachten jeweils in Aussicht stellte: Während der Rückbau an Land mit umgerechnet rund 115 Millionen Mark zu Buche schlagen sollte, wurden für die Tiefseeentsorgung nur rund 30 Millionen Mark prognostiziert. Mit diesen Zahlen und Fakten gerüstet, legten die Aberdeener Shell-Leute, die nach drei Jahren Prüfung vollständig von ihrer Lösung überzeugt waren und die Smit Engineering-Studie zum senkrechten Rückbau in Norwegen längst verdrängt hatten, den Konzern-Oberen von Shell UK ihr eindeutiges Votum auf den Tisch: Versenkung. Und die Londoner, mit ihrem Vorsitzender Chris Fay allen voran, sind vor allem für die Kostenkontrolle zuständig: Bei einem Konzernumsatz von rund 129 Milliarden US-Dollar (1994) fiel der Unterschied zwischen Versenkung und Landentsorgung von 85 Millionen Mark zwar kaum ins Gewicht, aber immerhin. Fay stimmte der Versenkung zu und zeichnete ab - ohne Gespür dafür, was sich durch diesen schnellen Federstrich anbahnen sollte. Auch die letzte Instanz, die Abteilung Energie beim Ministerium für Handel und Industrie (DTI) unter


Minister Tim Eggar, zog ohne langes Zögern mit. Von den über 200 Plattformen im britischen Nordsee-Sektor kommen inzwischen über drei Dutzend ans Ende ihrer Lebensdauer; nach Schätzungen der britischen Offshore-Vereinigung UKOOA müssen in den nächsten zehn Jahren rund 50 Anlagen außer Betrieb gestellt werden. Ihr Schicksal regelt grundsätzlich ein Übereinkommen in der Schlußakte der Genfer Seerechtskonvention von 1958, das vorschreibt, daß alle auf See befindlichen "Installationen, die geschlossen oder aufgegeben werden, vollständig entfernt" werden müssen. Diese eindeutige Bestimmung ist jedoch in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch Regularien der Londoner Konvention von 1982, andere Seerechtsbestimmungen und Richtlinien der International Maritime Organisation (IMO) ausgehöhlt worden. Die IMO-Richtlinien sehen etwa vor, daß alle Anlagen in drei Kategorien - in Wassertiefen unter 75 Meter, mit Aufbauten unter 4.000 Tonnen und vor Ende 1997 gebaut - vollständig entfernt werden. Entscheidend für die Ölkonzerne ist jedoch die Klausel, daß alle Anlagen an Ort und Stelle bleiben sprich versenkt - werden können, die nicht in diese drei Kategorien fallen: somit alle wesentlich größeren Anlagen und alle Plattformen in tieferen Gewässern. Das sind im britischen NordseeSektor allein rund 120 von über 200 Anlagen. Ein weiteres Schlupfloch: Eine Befreiung von den Vorschriften ist nach den IMO-Richtlinien möglich, wenn der Abtransport der Plattform "extreme Kosten" und außergewöhnliche "technische" Probleme verursacht, sowie "unangemessene" Risiken birgt. Damit gewappnet, schien legal nichts gegen die Versenkung der Brent Spar zu sprechen. Doch andererseits stand ein vor 30 Jahren während des Offshore-Baubooms öffentlich gegebenes Versprechen im Raum: Alle Plattformen, hieß es damals zur Beruhigung der aufgebrachten Nordseefischer, würden komplett wieder an Land gebracht werden. Schnee von gestern; die Behörden fanden eine Lösungsformel, die vernünftig klang und alle Möglichkeiten zumindest theoretisch offenhielt: "case-by-case", die Strategie der Fall-zu-Fall-Entscheidung. An den Richtlinien, die auf dieser Grundlage die Entsorgung von alten Offshore-Anlagen im britischen Sektor regeln sollten und der geplanten Versenkung der Brent Spar den Weg ebneten, wurde in einer interministeriellen Arbeitsgruppe seit Monaten gearbeitet. Fakt ist: AURIS und RBA hatten 1993 in Shells Auftrag mit den behördlichen Sachbearbeitern, die an den Richtlinien-Entwürfen feilten, über Monate hinweg in Kontakt gestanden; entsprechende Informationen ausgestauscht und abgeglichen.


Daher wird wohl nie mehr genau zu klären sein, was zuerst da war: das Huhn oder das Ei? Wurden die Richtlinien, die das Schicksal von rund 200 britischen Offshore-Einrichtungen präjudizierten und auf knapp 200 weitere in den norwegischen und dänischen Sektoren großen Einfluß hatten, um die Brent Spar als erstes Pilotprojekt herumgeschrieben? Oder orientierte sich Shell strikt an den behördlichen Vorgaben? Nicht nur der Konzern war an der Versenkung interessiert, weil sie billiger war. Shell UK rechnete damit, "mindestens 60 Prozent der jeweiligen Entsorgungskosten" von der Steuer absetzen zu können. Von jeder Mark, die in die Entsorgung floß, konnten also 60 Pfennige über den Umweg Steuernachlaß der Staatskasse aufbürden werden: Die Regierung in London mußte ebenfalls daran interessiert sein, die billigere Versenkung-Strategie zum Regelfall werden zu lassen. Die Mehrkosten der Landentsorgung, im Fall der Brent Spar noch magere 85 Millionen Mark, addierten sich, hochgerechnet auf die kommende Entsorgungsflut von über 200 Anlagen im britischen Sektor, schnell auf über 17 Milliarden Mark. Davon 60 Prozent - das war ein Vermögen, das dem ohnehin leeren britschen Staatssäckel in Zukunft bei einer generellen Landentsorgung fehlen würde. Es dauerte Monate, bis das komplizierte Genehmigungsverfahren für die Versenkung der Brent Spar - auf Grundlage des AURIS-Reports und der im Dezember 1994 vorliegenden Endversionen der beiden RBA-Gutachten - schließlich alle behördlichen Instanzen durchlaufen hatte. Eingeschaltet in die Beratungen wurde von der Energie-Behörde das britische Umweltministerium unter John Gummer. Die Umweltbehörde mußte eine Stellungnahme abgeben, und Gummer war der Mann, der die Versenkung bei seinen Umweltministerkollegen im Ausland zu vertreten hatte. Gummer fand sofort eine griffige Formel, die er von nun an gebetsmühlenartig wiederholen sollte: "Vom ökologischen Standpunkt aus ist die Versenkung die sauberste Lösung, und allein das ist entscheidend." Das konnte Shell nur billig sein. Die Brent Spar wanderte durch alle Hierarchien von Amststuben: Die tatsächliche Lizenz mußte, das schrieb das Gesetz so vor, vom Leiter einer untergeordneten Behörde des Landwirtschafts- und Fischereiministerium des "Scottish Office" (SOAFD), dem Torry Research Laboratory nahe Aberdeen, ausgestellt werden. So unterschrieben alle Beteiligten eine politisch billige Lösung, und hießen folgende, im Genehmigungsantrag vorgelegten Fakten gut: Die Brent Spar sollte, so das RBA-Gutachten auf Basis von unüberprüften Shell-Angaben, mit festen Abfallstoffen und "drei Klassen von regulierten


Substanzen, vor allem Kohlenwasserstoffen, Schwermetallen und schwachradioaktiven Rückständen" von ihrer Position in der nördlichen Nordsee in den Nordatlantik geschleppt und dort versenkt werden. Das hieß im Klartext: Auf den Böden der sechs Brent Spar-Tanks, von denen nur zwei von Shell 1991 beprobt worden waren, hatten sich mindestens 100 Tonnen "sludge" abgesetzt, eine Mischung aus Sand, Öl, Chemikalien und Schwermetallen. Die giftigen Schwermetalle wurden einzeln aufgeführt: Arsen, Cadmium, Chrom, Kupfer, Blei, Quecksilber, Nickel und Zink. Sie stellten insgesamt nur eine Menge von rund 150 Kilogramm dar, waren aber mit rund 9,5 Tonnen Kohlenwasserstoffen vermengt. Hinzu kamen, auch das wurde hochgerechnet aus den Messergebnissen zweier Tanks und nach Materialuntersuchungen auf Brent A und Brent B, rund 30 Tonnen schwachradioaktive Rückstände. Dies waren Salze, die in schwächerer Konzentration im geförderten Öl vorkamen, und sich über die Jahre in den Tank-, Rohr- und Pumpsystemen der Brent Spar abgelagert hatten. Daß das Seewasser in den gefluteten Tanks mit Öl vermischt und kontaminiert war, wurde angemerkt, aber nicht weiter gewertet. In Absatz 3.2.6. des RBA-Gutachtens wurde außerdem noch vermerkt: "Im Jahr 1991 wurden die Tanks mit 4500 Liter Glyoxal behandelt. (...) Es wird davon ausgegangen, daß das Glyoxal eine chemische Reaktion eingegangen ist und daß alle Reaktionsstoffe während der Außerbetriebsstellungsoperation im Jahr 1991 entfernt wurden (AURIS, 1994)". Diese Fußnote über den lange zurückliegenden Einsatz einer Chemikalie schien zunächst keine weitere Bedeutung zu haben. In der zweiten Februarwoche 1995 war der Genehmigungsprozeß für die Versenkung der Brent Spar abgeschlossen. Am 16. Februar wurde das Ergebnis öffentlich bekanntgegeben. Minister Tim Eggar kündigte an, daß die Plattform im Sommer an einem der drei vorgeschlagenen Versenkungsorte, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber beim über 2000 Meter tiefen North Feni Ridge, gesprengt werde. Dies geschehe, so Eggar, in "voller Übereinkunft mit allen internationalen Konventionen und auch im Rahmen der Oslo und Paris Kommissionen von 1992 OSPARCOM." Die Schadstoffe an Bord seien zu vernachlässigen und würden, so Eggar später, "im schlimmsten Falle ein paar Würmer auf dem Meeresgrund töten." Tim Eggar hatte im Februar noch keine Ahnung, welchen Ärger ihm die Handvoll Würmer noch bereiten sollten.


3. Gijś fixe Idee

Im Sommer 1980 entdeckte der Holländer Gijs Thieme, damals 27 und Betreuer in einem Heim für schwererziehbare Jugendliche, in einer Amsterdamer Tageszeitung eine kleine GreenpeaceAnzeige: "Techniker oder Mechaniker dringend gesucht." Thieme war weder das eine noch das andere, hatte aber ein Semester an einer Schule für Schiffsingenieure zugebracht. Er meldete sich an Bord des Greenpeace-Flagschiffes Rainbow Warrior bei Kapitän Jon Castle, und war, nachdem er einen der Schlauchbootmotoren überholt hatte, fortan Umweltaktivist. Thieme segelte an Bord der alten Rainbow Warrior nach Neufundland, um Robben zu schützen. Er steuerte Schlauchboote unter Atommüllfässer, die im Nordatlantik versenkt werden sollten, und protestierte in der Nordsee solange gegen Dünnsäure, bis die Verklappung 1988 endlich eingestellt wurde. "Bis 1992 habe ich dann verschiedene Jobs in Amsterdam gemacht", erinnert er sich. "So ziemlich alles - von der Nordsee-Kampagne für die Holländer bis zur Schiffsbetreuung bei Greenpeace International." Als Thieme vor drei Jahren auf eigenen Wunsch von der Lohnliste gestrichen wurde, bedeutete dies nicht, daß er der Organisation den Rücken kehrte. Wer so lange Jahre dabei war, bleibt in der Regel in Reichweite der alten Mitstreiter. "Mitte Dezember 1994 hat Tim Birch, der Koordinator der Chemie-Kampagne, angerufen und mich gefragt, ob ich ihm bei der Vorbereitung der Nordseeschutzkonferenz im Juni 1995 helfen konnte. Das heißt, ich sollte ihm Ideen und Bilder liefern, auf denen die aktuelle Problematik der Nordsee klar zu erkennen war", erinnert sich Thieme. Keine einfacher Job: Die Nordsee ist ein einzigartiges Ökosystem, aber schwer belastet - verdreckt von den Stickstoff-Abwässern der Landwirtschaft, verseucht von den Chlorrückständen der chemischen Industrie, und verölt von den Mineralölkonzernen. Doch die Unmengen an Abwässern und Schadstoffen, die aus den Anrainerstaaten in die Nordsee gespült werden oder bei der Öl- und Gasförderung anfallen, sind erst auf den zweiten Blick zu erkennen und meist nur im Labor nachzuweisen. Auch sind nur wenige Verantwortliche klar und eindeutig auszumachen. Thieme: "Diese Unsichtbarkeit der Gefährdung und die Anonymität der Verursacher sind ein echtes Problem der Nordsee-Kampagne. Wir haben zu allem sowohl das Wissen als auch die entsprechenden Papiere und Forderungen. Doch die Politik schläft und ist mit harten Fakten allein nicht zu bewegen. Sie reagiert nur, wenn sie massiv unter Druck gerät. Und Druck läßt sich nur


erzeugen, wenn es ein Symbol gibt, an dem sich die politischen Inhalte in aller Öffentlichkeit festmachen und entzünden. Wissenschaft und Politik, das ist eine Sache. Aber Kampagne - das ist immer symbolische Arbeit, einfache Konfrontation mit viel Tiefgang." Die Nordsee, das alte Problemfeld, war schon immer verkürzt und bildlich - mit kleinen Giftbeuteln, toten Robben, leeren Fangnetzen oder verkrebsten Fischen - ins Bewußtsein von Politik und Öffentlichkeit getragen worden. Wie also sollte die Greenpeace-Aufgabe - die Reduzierung und Symbolisierung der vielschichtigen Kampagneninhalte - diesmal gelöst werden? Im Januar 1995 fuhr Thieme nach London, wo er außer Tim Birch einen alten Bekannten traf: Paul Horsman. Horsman, ein Engländer Mitte dreißig, ist einer der Rechercheure bei Greenpeace, und beschäftigt sich seit dem Golfkrieg 1990 mit dem Thema Öl. Er sammelt Hintergrundinformationen, stellt Firmenund Regionen-Dossiers zusammen und ist in vielen Fällen - etwa bei Tankerunfällen oder beim Bruch einer russischen Pipeline - einer der Sprecher vor Ort. Als Thieme ihn auf die Nordseeschutzkonferenz ansprach, reichte Horsman ihm spontan eine Photographie und einen Stapel Papier über den Tisch: ein Bild der Brent Spar und den AURIS-Report. Thieme sah sich die Aufnahme lange an, überflog den Report und war wie elektrisiert: "Ich hatte das Gefühl im Bauch, daß ich auf etwas Wichtiges gestoßen war. Ein eindeutiges Symbol, ein eindeutiger Verantwortlicher." Horsman erzählte Thieme zunächst, wie er zu den Unterlagen gekommen war. Im August 1994 hatte ihm ein Kontaktmann aus der Offshore-Industrie von einer Problematik berichtet, die geradewegs auf die Öl-Multis zukam: Nach rund zwei Dutzend Betriebsjahren stünden viele Anlagen zur Entsorgung an und die britische Regierung arbeite an Richtlinien, wie mit diesen alten Plattformen zu verfahren sei. Die Briten arbeiteten daran, das Versenken der Anlagen zum Regelfall zu machen. Sein Bekannter spielte ihm den AURIS-Report zu. Nach der Lektüre rief Horsman im verantwortlichen Ministerium an, und äußerte heftige Bedenken gegen die geplante Versenkungsstrategie. Ohne Erfolg. Der zuständige Beamte beschied ihm, Greenpeace könne eine Eingabe machen, aber man habe sich schon "unabhängigen" Rat geholt: bei der britischen Vereinigung der Offshore-Firmen UKOOA. Das reichte, um zu wissen, woher der Wind wehte. Noch im August 1994 wurde der Meeresbiologe und Offshore-Spezialist Simon Reddy beauftragt, eine Greenpeace-Studie zur Frage der


Plattformentsorgung zu erstellen und sowohl die geplanten Richtlinien als auch den AURIS-Report einzuschätzen. Das Ergebnis der Studie mit dem Titel "Kein Grund zum Versenken" war niederschmetternd: "Regierung und Shell haben sich auf eine Variante geeinigt, die Versenkung hoffähig macht, am wenigsten kostet, und diese Lösung die ́am besten durchführbare, umweltverträglichste Option` getauft." Simon Reddy schickte die Zusammenfassung der Studie im November an das Ministerium, hörte aber nie mehr von der Behörde. Als Thieme mit der Brent Spar-Geschichte bei ihm auftauchte, äußerte Tim Birch zunächst Bedenken: Er sähe zwar auch die Gefahr, daß aus der Shell-Plattform ein Präzidenzfall für weitere Offshore-Anlagen werden könne. Doch die Plattform habe anderseits wenig mit dem Thema Chlorchemie zu tun, das während der Nordseeschutzkonferenz der beschlossene Schwerpunkt der Greenpeace-Arbeit sein sollte. Es gäbe außerdem kein Budget und keinen Kampagner; Horsman sei ab Ende Februar in Sibirien unterwegs, um die Folgen des Pipelinebruchs vom vergangenen Spätjahr zu dokumentieren. Doch Birch sagte, trotz dieser Bedenken, schließlich ja zur Brent Spar: "Prioritäten setzen, darf ja nicht heißen, Pläne in Stein zu meißeln." Thieme war lange genug bei Greenpeace, um zu wissen, wie Dinge dort zu beschleunigen sind. Zudem zeichnet ihn eine Eigenschaft aus: eine Hartnäckigkeit, die knapp an Sturheit grenzt. Gijs Thieme begab sich auf eine Brent Spar-Odyssee durch Greenpeace, die zwei Monate dauern sollte. "In London, Amsterdam, Kopenhagen oder Hamburg, überall habe ich gezielt Leute angesprochen und für die Plattform geworben. Und je länger ich über die Brent Spar nachdachte, desto klarer wurde mir, welchen Wert sie darstellte." Als Tim Eggar, der britische Energieminister, am 16. Februar 1995 bekanntgab, daß die Genehmigung zur Versenkung der Brent Spar nunmehr erteilt sei, bekam Thiemes Kreuzzug zusätzliche Schubkraft. Ende März 1995 hatte er die Mannschaft zusammen, die das zusätzliche Projekt Brent Spar quer zu allen eingespielten Strukturen bei Greenpeace möglich machen konnte. In London waren außer dem Geschäftsführer Peter Melchett auch der Kampagnen-Direktor Chris Rose und den Aktionskoordinator Rick Le Coyte auf seiner Seite, in Amsterdam der Geschäftsführer Hans van Rooij. Der Holländer brachte die wertvolle Zusage mit, einen siebenstelligen Guldenbetrag in die Kampagne zu investieren. Ebenfalls in Amsterdam, beim Dachverband Greenpeace International, fand er einen weiteren wichtigen Fürsprecher: Ulrich Jürgens. Der graubärtige Kapitän


der Handelsschiffahrt, ehemals elf Jahre lang in Diensten von Hapag Lloyd auf allen Weltmeeren unterwegs, ist verantwortlich für internationale Kampagnen. Ohne sein Votum fährt kein Greenpeace-Flagschiff aus einem Hafen; findet keine größere internationale Aktion statt. Was Thieme jetzt für die Brent Spar noch brauchte, war die politische und finanzielle Unterstützung aus Hamburg. Die zwei Personen, mit denen Thieme dafür ins Geschäft kommen mußte, waren Geschäftsführer Thilo Bode und Harald Zindler, der Leiter der Aktionsabteilung. Die Beiden, so erinnert sich Thieme, "erkannten sofort, welcher tiefergehende Konflikt mit der Industrie sich hinter der eigentlichen Versenkung verbarg. Es war ihnen sofort klar, daß es hier nicht um Shell, oder um die anderen Öl-Multis ging. Bei der Brent Spar handelte es sich um ein Symbol von grundsätzlicher Natur." Bode gab Greenpeace Deutsche Sektion e.V. grünes Licht zur Durchführung der Aktion, und stellte Geld aus den Rücklagen von Greenpeace bereit. Seine Zusage: ein Startkapital von einer halben Million Mark. Am Abend des 10. April hockten Gijs Thieme und Ulrich Jürgens im Amsterdamer Stadtteil Watergraafsmeer in Elisa`s Bar. Die Kneipe, in der sich die Nachbarschaft deftige Hausmannskost und reichlich Bier servieren läßt, war brechend voll. Nur am runden Stammtisch hatten sie noch zwei Plätze gefunden. Thieme und Jürgens begannen, Ideen zu spinnen und Bierdeckel mit Brent SparStrategien zu bekritzeln. Spontane Einfälle wurden schnell niedergeschrieben, durchgestrichen und später doch verwirklicht; andere als wichtig befunden, dick angekreuzt, und nie umgesetzt. "Es war sonnenklar," erinnert sich Ulrich Jürgens rund drei Monate später an gleicher Stelle, "daß die Brent Spar so oder so eine verflucht teure Angelegenheit werden würde. Egal, ob man nun rausfuhr für eine kurzfristige Demonstration oder für eine langfristige Besetzung. Von daher schwebt uns von Anfang an vor, länger auf der Spar zu bleiben und das Ding zu einem richtigen NordseeStützpunkt auszubauen." Das bedeutete, daß die Organisation aus dem Stand heraus alle verfügbaren Kräfte mobilisieren mußte. "Wir hatten wirklich keinen Tag mehr zu verschenken; wir wußten, daß Shell spätestens in der zweiten Maiwoche Leute auf die Plattform bringen wollte. Das setzte uns zwar unter Zeitdruck, aber kam uns auch gerade recht, weil ja Anfang Juni die Nordseeschutzkonferenz anfangen sollte. Wir hätten es nicht besser planen können. Shells Timing war optimal. Sie haben uns die Brent Spar wie auf einem Silbertablett serviert." Am nächsten Morgen, am Dienstag, den 11. April, trafen sich Thieme und Jürgens mit zehn


Kollegen aus Deutschland, Großbritannien und Holland im Amsterdamer Büro von Greenpeace International und präsentierten die nächtens erarbeiteten Ideen. Sie begründeten, warum die Brent Spar trotz der Abweichung vom Plan der Chemie-Kampagne in das geplante Öffentlichkeitskonzept für die Nordseeschutzkonferenz paßte, und stellten ein personelles Gerüst für die sieben Wochen bis zum Beginn der Konferenz in Esbjerg vor. Die Sitzung dauerte rund zweieinhalb Stunden, dann war die Aktion beschlossene Sache. Die Operation "Brent Spar", die Errichtung einer bemannten Nordsee-Station zunächst geplant bis zum Ende der Nordseeschutzkonferenz, konnte beginnen. Als Tag der Besetzung wurde der 1. Mai festgelegt. "Damals, Mitte der achtziger Jahre, als wir die Expedition in der Antarktis vorbereiteten, da standen wir vor einem ähnlichen Problem. Da mußten wir auch auf jede Situation, auf jede Eventualität im Niemandsland vorbereitet sein. Der Unterschied war damals nur: Wir hatten endlos Zeit. Diesmal blieben uns rund 14 Tage", erinnert sich Harald Zindler, der während des Treffens in Amsterdam mit der logistischen Seite der Aktion betraut worden war. Er und seine Aktionstruppe sollten unter anderem die nötigen Schiffe besorgen, Ausrüstung für rund 30 Leute und drei Wochen bunkern und eine Gruppe von erfahrenen Aktionisten und Kletterern zusammenstellen. Es war klar, daß die Aktion kein Spaziergang werden würde: Das Brent-Feld lag im härtesten Seegebiete der Nordsee mit Windgeschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometern und Wellengang an die zwanzig Metern Höhe. Im Hamburger Aktionsmittellager brach die Hölle los. Einzelne Teams splitteten in Schichten die komplexe Logistik in Dutzende von logischen Arbeitschritten und Hunderte von Einzeljobs auf. Der bewährte Kreis von Hamburger "Greenpeace-Firmen" - Großhändler, Lieferanten und Werften, die bei einem Notruf auf der Stelle alles anderen Aufträge stehen und liegen lassen - wurde aktiviert. Erfolg: Ausrüstung, auf die man sonst Wochen wartet ("Tut mir leid, Sie kennen doch die Lieferzeiten..."), wurde binnen Tagen angeliefert. Annette Bruhns in einer Reportage über die Vorbereitungen: "Es war einmal ein Seemann, der mitten in der Nacht alte Bekannte anfaxt, Schiffsmakler, Kapitäne - vorzugsweise zwielichtige Gestalten aus der christlichen Seefahrt. Zwanzig Jahre lang hat der Mann Waffen, Dünnsäure und Öl über die Weltmeere geschippert. Jetzt steht er im Büro eines riesigen Lagers im Hamburger Hafen. Hier türmen sich neben den Werkbänken Schlauchboote, hängen Klettereisen neben Tauchanzügen, stapeln sich Container, parken schwere Laster. Solarzellen liefern Strom für das


mehrstöckige Gebäude. Der Mann, der nachts Faxe quer durch Europa schickt, heißt Peter Küster und ist 48. Seit der Geburt seines Sohnes vor 15 Jahren ist er nicht mehr Maschinist, sondern Koordinator bei Greenpeace. "Es galt, ein Schiff mit einem Kapitän zu finden, der sich traut, am Rande der Legalität zu operieren", erklärt Küster. Ein Schiff wie die Embla, ein vergammelter dänischer Frachter, den Greenpeace 72 Stunden vor dem Auslaufen chartert. Die Uhr tickt. Wenn die Aktion zu spät anläuft, wird Shell vor den Kletterern auf der Brent Spar sein und die Plattform fürs Abschleppen klarmachen. Notkojen werden in Container gedübelt, 100 Kisten für je 100 Kilo Material gezimmert. Frühmorgens, 24 Stunden vor dem Auslaufen, treffen sich noch zehn weitere Helfer. Im ersten Stock, wo ein Segelmacher die Protestbanner näht, sammelt sich Stunde für Stunde alles, was zwanzig Menschen für die Besetzung einer Insel brauchen: Lebensmittel, Überlebensanzüge, Satellitentelefone, Verbandskästen, Werkzeug. Abends passiert die Panne. Der Fahrstuhl klemmt. Es ist zu spät, um die schweren Kisten einzeln nach unten zu tragen. Mit einem Gaberstapler wird ein Ersatzlift konstruiert und die Fracht durchs Fenster in den Hof befördert. Die Abfahrt verschiebt sich nur um eine Stunde." Zur gleichen Zeit saß im Büro das Brent Spar-Team in seinem neuen Domizil. In normalen Zeiten wird die Nordsee bei Greenpeace sowohl von der Meeres- als auch der Chemie-Kampagne betreut. Doch die Brent Spar, das war von Anfang an klar gewesen, würde den Rahmen des Üblichen sprengen. Konsequenz: Innerhalb von Tagen, Stunden, wurden acht Leute von ihren sonstigen Jobs losgeeist und freigestellt. Als im Lager die letzten Kisten zugenagelt wurden, saßen sie über ihren Hausaufgaben. Schlachtpläne, Kampagnenschritte, Medienstrategien; Planungssitzungen, endlose Absprachen. Doch die Uhr schien plötzlich schneller zu laufen. Fachleute wurden per Telefon konsultiert oder einbestellt; Photos, Videos, Hintergrundpapiere zusammengestellt; Presseerklärungen mit den Kollegen in London, Amsterdam und mit Comms, dem Pressebüro von Greenpeace International, abgestimmt. Journalisten wurden ausgewählt und vertraulich eingeweiht. Flüge gebucht. Dinge beschlossen, delegiert und nach einem Tag wieder umgestoßen. Kommando zurück. Wechselbäder, Management by Chaos. Am 22. April fand eine weitere Krisensitzung und internationale Telefonkonferenz statt; insgesamt waren 12 Leute, verstreut über fünf Länder, gleichzeitig in der Leitung; Ulrich Jürgens leitete die Versammlung. Die Zeit lief den Teams,


insgesamt waren zu Beginn wohl über hundertzwanzig Leute in der einen oder anderen Form beteiligt, jetzt davon. Neue Hiobsbotschaft: Die Besetzung mußte vorgezogen werden. Das Seewetteramt meldete, daß ab dem 1. Mai mit stürmischer See zu rechnen sei. Ab Windstärke vier waren die Ladeluken der Embla auf hoher See nicht zu öffnen. Neue Abstimmung der Termine. Neuer Konsenz über die Telefonringschaltung. Neuer Besetzungstermin: einen Tag früher, der 30. April. Die Leute im Lager stöhnten. Als die Embla in der Nacht vom 27. auf den 28. April mit einer Ladung "Handelsware" an Bord im Harburger Hafen ausklarierte und auf der Elbe Richtung Nordsee fuhr, ahnte der Lotse nicht, daß sich in den Laderäumen des Schiffes zwei Dutzend Blinde Passagiere verbargen - Kampagner, Koordinatoren, Schlauchbootfahrer, Kletterer, Techniker, eine Photographin und ein Filmteam. Am frühen Morgen des 30. April traf sich die unauffällige Embla mit dem Aktionsschiff Moby Dick im Brent-Feld. Tante Moby, wie sie von den Greenpeace-Seeleuten liebevoll genannt wird, hatte im Hafen von Lerwick auf den Shetlands gewartet und noch zusätzliches Material, Aktionisten und Journalisten an Bord genommen. Das massive Aufgebot war in Lerwick, wo es von Shell- und ÖlLeuten nur so wimmelt, natürlich aufgefallen, doch die Besatzung der Moby hatte in die Trickkiste gegriffen. Das Schiff war, als es am Kai lag, mit eindeutigen Bannern und Flaggen geschmückt: "Stoppt Norwegen - Stoppt den Walfang!". Niemand in Lerwick war auf dumme Gedanken gekommen. Das Wetter, in der nördlichen Nordsee immer ein Risikofaktor, hielt zunächst. Am 30. April, gegen zehn Uhr früh, wurden die ersten Schlauchboote von der Moby aus ins Wasser gesetzt, der Kapitän der Embla ließ die Ladeluken öffnen. Was folgte, war ein Desaster. Von sechs Außenbordern waren zwei nicht zum Leben zu erwecken, zwei weitere gaben immer wieder den Geist auf. Eine Schlauchboot-Besatzung wurde abgetrieben. Die Kletterer hatten Schwierigkeiten mit ihrer nassen Ausrüstung und waren reihum seekrank. Shell war überrascht worden, aber schon vor Ort; ein norwegisches Schiff in Diensten des Konzerns, die Rembas, kreiste um die Brent Spar. Gegen Nachmittag war die See so rauh geworden, daß die erschöpften Bootsbesatzungen in ihren Booten zur Moby und Embla zurückgerufen werden mußten. Sturm zog auf. An den Transport von Ausrüstung war unter diesen Bedingungen nicht weiter zu denken; eine schwere Rippenprellung und ein Fingerbruch die Bilanz des Tages. Die Operation Brent Spar mußte, kaum daß sie begonnen


hatte, wegen des Sturms für volle zwei Tage auf Eis gelegt werden. Doch ein erstes Team war an Bord. Sechs Kletterer und Aktivisten, ein Kamerateam, zwei Photographen und zwei Reporter, hatte mit Hilfe von Wurfankern, Fallseilen und einem Steignetz die Brent Spar geentert. Die zwölf hatten fünf von hundert Kisten an Bord; einen kleinen Generator, einige Werkzeuge und Sprechfunk; nur hundert Liter Wasser und kaum Essen. Die ersten Besetzer fanden in der verwüsteten Brent Spar-Kombüse schließlich vier Jahre alte Shell-Kekse. Brent Spar stand am Abend des 30. April auf Messers Schneide. Hätte der Konzern in dieser Situation weitere Schiffe zusammengezogen und die Plattform von den Greenpeace-Schiffen massiv abgeschirmt, gut möglich, daß die Aktion in wenigen Tagen in sich zusammengebrochen wäre. Doch der aufgekommene Sturm schützte auch die Besetzer, und Shell hielt die Aktion, so gab später ein Pressesprecher des Konzerns unumwunden zu, für eine "spektakuläre Eintagsfliege, die sich schnell von selbst erledigt." Shell hätte besser auf Jon Castle, den neuen Plattform-Kapitän, hören sollen. Castle ist ein stiller, leiser Mensch, der seine Überzeugungen lieber durch Taten als durch viele Worte ausdrückt. Der Brite hat am Ruder der Rainbow Warrior gestanden und seine eigene kleine Jolle unbeeindruckt vor den Bug von Atomfrachtern gesteuert. Wenn Castle sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann er ziemlich kompromißlos werden. Er meldete sich am Abend des 30. April über Sprechfunk bei der drohend kreisenden Rembas. "Hallo, Rembas, hören Sie? Hier ist Greenpeace. Wir haben die Brent Spar auf unbestimmte Zeit wieder in Betrieb genommen, weil wir ihre Versenkung verhindern wollen. Wir werden so lange auf dieser Plattform sein, wie es nötig ist. Over and out."


4. Krisengebiet Nordsee

Manchmal glüht die Nordsee nachts. Wenn der Schiffsbug in die Wogen taucht, spritzt gleißende Gischt aus der dunklen Wassermasse. Jede Schaumkrone sprüht Funken wie eine riesige Wunderkerze, jedes Wellental wirkt kälter und düsterer als sonst. Das Meeresleuchten ist wie das Nordlicht auf den winterlichen Lofoten ein faszinierendes Schauspiel: Zu wissen, daß hier keine Magie am Werk ist, sondern bloß Abermillionen mikroskopisch kleiner Algen phosphoreszieren, schmälert das Erlebnis nicht. Das unheimliche Glitzern bannt alle Sinne des Betrachters und weckt Sehnsucht; Sehnsucht nach der Weite und der unendlichen Tiefen dieses Meeres. Die Nordsee ist weit, aber gar nicht tief. Das Schelfmeer, mit einer Fläche von 575.000 Quadratkilometern etwa anderthalb Mal so groß wie die Bundesrepublik, liegt wie auf einem flacher Teller, im Norden weit geöffnet zum Nord-Atlantik. Die Durchschnittstiefe liegt bei nur siebzig Metern - der Atlantik reicht, zum Vergleich, im Schnitt 3.500 Meter tief. Vor 8.000 Jahren gab es die Nordsee noch gar nicht. Erst in der Nacheiszeit tauten die Gletscher ab, isolierten Großbritannien vom Kontinent, und überfluteten die Landstriche zwischen Schottland, Norwegen und der Wattenküste. Wo es einst blühte, fließt heute eine ringförmige Strömung gegen den Uhrzeigersinn vor England nach Süden, an der holländischen, deutschen und dänischen Küste vorbei weiter hoch bis in das Skagerrak und den Atlantik. Sechs Monate braucht die nördliche Nordsee für einen kompletten Wasseraustausch; in der Deutschen Bucht erneuert sich das Wasser erst nach drei Jahren. Ihre Untiefen machen die Nordsee zu einem der fruchtbarsten Meere der Welt. Licht, der Motor allen Lebens, dringt tief in sie ein. In einem Liter Nordseewasser gedeihen bis zu drei Millionen Algen, sogenanntes Phytoplankton, das mit Hilfe von Sonnenenergie den Kohlenstoff aus der Luft in organisches Material verwandelt. Das nächtliche Meeresleuchten ist ein Zeichen üppigen Wachstums in diesem kalten Gewässer. Plankton steht am Anfang der unermüdlichen Nahrungsmaschine Nordsee: allein 100 verschiedene Muscheln, 250 Fischsorten, 30 Wal- und Delphinarten und 70 Arten von Seevögeln ernährt das vergleichsweise kleine Meer. Auch für die Anwohner ist die Nordsee immer eine schier unerschöpfliche Vorratskammer gewesen. Doch immer gieriger haben industrielle Fangflotten diesen Reichtum ausgebeutet; immer riesiger wurden ihre Netze, immer raffinierter die Methoden, um die reichen Herings- oder


Makrelenschwärme zu orten. Die Folge ist Überfischung. 1977 mußte der Heringsfang in der Nordsee für drei Jahre eingestellt werden, damit sich die Bestände mühsam erholen konnten. Wieviele Seevögel, Robben und Delphinen durch die verheerenden Beutezüge der Industriefischerei verhungerten, wird nicht gezählt. Aber nicht allein die Industriefischerei schädigt die Nordsee. Dunkelgrau, die Farbe des Planktons, ist die natürliche Farbe ihres Lebens - nicht aber trüb-braun bis schwarz wie an den Mündungen der Elbe, des Rheins, der Schelde und der Themse, oder rot wie in manchen Sommern an den von Algenteppichen geplagten Stränden. Aus der Nordsee beziehen alle angrenzenden Länder einen großen Teil ihres Reichtums - durch die Fischerei, den Tourismus und seit ein paar Jahrzehnten auch durch die Ölquellen. Zurück bekommt die See nur den Preis unseres Wohlstands: festen Müll, verflüssigte Fäkalien, überschüssigen Stickstoffdünger, unsichtbare Chemierückstände, schmieriges Altöl, radioaktive Substanzen wie Strontium oder den giftigsten Stoff der Erde, Plutonium. Ihre geringe Tiefe macht die Nordsee so verletzlich: Sie kann unter der Schmutzfracht "umkippen" wie so viele Süßwasserseen. Durch den hohen Nährstoffeintrag wachsen zuviele Algen, und besonders die giftigen Sorten. Der Sauerstoffgehalt der Nordsee nimmt jeden Sommer bedenklich ab - im Monat nach dem Stopp der Brent Spar meldet das Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH) ein Absinken auf nur noch rund 60 Prozent des Normalwertes. Gleichzeitig reichern sich Schwermetalle und chlororganische Verbindungen in den Pflanzen und Tieren der Nordsee an. Bei der Ausbeutung und dem Mißbrauch der Nordsee als Müllkippe handelt der Mensch kurzsichtig: Er ist das letzte Glied in der langen Nahrungskette. Im Frühjahr sorgte eine Illustrierte mit der Vergleich zwischen der gesundheitlichen Belastung eines Bewohners der Insel Sylt mit der eines Bürgers der berüchtigten ostdeutschen Chemie-Region Bitterfeld für kurzes Aufsehen. Der Sylter trug mehr Schwermetalle und andere Umweltgifte im Blut als der Bitterfelder. Die einzig mögliche Begründung: Die vorgeblich gesunde Nordseeluft und der häufigere Genuß von frischem Meeresgetier hatten bei dem Insulaner für schlechte Werte gesorgt. Bilder von sterbenden Seehunden, schaumbedeckten Ferienstränden und havarierten Chemiefrachtern warnen die Nordseeanrainer seit langem. Immer wieder beteuern Politiker auf unzähligen Konferenzen zum Schutz der Nordsee, daß ihre Zerstörung ein Ende haben muß. Aber


was passiert wirklich? Die Landwirte bringen heute rund doppelt soviel Dünger wie noch vor zwanzig Jahren auf ihren Äckern aus; die Alge blüht. Der Fisch stirbt. Man scheint zu wissen, warum. Doch weit draußen auf hoher See, weit ab vom Blick der Öffentlichkeit, haben sich die Mineralöl-Multis über den Förderfeldern ein Industrie-Imperium baut, dessen kontinuierliche Zerstörungskraft verheerend ist und meist unterschätzt wird. Offshore. Das harte und gefährliche Geschäft der wahren Männer. Das schnöde Schlossergewerbe und Ingenieurwesen auf See umgibt sich gerne mit einem Abenteuer-Flair. Die selbstgestrickten Legenden blühen. Eine der Geschichten, die man sich in den Öl-Kreisen gerne erzählt, geht wie folgt: Ein brave amerikanische Ehefrau träumte einst davon, die europäische Kultur, oder zumindest, was sie sich darunter vorstellt, kennenzulernen. Sie bearbeitete lange Jahre beharrlich ihren Ehemann, bis der schließlich genervt einlenkte, und im Jahr 1962 eine gemeinsame Urlaubsreise durch den alten Kontinent buchte. Ihr Mann war damals, vor 33 Jahren, einer der Vizepräsidenten von Phillips Petroleum aus Bartelsville, Oklahoma, und deshalb sollte die Reise ungeahnte Folgen haben. Er wurde aus dem Urlaubstrott gerissen, als er im niederländischen Groningen etwas sah, was ihm mächtig bekannt vorkam: Bohrtürme. Zurück in Bartelsville, überprüfte er mit seinen leitenden Angestellten die seismographischen Daten, und in Kürze war den Ölmännern klar, daß der geologische Aufbau unter der Nordsee dem von Holland entsprach: Wenn es in Groningen Öl gab, mußte draußen auf See auch welches zu holen sein. Die Phillips-Leute waren nicht die Ersten, die auf diesen Gedanken gekommen waren. Schon seit den zwanziger Jahren waren auf der Suche nach Öl Probebohrungen vor allem in holländischer Küstennähe niedergebracht hatten; Gas war gefunden worden und wurde seit den Fünfziger Jahren vor der britischen Küste auch gewonnen, doch Öl? Alle Bohrungen waren bisher vergeblich gewesen; auch im norwegischen Schelfsockel waren über 30 Versuche gescheitert. Doch die Amerikaner waren starrsinniger oder hartnäckiger als alle anderen zuvor und stießen weiter hinaus in die Nordsee vor; Phillips schickte 1964 mehrere Bohr-Crews und Schiffsbesatzungen aus und gab den Prospektoren fünf Jahre Zeit. Doch wieder schien alles umsonst, die Bohrmannschaften produzierten nur trockene Löcher. Im November 1969, Phillips hatte gerade beschlossen, nach dieser letzten Bohrung das Nordsee-Projekt aufzugeben, stieß ein


Bohrschiff, die Ocean Viking, im norwegischen Ekofisk-Bereich in Block 2/4 auf eine Bonanza. Das Öl schoß goldgelb und unter starkem Druck aus 3000 Meter Tiefe; es war von eindeutig von hervorragender Qualität. Daniel Yergin, ein bekannter Erdöl-Journalist, schreibt über den PhillipsFund, der in einschlägigen Fachzeitschriften als der "Drill of a lifetime" schlechthin gehandelt wurde: "Einige Monate später wurde einer der leitenden Angestellter von Phillips auf einer technischen Konferenz in London aufgeregt gefragt, was für Methoden die Firma verwendet habe, um die Geologie des Feldes zu erkennen. "Glück," antwortete er." Bis dato hatten sich die Ölmultis nur zögernd weit auf die offene See, wo rund ein Viertel der weltweiten Erdölreserven lagerten, hinausgewagt. Das Offshore-Geschäft spielte sich im seichteren Teil des Golfs von Mexiko, in der südlichen Nordsee in Küstennähe, im südchinesischen Meer, an einigen Stellen vor Australien und im Golf von Suez in geschützten Schelfgebieten ab. Der PhillipsVolltreffer zog nun andere Ölfirmen scharenweise an; der Nordsee-Ölboom war da, und löste in den norwegischen und britischen Nordsee-Sektoren eines der größten Investitionsvorhaben der Industriegeschichte aus. Im Sommer 1970 gab British Petroleum BP bekannt, daß man im Forties, einem britischen Feld, auf reichlich Ölvorkommen gestoßen war. Im August 1971 brachten Shell und Esso Petroleum Ltd. (Exxon) rund 160 Kilometer nordöstlich der Shetland-Inseln gemeinsam die bis dahin nördlichste Bohrung der Welt unter der Kennung "211/29-1" erfolgreich nieder und stießen auf ein Feld, das sich als der größte Fund im britischen Nordsee-Sektor erweisen sollte: Brent. Das Vorkommen in rund 2600 Meter Tiefe unter dem Meeresgrund hatte eine Ausdehnung von knapp neunzig Quadratkilometern und wurde auf einen Inhalt von rund 474 Millionen Tonnen Öl und rund 471 Milliarden Kubikmeter Gas geschätzt. Die Ölkrise 1973, die Geschichte der vermeintlichen Verknappung des Sprit-Angebots, der weltweiten Hamsterkäufe und dem plötzliche Sprung des Rohölpreises von rund sechs auf knapp 12 Dollar pro Barrel, gab dem Ölrausch in der Nordsee weiter heftigen Auftrieb. Die Profite der Ölkonzerne seien riesig und stiegen ständig an, schrieb Daniel Yergin: "... von 6,9 Milliarden Dollar im Jahr 1972 auf 11,7 Milliarden 1973, und im Rekordjahr 1974 schnellten sie auf 16,4 Milliarden hoch." Kostenintensive Explorationen in Gegenden wie der nördlichen Nordsee, die vorher als "NoGo-Areas" gegolten hatten, wurden plötzlich attraktiv und rentabel. Auch im Brent-Feld wurde kräftig investiert. Das Gebiet, dessen Lizenz von Shell und Esso (Exxon) zu je 50 Prozent gemeinsam


gehalten wurde, aber von Shell betrieben wird, wurde innerhalb von vier Jahren mit gigantischen Förderplattformen vollständig erschlossen. Als erste Plattform wurde Brent B, eine 195.000 Tonnen schwere, dreisäulige Betonkonstruktion und zu ihrer Zeit die größte Anlage der Welt, im August 1975 in Betrieb genommen; im Mai 1976 wurde Brent A, eine sechsbeinige Stahlkonstruktion, installiert. Brent C und Brent D folgten bis Juni 1978. Um das Brent-Feld abzuschöpfen, wurde zunächst die in Norwegen montierte Brent Spar in Position gebracht, und dann zusätzlich ein Pipeline-System installiert, wie es die Nordsee bis dahin nicht gesehen hatte. Die 300 Kilometer Rohrleitungen des "Brent Systems" wurden in damaligen Rekordtiefen von über 150 Metern verlegt und hatten Durchmesser bis zu 91 Zentimeter. Bis Januar 1994 waren aus dem Brent-Feld etwa 200 Millionen Tonnen Rohöl und 186 Milliarden Kubikmeter Gas gefördert worden - die Mengen entsprechen rund 13 Prozent der jährlichen Öl- und zehn Prozent der Gasförderung Großbritanniens. Damit war Brent mit Abstand das produktivste Einzel-Feld im britischen Nordsee-Sektor. In den vergangene beiden Jahrzehnten haben die multinationalen Ölgesellschaften ihr Fördergeschäft zunehmend vor die Küsten - also Offshore - verlagert; heute gewinnen dort Anlagen in über 40 Ländern mit einer Milliarde Tonnen Öl etwa ein Drittel der jährlichen Weltförderung. Auch die "Goldgrube Nordsee" (Finacial Times) ist mit insgesamt 416 Förderplattformen auf 85 verschiedenen Feldern zu einem völlig erschlossen und produktiven Industriegebiet gemacht gemacht worden. Im britischen Nordsee-Einzugsgebiet haben die Ölkonzerne 208 Plattformen in Betrieb gebracht, auf niederländischem Gebiet 106. Vor der norwegischen Küste stehen inzwischen 71 Fördertürme, in dänischen Hoheitsgewässern 31 Anlagen. Zusammen fördern die "Schatzinseln" derzeit pro Jahr rund 205 Millionen Tonnen Öl - damit knapp sieben Prozent der weltweiten Produktion und täglich etwa 900.000 Liter - und etwa 92 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Wer heute mit einem Hubschrauber über die Nordsee fliegt, wird von dem Anblick zwangsläufig gefesselt. Er erblickt von der südenglischen Küste bis zum hohen Norden nahe am Polarkreis ein zusammenhängendes und verwachsenes Fabrikkonglomerat. Überall Produktionsstätten, mal dichter gedrängt, mal weiter entfernt; schwimmende Arbeitsdecks, Tanker, Bergungs- und Sicherheitsschiffe, Versorger und Leichter. Bewegung überall, auf, über und zwischen den Plattformen. Schlepper bugsieren undefinierbare Teile auf Pontons. Verschiedene Typen von Hubschraubern schwirren wie dicke fette Hummeln oder zornige Hornissen durch das Gewirr der


Anlagen. Fördergestänge drehen sich, Rohre pumpen und spucken Flüssigkeiten aller Art über Bord. Offene Brände und Rauchfahnen geben dem Geschehen etwas apokalyptisches; spezielle Inseln, sogenannte "Flares", oder Ausleger an den Förderplattformen fackeln Gas öder Öl ab. Kleine orange Punkte, die sich bewegen, in Förderkörben schwanken, auf Gerüsten klettern; die Betriebsamkeit setzt sich rund um die Uhr in Schichten fort, ist förmlich spürbar. Die Nordsee zahlt für das Öl, das die Gesellschaften Phillips, Shell, Exxon, Phillips, Amoco, Conoco, Chevron, Elf, Agip, Texaco, Total, Mobil, Marathon, Amerada Hess uns andere fördern, einen hohen Preis. Beispiel: Im April 1995 untersuchten Fachleute des Bundesamtes für Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH) in Hamburg die Ursachen einer plötzlichen Ölanschwemmung, von der vom 27. März an bis in die ersten Aprilwoche praktisch die gesamte Deutsche Bucht betroffen war. Zuerst hatte es das Watt und die Strände im Bereich Amrum und Sylt getroffen, danach die ostfriesischen Inseln und die Halbinsel Eiderstedt. Bereits am 23. März hatte das Öl die Westküste Dänemarks erreicht. Nach Auskunft dänischer Ornithologen waren mehr als 400 Tonnen Öl an die Strände gelangt; nach Angaben der Gemeinde Blavand, die an meisten betroffen war, sogar rund Tausend Tonnen. Die lokale Ölpest wurde von den Medien nicht weiter aufgegriffen oder verfolgt, weil die Ferienzeit noch nicht begonnen hatte und andere Themen gerade die Titelseiten beherrschten. Dabei war der Verursacher, so die BSH-Fachleute in ihrem Bericht, recht eindeutig zu lokalisieren: Das Öl, das ergaben Driftberechnungen, stammte vom einer Förderinsel im norwegischen Ekofisk-Feld oder von der dänischen Plattform Dagmar, in jedem Fall aber aus einem Leck von drei bis vier Tagen Dauer. Solche Störfälle, sie kommen alle Jahre wieder, sind nur die Spitze des Eisberges und kurzzeitige Skandale. Die eigentliche Verschmutzung der Nordsee durch die Ölindustrie geschieht alltäglich durch den Normalbetrieb. Das meiste Öl wird zusammen mit den Bohrschlämmen und dem Bohrklein - den sogenannten "cuttings" - bei der regulären Ölförderung eingetragen. Wenn von den Plattformen aus eine Bohrung niedergebracht und später Öl gefördert wird, werden dabei noch ölhaltige Bohrschlämme benutzt, die bis vor wenigen Jahren noch rund um die Inseln ins Meer gekippt wurden. Die Bohrschlämme wurden bis 1985 auf Dieselbasis hergestellt; seit dieser Zeit auf reiner Ölbasis. Seit Norwegen und Dänemark im Jahr 1993 diese Praxis verboten hat, benutzen die Fördergesellschaften in diesen Sektoren nur noch Schlämme auf Wasserbasis, die maximal zehn


Gramm Öl auf einem Kilo Schlamm enthalten dürfen. Die Briten sind nicht so zimperlich. Sie machen sich auf ihren Plattformen eine entsprechende Ausnahmeregelung der PARCOM zu Nutze, der internationalen "Pariser Kommission zur Verhütung der Meeresverschmutzung". Die Briten erlauben heute noch Bohrschlämme auf Ölbasis und reizen eine Übergangsfrist bis 1996 voll aus: Ihre Öl-Bohrschlämme enthalten nach wie vor rund 70 bis 80 Gramm Öl pro Kilo Schlamm. PARCOM-Wissenschaftler schätzen, daß im Jahr 1981 rund 8.000 Tonnen Öl über die Bohrschlämme in die Nordsee gekippt wurden. Die Menge stiegt kontinuierlich auf etwa 25.000 Tonnen im Jahr 1985 an, und ist durch strengere Anwendungsvorschriften und geschlossene Systeme wieder auf rund 9.000 Tonnen im Jahr 1994 gefallen. Gestiegen sind dagegen die Öleinleitungen durch das sogenannte "Produktionswasser" - einem Gemisch aus Erdöl, natürlich vorhandenem Grundwasser und Meerwasser. Um das Öl aus der Tiefe ans Tageslicht zu fördern, wird direkt durch die Förderbohrung oder durch seitliche Injektionsbohrungen Süß- und Nordseewasser in die unterirdischen Lagerstätten gepresst. Dadurch wird das Öl unter Druck gesetzt und nach oben gezwungen. Mit dem Öl gelangt zwangsläufig Produktions-wasser wieder nach oben; je älter und ausgebeuteter die Fundstelle, desto mehr Produktionswasser muß eingepumpt werden, desto mehr der giftigen Mixtur enthält das geförderte Öl. Produktionswasser, das in neueren Anlagen im Kreislauf mehrfach benutzt wird, darf auf den älteren Anlagen nach den PARCOM-Vorschriften mit einem Anteil von 40 Gramm Öl pro Kubikmeter Wasser zurück in die Nordsee geleitet werden. Weil immer mehr Quellen erschlossen werden, alte Funde langsam versiegen und nur noch über erhöhten Produktionswasserdruck Öl spenden, steigt die Menge der Öleinleitungen über diesen Weg stetig an. Sie lag im Jahr 1994 bei rund 5000 Tonnen. Völlig ungeregelt und mengenmäßig schwer zu bestimmen sind die Chemikalien, die bei der Förderung benutzt werden und dabei in die Nordsee gelangen. Alle möglichen toxischen Substanzen sind im Einsatz: Manche helfen bei der Bohrung, manche sorgen dafür, daß das Rohöl fließfähig bleib, andere scheiden Fremdstoffe im Öl ab. Für den Betrieb der Plattformen selbst werden Pestizide, zinkhaltige Farben, Reinigungs- und Ölbekämpfungsmittel benutzt. Über 300 verschiedene Stoffe sind nach englischen Untersuchungen in Gebrauch. Die Briten rechnen sehr konservativ mit jährlich rund 100.000 Tonnen, die Norweger mit etwa 200.000 Tonnen - von denen


nach norwegischen Schätzungen rund fünfzig Prozenz in die Nordsee eingeleitet werden. Schon Tropfen dieser Chemikalien und Bruchteile eines Milligramms Erdölkohlenwasserstoffe wirken auf viele Organismen giftig; schon Spuren genügen, um bei Fischlarven, Krebsen, Weichtieren und Seevögeln erhebliche Mißbildungen und Verhaltenstörungen zu verursachen. Das Öl beschränkt sich nicht auf die sichbare Pest an der Oberfläche oder die harten Klumpen, die am Ferienstrand angespült werden. Mikroskopische Teile werden im Meerwasser gelöst und von der Meeresfauna aufgenommen - der direkte Weg in die Nahrungsketten, die sichere Garantie, daß sich die Schadstoffe im Organismus von Fischen, Kleinstlebewesen oder Seevögeln anreichern. Norbert Theobald von der Bundesanstalt BSH schildert die Folgen so: "Etwa 500 Meter rund um die Inseln ist der Meeresboden weitgehend tot. In einem Kilometer zeigen sich immer noch deutliche Effekte. Weiter entfernt sind die Schäden meist nur als veränderte Zusammensetzung von Tier- und Pflanzenarten erkennbar." Härter geht der Brite John Gray, der an der Universität von Oslo lehrt und als einer der anerkanntesten Nordsee-Meeresbiologen gilt, mit dem Öl zu Gericht. Gray versucht seit Jahren, Material über die Kohlenwasserstoffkonzentration in Plattformnähe zu sammeln, doch vor allem die britischen Behörden halten die entsprechenden Daten unter Verschluß. Die norwegischen Umweltbehörden sind etwas liberaler und gewähren zumindest Einblick in Teile ihrer Unterlagen. John Gray veröffentlichte im Mai 1995 auf Grundlage der norwegischen Zahlen eine Studie, die von einem direkten Einflußradius von acht Kilometern um jede Plattform ausgeht, in dem sich eine bis zu 10.000fach höhere Konzentration von Kohlenwasserstoffen - sprich Ölspuren - nachweisen läßt. Was Grays Studie brisant macht, ist die These, daß sich diese Radien um die einzelnen Plattformen und Felder über die Jahre hinweg immer weiter ausgedehnt haben und inzwischen anfangen, sich zu überlappen. Im norwgischen Valhall-Feld glaubt Gray, eine inzwischen 100 Quadratkilometer große, geschlossene Schadensfläche nachweisen zu können. Als einen Beweis für die verheerende Wirkung der Öleinleitung führt Gray den Schlangenstern, lateinisch amphiura filiformis, ins Feld. In Nordseeregionen, in denen nicht gebohrt und gefördert wird, ist der Schlangenstern überall zu Hause, dort gibt es im Schnitt weit über 100 Exemplare pro Quadratkilometer. Im Umkreis von ein bis zwei Kilometern um Plattformen dagegen ist der NordseeBewohner aus der Familie der Stachelhäuter nicht mehr zu finden und wie ausgestorben. Der


Schlangenstern ist ein wichtiges Glied in der Nahrungskette, eine unerläßliche Beute für Schollen und Seezungen. Bei dem angenommenen Zusammenwachsen der Schadensgebiete, welches auch die Bundesanstalt BSH langfristig befürchtet, sind die Folgen bisher unabsehbar. Gray: "Wenn die Population von Organismen, die eine Schlüsselfunktion in der Meeresgrundgemeinde innehaben, so dramatisch sinkt, könnte das eine wichtige Rolle beim Niedergang vieler Nordseefischbestände haben." Will im Klartext heißen: Es ist auf Dauer gut möglich, daß den geringen Fischbestände, die die Raubfischerei überlebt haben, durch die Öl-Multis der Garaus gemacht wird. Öl ist in der Nordsee allgegenwärtig, nicht allein durch die Förderung. Die Schiffahrt läßt - ohne Unfälle wohlgemerkt, sondern im normalen Fahrbetrieb in einem der geschäftigsten Seegebiete der Welt - jährlich 100.000 Tonnen Öl legal ab. Tanker dürfen während der Fahrt pro Meile bis zu 60 Liter Öl absondern, die Waschvorgänge von Öl- und Chemikalientankschiffen sind nach wie vor rechtlich nicht zu ahnden. Die Ostsee gilt wie das Mittelmeer seit dem Jahr 1983 als "Sondergebiet", in dem kein Tropfen Öl gelangen darf. Die Nordsee dagegen war nur "teilweise Sondergebiet", seit sich die europäischen Umweltminister auf der Zweiten Nordseeschutzkonferenz im November 1987 in London zu diesem "Erfolg" durchringen konnten. Acht Jahre später, nach der Vierten Konferenz in Esbjerg, hat sich nicht viel verändert: Die Esbjerger Ministererklärung sieht zwar vor, daß Altöl aus dem Schiffsbetrieb künftig nicht mehr ins Meer eingeleitet werden soll - diesen Beschluß muß allerdings die zuständige Internationale Schiffahrtsorganisation IMO noch in geltendes Seerecht umwandeln. Doch mehr "Rechte" waren für die Nordsee nicht drin: Großbritannien sperrte sich gegen ein Verbot, Chemietanks auf See zu spülen. Der "Dirty man of Europe" ist es auch, der weiter seine schwachund mittelradioaktiven Abfälle - zusammen mit dem französischen Nachbarn - ins Meer spülen darf. Die mutwillige Verschmutzung, die der Nordsee in großem Maßstab zugemutet wird, trifft das Wattenmeer auf kleinstem Raum. Dabei kann das eine nicht ohne das andere: Das Watt ist das Fruchtwasser der Nordsee. Bis zu neun Millionen Zugvögel machen auf der 450 Kilometer langen salzigen Marsch zwischen der niederländischen Insel Texel und dem dänischen Esbjerg Jahr für Jahr Rast. Ihr Nahrungsangebot ist erstklassig: Pro Quadratmeter Watt wurden schon 20.000 Schlickkrebse und 300.000 junge Mini-Schnecken gezählt. 1.748 Tierarten wurden im Watt bisher identifiziert - zwei Drittel von ihnen gehören zur Mikrofauna am Anfang der Nahrungskette. Die


Schlickkrebse und Schnecken grasen diesen den Mikrorasen ab, der das Watt überzieht. Die öde graue Schlickfarbe rührt in Wirklichkeit von seinem dichten Bewuchs mit Kieselalgen her. Der extreme Lebensraum, in dem sich alle sechs Stunden Ebbe mit Flut abwechselt, wo sich Temperatur und Salzgehalt stündlich verändern, hat ein einzigartiges Bio-Programm entwickelt: drei Tonnen organische Masse bedeckt jeden Hektar Boden. Das Wattenmeer ist Laichplatz für Seeskorpion, Butterfisch und Aalmutter und Kinderstube für Hering, Scholle und Sprotte. Es ist auch der Lebensraum des Symboltiers der Nordsee: dem Seehund, der mit seinen Knopfaugen, der weichen Schnauze und seiner Tolpatschigkeit Beschützerinstinkte weckt. Leider setzen die Nordsee-Anrainer diesen Impuls nur zögerlich in die Tat um. Beispiel Deutschland: Seit einem Jahr bohrt sich die EuroErdgas-Pipeline wie eine tiefe Wunde durch das ostfriesische Watt. Ob sie vernarbt, oder ob durch Erosion der umliegende Schlickboden weggewaschen wird, ist noch ungewiß. Sicher wären dagegen die Folgen einer Leckage: verheerend. Daß die ungebremste Nährstoffeinleitung für das Watt und die gesamte Nordsee nichts Gutes bedeutet kann, ist ebenfalls leicht auszurechnen. Knapp 1,3 Millionen Tonnen Stickstoff und 50.000 Tonnen Phosphat muß die Nordsee jährlich schlucken. Siebzig Prozent der Schadstoffe stammen von überdüngten Feldern und werden über die Flüsse transportiert; der Rest - aus Autoabgasen und über Kraftwerksverbrennung, Industrieschlote und private Schornsteine in die Luft geblasen - wird über Regen eingebracht. Eine der möglichen Folgen: Die Killeralgen (oder waren es die Killertomaten? der Säzzer) vom Frühjahr 1988 können jederzeit wiederkommen. Damals töteten giftige Algenschwämme zwischen dem Nordatlantik und dem 1.000 Kilometer entfernten norwegischen Stavanger ganze Heringsschwärme; selbst Seesterne und Pflanzen fielen der "Goldalge" zum Opfer. Der Zusammenhang zwischen den hohen Nährstoffeinträgen und dem verheerenden Algenwuchs stellt Wissenschaftler vor Rätsel. "Das Ökosystem der Nordsee verändert sich sprunghaft", hat Wolfgang Hickel von der Biologischen Anstalt Helgoland beobachtet. "Ende der 70er verdoppelte sich die Biomasse der Großalgen auf einen Schlag." Dadurch wird die für das Leben in der Nordsee so wichtige Kieselalge von den schwimmfädenbewehrten Grünalgen zurückgedrängt. Die Folgen für die maritime Nahrungspyramide sind noch unbekannt; fest steht nur, daß es unter den Kieselalgen keine giftigen Arten gibt - unter den Grünalgen umso mehr.


Die Vierte Nordseeschutzkonferenz hat erstmals die Behandlung kommunaler Abwässer und Nitrateinträge aus der Landwirtschaft als vorrangiges Problem im gesamten Abwassereinzugsgebiet des Meeres - von den Alpen bis Schottland - ausgewiesen. Endlich. Wie im Mittelalter gehen immer noch die Fäkalien von 30 Millionen Menschen - aus Belgien, Großbritannien und Frankreich ungeklärt ins Meer. Und was Überdüngung angeht, hat kein Nordsee-Anrainer seine Hausaufgaben gemacht: 1987 verabredeten sie eine Senkung der Nährstoffeinträge um die Hälfte bis 1995; tatsächlich wurden die Emissionen von Stickstoff nur um ein Viertel reduziert. "Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Bauern darf durch die Düngeverordnung nicht beeinträchtigt werden", redet sich das Bonner Landwirtschaftsministerium aus der Verantwortung. Die Rinder-, Schweine- und Geflügelzüchter fürchten, in ihrer Gülle zu ertrinken, wenn die von Brüssel geforderten Höchstmengen von 170 Kilo Stickstoff pro Hektar Ackerland Gesetz werden. Zwei Jahre lang hat die deutsche Agrar-Lobby inzwischen die fällige Düngeverordnung verzögert - und nach den wachsweichen Beschlüssen der Nordseeschutzkonferenz im Juni 1995 muß der Entwurf vom Februar nochmal überarbeitet werden: Es fehlt die Verpflichtung zu Stickstoff-Bilanzen. "Es gibt Alternativen für die Landwirte - biologische Anbauweisen zum Beispiel", sagt der britische Nordsee-Experte Malcolm McGavin von Greenpeace. "Viel schwieriger wird es für die Fischer werden: Ihre Zukunft ist ungewiß, wenn sie die Nordsee nicht solange schonen, bis sich die Bestände erholt haben." Die Lage ist in der Tat dramatisch: Bei mehr als 80 Prozent der Grundfischarten in Nordsee und Nordatlantik wurden im Brent Spar-Sommer die niedrigsten Laichund Fischbestände aller Zeiten gemessen. Scholle, Wittling, Seezunge und Schellfisch sind in Gefahr; Dorsch, mahnt der Internationale Meeresrat ICES, gehöre für den Fischfang gesperrt. Mittels Satelliten, Radar und Unterwassersensoren suchen die Fischtrawler das Meer nach Beute ab. Ihre Treibnetze haben Längen bis zu zwanzig Kilometern; Langleinenfischer spulen innerhalb eines Tages sechzig Kilometer Schnur mit 40.000 maschinell beköderten Angelhaken ab. In den siebzigerer Jahren hatte die Industriefischerei auf der Nordsee mit drei Millionen Tonnen Fisch pro Jahr ihre Blütezeit - doch 1977 kam die Quittung: Der Heringsfang mußte für drei Jahre eingestellt werden. Seitdem ist die Anzahl der Trawler auf ein Viertel geschrumpft. Die Europäische Union verhängte Fangquoten - aber immer noch werden jedes Jahr über zwei Millionen Tonnen Nordseefisch angelandet.


Dabei landet nicht mal die Hälfte der Fänge auf dem Teller. Sechzig Prozent der jährlichen Beute wird zu Fischmehl verarbeitet - Futtermittel für die Massentierhaltung. Zwar sind die Netzmaschen seit der Heringskrise größer geworden, so daß mehr Jungtiere durchschlüpfen. Dennoch wird ein Drittel aller Fänge wird "Discard", Abfall, über Bord geworfen - weil der Fisch zu klein, nicht wertvoll genug ist oder der falschen Art angehört. "Wenn ein Fischer zum Beispiel seine Dorschquote ausgeschöpft hat geht er auf Schellfisch. Dann wirft er alle Dorsche, die mit dem Schellfisch ins Netz gehen, wieder über Bord - tot", erklärt der Meeresbiologe McGavin. Im Schnitt verendet pro gefangenem Kilo Scholle oder Heilbutt 800 Gramm anderer Fisch als Discard, rechnet die Welternährungsorganisation FAO vor. Aquakulturen - Fischzucht im Käfig - nehmen den Fangdruck nicht von den freilebenden Fischpopulationen der Nordsee. Im Gegenteil: Um eine Tonne Lachs zu erzeugen, verfüttern die norwegischen Züchter mehr als drei Tonnen Sandaale - in Form von Fischmehl. Zudem bergen die Fischfarmen eigene Umweltprobleme: Durch die Überdüngung kam es in den Fjorden schon zu spektakulären Algenteppichen; Pestizide und Antibiotika, die die häufig auftretenden Krankheiten und Epidemien in den Fisch-Monokulturen unterdrücken sollen, werden von der Strömung aus den Käfigen und in die offene See hinausgeschwemmt. Gegen die schleichende Vergiftung der Nordseefischbestände durch Chemikalien, so der einzig wirklich richtungsweisende Beschluß der Vierten Nordseeschutzkonferenz, wollen die NordseeAnrainer zwar sehr langfristig, aber doch grundsätzlich einschreiten. Aale mit Krebsgeschwüren, Klieschen mit Hauttumoren, Kabeljau mit "Mopsköpfen" und Schollen mit abgefaulten Flossen sollen nicht länger einen eigenen Zweig der Meeresbiologie beschäftigen. Ein Ergebnis der Nordseekonferenz 1995 läßt für das nächste Jahrtausend hoffen: Ab 2020 dürfen keine gefährlichen chemischen Substanzen mehr in die Nordsee eingeleitet werden. "Das ist eine Sensation", urteilt McGavin, "Greenpeace wird auf die Umsetzung und Einhaltung dieser Abmachung sehr penibel achten." Das wird auch nötig sein. Die britische Delegation versuchte bereits in Esbjerg, den Befreiungsschlag gegen eine europaweite Industriebranche, die Chlorchemie, zu verhindern. Man werde auf die Einleitung gefährlicher Substanzen verzichten vorausgesetzt, ein Risiko-Gutachen beweise, daß eine Substanz wirklich schädlich ist. Die Strategie dahinter, mit der das auf der ersten Nordseeschutzkonferenz beschlossene Vorsorge-Prinzip


ausgehebelt worden wäre, war allzu durchsichtig: 11.000 Chemikalien, die Jahr für Jahr in die Nordsee fließen, würden 11.000 langwierige Risiko-Gutachten nach sich ziehen. Die GreenpeaceLobbyisten in Esbjerg kehrten das Prinzip um: Die Briten könnten doch eine Liste der geprüftermaßen harmlosen Chemikalien aufstellen, das ginge sicher einfacher und schneller. Unüberzeugt, und erst nach langem Verhandlungsmarathon, duldeten die Briten schließlich den geforderten Einleitungs-Stopp für das Jahr 2020 - ein Londoner Delegierter im Nachhinein in privatissimo: Dieses Ziel sei ohnehin "unrealistisch". Erreichbar ist das Ziel der Null-Emission von Gefahrstoffen nur über saubere Produktionsmethoden - "clean production". Das Filtern und Säubern von Abwässern, die "end-ofpipe"-Technologie ist an ihre Grenzen gelangt - wenn Gefahrstoffe überhaupt filterbar sind, dann belasten sie meistens an anderer Stelle, etwa im Klärschlamm, die Umwelt. Umweltschützer fordern schon lange "Clean Production" mit "Sanfter Technologie" - dies scheint auch der Weg zu sein, den einige Nordsee-Anrainer anpeilen. Beispielsweise will Dänemark den chlorhaltigen Kunststoff PVC, dessen Verbrennungsgas maßgeblich am Sauren Regen beteiligt ist, ersetzen - sei es in Kabeln, Fußböden oder Verpackungen. Ein erster Schritt war 1994 die Erstellung einer erschöpfenden ÖkoBilanz, die den Weg des PVC von den Rohstoffen bis zur Entsorgung seiner Endprodukte untersucht. Das Seehundsterben 1988 hat den europäischen Fernsehnationen auf herzzerreißende Weise das Leiden der Nordsee vorgeführt. Insgesamt 18.000 von schätzungsweise 40.000 Tieren verendeten kläglich an Lungenentzündung, die ein Virus ausgelöst hatte. Daß die Krankheit ungebremst unter den Kuscheltieren der Nordsee wüten konnte, führen viele Wissenschaftler auf das geschwächte Immunsystem der Robben zurück. Das durch den Holzschutzmittelprozeß traurig bekanntgewordene Nervengift Pentachlorphenol (PCB) etwa hat den Vitamin-A-Spiegel der Seehunde bedenklich gesenkt. "Wenn man ein totes Weibchen seziert und die Gebèrmutter fühlt sich steinhart an, dann kann man stets hohe PCB-Werte im Fettgewebe erwarten", berichtete der Kieler Zoologe Günther Heidemann. "Seehunde sterben einen spektakulären, einen Fernseh-Tod. (...) Wer aber weiß, daß auch die Lummen, eine Vogelart, an unseren Küsten stark gefährdet, ja ähnlich wie die Robben vom Aussterben bedroht sind?", fragt Johanna Wieland in ihrem Greenpeace-Report "Nordsee in Not". Und wer weiß, daß sich die Menschen der französischen Hafenstadt Cherbourg bei jedem


Austernessen wie beim Russischen Roulett fühlen: Ob diese Auster wohl die entscheidende Dosis des mit tödlicher Sicherheit krebserzeugenden Supergifts Plutonium enthält? Das radioaktive Metall leckt im benachbarten La Hague, bei der Wiederaufarbeitung von Uranbrennstäben, in die See. Briten und Franzosen haben in Esbjerg die Lizenz zum Töten verlängert: Beide Länder dürfen weiterhin schwach- und mittelradioaktive Abwässer in die Nordsee einleiten. Die neue Wiederaufbereitungsanlage THORP im britischen Sellafield wird laut Greenpeace-Berechnungen die strahlenden Einleitungen des Atomkomplexes um 900 Prozent steigern. Das Versenkungs-Verbot für Ölplattformen ist nur eine der Greenpeace-Forderungen zum Schutz der bedrohten Nordsee. Brent Spar-Kampagner Christian Bussau: "Um das Meer vor unserer Haustür zu retten, muß im Prinzip unser gesamtes Wirtschaftssystem auf umweltfreundliche Verfahren umgestellt werden. Energiesparen, um Atomkraftwerke überflüssig und Photovoltaik rentabel zu machen, ist genauso wichtig wie biologische Landwirtschaft oder die Rückgabe von eingedeichten Schafweiden ans Meer, damit möglichst viele Zugvögeln wieder auf den Salzmarschen rasten können. Auch der Verbraucher kann helfen: Jeder eingesparte Liter Benzin dient dem Schutz der Nordsee, jeder ausgelassene sonntägliche Schweinebraten läßt dem Meer seinen durch Gülle-Einträge gefährdeten Atem." Nach Auskunft von Malcolm McGavin hat Greenpeace keine feste Prioritätenliste der Dinge, die für den Erhalt der Nordsee und die Zukunft der Meere getan werden müßten. McGavin: "So ein Ranking wäre Quatsch. Ob die Fische an Sauerstoffmangel durch die Algen verenden, an Krebsgeschwulsten durch Dioxine sterben oder den Schleppnetzen der Industriefischer zum Opfer fallen, kann doch niemand vorhersagen. Wichtig ist, mit allen Mitteln die Schandtaten zu verhindern." Der Greenpeacer faßt die wichtigsten Schutzmaßnahmen aus seiner Sicht zusammen: "Erstens: Zehn Jahre Schonung für die Fische. Nach dieser Frist hätten sich die Bestände erholt, und die Fischerei könnte mit einem ausgewogenen Management, das die Populationen schont, höhere Gewinne machen als heute. Zweitens: Umstellung der Landwirtschaft auf Anbauweisen ohne Chemie; Umstellung der Konsumenten auf weniger Fleischkost. Und drittens natürlich Clean Production - also Produktionsprozesse mit geschlossenen Kreisläufen mit möglichst wenig Energie- und Rohstoffeinsatz bei gleichzeitiger Ersetzung umweltgefährdender Stoffe." Alles, was der Umwelt gut tut, hilft der Nordsee, hilft den Meeren. Alle Gifte, die auf Äcker


geschüttet, in die Luft geblasen oder in die Flüsse geleitet werden, landen irgendwann in der See. Die Kampagne gegen die Versenkung der Brent Spar war ein Schreckschuß gegen den verantwortungslosen Umgang mit dem Ursprung unseres Daseins, dem Meer. "Die britische Regierung hat vor Brent Spar sogar erwogen, Atomreaktoren aus ausgemusterten U-Booten einfach in die Tiefsee zu versenken. Davon redet jetzt hoffentlich niemand mehr", erzählt McGavin. Wer also nachts am Bug die Nordsee glühen sieht, kann sich weiterhin dem Sog der Tiefe hingeben: Das Glitzern und Glimmen ist noch kein Effekt radioaktiver Strahlung. Es ist lebensspendendes "noctoluca"-Plankton - die Glühwürmchen des Meeres.


5. Meuterei bei der Seebestattung

"Sie waren", schrieb der Journalist Nicolas Schoon für die englische Zeitung The Independent, "wirklich ein begabter Haufen. Ich hörte Tim, einen jungen Neuseeländer mit deutschniederländischen Eltern, wie er sich in fünf verschiedenen Sprachen fließend unterhielt. Er ist nicht nur ein erfahrener Schiffsführer, es gelang ihm auch, ein zweites Satellitentelefon zum Leben zu erwecken. Dazu tauchte er tief in die Innereien eines Notebook-Computers, erzeugte eine 1000 Hertz-Ton, und tat noch irgendetwas, das ich nicht verstand, aber mit einer bestimmten Dezibel-Zahl zu tun hatte." Nicolas Schoon war einer der wenigen Reporter an Bord, als Shell am 22. Mai begann, die Plattform nach drei Wochen Besetzung zu räumen. Das Unternehmen hatte sich in der zweiten Maiwoche vor einem Gericht in Edinburgh ein "warrant" - einen Haftbefehl - erstritten, die dazu berechtigte, den einzigen namentlich bekannten Besetzer zu räumen: Jon Castle. Castle hatte es abgelehnt, freiwillig zu gehen. Firmen, die für Shell auf der Plattform arbeiten und die Versenkung vorbereiten sollten, hatten indirekt bestätigt, daß ihre Leute für den 25. Mai gebucht waren. Damit war klar, daß der Aufmarsch begann; der Konzern machte mobil. Nachdem Helikopter die Situation auf der Brent Spar mehrmals aus der Luft erkundet hatten, wurde in einem anderen, nur knapp dreißig Seemeilen entfernten Ölfeld die Stadive in Bewegung gesetzt. Die Stadive ist eine gigantische, selbstfahrende Arbeitsplattform, groß und geräumig wie ein Fußballfeld. Ihre Kräne überragen das Landedeck der Brent Spar, die selbst rund dreißig Meter aus dem Wasser ragte, noch um Dutzende von Metern. Sie war, so ein Besetzer später, "die perfekte Maschine", und hatte außer unzähligen Shell-Angestellten und Beamten der schottischen Polizei moderste Räumtechnik an Bord. Shell war wild entschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Die achtzehn Besetzer hatten sich auf ihre Weise auf die drohende Räumung eingestimmt. Um einen Hubschrauberanflug und das Absetzen von Räum-Kommandos zu verhindern, spielten sie mit riesigen Lenkdrachen, die fast hundert Meter hoch in den Himmel stiegen. Luftballons flatterten im Wind. Jon Castle hatte angekündigt, daß die Greenpeacer sich verschanzen, und tief ins Innere der Plattform zurückziehen würden: "Wir sind absolut gewaltfrei, aber wir gehen auch nicht von selbst." Die Fenster und Bullaugen der Brent Spar waren verschweißt; das Landedeck und die Gitterläufe mit


Metallstangen, Seilen, Netzen und Bannern verbarrikadiert. Am Abend vor der Ankunft der Stadive gab es eine Party mit "Kulturprogramm". Danach baumelten rund um die Plattform seltsame Artifakte. Einer der Reporter: "Die Jungs, die sie in der Abenddämmerung aufhängten, hatten Wuschelköpfe und trugen schrille Sonnenbrillen. Sie sprachen in einem seltsamen Rastafari-Akzent und erklärten den Schrott zu gutem Voodoo, der mit Sicherheit jede Räumung verhindern würde." Jon Castle dazu später lächend: "Man darf die Dinge nicht so verbissen sehen. Es war Kunst, Kunst aus Shell-Abfällen. Sie entsteht zwangsläufig, wenn zwei so grundverschiedene Kulturen aufeinanderprallen." Die Stadive mit einem Shell-Krisenzentrum auf der Brücke erreichte die Brent Spar mitten in der kurzen Nordsee-Nacht. Christian Bussau sah sie näher kommen: "Sie wirkte auf mich, als ob ich in Zeitlupe auf eine hell erleuchtete Kleinstadt zufahren würde. Das Ding wurde größer und größer, ehrlich gesagt, mir rutsche das Herz schon in die Hosentasche." Die Besatzung manövrierte den schwimmenden Koloss im Licht von starken Scheinwerfern bis auf zwanzig Meter an die Brent Spar heran. Rote und grüne Leuchtraketen stiegen in den Himmel. Megafone bellten Befehle; die schottischen Polizeibeamten forderten die Besetzer auf, den Protest zu beenden. Eine Handvoll Shell-Arbeiter mit orangen Schutzhelmen hantierten an einem offenen Förderkorb, der an einem der Kräne hing. Gegen halb vier wurde es heller. Kameras wurden in Position gebracht, Reporter hippelig. Doch dann schlug sich die Nordsee auf die Seite der Besetzer. Der Wind frischte schlagartig auf, die Seegang nahm zu. Der Kranausleger, mit dem der Shell-Käfig an Bord der Brent Spar geschwungen werden sollte, kränkte bedrohlich. Krisensitzung auf der Stadive. Das Wetter siegte. Gegen sieben Uhr gab Shell Expro in Aberdeen offiziell bekannt, daß man die "Räumung wegen der schlechten Witterungsverhältnisse abgebrochen und auf unbestimmte Zeit ausgesetzt" habe. Galgenfrist. Drei Wochen zuvor, zu Beginn der Besetzung, hatten die Moby Dick und die Embla zwei Tage lang auf besseres Wetter warten müssen, bevor fast zehn Tonnen Ausrüstung übergesetzt, hochgehieft, im Innern verstaut und installiert wurden. Das Camp auf der Brent Spar war damit vorerst gesichert und nahm Formen an. Nach einer ersten, intensiven Sicherheitsinspektion wurden die 1991 verlassenen Shell-Quartiere, mit fein säuberlich gefaltetem Bettzeug aber verwüsteter Küche, notdürftig in Betrieb genommen; Schlafräume, Funkquartiere und Wohnzimmer entstanden. Aus den


oberen Decks der Ruine wurde das provisorische Nordsee-Hauptquartier von Greenpeace. Gemütlich zwar, aber nicht anheimelnd warm. Die Temperaturen im Brent-Feld lagen in der Regel bei fünf Grad, die Besetzer schliefen zumeist in ihren roten Schutzanzügen. Die tieferen Ebenen, die Maschinenräume, Arbeitsdecks und Tankabstiege, wurden von den Besetzern zunächst nur vorsichtig erkundet, denn die Brent Spar barg erhebliche Gefahren. Der Stahlkoloss strahlt eine enorme Faszination, aber auch eine dumpfe Drohung aus. Schon im Jahr 1977 waren drei Arbeiter in einem der Decks unterhalb der Wasserlinie getötet worden. Sie erstickten an Schwefelwasserstoff-Gasen. Und 1990 hatte sechs weitere Menschen, die komplette Besatzung eines Hubschraubers, ihr Leben auf der Brent Spar verloren. Ihre Maschine war mit dem Kranausleger kollidiert und wie ein Stein vom Himmel gefallen. Christian Bussau beschreibt seine Eindrücke, als die vorsichtige Sondierung der tiefergelegten Brent Spar-Decks und die Probennahme aus den Tanks begann: "Düster, bedrückend. Wir schwitzen in unseren Schutzanzügen; die schweren Atemschutzmasken sind leicht beschlagen. Auf dem Boden steht schwarzes Wasser. Es riecht nach Öl und Maschinen. Aus den Schaltkästen hängen tote Elektrokabel; dunkle Spinde klaffen offen. Rostpocken. Hellgelbe Warnschilder überall." Die Probennahme aus den verlassenen Tanks der Brent Spar war ein schwieriges Unterfangen, aber von zentraler Bedeutung. Shell hatte sich im Versenkungsantrag auf Schadstoffmengen berufen, die bei dem "Großreinemachen" im Jahr 1991 nicht exakt bestimmt, sondern lediglich hochgerechnet worden waren. Nach diesen Shell-Angaben waren rund 30 Tonnen schwach radioaktive Salze in den Rohr- und Pumpsystemen, und das mit Öl kontaminierte Seewasser über den 100 Tonnen Bodensatz in den Tanks. Den tatsächlichen, aktuellen Inhalt der Brent Spar, die Mengen an Müll und Gift, die versenkt werden sollten, kannte niemand. Doch direkt zur untersten Arbeitsebene über den Tanks, dem M-Deck, vorzudringen, war angesichts der begrenzten Ausrüstung praktisch unmöglich. Zwei der sechs Tanks - die im Jahr 1977 beschädigten und mit Seewasser gefluteten - waren verschlossen; eine wissenschaftlich exakte Probennahme war daher nicht zu machen. Die Besetzer behalfen sich nach Rüchsprache mit dem Analyse-Labor der Universität von Exeter in England mit einer praktikablen Notlösung. Sie beschwerten Probengefässe mit Gewichten und seilten sie durch die Belüftungsrohre von drei anderen Tanks ab. Simon Reddy, der später die Ergebnisse der Probenuntersuchung im Exeter-Labor auf den Tisch bekam, wunderte


sich bereits über die ersten Resultate vor Ort: "Das Erstaunliche war, daß die Probengläser in zwei Tanks erst eine 25 Meter dicke Ölschicht durchdringen mußten, bevor wir auf verschmutztes Wasser stießen. Das konnte eigentlich nur bedeuten, daß über dem Schlamm am Boden des Tanks und dem kontaminierten Seewasser noch richtiges Öl schwamm - doch davon war im Inventar, das Shell beim Entsorgungsantrag eingereicht hatte, nie die Rede gewesen." Auch in dem letzten untersuchten Tank wurde eine Ölschicht gefunden. Reddy: "Die Tanks, das war uns klar, waren die totalen Dreckeimer." Auch sonst war die Brent Spar nicht gerade das, was man besenrein nennen würde. In den Maschinendecks stapelten sich alte Batterien, Ölfässer, Abfallsäcke, aber auch neue, noch original verpackte Generatoren. Jon Castle ortete einen Satz fabrikneuer Tauchflaschen. Asbestverseuchte Verkleidungen hingen von den Wänden. In den Gängen und tieferen Decks lagerten überall Behälter mit giftigen oder brennbaren Chemikalien. Auf einigen der Tonnen war ein gelbschwarzes Zeichen angebracht: Radioaktivität. Die Besatzer saßen auf einem undefinierbaren Giftcocktail. Nur insgesamt vier Greenpeacer verbrachten alle drei Wochen bis zur Räumung an Bord der Brent Spar. Die Moby und ein Fischerboot aus Lerwick, die Starina, sorgten für den Nachschub von den Shetland-Inseln. Sie brachten auch die Mannschaften für den wöchentlichen Crew-Wechsel. Mit den neuen Funkern, Kampagnern und Seeleuten kamen die neuen Journalisten. Sie beschrieben den Besetzeralltag, und verfassten, von der Routine frustriert, dramatische Hochseeromantik. Beispiel: "Sie könnten alle ein heißes Bad vertragen. Doch die Lebensbedingungen an Bord sind dennoch jenen vorzuziehen, denen man während der zwölfstündigen Überfahrt zur Brent Spar ausgesetzt ist. Und nicht zu reden von den schrecklichen sechs Stunden, die man wartet, bevor die Wellen den Versuch zulassen, jemand zur Plattform zu bringen. Dann, angetan mit einem hellorangen Überlebensanzug, kraxelst man eine Netzleiter in ein winziges Schlauchboot runter, wo zwei hochkompetente norwegische Ladies zwei Seemeilen weit durch drei Meter hohe Wellen mit Dir sausen. Sie tragen Bommelmützen und laufen unter dem Spitznamen "Inflatable Dolls". Doch jetzt bist Du im Schatten der Brent Spar, die rostig, trostlos und nach Öl stinkend über Dir thront. Ein großer Haken wird am Geschirr um deine Brust befestigt, dann wirst Du beinahe 30 Meter hochgezogen auf die Decks." "Ach, der Alltag war öde, aber irgendwie auch ziemlich witzig", sagt David Sims. Sims, ein kleiner stämmiger Brite mit schwarzem Schopf, ist freier Photograph. Er war im Auftrag von Greenpeace an


Bord gekommen und drei Wochen lang der visuelle Chronist der Ereignisse. Wenn er ins Erzählen kommt, ist er kaum aufzuhalten. "Wir hatten echt unsern Spaß. Am Abend haben wir meist Roulette gespielt, mit Ronan als Croupier. Ich hätte mich totlachen können über Ronan, wenn er sich mit seinem Slang so aufplusterte und kommandierte: Monsieurs, Madams, fait vous jeu, fait vous jeu maintenant..." Ronan, der Franzose, war auf die Shell-Insel gekommen, weil der vorgesehene Koch drei Tage vor der Abfahrt der Moby Dick abgesprungen war. Keiner kannte Ronan genauer, doch seine Referenzen klangen verlockend: Lehre in einem Grand-Hotel in Paris, dann Anstellung in einem Londoner Novelle Cuisine-Tempel. Warum also nicht? Ronan machte das Beste aus der Brent Spar. Er würdigte der Mikrowelle, die Shell zurückgelassen hatte, keinen Blick, aber zauberte auf zwei Gasflammen täglich mehrgängige Menüs: Gartenkräuter von der Moby Dick, Frischfisch vom Angelhaken aus der Nordsee. Sims: "Auf zwei Sachen konnte man auf der Spar bauen. Die Fischfilets waren nicht älter als eine Stunde und zu allem gab es saus, echte französische saus mit Knoblauch. Ohne Knoblauch-Soße ging bei Ronan gar nichts." Shell mußte das Feinschmecker-Camp räumen. Das Brent-Feld war Öl-Land. An Tagen mit guter Sicht waren bis zum Horizont fast dreißig der riesigen Förderplattformen auszumachen, die sich die Öl-Multis wie moderne Kathedralen errichtet hatten. Es war ihre Schatzkammer, ihr großes Reich, hier draußen; ihr Wort war hier Recht und Gesetz. In Öl-Land waren Kläger, Richter und Henker eins. Greenpeace war provokativ in ihre Domäne eingedrungen; ihre Ruhe gestört, sich in ihrem Hinterhof breitgemacht, sie vorgeführt. Jeder Tag der Besetzung hatte Shell Expro geschmerzt wie ein Stachel im Fleisch. Shell räumte die Brent Spar, wegen des aufgekommenen Wetters mit rund 24 Stunden Verspätung, am 23. Mai gegen sechs Uhr in der Früh. Wind und Seegang hatten nachgelassen; die Stadive konnte eine Enter-Mannschaft am Kran übersetzen. David Sims: "Sie kamen mit ihren Leuten und ihrem Korb viel schneller über die Seile und Barrikaden, als wir gedacht hatten, und landeten. Nun, ich meine, sie sind im wahrsten Sinne des Wortes aus mindestens einem Meter gelandet. Der Eisenkorb fiel runter, machte bäng!, und dann lag er auf Deck." "Sie kamen also runter, sprangen raus und haben sie sich als ersten Frank geschnappt, und ihn an allen Vieren in den Korb gezerrt. Ich stand dabei und habe meine Photos gemacht. Da kam der Shell-Häuptling, und meinte: Sie da, Sie können hier keine Fotos machen! Hören Sie, keine Fotos


hier! Dabei hat er immer sein Hand vor mein Objektiv gehalten. Ich hab weiter auf den Auslöser gedrückt, und gesagt: Danke, Sir! Und er glotzte mich an, und sagte: Für was denn? Und ich drauf: Sir, sie haben gerade ein astreines Bild abgegeben. Shell hindert freien Presse-Photographen bei der Arbeit. Verstehen Sie, Sir?" Die Räumung der Brent Spar, die am frühen Morgen begonnen hatte, dauerte den ganzen Tag an. Die Besetzer, die sich auf dem Landedeck und in den Wohnquartieren festgekettet hatten, wurden mit Zangen und Bolzenschneidern losgemacht. Am Abend waren nur noch Jon Castle, Al Baker und David Sims auf der Plattform. Baker und Sims hatten die letzten Stunden auf der Spitze eines Turms zugebracht, bevor sie ihren Hochsitz freiwillig verließen. Jon Castle hatte sich in die tieferen Decks zurückgezogen und ging, wie es sich für den Kapitän gehört, als Letzter von Bord. Während die Bilder der Räumung in halb Europa auf Sendung gingen, warteten die Greenpeacer und die mitgeräumten Journalisten im Innern der Stadive auf ihren Abtransport zu den ShetlandInseln. Die Brent Spar war wieder in Shells Händen. Doch die Stimmung war bombig, nicht zuletzt, weil David Sims eine unglaubliche Geschichte auf Lager hatte: "Ich packe also meine Filmrollen und die Videocassetten wie abgesprochen in die wasserdichte Rettungsbox, und ab damit über Bord. Dreißig Meter, bäng!, schlägt sie auf dem Wasser auf. Funkruf an Anita im Schlauchboot: Habt ihr die Kiste? Und sie nach einer Pause: Nein, verflucht. Das Ding ist abgetrieben. Wir können die Kiste nicht mehr sehen. Ich denk nur: Fuck, das darf doch nicht wahr sein! Die ganzen Aufnahmen von der Räumung. Alles Futsch, treiben jetzt in der Nordsee in dieser blöden Rettungsbox.” “Und dann, so nach rund fünf Minuten, kam Anita wieder über Funk rein und sagte bloß: Dave, wir haben sie wieder.” "Stellt Euch vor: Die hatten die Box im Boot, aber eine Welle hat sie rausgespült, und weg war sie. Verzweiflung. Und in ihrer Not sind sie losgefahren, zu jedem von den Shell-Schlauchbooten, die rundum im Wasser waren. Haben dummdreist nachgefragt: Sagt mal, ist hier vielleicht unsere Rettungsbox vorbeigeschwommen, so eine rote?" "Und einer von den Shell-Leuten sagt doch tatsächlich: Äh, ja, Mädels. Hier ist eine vorbeigekommen. Ist sie das hier? Und Anita ganz cool: Ja, genau, das ist unsre. Schmeiß mal


rüber." "Anita fängt das Ding auf, sagt noch: Schönen Dank, Jungs!, und ab durch die Mitte zum wartenden Hubschrauber. Irre."


6. Der Multi mit der sauberen Muschel

Marcus Samuel, mit dem die Geschichte der gelben Muschel auf rotem Grund beginnt, residierte 1889 in einer nicht gerade noblen Gegend. Der Londoner Kaufmann betrieb seine Geschäfte von einem kleinen Büro in einer Seitengasse in Houndsditch im Eastend, nicht weit von den Docks und den dunklen Spelunken, in denen die Segler, die Frachter und ihre Matrosen einliefen. Hinter dem Büro befand sich das Lager von M. Samuel & Co., zugestellt und vollgestopft mit einem bunten Allerlei aus "japanischen Vasen, importierten Möbeln, Seide, Muscheln" und sonstigen Kuriositäten, das Samuel an andere Händler weiterverkaufte. Der Kaufmann wäre wohl, wie sein Vater vor ihm, sein Leben lang ein "Muschelhändler" geblieben, wenn nicht 1890 der Makler Fred Lane mit einer interessanten Geschichte und einem spannenden Angebot zu ihm gekommen wäre. In den Vereinigten Staaten war nach der ersten erfolgreichen Bohrung nach Öl, die Edwin "Colonel" Drake im August 1859 in Titusville, Pennsylvania, niedergebracht hatte, ein fast religiöser Ölwahn ausgebrochen, vergleichbar nur mit dem legendären Goldrausch. "Es ist das Licht der Epoche", schrieb der Verfasser von Amerikas erstem Öl-Handbuch begeistert. "Wer es nicht brennen gesehen hat, mag mir getrost glauben, daß sein Licht kein Mondschein ist; schon eher so etwas wie das klare, starke, leuchtende Licht des Tages, an dem die Mächte der Finsternis nicht teilhaben..." Drei Jahre nach den ersten Eimern, die Colonel Drake aus der Finsternis der Erde geholt hatte, wurden in Pennsylvania bereits drei Millionen Barrel Öl jährlich gefördert; 1871 öffnete die erste Ölbörse der Welt in Titusville ihre Pforten. Die Suche nach dem Leuchtstoff war zu einer Industrie mit unbändiger Energie geworden, und an ihre Spitze setzte sich John D. Rockefeller. Der Sproß einer Familie, in welcher der Vater unter einem falschen Doktor-Titel noch Kräuter und rezeptfreie Wundermittel verkaufte, hatte eine Raffinerie nach der anderen gekauft und gebaut, Pferdekutschen gemietet und Transportwege erschlossen, Pipelines legen lassen - und hart daran gearbeitet, die Nummer eins im amerikanischen Öl-Geschäft zu werden. Um 1880 hatte er, trotz öffentlicher Anfeindungen und einer Klage wegen verbotener Monopolstellung, sein Ziel erreicht; seine Standard Oil Company kontrollierte fast neunzig Prozent der amerikanischen Raffinerien sowie der Transportwege des Öls, und erhielt einen neuen Namen, der vielen wie eine düstere Drohung klang: Trust.


Sich mit dem allgegenwärtigen Trust anzulegen, war gefährlich, denn Rockefellers Firmen und leitenden Angestellten reagierten auf jede Gefährdung ihrer Position und ihrer Märkte wie eine gereizte Klapperschlange. Sie schnappten und bissen zu; entweder mit knallharten Kampf- und Dumpingpreisen am Markt, bis der unliebsame Konkurrent Pleite gegangen war, oder aber mit wohl kalkulierten und verlockenden Übernahmeangeboten. Das wußten auch die europäischen Finanziers und Bankhäuser wie etwa die französischen Rothschilds, die mit dem Gedanken spielten, ins ÖlGeschäft und vor allem in die neu ergründeten russischen Ölvorkommen am Kaspischen Meer zu investieren. Sie brauchten dazu Hassadeure und risikobereite Strohmänner - und Makler Fred Lane suchte einen Kaufmann, der im Auftrag der Rothschild-Dynastie den Transport von russischem Erdöl vom Schwarzmeerhafen Batumi nach Asien und anderen neuen Absatzmärkten organisieren sollte. Marcus Samuel verstand sofort, welche unerhörten Gewinnchancen in dem Vorschlag lagen, griff trotz der Risiken ohne zu Zögern zu - und brachte eine technische Neuerung in das Geschäft ein, die das Unternehmen erst rentabel machen sollte: Tanker. Denn bis zu diesem Zeitpunkt war der Stoff, den immer mehr Menschen Brennstoff und Licht ins Dunkel brachte, auch auf See sehr kostenaufwendig in Fässern, großen Korbflaschen oder Kanistern transportiert worden. Samuel gab heimlich, um das Augenmerk des Giganten Standard Oil nicht auf den Rothschild-Plan und die asiatischen Märkte zu lenken, den Bau eines Tankers in Auftrag. Er schaffte es mit Hilfe cleverer Rechtsanwälte, trotz erheblicher Sicherheitsbedenken eine Durchfahrtsgenehmigung durch den neuen Suez-Kanal zu bekommen, und füllte in Batumi die Tanks. Im Juli 1892 erreichte die Murex, der erste Tanker mit dem Muschel-Emblem am Schornstein, den Hafen Singapore. Schon zehn Jahre später gehörten neunzig Prozent der enormen Mengen Öls, das durch den Suez-Kanal nach Asien gingen, Samuels Shell. Die neuen roten Kanister, in denen das Tanker-Öl umgefüllt und weiterverkauft wurde, lösten die verbeulten blauen Transport-Behälter der Standard Oil ab. 1893 liefen bereits zehn Tankschiffe, die allesamt Muschel-Namen wie Murex trugen, unter der britischen Shell-Flagge, und Samuel war so erfolgreich, daß er ein Übernahmeangebot der Standard Oil ablehnen konnte. Um sein Gesellschaftskapital auf gesunde Beine zu stellen, nahm er im Jahr 1897 ein Dutzend andere Londoner Kaufleute mit ins Boot und gründete die Shell Transport and Trading Company.


Sieben Jahre zuvor, im Sommer 1890, hatte der Holländer Aeilko Jan Zijlker, der Manager einer Tabakplantage im niederländischen Ostindien, die "Koninklijke Nederlandse Maatschappij tot Exploitatie van Petroleumbronnen in Nederlandsch-Indie" oder auch kurz "Royal Dutch" gegründet, nachdem er in den unzugänglichen Sümpfen Sumatras durch Zufall auf Öl-Quellen gestoßen war. Nach den damals üblichen Anfangsschwierigkeiten - wie Malariaanfällen, Hungersnöten unter den chinesischen Arbeitern, Piratenangriffen und Pipelinebrüchen - wurde 1992 die erste Raffinerie mit Rohöl beliefert. Auch Royal Dutch wurde, nachdem es erste Gewinne vorweisen konnte und sich einen bedeutenden regionalen Markt in Südostasien erobert hatte, von Standard Oil mit einem guten Angebot geködert. Doch erfolgreiche Verhandlungen wurden schließlich zwischen den Holländern und Samuels Shell geführt: Ihre Firmen ergänzten sich von der Struktur her fast ideal. Während Shell, mit einem blendend organisierten Vertriebssystem, nach eigenen Förderquellen suchte und damit von den russischen Lieferungen der Rothschilds unabhängig werden wollte, brauchte Royal Dutch mit den eigenen Feldern in Sumatra dringend einen verläßlichen Vertriebspartner. Im Jahr 1907 wurde die Vernunftehe der beiden Firmen besiegelt - sie hieß von nun an Royal Dutch/Shell-Gruppe - oder auch nur "die Gruppe" -, und an der Spitze stand unangefochten nicht Marcus Samuel, der auf seine alten Tage noch Bürgermeister von London wurde, sondern der junge und dynamische Holländer Henri Wilhelm August Deterding. Die beiden unsprünglichen Firmen blieben weiter bestehen und wurden zu Holdings umgewandelt; obwohl die Royal Dutch sechzig Prozent der Gesellschaftsanteile an den Tochtergesellschaften und die Shell Transport und Trading nur vierzig Prozent hielten, bürgerte sich der letztere Name ein: Shell. Mit der Fusion begann der Siegeszug der Muschel. Während Standard Oil unter dem Druck der amerikanischen Anti-Trust-Gesetze im Jahr 1911 entflochten und in mehrere unabhängige Mineralölgesellschaften umgewandelt wurde, wuchs die Gruppe stetig. Der Verbrauchsboom nach dem Ersten Weltkrieg, der Siegeszug des Verbrennungsmotors, der aus dem Leuchtstoff für Lampen den Lebenssaft der Mobilität machte, und die Welle der weltweiten Industrialisierung spülte die multinationalen Ölkonzerne immer weiter nach oben. Shell war an der Spitze mit dabei; Im Jahr 1936 kontrollierte die Firma rund zehn Prozent der weltweiten Produktion. Der Visionär Deterding hatte mit einer perfekten Witterung für große gewinnbringende Investitionen und einer starken Führungshand aus den beiden


Schwesterunternehmen einen weltumspannenden Konzern gemacht. Er herrschte über den Konzern wie über seinen Privatbesitz: "Sir Henris Wort ist Gesetz," zitiert Daniel Yergin in seinem Buch Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht einen hohen britischen Beamten. "Er kann den Vorstand von Shell zu allem möglichen verpflichten - ohne dessen Wissen und Einverständnis." Deterding wurde, darauf verweisen inoffizielle Biographen, mit zunehmendem Alter immer schrulliger, und wie Yergin bemerkt, "zu einer Peinlichkeit für das Management". Inzwischen ein alter Herr von Anfang siebzig, entwickelte er Vorlieben, die seinen Ruf als "größten Ölmannes des beginnenden Jahrhunderts" nachhaltig beschädigen sollten. Im Jahr 1936 begeisterte er sich unter dem Einfluß seiner jungen deutschen Sekretärin und Geliebten für nationalsozialistische Ideen und wurde ein glühender Verehrer von Adolf Hitler. Als er begann, Geheimverhandlungen mit den Nazis über die Lieferung eines Jahresbedarfs an Erdöl - die Kriegsreserve - zu führen, und ihnen private Gelder zukommen ließ, wurde er gezwungen, die Führungsposition bei Shell zu verlassen. Doch Deterdings enge Liaison mit den Nazis - er verbrachte seinen Lebensabend auf einem Gut in Pommern und starb kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges - hatte einen ersten Schatten auf die strahlend gelbe Muschel geworfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Zeit der großen Shell-Magnaten vorbei. Deterdings Nachfolger an der Spitze der Gruppe führten den Konzern mit weniger öffentlichem Aufsehen und exzentrischer Verve, aber mit gleichem Erfolg. Bei allen erfolgreichen Öl-Deals nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute, wie etwa bei der Erschließung der Kuwait-Quellen, bei der Öffnung des Irans, dem Aufschluß der Nordsee oder den großen Investitionen in Alaska - Shell war entweder direkt daran beteiligt oder profitierte zumindest davon. Das britisch-niederländische Unternehmen wurde ein - im Branchenjargon - "voll integierter Konzern" und eine wahrlich weltumspannende Organisation. Sie agierte globaler, straffer gelenkt und erfolgreicher als vergleichbare internationale Zusammenschlüsse auf politischer Ebene wie etwa die Vereinigten Nationen. Denn im Gegensatz zu dieser muß Shell keine verschiedenen, widersprüchlichen Interessen ausgleichen, sondern nur einem einzigen, eigenen Zwecke folgen: Gewinn. Die Royal Dutch/Shell-Gruppe, aus einem einzigen Tankschiff des Londoner Muschelhändlers Samuel entstanden, ist inzwischen nach den Automobilherstellern General Motors und Ford der drittgrößte Konzern der Welt. Die individuelle Mobilität, mit dem Aufkommen des Verbrennungsmotors geboren und seit den sechziger Jahren zum


Fetisch der Freiheit verklärt, steht damit an der Spitze der weltweiten Produktivitätsskala: Zwei Firmen bauen die Autos, die dritte füllt die Tanks. Die Gruppe operiert heute weltweit in über 130 Ländern und beschäftigt 110.000 Menschen in rund 2000 Tochtergesellschaften. Die Zeit schreibt: "Der Wert der Aktien der beiden Holdings an der Spitze beträgt an der Börse über 100 Milliarden US-Dollar, einsame Spitze in Europa. Ein Bruttoumsatz von 129 Millarden US-Dollar im Jahr 1994 entspricht dem Dreifachen der Wirtschaftsleistung Nigerias. Der Nettogewinn von fast 6,3 Milliarden US-Dollar (ein Plus von 39 Prozent gegenüber 1993) ist größer als der Umsatz des deutschen Reifenherstellers Continental." Diese Rendite, soviel wie die Gewinne der Firmen Daimler-Benz, Siemens, Hoechst, Veba, BASF und Viag zusammengenommen, macht die Shell-Gruppe nicht mehr allein im Erdöl- oder Erdgassektor. Das Management hat frühzeitig diversifiziert, ist inzwischen im Kohle- und Metallgeschäft vor allem in den USA, Australien und Südafrika aktiv, und hat einen Standbein in der petrochemischen Industrie: Shell ist in dieser Branche globaler Marktführer. Andere Töchter haben den Konzern weltweit unter das erfolgreichste Dutzend der Pestizid- und Saatgutproduzenten katapultiert. Wer allerdings welchen Anteil an dem immensen Gruppen-Gewinn einfährt, ist schwer zu übersehen, denn Shell hat eine für einen multinationalen Konzern einzigartige Unternehmensstruktur. An der Spitze der Gruppe stehen wie zu Samuels und Deterdings Zeiten die beiden unabhängigen niederländischen und britischen Unternehmen Royal Dutch und Shell Transport and Trading. Sie kontrollieren zu je 60:40 Anteil drei "Gruppen"-Holdingunternehmen kontrollieren: die Shell Petroleum NV in Den Haag, die Shell Petroleum Co. Ltd. in London und die Shell Petroleum Inc. in den USA. Diese drei "Gruppen"-Unternehmen unterhalten wiederum "Service Unternehmen" wie z.B. Shell Marine, Shell Chemical oder Shell Research, die in der Theorie den 2000 weltweit verstreuten "Betriebsgesellschaften" die gesamte Forschungs- und Logistikerfahrung des Konzern zur Verfügung stellen. Doch spätestens hier wird es unübersichtlich. Die 2000 Töchter unterstehen nämlich nicht direkt den "Gruppen-Holdings", sondern Regionaldirektoren und 130 nationalen "Ländergesellschaften" wie etwa Shell UK, der Deutschen Shell AG oder Shell Nigeria. Shell ist im Vergleich zu anderen weltweiten Multis kein Polyp mit einem Zentralhirn und langen, weitreichenden Tentakeln, sondern ein rhizomartiges Wesen. Nach dem schwerfälligen "Matrix-


System", das die amerikanischen Unternehmungsberater von McKinsey in den fünfziger Jahren für den Konzern austüftelten, hat der Manager einer nationalen "Betriebsgesellschaft" mindestens zwei, oft drei Vorgesetzte, denen er verantwortlich ist - einen für die Region, einen im Land, und einen für das Sachgebiet. Gleichzeitig, und anders etwa wie beim Hamburger-Multi McDonalds, wo jede noch so kleine Änderung des Fahr- und Speiseplans von der Zentrale im amerikanischen Oakbrook, Illinois abgesegnet werden muß, genießen die Shell-Leute vor Ort freie Hand. Peter Duncan, Vorstandschef der Deutschen Shell, über das verwirrende Shellsche Satellitensystem: "Diese Unternehmensgruppe gibt den einzelnen Töchtern eine sehr große Selbständigkeit. Das ist eine unserer Stärken." Landesfürsten wie Peter Duncan sind wie die Bosse der großen "Betriebsgesellschaften" wie z.B. Shell Expro frei in ihren Tagesentscheidungen, solange sie profitabel arbeiten. Die ferne Konzernleitung in den Hauptquartieren Den Haag und London wird nur konsultiert, wenn es um die wichtigen, langfristigen Investitionen geht. Diese Konzernspitze, die selten per Dekret eingreift, aber doch das überragende Sagen hat, ist ein erlauchter, handverlesener Kreis: Im sogenannten "Committee of Managing Directors (CMD)" sind die beiden Mütter Royal Dutch und Shell Transport and Trading sowie die Gruppenholding-Gesellschaften vertreten, schön ausgewogen im Verhältnis 60 zu 40 zugunsten der Niederländer. Vorsitzender ist derzeit der Niederländer Cornelius Herkströter, von 1985 bis 1988 Vorsitzender der Deutschen Shell. Nach Ansicht eines deutschen Shell-Mitarbeiters ist bei CMD-Sitzungen von den Niederungen des Alltagsgeschäftes und dem Wind, der dem Weltkonzern auf dem schwer umkämpften Öl-Markt ins Gesicht bläst, wenig zu spüren: "Wer bei Shell einmal in diesen Olymp vorgetrugen ist, bei dem fließt längst feinstes Öl in den Adern. Der gehört zu den Erleuchteten, der ist nicht mehr von dieser Welt." Um die weltlichen Dinge kümmern sich die Gemeinen von Shell, die allerdings nach Einschätzung des britischen Wirtschaftsblattes Economist ebenfalls eine besondere Spezies Mensch darstellen: "Der Mann von Shell ist durchdrungen von Treue zum Unternehmen, ist ein Diplomat in Verhandlungen mit Regierungen und hat einen entschieden internationalen Ausblick." Und daß bei 130 Länderorganisationen und 2000 Betriebsgesellschaften unzählige Kapitäne auf den Brücken stehen und den jeweiligen Kurs anlegen, hat einen unschätzbaren Vorteil für den Konzern: Er ist mit diesen revierkundigen Crews an Bord in rauhen Zeiten fähig, örtliche Klippen jeglicher Art und vor


allem politisch aufgewühlte Seen zu umschiffen. Shell hat es in der Vergangenheit in vielen brenzligen Situationen meisterlich verstanden, sich der lokalen Wetterlage anzupassen, und - immer das eigentliche Ziel Unternehmensgewinn im Auge mit dem gerade herrschenden Wind im Rücken zu segeln. Das ist wichtig, wenn man in Ländern wie Nigeria, Iran, Burma oder Regionen wie dem indonesischen Ost-Timor, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, in aller Ruhe seinen Bohrgeschäften nachgehen will. Doch in vielen Ländern geht die Rechnung nicht so einfach auf. Beispiel: Südafrika. Im Jahr 1990, als sich die Gründung von Royal Dutch zum hundersten Mal jährte und der Multi Geburtstag feierte, wurde Shell vom Weltkirchenrat, internationalen Gewerkschaften und einer Unzahl von Menschenrechtsgruppen vor allem in den USA und Großbritannien massiv kritisiert. Die AntiApartheid-Bewegung warf dem Konzern vor, die wesentliche Stütze des weißen Regimes in Südafrika zu sein und kräftig am Rassismus zu verdienen. Ein weltweiter Boykott-Aufruf gegen Shell war im Umlauf. Jubelstimmung konnte daher bei den Jubiläumsfeierlichkeiten nicht aufkommen. In Den Haag wurde das Hauptquartier des Konzerns von Protestierern stundenlang belagert; erst ein ruppiger Polizeieinsatz machte den Beschäftigten den Weg an die Schreibtische frei. Schon in den Monaten zuvor waren rund 200 holländische Tankstellen durch Sabotage und Brandstiftung beschädigt worden. In Deutschland hatte das Special Interest-Magazin "Radikal - das Fachblatt für alles, was Terroristen Spaß macht" dem Thema "Shell-Tankstellen" vierzig Seiten gewidmet und Aktionen in mehreren Großstädten angekündigt. Die Anti-Apartheid-Bewegung konnte seriöse und gewichtige Argumente gegen Shell vorbringen. So stammte rund ein Fünftel des von Südafrika benötigten Öls von Shell, obwohl ein internationaler Boykott gegen die Rassisten ausgerufen worden war und die EU-Staaten 1988 zugestimmt hatten. In der Nähe von Durban stand die größte Raffinerie des Landes, die zwei Drittel des Ölbedarfs Südafrikas deckte. Besitzer: zur Hälfte Shell. Doch Shell weigerte sich, seine Kap-Filialen zu schließen, und lieferte umgerechnet täglich 800 Tonnen Erdöl an die Armee des Landes. Hans Branscheidt, damals Sprecher der Hilfsorganisation Medico International: "Der Konzern hilft wesentlich dabei, die schwarze Bevölkerungsmehrheit zu unterdrücken." Auch James Motlatsi, im Jahr 1990 der Chef der afrikanischen Minenarbeitergewerkschaft und ein wichtiger Mann des African National Congress ANC, fand für das "Schmiermittel der Apartheid" deutliche Worte: "Shell liefert Öl


an eine Regierung, die unschuldige Frauen und Kinder tötet. Shell muß Südafrika verlassen, das ist der einzige Schritt in die richtige Richtung." Motlatsi vertrat die Arbeiter in den großen Kohlegruben des Landes, die ebenfalls auf der Boykott-Liste standen, und an denen Shell gewichtige Anteile hielt. Das war vor allem für die Boykotteure in den Niederlanden interessant. Ihnen waren vertrauliche Konzern-Unterlagen zugespielt worden, die eine plötzliche Exportsteigerung von "niederländischer" Shell-Kohle nachwiesen. Nur: In dem Land hinter den Deichen wird gar keine Kohle abgebaut. Der damalige Shell-Chef in Südafrika, John Wilson, gab den Apartheid-Gegnern zumindest moralisch Recht. Er erkannte auch an, daß man unter strategischen Gesichtspunkten für einen Boykott "kein größeres oder besseres Objekt hätte auswählen können". Doch der Boykott selbst sei nicht gerechtfertigt. Das Unternehmen verurteile nämlich das Unrechts-Regime in Pretoria, und "tue alles, was möglich ist, um dieses Unterdrückungssystem auszurotten." Doch im Gegensatz zu anderen Weltfirmen wie General Motors, IBM, Esso, Kodak oder der britischen Barclays Bank entschied sich Shell, in Südafrika zu bleiben. Offizielle Begründung, die auch heute noch bei Nachfragen gilt: Shell könne vor Ort mehr für die Überwindung des Apartheid-Systems tun als durch einen Abzug. Das Verlassen des Landes würde den Einfluß einer Firma schwächen, "die entschieden in Opposition zu Apartheid steht und für eine Veränderung arbeitet." Eine der erfolgreichsten Maßnahmen, um zumindest unter der schwarzen Bevölkerung Südafrikas um Verständnis für diese Position zu werben, war die Shell-Anzeigenkampagne in der Wochenzeitung "Weekly Mail". Das Sprachrohr der Schwarzen, in dem regelmäßig zum Shell-Boykott aufgerufen worden war, und ständig Gefahr lief, von den weißen Behörden verboten zu werden, erhielt plötzlich ganzseitige und gutbezahlte Anzeigenvorlagen zu den politisch heißen Themen Menschenrechte und Pressefreiheit: "Shell unterstützt das Recht aller Menschen, zu leben, wo sie wollen." hieß es da. Oder: "Man kann die Presse zum Schweigen bringen, aber nicht die Menschen. Die Menschen wollen die Weekly Mail." Was Shell tatsächlich bewogen hat, den Boykott und die jahrelangen Anfeindungen der AntiApartheid-Bewegung durchzustehen und dafür in Dänemark und Großbritannien kurzfristige Umsatzeinbußen von sieben Prozent hinzunehmen, mag die heutige Marktposition im schwarzen Südafrika erklären. Shell ist unangefochten Nummer Eins im Lande, die Marke der schwarzen Townships und fährt die Ernte des langen Marktvorsprungs gegenüber den anderen


Ölgesellschaften ein. Der ANC mit Nelson Mandela an der Spitze, der einst wie der Südafrikanische Kirchrat und Bischof Tutu den Shell-Boykott begrüßte, hat dem einstigen Gegner längst verziehen. Shells Südafrika-Mann John Wilson: "Das primäre Ziel eines Betriebes ist, langfristig profitabel zu bleiben." Neben der anrüchigen Südafrika-Episode findet sich in der jüngeren Firmenchronik das weitaus düsterere Kapitel "Ogoniland im Niger-Delta". Das mit 20.000 Quadratkilometern größte Flußdelta Afrikas besteht aus rund einem Drittel nahezu unberührten Mangrovenwäldern, einem Drittel Süßwassersümpfen und einem Drittel ehemaligen Regenwäldern. Die Wälder sind inzwischen unter dem hohen Bevölkerungsdruck und der Industrialisierung der Region fast vollständig gerodet und in Nutzflächen umgewandelt. Die Konkurrenz um diese Nutzflächen ist enorm: Das Niger-Delta wird von rund 6,5 Millionen Menschen, die sich auf fast zwei Dutzend ethnische Gruppen verteilen, bewohnt, und nur rund 25 Prozent der gesamten Fläche bleibt von den regelmäßigen Flutkatastrophen verschont. Seit dem Jahr 1958 fördert Shell Nigeria (SPDC) in dieser Ballungsregion Öl - das Zentrum der Förderung liegt auf dem rund 1000 Quadratkilometer großen Siedlungsgebiet der Ogonis. 550.000 Menschen leben hier. Die Förderlizenz halten gemeinsam Shell Nigeria (30 Prozent), die französische Firma Elf (10 Prozent), die italienische Agip (5 Prozent) und die staatliche Gesellschaft Nigerian National Petroleum Corporation NNPC (55 Prozent), wobei Shell vor Ort als "Operator" fungiert und die Felder betreibt. Richard Tockey, der frühere Chef der Öffentlichkeitsarbeit bei Shell International in London, erklärte 1992 in einem Brief, welche Maßstäbe Shell Nigeria (SPDC) bei der Erschließung und der Ausbeutung der Quellen anlegt hat: "SPDC versucht zu jeder Zeit, den Einfluß seiner Tätigkeit auf die Umwelt zu minimieren, und gleichzeitig sicherzustellen, daß die lokalen Anwohner wirkliche Vorteile daraus ziehen, Shell als Nachbarn zu haben." Hehre Worte. Die ausgiebigen Recherchebesuche von Umweltschutz- und Menschenrechtsgruppen zeichnen ebenso wie die Vorträge von Ogoni-Vertretern beim Umweltgipfel in Rio ein völlig anderes Bild. Das dicht besiedelte Ackerland am Niger wird von einem dichten Netz von Bohrtürmen und Pipelines überzogen; die Flammen der unzähligen Abfackelstationen erinnern an Kuwait nach der irakischen Invasion. Greenpeace, Amnesty International, die Gesellschaft für bedrohte Völker oder Friends of the Earth unisono: Shell hat das Niger-Delta ruiniert und den Ogonis


das Leben zur Hölle gemacht. Prinzessin Irene Amangala, die Tochter des traditionellen Königs von Ogbia im Delta, erinnert sich an den Beginn des Ölbooms: "Damals schon kam es zum ersten großen Leck, das Öl kam einfach aus dem Boden, und dagegen waren sie machtlos. Das Öl vermischte sich mit den Flüssen, zuerst starben die Fische, dann die Felder, und das Land wurde unfruchtbar." Seit diesen ersten Tagen hat sich nicht viel verbessert. Erstes Beispiel: Pipelines. Die Hochdruckleitungen, in denen das Öl zu den Raffinerien gepumpt wird, laufen wie ein Spinnennetz über das Land der Ogonis. Die Ogonis wurden, selbst wenn der Strang über Ackerland oder in die Nähe von Dörfern führte, bei der Verlegung oder beim Ausbau nicht gefragt. Im Vergleich dazu: Als Shell 1992 eine Rohrleitung vom britischen Cheshire nach Schottland verlegen ließ, wurden vor dem ersten Spatenstich 17 Umweltprüfungen mit Bürgerbeteiligung durchgeführt. Zweites Beispiel: Lecks. Nach Angabe der Badischen Zeitung in Freiburg vom 14.6.95 räumt Shell ein, daß es jährlich zu mindestens 200 kleineren Rohrleitungsbrüchen kommt. In einem Fall, zwischen Juli und August 1993, floß Öl geschlagene 40 Tage lang aus einem Rohr. Nach Konzern-Angaben passieren rund 40 Prozent aller weltweiten Shell-Leckagen in Nigeria, sie seien allerdings, so Shell in seiner englischen Publikation "The Ogoni Issue", in Ogoniland zu fast 70 Prozent "auf Sabotage der Anlagen" zurückzuführen. Dem widerspricht eine Studie des nigerianischen Petroleum-Ministeriums, die bei der Bewertung der Schadensfälle auf maximal 18 Prozent Sabotage kommt. Beispiel Nummer Drei: Kompensation für Flächen, die Shell für seine Anlagen und Bohrungen braucht. Die Ogonis, aus deren Boden Shell seine Reichtümer bezieht, sind bis heute auf wenige Ausnahmen bettelarm, und leben wie in Flüchtlings-Camps neben den Anlagen. Shell beharrt darauf, daß "die Firma ohne angemessenen Ausgleich und Zustimmung der Besitzer niemals Land erworben hat." Beim Erdgipfel in Rio dagegen warfen die Ogoni-Vertreter dem Konzern vor, mit Strohmännern in den Dörfern zu verhandeln und in den meisten Fällen nicht für das erworbene Land, sondern nur für den Ernteausfall zu bezahlen. Die Vorwürfe der Ogonis werden durch ihre Aussagen unter Eid vor einer staatliche Untersuchungskommission gestützt: "Die Kompensationen für die erlittenen Verluste sind Hungerlöhne, klägliche Hungerlöhne, von denen die Leute nicht einmal sechs Monate existieren können und die Lust am Leben verlieren." Daß Shell bei seiner Ölförderung in Nigeria - die Hälfte der Landesförderung und immerhin im Wert


von 30 Milliarden US-Dollar in 35 Jahren - bisher andere Standards angelegt hat als in Europa, auf Umweltprüfungen verzichtete, veraltetes Gerät zu spät ersetzte, und die Ogoni-Bevölkerung für ihr Land mit Almosen abspeiste, ist schon Skandal genug. Doch wer sich im Niger-Delta dagegen wehrt, wird von den herrschenden Militärs, die an jedem Liter Shell-Öl mitverdienen, brutal unterdrückt und riskiert sein Leben. Ogoniland ist, seit General Sani Abachi im November 1993 seinen Vorgänger General Babangida von der Macht puschte, von den nigerianischen Streitkräften besetzt und de facto Kriegsgebiet. Als 1990 Einwohner der Ortschaft Umuechem gegen die Ölförderung protestierten, wurde nach Anforderung von Shell eine Polizeispezialtruppe eingesetzt, um eine Demonstration zu verhindern. Nach Angaben von Amnesty International wurden dabei 80 Leute erschossen und rund 500 Häuser niedergebrannt. 1992 wurden im Dorf Bonny bei der Niederschlagung einer Demonstration eine Frau erschossen und 30 Personen durch Kugeln verletzt. Als am 30. April 1993 amerikanische Pipeline-Bauer im Auftrag von Shell Rohrleitungen auf frisch angepflanztem Ogoniland verlegen wollten, wurden sie von Soldaten eskortiert. Als 10.000 Ogonis protestierten, eröffneten die Soldaten wieder das Feuer. Ein Demonstrant wurde durch einen Schuß in den Rücken getötet. Nach übereinstimmenden Angaben von Amnesty und der Unrepresented Nations and Peoples Organisation (UNPO) in Brüssel wurden seit August 1993 fast 30 Ogoni-Dörfer von frei marodierenden Militäreinheiten angegriffen und teilweise geplündert, dabei seien über Tausend Menschen zu Tode gekommen. Der Vorsitzende der deutschen Gesellschaft für Bedrohte Völker, Tilman Zülch, hält diese Zahl für zu niedrig. Er sagt: "Mindestens 2.000 Ogonis sind seit 1993 bei Überfällen der Armee auf ihre Dörfer ums Leben gekommen, mehr als 30.000 wurden obdachlos." Das Militär geht so grausam vor, weil die Einnahmen aus der Ölförderung - mit über 80 Prozent fast das alleinige Standbein des Staatshaushaltes und Quell des privaten Reichtums der Obristen - mit allen Mitteln aufrecht erhalten werden soll. In einem internen Dokument des nigerianischen Geheimdienstes, das im Frühjahr 1995 in die Öffentlichkeit drang, heißt es: " - Polizei in Ogoniland seit 1993 ineffektive - Shell-Aktivitäten immer noch unmöglich, wenn nicht skrupellose Militäroperationen unternommen werden." Der Geheimdienst schlug vor, 400 weitere Soldaten zu schicken, und Förderdruck auf die Öl-Gesellschaften auszuüben. Das Militärregime in Lagos versucht außerdem, jede Stimme des Widerstands gegen die unheilige Allianz von Geschäft,


Menschenrechtsverletzung und Umweltzerstörung mundtot zu machen. Am 22. Mai 1994 wurde der 53jährige Journalist und Schriftsteller Ken Saro-Wiwa in seinem Haus in Port Harcourt von nigerianischen Militärpolizisten verhaftet. Saro-Wiwa, Vorsitzender des Movement for the Survival of the Ogoni People (MOSOP) und seit vergangenem Jahr Träger des Goldman-Umweltpreises, sitzt seither ohne dringende ärztliche Versorgung und zeitweise an Händen und Füßen gefesselt in Haft. Ihm wird zusammen mit vier anderen Angeklagten vorgeworfen, jugendliche Ogonis zum Mord an vier Ogoni-Führern angestachelt zu haben. Saro-Wiwa und MOSOP haben jede Beteiligung oder Verantwortung an den Morden zurückgewiesen. MOSOP hat stattdessen der Militärregierung vorgeworfen, die Morde inszeniert zu haben, um einen Grund für die Verhaftung von Saro-Wiwa ("Die Militärs planen einen Genozid an meinem Volk") zu haben. Der Fall wird seit dem 6.Februar 1995 vor einem speziellen, von General Abacha per Dekret angeordneten Tribunal in Port Harcourt außerhalb der üblichen nigerianischen Gerichtsbarkeit verhandelt. Saro-Wiwa und den anderen Angeklagten droht nach der Anklageschrift die Todesstrafe. Die Menschenrechtsorganisation Article 19, die sich speziell um die Rechtschaffenheit von Strafprozessen unter Militärregimes kümmert und einen Beobachter nach Port Harcourt entsandte, kommt zum eindeutigen Schluß: "Das Tribunal ist nicht regierungsunabhängig. (...) Es hat sich so verhalten, daß es stark den Eindruck hinterläßt, es sei eindeutig für die Militärregierung und die Anklage voreingenommen." Auch für Amnesty International entbehrt die Anklage jeglicher Grundlage; die Organisation hat Saro-Wiwa 1994 zum gewaltlosen politischen Gefangenen erklärt. Shell hat nach eigenen Angaben seine Mitarbeiter zum großen Teil seit 1993 aus Ogoniland zurückgezogen; wieviel Öl derzeit dort noch gefördert wird, sei unklar. Der Ogoni Lazarus Tamana, Vorsitzender der Ogoni-Vereinigung in Europa, hält dem Konzern allerdings vor: "Shell operiert nach wie vor in Bodo-West und Ibubu-Eleme in West-Ogoni. Außerdem hat Shell in Ogoniland erneut Öl gefunden. Das beweist, daß sie dort aktiv sind." Er sagt weiter: "Shell ist, wenn es darum geht, die Ogonis zum Schweigen zu bringen, quasi Teil der nigerianischen Regierung. Wir sprechen von einem Land, das zu neunzig Prozent von Öl abhängig ist, von der Regierung und Shell in einem. Vom Machtfaktor Öl." Unter inzwischen massivem öffentlichen Druck kündigte Shell im Februar 1995 an, eine zwei Millionen US-Dollar teure Studie über das Ökosystem Niger-Delta in Auftrag zu geben, und


veröffentlichte eine Broschüre, in der soziale Leistungen für einzelne Ogonidörfer wie Schulbau, Straßen und Wasserleitungen im Wert von jährlich 20 Millionen US-Dollar hervorgehoben wurden. Für Tilman Zülch von der Gesellschaft für Bedrohte Völker ist das reine Kosmetik: "Der Konzern hat sich aus dem Sperrgebiet zurückgezogen. Das ist der einfachste Weg, um sich aus der Verantwortung zu stehlen." In der Tat erinnert das Verhalten des Konzerns in Nigeria fatal an eine Option, die auch für die ausgediente Brent Spar in Erwägung gezogen wurde: die "Walk Away"-Strategie. Nachdem das Land und die Ogonis unter dem Schutz der Machthaber in Lagos 30 Jahre lang systematisch ausgebeutet wurden, weigert sich Shell nun, die volle Verantwortung für die menschliche und ökologische Katastrophe einzugestehen. Während die Deutsche Shell mit dem Merksatz "Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun" wirbt, stellt sich Shell Nigeria stur. Die bedauernswerteren Schäden und politische Unterdrückung in Ogoniland hätten nichts mit den Firmenaktivitäten zu tun. Forderungen der Ogonis nach nachträglicher Kompensation und Wiedergutmachung wurden bislang abgelehnt. Hinter den Kulissen allerdings hat der Konzern begonnen, politische Schadensbegrenzung zu betreiben und den vorsichtigen Versuch gewagt, seinen Kopf aus der nigerianischen Schlinge zu ziehen. Doch daß dies bei Geschäftspartnern wie den nigerianischen Militärs nicht so einfach geht, dämmert langsam auch Konzernoberen bei Shell International Petroleum in London. Sie trafen sich am 16. März 1995 mit einem nigerianischen Spitzendiplomaten - dem High Commissioner - und zwei Vertretern des Militärs und der Polizei zu einer Krisensitzung im Shell Centre, um mäßigend einzuwirken. Auszüge aus dem internen Protokoll: "6. (...) An diesem Punkt wollte seine Excellenz, der High Commissioner, wissen, was man unternehmen können, um der schlechten Presse entgegenzuwirken. Er fragte, ob es nicht angebracht sei, Gegenmaßnahmen wie Poster, Anzeigen in Zeitungen und gesponserte TV-Programme zu untersuchen. 7. Mr. Malcolm ( Malcom T. Williams von Shell International Petroleum, der Verf.) meldete seine Bedenken gegen jeden Ansatz an, der den Propagandisten (des Ogoni-Skandals, der Verf.) in die Hände spiele. Er verwies darauf, daß jeder direkte Angriff auf die beteiligten Gruppen die Angelegenheit nur noch mehr in die Öffentlichkeit bringen würde. Das sei es, was sie wollten." Die nigerianischen Machthaber haben ein gutes Druckmittel, um Shell bei der Stange zu halten:


Bargeld. Das Protokoll weiter: "11. Am Ende kehrte Mr. Brack (Shell International, d. Verf.) noch einmal zu der Problematik des Anteils Nigerias zurück, der es Shell ermöglicht, (...) Löhne und Kontraktoren zu zahlen. Er merkte an, daß ausstehende Zahlen oft zu Arbeitslosigkeit und Unruhe führt. Er bemerkte weiter, daß Nigerias Zahlungsverpflichtungen seit vier Monaten ausstünden. Der High Commissioner versprach, die Angelegenheit mit dem (nigerianischen, d.Verf.) Finanzminister zu diskutieren." Shell ist tief in den nigerianischen Sumpf gesunken. "Wir schicken unseren Nigeria-Mann permanent zu den Militärs, um die Saro-Wiwa-Sache gütlich zu lösen, aber er beißt auf Granit," gibt ein Hamburger Shell-Mitarbeiter zu, der weiß, daß sich der Konzern nach der Brent Spar nicht mehr viele öffentliche Skandale leisten kann. Doch das vorsichtige Engagement für den von der Todestrafe bedrohten Schriftsteller stürzt Shell in ein Dilemma. Macht der Konzern sich öffentlich für Saro-Wiwa - und dessen Argumente - stark, kann er nicht gleichzeitig seine Verantwortung für die politische Unterdrückung der Ogoni und die Umweltkatastrophe im Niger-Delta leugnen. Weigert er sich wie bisher weiter, droht ihm unter dem Druck, den eine internationale Allianz von Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten inzwischen entfacht, eine weitere Boykott-Welle. Nigerias Militärs, denen die Nöte des Konzerns egal sind, haben inzwischen die finanziellen Daumenschrauben noch mehr angezogen: Weil internationale Kritik auch an anderen nigerianischen Schauprozessen - unter anderem gegen den letzten demokratisch gewählten Präsidenten wegen staatsfeindlicher Verschwörung - laut wird, hat die Militärregierung gedroht, Shell Nigeria und andere multinationale Ölgesellschaften wie BP einfach zu verstaatlichen und die Firmen aus dem Land zu werfen. Ein Hamburger Werbefachmann dazu: "Aus PR-Sicht für Shell vielleicht nicht die schlechteste Lösung." Die Beispiele Südafrika und Nigeria machen deutlich, in welche fatale Problematik das weltweite Operationsfeld und die gewollte Selbstständigkeit der einzelnen Töchter die Royal Dutch/ShellGruppe stürzen: Selbst wenn es eine gemeinsame Vision von gesellschaftlicher Verantwortung, eine gemeingültige Vorstellung von Menschenrechten und Umweltschutz im Konzern gäbe - die Töchter wären nicht verpflichtet, ihr zu folgen, oder fähig, sie in der Praxis umzusetzen. Wer weltweit nach Öl sucht und vom schwarzen Gold lebt, wird sich nur ungern Fragen der Moral stellen. Shell hofft, daß die dunklen Flecken auf der Muschel nicht entdeckt werden. Shell ist der globale Opportunist. Da


wundert es nicht, daß die gleiche Firma, die in Nigeria mit blutbesudelten Militärs am Tisch sitzt, in Deutschland saubere Tankstellen und Raffinierien hat, und unbestritten Vorreiter in Umwelttechnik ist. Benzin wäre, wenn es "roh" aus den Shell-Raffinerien in Hamburg oder Köln kommen würde, in jeder Beziehung ein farbloser Stoff. Erst die Mischung mit Farbstoffen, oder die Beimengung von Additiven wie "M 2000 - für mehr Motorleistung", macht aus dem Grundstoff Benzin einen Markenartikel, der Aral, BP, Esso oder Shell heißt. Doch der Kaufanreiz, die Entscheidung des Kunden, an der einen Zapfsäule vorbei und zu "seiner" Tankstelle zu fahren, läuft auf dichtgepackten Märkten wie der Bundesrepublik über etwas anderes: das Image des Unternehmens. Image ist das subjektive Gefühl, an der "richtigen" Tankstelle gelandet zu sein. "Richtig" ist dabei weder die Farbkombination Blau-Weiß, noch der Kanister-Song "I`m walking..." für sich. "Richtig" ist die richtige Kombination solcher Elemente, die Feinjustierung von diversen Einzelmaßnahmen, an denen Werbeagenturen, Public Relations-Experten und Corparate Identitiy-Designer monatelang gearbeitet und minutiös gefeilt haben. Das Ergebnis: Der ARAL-Mann ist heute bekannter als das sympathische Dreierteam von DEA, das selbst bei einer verrückten Horde Joggern noch freundlich und hilfsbereit bleibt. Da fährt man gerne hin, wenn der Tankdeckel klemmt. Doch auch die, die dem Zossen mal ordentlich die Sporen geben wollen, bis das Gummi brennt, sind gut aufgehoben: bei der ESSO mit dem Tiger, wo so richtig Kraft in den Tank gepackt wird. Aber SHELL? Shell Deutschland hatte jahrelang zwar einen guten Ruf, aber ein Problem: kein Image. Das Unternehmen hatte nach eigenem Bekunden im Vergleich zu den anderen Mineralölgesellschaften auf dem deutschen Markt jahrelang wenig bis kaum Werbung gemacht; das Rot-Gelb und die Muschel von Shell wurde nicht assoziativ mit einem klaren Bild, einem aussagekräftigen Symbol oder einer eingängigen Melodie in Verbindung gebracht. Die direkte Folge: "Wir mußten an den Marktforschungszahlen erkennen, daß die Werbeerinnerung an Shell dramatisch abgenommen hat und eine Lücke klafft zwischen den Erinnerungswerten von vor allem Aral und den unsrigen," sagte der Jurist Klaus-Peter Johanssen, Direktor der Deutschen Shell für Unternehmenskommunikation und Wirtschaftspolitik. Was also tun, wenn Qualitätsunterschiede keine Rolle mehr spielten, Umweltschutz sich inzwischen alle auf die Fahnen geschrieben hatten, und Kraft, Witz und Sympathie bereits von den Mitkonkurrenten auf dem Markt in Beschlag genommen waren? Nach


Johanssen mußten "andere Unterscheidungsmerkmale her." Shell ließ sich von den Kommunikations-Spezialisten Lauck & Partner aus dem rheinischen Frechen beraten, die als Antwort auf den Image-Notstand eine simple Lösungformel vorschlugen: Verantwortung. Shell, das sollte ab sofort das Unternehmen sein, das sich um mehr als Autos kümmerte. Shell, mehr als ein Öl-Multi. Eine gesellschaftliche Institution, die nicht nur umweltbewußt handelte, sondern sich auch sozial engagierte. Aus Shell, der Sprit-Marke ohne Image, sollte eine Mutation aus Angela Merkel und Norbert Blüm werden. Die Begründung der neuen Werbestrategie von Shell las sich, wie wenn sie einem verquasten Grundsatz-Papier von Greenpeace entnommen worden wäre. "Unsere Vision ist, daß es uns gelingt, durch unser Auftreten Anstöße zur Veränderung in der Gesellschaft zu geben," sagte Kommunikations-Chef Johanssen, als er am 1. März 1995 die neue Kampagne "Wir wollen etwas ändern" vorstellte. Denn: "Wenn es um den Schutz der Umwelt geht, hat die Shell als Mineralölkonzern eine besondere Verantwortung", zu der sich das Unternehmen bekenne, "und dies in der Praxis an nachvollziehbaren Initiativen und Projekten beweist." Die Kampagne, für 1994 mit 30 Millionen Mark Kosten veranschlagt und mehrstufig über mehrere Jahre angelegt, wurde von der Fachpresse aufmerksam verfolgt ("vollmundig, ambitionös"). Sie startete mit doppelseitigen Anzeigen in allen überregionalen Magazinen und TV-Spots zu besten Sendezeiten. Die Werbefilme wurden wie die gesamte Kampagne von der Hamburger Agentur K,N,S,K, elegant und höchst professionell in Szene gesetzt. Das Shell-Urteil über die Werbe-Partner: "Volksverdummung läuft mit K,N,S,K, nicht." Paul Horsman hat das Geschäftsgebahren des Konzerns in Afrika und Europa monatelang unter die Lupe genommen und mit den jeweiligen Image-Kampagnen verglichen. Er urteilt hart: "Wenn es um den Zugang zu Ölquellen und um Marktanteile geht, ist Shell - wie übrigens alle anderen Ölgesellschaften auch - zu jeder Konzession und Schandtat bereit. Dann geht die Firma, wie in Nigeria geschehen, auch die Verbindung mit einem noch so schäbigen Militärregime ein. In andern Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden dagegen, wo wir inzwischen hohe, allgemein anerkannte Umweltstandards haben, reißen sie sich unter dem Druck des Verbrauchers mächtig am Riemen und hängen sich nette Deckmäntelchen um." "Wir wollen etwas ändern" wurde paßgenau für den deutschen Markt geschneidert: Zwischen


Aachen und Zwickau ist das Land im Umbruch, das soziale Netz gerade noch so dicht, daß man sich Verantwortung und Veränderung leisten kann. Ökologie wird großgeschrieben. Auch die ShellWerbestrategien in anderen Ländern spiegelt exakt die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder. In Großbritannien etwa wirbt der Konzern mit dem Slogan "You can be shure of Shell - Auf Shell können Sie bauen". Das ist der richtige Zungenschlag in einem Land, in dem die galoppierende Arbeitslosigkeit für breite Kreise der Bevölkerung zu einem existenziellen Problem geworden ist. Experimente oder Veränderung stehen in den Haushalten in London oder Liverpool zur Zeit nicht auf der Wunschliste. Ökologie ist ein Luxus; dort sucht man nach Sicherheit. Als Fels in der Brandung, auf den man bauen kann, bietet sich an: Shell UK. Der tiefe Fall des Konzerns war kein einmaliger, von Shell UK ausgelöster Betriebsunfall, sondern ein Fehler im System. Die Selbständigkeit der Töchter, von Peter Duncan als entscheidende Stärke gelobt, ist zugleich die entscheidende Schwäche des Konzerns. Auch Shell-Mitarbeiter sind nur Spiegelbilder ihrer Gesellschaft und handeln entsprechend. Chris Fay in London und seine Seebären von Shell Expro, durch und durch Angelsachsen, sind von der Richtigkeit der Brent SparVersenkung genauso überzeugt wie die Deutsche Shell von ihrer Verantwortungs-Rolle. Die Deutschen glauben wirklich daran, ein "guter" Konzern zu sein. Wie dieses Werte-Chaos unter eine einheitliche, weltweite Firmenphilosphie gepackt werden soll, davon hat der Multi, solange er nur einem Zwecke dient, keine Vorstellung. One World - das Kunstprodukt Geldkonzern mit Muschel hat darin keine saubere Zukunft. Samuels und Deterdings Visionen von grenzenloser Macht sind an ihre Grenzen gestoßen. Der Konzern bastelt an der Reorganisation; das "Matrix"-System wird überarbeitet. Doch das wird wenig nützen. Shell hat nicht begriffen, daß im "Globalen Dorf Erde" Nigeria überall ist, Brent Spars an allen Ecken lauern, und alle Shells nicht nur Shell heißen, sondern auch Shell sind. Mit einer Verantwortung und einer Angriffsfläche. Der Soziologe Ulrich Beck: "Der überzeugendste und ausdauerndste Gegner von Shell war und ist - Shell selbst."


7. Strategien und Krisenmanagement

Der Morgen des 1. Juni 1995 war grau und unfreundlich. Leichter Nieselregen erinnerte daran, daß der Sommer nicht richtig beginnen wollte. Der Überseering in Hamburgs Bürohaus-Ghetto City Nord, wo sich die Zentrale der Deutschen Shell AG befindet, war wie leergefegt, als kurz vor zehn Uhr bei Shell ein Taxi vorfuhr. Vier Fahrgäste stiegen aus, betraten das Gebäude, und wurden nach einer Sicherheitsüberprüfung von einem chromblitzenden Fahrstuhl ins zwölfte Stockwerk befördert. Sie begaben sich, von einem Shell-Mitarbeiter eskortiert, durch einen langen, mit Teppichvelour ausgelegten Korridor, in einen klimatisierten Besprechungsraum mit einer schwarzen Ledergarnitur. Hinter den Fenstern lag Hamburg; im Nieselregen versteckt und am Horizont nur schemenhaft zu erkennen. Auf dem Kristallglastisch standen Kaffeetassen und Plätzchen: Shell meets Greenpeace.

Die Unterhändler

Die vier Greenpeacer, neben zwei Leuten aus dem Hamburger Brent Spar-Team der damalige deutsche Geschäftsführer Dr. Thilo Bode und der internationale Kampagnendirektor Ulrich Jürgens, warteten artig mit dem Platznehmen, bis die Shell-Delegation vollständig erschienen war. Neben Rainer Winzenried, dem Leiter für Information und Presse, und Klaus-Peter Johanssen, Direktor für Unternehmenskommunikation, war dies der Neuseeländer Peter Duncan, der Vorstandsvorsitzende und damit oberste Shell-Mann in Deutschland. Duncan nannte nach den Austausch einiger Begrüßungsfloskeln den Anlaß der Runde: "Meine Herren, wir sind erfreut, sie kennenzulernen, und gespannt, ihre Argumente zu hören." Das Zustandekommen des Treffens, für die Deutsche Shell ein langwieriger Prozeß mit einwöchiger Rücksprache in Den Haag und London, mußte der Firma wie Feuer unter den Nägeln gebrannt haben. Was mit einer Besetzung durch ein Dutzend Greenpeace-Aktivisten begonnen hatte, war inzwischen zu einem alarmierenden Problem für die Reputation der Deutschen Shell und einem Machtkampf im Konzern geworden. Die Deutsche Shell stand unter massivem öffentlichen Beschuß; ihren Sprechern war in den Interviews und Talksshows, zu denen sie sich genötigt sahen, die Rolle des bösen Buben gewiß. Sie suchte nach einem Ausweg aus dem Konflikt. Doch die Shell-


Kollegen in London betrachteten die Brent Spar als ein rein englisches Problem, und weigerten sich, die Nöte der Deutschen Shell zur Kenntnis zu nehmen. Shell UK wollte auch Greenpeace nicht zur Kenntnis nehmen. Mehrere Vorstöße der britischen Brent Spar-Kampagner nach einem klärenden Gespräch waren in London und Aberdeen mit dem kühlen Verweis abgelehnt worden, daß man alle Versenkungsoptionen wissenschaftlich geprüft und die beste gewählt habe. Daher gehe die Brent Spar jetzt ihrer vorgesehenen Schicksal entgegen. Und außerdem: Man habe, so der Vorstandsvorsitzende der Shell UK, Chris Fay, keinerlei Veranlassung, sich mit "Ökoextremisten während der Begehung einer Straftat" an einen Tisch zu setzen. Shell UK konnte Ende Mai seine ablehnende Haltung - mit dem Wissen um die volle Unterstützung der Regierung - noch locker aussitzen: Seit Beginn der Kampagne waren in den englischen Tageszeitungen eher lamoyante Artikel unter der Rubrik "Aus der bunten Welt" oder unterhaltsame Reportagen mit dem Tenor "Sie wollen die Welt retten und rauchen wie Schlote" erschienen. Obwohl die britischen Greenpeacer eine wissenschaftlich saubere und politische Argumentation vorgelegt hatten, schätzten die Redakteure die Aktion im Brent-Feld als "weitere Greenpeace-Posse" ein. Sie weigerten sich im Gegensatz zu ihren schottischen Kollegen, die seit Beginn der Besetzung in ihren Kommentaren gegen die Versenkung geschrieben hatten, die Plattform als das Symbol für einen schwelenden umweltpolitischen Konflikt zu erkennen. Die englische Öffentlichkeit wußte kaum, was sich im Brent-Feld abspielte. Wenn ein kontroverser Bericht in London überhaupt erschien, wurden darin wissenschaftliche Standpunkte vorgetragen und über das "marginale Gefahrenpotential von 150 Tonnen in der unendlichen Weite des Nordatlantiks" diskutiert. Anders in Deutschland. Fernseh-, Magazin- und Zeitungsredaktionen hatten seit Beginn der Besetzung ausführliches Hintergrundmaterial über die Brent Spar erhalten. Es skizzierte die technischen Details und beschrieb, mit Greenpeace-Studie und AURIS-Report im Anhang, die Argumente pro und contra Versenkung. Zugleich stellte es die politische Dimension der Auseinandersetzung mit Shell in den Vordergrund. Die Greenpeace-Sprecher und Kampagner wie aus einem Mund, mit dem gleichen "wording": "Es geht hier nicht um die Brent Spar, oder um die Firma Shell. Sondern um eine eminent wichtige Langzeitentscheidung, um ein Signal, wie wir in Zukunft mit der Nordsee und den Meeren umgehen." Die Life-Bilder während der Brent Spar-


Besetzung hatten, dieser Kampagnen-Strategie entsprechend, ein erstes Aktions-Schlaglicht geworfen, aber auch die weitaus breitere und wichtigere Nordsee-Problematik beleuchtet, die Anfang Juni in Esbjerg auf der Tagesordnung stand. Von BILD bis Taz - schon in den ersten Berichten wurde die Brent Spar in Verbindung mit der kommenden Nordseeschutzkonferenz gebracht. Nachdem sich die EU-Umweltkommisarin Ritt Bjerregard am zweiten Mai-Wochenende prinzipiell gegen die Versenkung von Ölplattformen ausgesprochen und die Greenpeace-Aktion in diesem Zusammenhang ausdrücklich begrüßt hatte, war die Shell-Plattform ein umweltpolitisches Thema. Seit Shell UK am 22. und 23. Mai mit einem martialischen Aufgebot an Schiffen und Mannschaft eine bühnenreife Räumung inszeniert hatte, war die Brent Spar nach den spektakulären Auftakttagen in Deutschland auch visuell wieder in aller Munde. Die Folgen für den Konzern werden im hausinternen "Shell-Brief" für die Mitarbeiter geschildert: "Von Arbeitsbeginn (in den Tagen von Brent Spar irgendwann zwischen 6.30 und 7.00 Uhr) bis abends (diese Uhrzeit soll hier lieber ungenannt bleiben) klingelten die Telefone permanent. (...) Die Telefonzentrale und abends die Pförtner waren genauso überfordert wie die zusätzlich eingesetzten Auszubildenden. (...) In diesen Anrufen - von Gesprächen konnte meist keine Rede sein - tobte ein Sturm der Entrüstung. Bald ging es aber gar nicht mehr um den Fall Brent Spar. Diese Plattform wurde zu einem Symbol, an dem sich Wut und Ohnmacht des einzelnen Bürgers gegen anonyme Konzerne, Umweltverschmutzung und Politikverdrossenheit entlud. Das eigentliche Problem - Entsorgung einer ausgedienten Offshore-Plattform an Land oder im Tiefwasser - stand nur noch selten zur Diskussion." Die Deutsche Shell war vom Thema Brent Spar absolut kalt erwischt worden. Klaus-Peter Johanssen, der Kommunikations-Chef, über seinen Wissensstand: "Als ich am Montag, den 1. Mai, eine Anfrage des NDR erhielt, habe ich nichts gewußt. (...) Mit anderen Worten: Es hat niemand in Deutschland etwas gewußt." Dieser eklatante Mangel an Informationen und Argumentationshilfe sollte sich während der ganzen Zeit der Auseinandersetzung nicht grundlegend ändern. Während Greenpeace regelmäßig interne Telefonkonferenzen abhielt, Nachrichten in Sekundenbruchteilen über Computernetze schickte, und fast täglich in Presserklärungen über den aktuellen Brent SparStand informierte, gingen die Shell-Öffentlichkeitsarbeiter in Hamburg regelrecht auf Tauchstation und warteten auf ihre Materialien aus London oft tagelang. Sie kamen schließlich mit der Post. Was nie da war und auch aus London nicht kam, war eine reale Einschätzung von Stärke und


Kultur der Organisation, die Shell den Fehdehandschuh hingeworfen hatte. Für Shell war Greenpeace so exotisch und undurchsichtig wie die Stammesversammlung nigerianischer Ogonis. Englische Greenpeacer berichten übereinstimmend, daß bei Kontakten mit Shell-Mitarbeitern besonders frappierend gewesen sei, welche Verunsicherung der persönliche Kontakt ausgelöste. "Ich hatte immer das Gefühl, die erwarten jemanden, der mit Gummistiefeln und Ölzeug in ihr Büro kommt und Besetzung brüllt," berichtet Brent Spar-Kampagner Chris Rose. "Daß wir uns überhaupt artikulieren konnten, unsere Hausaufgaben gemacht hatten, und uns seriös und trefflich über ihre Fachgebiete streiten konnten, hat die Shell-Leute völlig aus den Socken gehauen. Die dachten, sie hätten es mit einem Haufen wilder Hippies zu tun, der aus alter Tradition mal wieder dem Aktionismus frönt." Auch Thilo Bode hatte bei dem Hamburger Treffen mit Peter Duncan das Gefühl, daß der Neuseeländer mit Greenpeace überhaupt nichts anfangen konnte. Bode: "Duncan wirkt wie vor den Kopf gestoßen. Auf der einen Seite war er offensichtlich von der Professionalität, die wir an den Tag gelegt hatten, beeindruckt. Anderseits war bei ihm ein tiefer kultureller Bruch spürbar; als Neuseeländer mit angelsächsischem Hintergrund konnte er nicht nachvollziehen, welche gesellschaftliche Rolle Greenpeace in Deutschland spielte." Peter Duncan, die Arme fest vor der Brust gekreuzt, sondierte zunächst die Lage. Wenn man sich die Mühe machen würde, die Struktur des Konzern zu betrachten, so der Shell-Chef, müsse doch einleuchten, daß die Deutsche Shell nicht in der Position sei, in die Geschäfte einer anderen unabhängigen Tochter hineinzuregieren. Deshalb werde die Deutsche Shell auch völlig zu Unrecht in diesen Konflikt hineingezogen. Es sei nicht gerechtfertigt, daß Greenpeace Deutschland einen Angriff auf die Deutsche Shell starte, wo es um eine englische Plattform ginge. Greenpeace spiele hier ein falsches Spiel. Bode konterte. "Herr Duncan, wir sehen dies mit Verlaub von einem anderen Standpunkt aus. Es kann nicht unser Problem oder das einer breiten Protestbewegung sein, daß ihr Konzern sich aus internen Gründen in formal unabhängige Töchter gegliedert hat. Fakt ist doch, daß alle ihre nationalen Dependancen den gemeinsamen Namen Shell tragen und in der einen oder anderen Form einem gemeinsamen Zwecke, nämlich dem Geschäft mit Öl, dienen. Shell, Herr Duncan, das ist ihre gemeinsame Muschel-Flagge, dafür tragen sie alle gemeinsam Verantwortung. Also bitte


kritisieren Sie uns nicht dafür, daß wir eine internationale Organisation sind, dementsprechend über Ländergrenzen hinweg handeln, und - übrigens im Gegensatz zu Shell in Sachen Brent Spar konsequent an einem Strang ziehen." Bode dann wesentlich konzilianter: "Herr Dancan, wir möchten Sie bitten, Ihren persönlichen und den sicher nicht unwesentlichen Einfluß der Deutschen Shell im Konzern zu nutzen, um diese unsägliche Versenkung zu verhindern." Die vier Greenpeacer legten, nachdem das erste Eis bei dem Gespräch gebrochen war, den ShellLeuten die Beweggründe zur Besetzung der Brent Spar sehr ausführlich dar. Greenpeace sei im Jahr 1971, bei einer abenteuerlichen Protestfahrt gegen die amerikanischen Atomtests vor den Aleuten, quasi auf den Meer geboren worden. Wenn man zurückschaue, hätten viele zentrale und erfolgreiche Kampagnen der Organisation etwas mit dem Schutz des Elementes Wasser zu tun: Die ersten Segeltörns von David McTaggart gegen die französischen Atomversuche gehörten da ebenfalls dazu wie die internationalen Fahrten in die Antarktis, die Wale-Kampagne oder die deutsch-englisch-niederländischen Aktionen auf der Nordsee gegen die Dünnsäureverklappung. Und auch die Brent Spar-Aktion, erläuterte Ulrich Jürgens, füge sich schlüssig in dieses Gesamtbild ein. Ulrich Jürgens: "Herr Duncan, Shell ist, und ich betone das hier ausdrücklich, nicht ins Gemenge gekommen, weil wir speziell etwas gegen Sie oder Herrn Fay oder ihren Konzern haben. Shell ist wahrscheinlich so gut oder schlecht wie alle anderen Öl-Multis auch. Sie sind allerdings unser derzeitiger Kampagnen-Gegner, weil ihre Plattform Brent Spar, ihre derzeitigen Versenkungsabsichten, die Zukunftsaussichten der Nordsee insgesamt verschlechtern. Es geht uns um den Zustand der Meere; die Brent Spar, isoliert als Einzelfall betrachtet, interessiert uns überhaupt nicht. Es geht daher auch nicht darum, ob auf ihrer alten Plattform nun 150 oder 5000 Tonnen Giftstoffe lagern. Sie müssen begreifen, daß ihre Brent Spar ein zentrales Pilotprojekt darstellt. Shell ist nur die erste der über ein Dutzend Mineralölgesellschaften, die ihre NordseePlattformen entsorgen müssen. Wenn Sie es mit Hilfe der britischen Regierung durchdrücken, die Brent Spar zu versenken, stehen ein Dutzend anderer Gesellschaften mit ihren Offshore-Ruinen Gewehr bei Fuß. Ihre Brent Spar ist nur das Symbol für einen ganzen Haufen von Schrott und Müll, der eindeutig an Land, und nicht auf hoher See entsorgt werden muß. Das ist unsere zentrale politische Forderung, die sie überdenken und erfüllen sollten."


Für die Shell-Leute war diese Sicht der Dinge unbegreiflich. Erstens: Die Firma lasse sich von niemandem in dieser Form erpressen. Und Zweitens: Greenpeace täte Shell und vor allem der Deutschen Shell, immerhin einer Firma, die auf eine ausgezeichnete Umweltbilanz stolz sein könne, in der Sache bitterlich unrecht. Zwei Dinge seien vom Konzern als auch vom zuständigen britischen Energieministerium immer wieder klargestellt worden: Die Brent Spar war, von der technischen Seite her betrachtet, keine Bohrinsel, und daher auch kein Präzidenzfall für solche. Ganz im Gegenteil. Shell habe "den Entsorgungsplan für die Brent Spar nach gründlicher Analyse aller Optionen erarbeitet", doch er gelte eben nur für die Brent Spar. Ansonsten sei man mit der britischen Regierung einer Meinung, daß es bei der Entsorgung eine Fall zu Fall-Entscheidung geben müsse. Genau da, in der Einzelfallentscheidung, die mit der Brent Spar eingeführt und hoffähig werde, liege die Gefahr, argumentierten die Greenpeacer dagegen. Damit sei das gültige Vorsorgeprinzip, auf das sich die Nordseeanrainerstaaten geeinigt hätten, aufgebrochen. Mit der ersten Versenkung, nämlich der Brent Spar, sei der Damm gebrochen und eine fatale Richtung vorgegeben - die amerikanische Gesellschaft Amoco zum Beispiel habe ihre Plattform North West Hutton schon auf der britischen Versenkungsliste und warte gespannt, wie es Shell mit der Brent Spar ergehe. Auch die British Petroleum BP habe in London bereits verlauten lassen, daß sie in nächster Zukunft vier bis fünf Anlagen entsorgen werde. Wo und wie - das hing nicht zuletzt vom Schicksal der Brent Spar ab. Wenn diese Anlage aus prinzipiellen politischen Überlegungen heraus zurück an Land gehe, wo sie immerhin hergekommen sei, würden sich BP und andere Gesellschaften schwer hüten, die Versenkung einer eigenen Anlage vorzuschlagen. Dieses Argument wollte Klaus-Peter Johanssen nicht einleuchten. Greenpeace könne Shell nicht stellvertretend für andere an den Pranger stellen. Shell sei, so erwiderte er, eine Firma, die ihre gesellschaftliche Verantwortung trage und ernstnehme, und zu der man sich im übrigen auch in der neuerdings vielgeschmähten Kampagne "Wir wollen etwas ändern" bekenne. Was Greenpeace hier ungerechtfertigt in Zusammenhang bringe, sei einerseits das klare Selbstverständnis einer Firma zugebenermaßen auch aus Image- und Werbegründen - und andererseits die Verantwortung der politischen Entscheidungsträger. Die hätten sowohl in Großbritannien, in Deutschland als auch auf europäischer Ebene entsprechenden Gesetze und Richtlinien vorgegeben. Gemessen daran, bewege sich Shell mit der Versenkung rechtlich auf der sicheren Seite: Greenpeace prügele im Fall


Brent Spar den Sack Deutsche Shell, aber meine den Esel Politik. Diesmal übernahm Bode den Part. "Die Zeiten, in denen sich große multinationale Konzerne, oder die Industrie überhaupt, mit dem Verweis auf die Führungsrolle der Politik aus der Verantwortung stehlen konnten, sind vorbei. Es kann nicht angehen, daß große Industrien oder Firmen wie die Shell mit einsamen Entscheidungen über Wirtschaftsstandorte, mit Lobbyarbeit vor oder in den Parlamenten, massiven Einfluß auf Gesetzgebung nehmen und im Detail Wirtschaftspolitik machen. Und sich ansonsten, wenn es ihnen nicht paßt, bequem zurücklehnen. Unternehmen wie Ihres machen de facto große Politik, weil sie über die Arbeit, das Leben und das Schicksal von Menschen entscheiden. Sie sind ein Entscheidungsträger, wenn es um strategische Entscheidungen wie etwa die von uns geforderte Öko-Steuer, oder aber wie im vorliegenden Fall um fundamentale Fragen wie die Zukunft der Meere geht. Und nun am Beispiel Brent Spar gesprochen: Sie stehen in der Verantwortung, hier eine Entscheidung zu treffen, die weit über technische oder umweltpolitische Fragen hinausgeht. Ich darf Sie übrigens daran erinnern, daß diese grundsätzliche Einschätzung der Rolle der Industrie nicht allein von mir stimmt. Das ist sowohl die Philosophie der Internationalen Handelskammer ICC als auch das Credo des Unternehmerrates für nachhaltige Entwicklung. Das haben führende Industrielle wie Herr Schmidtheiny bei der Rio-Konferenz 1992 in diesem Sinne formuliert." Die Greenpeacer schilderten den Shell-Leuten bei dem Gespräch, das rund eineinhalb Stunden dauerte, sehr klar, wie sie ihre Kampagne bisher betrieben und die politische Unterstützung gesucht hatten. Noch am ersten Tag der Besetzung waren Faxe und Briefe an Ministerin Angela Merkel und die für die Nordseeschutzkonferenz zuständigen Beamten gegangen. Inhalt: Alle Unterlagen über die Brent Spar und die Aufforderung, die deutsche Position zur Versenkung von Plattformen offenzulegen. Während der drei Wochen, in denen das Ministerium darauf nicht reagierte, sprachen Greenpeace-Mitarbeiter in Bonn gezielt die Oppositions-Politiker an, die mit der Vorbereitung der Konferenz befaßt waren. Als Merkel am 23. Mai, just am Tag der Plattformräumung, in Hamburg auf einer Tagung des Bundesamtes für Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH) die Eröffnungsrede hielt, warteten zwei Dutzend Greenpeace-Aktivisten auf die Ministerin. Ihre Frage: Wie sieht die deutsche Position in Esbjerg aus? Merkel, vor laufender Kamera mit einem Flugticket zu den Shetland-Inseln und dem


Transfer-Angebot auf die Brent Spar konfrontiert, überraschte die Greenpeacer. Original-Ton der Ministerin auf der Pressekonferenz: "Es kommt selten vor, daß ich mit Greenpeace einer Meinung bin, aber in diesem Falle schon. Wenn die Brent Spar eine deutsche Plattform wäre, hätten wir keine Genehmigung zur Versenkung gegeben. Die deutsche Delegation wird ein generelles Versenkungsverbot bei der Nordseeschutzkonferenz zur Sprache bringen und sich für eine solche Lösung aussprechen." Für Shell, das bis dahin nur Druck von Greenpeace, aber keinen Gegenwind aus Bonn gespürt hatte, war die eindeutige Position der Ministerin ein schwerer Schlag. Für Greenpeace dagegen waren Merkels Worte Gold wert. Damit hatte sich die Bundesregierung für exakt jene politische Lösung ausgesprochen, die während der Besetzung von Greenpeace gefordert worden war. Auf dieser politischen Basis ließ sich auch in dem Gespräch mit Shell aufbauen. Die Greenpeacer legten am 1. Juni ihre Karten offen auf den Tisch. Sie erklärten Duncan, was Greenpeace für die nächsten Wochen plante, und "daß der Tanz jetzt erst richtig losgeht." Ab dem 2. Juni würden Greenpeace-Gruppen in achtzig deutschen Städten Shell-Tankstellen regelmäßig besuchen, und die Autofahrer mit Flugblättern und Aktionspostkarten an die Shell UK über die Brent Spar informieren. Das gleiche sei zu einem späteren Zeitpunkt auch in Holland, der Schweiz, Dänemark und Großbritannien geplant. Den Hebel, den man dabei benutzen werde, sei die laufende AnzeigenKampagne der Shell. "Wir wollen etwas ändern" sei, so einer der Greenpeacer zu KommunikationsChef Johanssen, "angesichts der Brent Spar die größte Lachnummer, die man sich vorstellen kann." Greenpeace-Plakate, auf denen der Werbespruch und das saubere Logo der Shell gezielt aufs Korn genommen würden, seien bereits gedruckt. Und: Shell solle sich nicht der falschen Hoffnung hingeben, daß mit der Räumung der Insel der Fall vor Ort auf hoher See erledigt sei. Ulrich Jürgens zu den Shell-Vertretern: "Machen Sie sich klar, und teilen Sie das bitte auch ihren Kollegen in Den Haag und London mit, daß Brent Spar die Schwerpunkt-Kampagne aller europäischen Greenpeace-Büros sein wird. Und ich sage Ihnen ganz offen, denn die Entscheidung liegt bei Ihnen: Wir haben unsere Ressourcen noch lange nicht alle ins Spiel gebracht. Wenn Sie beginnen, die Brent Spar durch den Nordatlantik zu schleppen, sind wir dabei. Dann wird diese Zeit nicht nur für die Deutsche Shell, sondern für ihren ganzen Konzern zum Alptraum."


Shell drohe, resümierte Jürgens zum Abschluß des Gesprächs, in einem Strudel unterzugehen, der seine Kraft nicht nur aus dem konkreten Umweltfrevel mit der Brent Spar beziehe. Jeder in Deutschland - "Und wenn wir mal ehrlich sind, auch Sie, meine Herren," - könne nachvollziehen, daß es bei dem Konflikt um die Frage ginge, ob für alle die gleichen Maßstäbe gälten oder nicht. Jeder Bürger, der heute ein paar Altreifen am Straßenrand deponiere oder seine Rostlaube in einem Baggersee verschwinden lasse, habe mit empfindlichen Strafen zu rechnen. Und nun wolle ein Konzern straflos mehrere Tausend Tonnen Stahl und über Hundert Tonnen Müll im Nordatlantik versenken. Shell werde, so prophezeite Jürgens, bitter dafür büßen, wenn es das Meer wie seinen Privatbesitz behandle, und in dieser Form mit den Emotionen von Millionen spiele. Peter Duncan sichtlich beeindruckt: "Meine Herren, sie können sicher sein, ich werde ihre Argumente und Vorstellungen nach Den Haag und London übermitteln. Aber es liegt nicht in der Macht der Deutschen Shell, über die Zukunft der Brent Spar zu entscheiden. Ich gehe davon aus, daß sie versenkt wird." Jürgens darauf: "Dann nehmen die Dingen wohl ihren Lauf, Herr Duncan." Greenpeace meets Shell: Um den beeindruckten Hamburger Konzern-Leuten zu zeigen, wie ernst die Lage einzuschätzen war, hinterließen die vier Umweltschützer beim Aufbruch außer ihren Visitenkarten die Kopie einer Umfrage, die sie beim Meinungsforschungsinstitut EMNID in Auftrag gegeben hatten. Darin hatten sie repräsentativ erfragen lassen, wieviel Prozent der deutschen Bevölkerung wegen der Brent Spar zu einem Shell-Boykott bereit seien. Das Ergebnis dürfte auf Duncan, Johanssen und Winzenried, die bisher kaum nennenswerte Einbußen an den Tankstellen festgestellt hatten, wie ein Schock gewirkt haben: 74 Prozent aller Befragten - und rund 85 Prozent der Autofahrer - waren bereit, an eine andere Tankstelle zu wechseln. Die Greenpeace-Emissionäre kündigten an, das EMNID-Ergebnis noch am selben Tag zu veröffentlichen, aber betonten, daß die Organisation selbst nicht zu einem Boykott der Tankstellen aufrufen werde. Der Boykott sei allerdings, falls die Spar nicht von Shell gestoppt werde, bereits am Horizont zu erkennen. Shell habe, so Thilo Bode beim Abschied zu Peter Duncan, "noch schätzungsweise eine Woche, höchstens noch bis zum Ende der Nordseeschutzkonferenz Zeit, um sich die Sache anders zu überlegen und noch größeren Schaden abzuwenden."


Perfektes Timing

Es sei nichts Neues, "daß Greenpeace mit professioneller Phantasie in flagranti ertappte ökologische Großsünder am massenmedialen Marterpfahl die Füße röstet," schrieb wenige Tage, nachdem Shell seine 180-Grad-Wendung auf dem Nordatlantik vollführt hatte, in der Süddeutschen Zeitung Ulrich Beck. Neu und ungemein "irritierend-elektrisierend" sei allerdings das Verhalten der Politiker, das unerhörte "Bündnis der Staatsmacht mit der illegitimen Aktion und ihren Organisatoren." Beck weiter: "Indem Kohl sich beim britischen Premier Major gegen Shell und für die Greenpeace-Aktion verwendet, hat er zugleich die `Fortschrittskoalitioń, auf die sich Shell stützte bestehend aus Regierung, Verwaltung und Experten - des Irrtums bezichtigt. Und zwar genau jenes Irrtums, (...) was im konkreten Fall `rational und sicheŕ ist - mit der Folge: Die Flüsse, Meere, Arten sterben, das Ozonloch wächst, Allergien werden zu Massenkrankheiten und so weiter." Vor diesem Hintergrund und bei der breiten Ohnmacht gegen die anonyme Koalition, sei der "moralische Aufschrei" der Autofahrer, die "zum revolutionären Exekutivorgan eines ökologischen Bürgerprotestes geworden" seien, zu verstehen: "Die da oben" dürfen mit dem Segen der Regierung und ihrer Experten "eine mit Giftmüll angefüllte Ölbohrinsel im Atlantik versenken, während "wir hier unten" zur Rettung der Welt jeden Teebeutel dreiteilen müssen in Papier, Faden und Blättermasse, um diese getrennt zu entsorgen." Die Deutsche Shell hatten in dieser Oben-Unten-Konstellation nie eine Chance: Ihre englischen Kollegen hatten sie in eine unhaltbare Lage gebracht. Der Betriebsrat des Unternehmens sprach sich intern gegen die Versenkung aus und ließ diese Haltung auch nach außen sickern: "Unsere Mitarbeiter finden die Versenkung nicht gut", distanzierte sich Betriebsrätin Ruth Lange. Die ehrenamtlichen Greenpeace-Gruppen waren in einem unerhörten Kraftakt zeitgleich und bundesweit an 300 Zapfsäulen mit dem rot-gelben Logo aufgetaucht und hatten Zehntausenden von Autofahrern ihre Argumente plausibel gemacht. Die Shell-Tankstellenpächter litten täglich mehr unter dem Kundenschwund. Der Zorn auf den Muschel-Konzern, der öffentlich Umweltschutz predigte und Versenkung probte, verbreitete sich unaufhaltsam wie ein Schnupfen-Virus. Egal was die Deutsche Shell nun unternahm, es würde ihr später als schwerer taktischer Fehler, als "desaströses Krisenmanagement" und "Schande für die gesamte Kommunikationsbranche" ausgelegt werden.


Fakt ist: Von der historischen Allianz zwischen Greenpeace und Angela Merkel politisch in die Defensive gedrängt, von den kraftvollen Bildern der "tapferen kleinen Schlauchboote in der tobenden See" medial überrollt, und von den starrsinnigen Versenkungsfanatikern in London paralysiert, war die Deutsche Shell zunächst nur noch Statist in dem Drama. Am Pfingstwochenende hatte der Sommer schließlich die Oberhand gewonnen. Der Nieselregen hatte aufgehört. Während Manta-Deutschland sich - mit Shell-Benzin im Tank - am Montag irgendwo im Autobahn-Stau befand, betrieb in Hamburg das Brent Spar-Team, gut gerüstet mit Eis am Stiel und einem plärrenden Kofferradio, sein Kampagnenmanagement. Barbara Börner und Dörte Schüler telefonierten ununterbrochen mit den Gruppen, die an den 300 Shell-Tankstellen agiert hatten, und bereiteten die nächste Runde vor. Der 16. Juni war mit den Kollegen in London, Amsterdam, Zürich, Wien und Kopenhagen abgestimmt; an diesem Termin sollte es ein europaweiter Aktionstag werden. Zwei Brent Spar-Kampagner bildeten die kampagnenpolitische Nachhut. Sie gaben den unzähligen Lokaljournalisten, die durch die Greenpeacer an ihren Tankstellen auf die Brent Spar aufmerksam geworden waren, und nun einen zusätzlichen örtlichen Aufhänger für ihre Story suchten, den aktuellen Stand der Dinge durch: "Nein, wir haben derzeit keine Besetzer auf der Plattform. Nürnberg? Nein, tut uns leid, es ist leider niemand aus Nürnberg oder ihrem Einzugsbereich auf der Plattform gewesen." Fouad Hamdan, der Pressesprecher, hatte seine vierjährige Tochter mitgebracht. Während sie Bauklötze stapelte und den Inhalt von Überraschungseiern überprüfte, bereitete er die Pressemappe für die Nordseeschutzkonferenz vor. Roland Hipp hatte Mühe, Ordnung auf seinem Klemmbrett zu halten; es gab inzwischen über ein Dutzend verschiedenster "Baustellen", die mit London, Lerwick auf den Shetland-Inseln, Esbjerg und dem deutschen Aktionsmittellager im Hamburger Hafen abzuklären waren. Sein Handy glühte. "Christian, paß auf. Fouad ist heute abend mit den Pressemappen durch, die kannst Du morgen früh abholen, bevor ihr mit dem Modell nach Esbjerg fahrt. Die Lagerleute machen noch Nachtschicht und sind dann auch fertig." Im Lager schweißten und pinselten ein halbes Dutzend Helfer an einem fast neun Meter hohen, stählernen Nachbau der Brent Spar. Das Symbol für die Verrohung der Sitten auf der Nordsee sollte von einem Kran vor das Konferenzzentrum in Esbjerg gestellt werden, während die europäischen Umweltminister ihre


Tagesordnung abarbeiteten und sich dabei auch mit der Brent Spar beschäftigten. Dafür hatten die meist unsichbaren "Dry Suits", die politischen Lobby-Arbeiter und -Arbeiterinnen von Greenpeace, gesorgt; sie planten, mit sechs Leuten drinnen im Gebäude zu sein und ihre Argumente nicht nur zur Frage der Plattform-Versenkung unter die Delegationen zu streuen. Ihre Thesenpapiere und Forderungen deckten das gesamte Szenario der Nordsee-Katastrophe ab: die verheerenden Folgen der industriellen Landwirtschaft, der Chlorparaffine, der Einleitungen der chemischen Industrie und auch der Überfischung. Daß die Greenpeace-Delegation diesmal auf genügend Resonanz stoßen würde, dafür hatten die "Wet Suits", die Greenpeacer in den Schlauchbooten, draußen bei der Brent Spar gesorgt. Die Kampagnen-Maschine lief auf vollen Touren, einzig offene Frage war nur: Was würde Shell tun? Wie würde der Multi auf die offene Kampfansage während des Hamburger Gesprächs reagieren? Würde der Konzern eine PR-Offensive in Esbjerg starten? Hamdans Tochter schmollte; keiner wollte jetzt mit ihr spielen. Anruf für Hipp aus London, am Apparat einer der britischen Kollegen. Chris Rose, der Kampagnendirektor des UK-Büros, berichtete von juristischen Nebenkriegsschauplätzen. Die Shell-Rechtsanwälte in Großbritannien hatten sich bereits während der Besetzung vor einem Gericht in Edinburgh eine einstweilige Verfügung gegen Jon Castle erstritten, damals die rechtliche Grundlage der Räumung. Nun versuchten sie, das war zu Greenpeace UK durchgesickert, weitere Verantwortliche innerhalb der Organisation dingfest zu machen. Die Greenpeace-Quelle hatte durchgegeben, daß in den nächsten Tagen mit einem juristischen Schachzug gegen Greenpeace Deutschland zu rechnen sei. Wahrscheinlich war eine weitere einstweilige Verfügung im Anrollen. "Gut, Chris, ich kümmer mich drum," seufzte Hipp und notierte, daß er den Hamburger Greenpeace-Anwalt anrufen mußte, der für solche Fälle seine Pfingst-Notnummer hinterlassen hatte. Die Frage auch hier: Was würde Shell sonst noch unternehmen? Welchen Kurs fuhr der Konzern weiter? Zunächst jedoch brauchte Hipp eine strategische Einscheidung, die weder er noch das deutsche Büro allein fällen konnten. Brent Spar war eine durch und durch internationale Kampagne; die politische Planung für die nächsten Wochen oblag dem Konsens aller europaweit verstreuten Brent Spar-Teams. Doch bei Beschlüssen, die grundsätzlicher Natur waren und erheblich ins Geld gingen, mußte Greenpeace International grünes Licht geben: sprich Ulrich Jürgens auf den Shetland-Inseln oder der internationale Interims-Geschäftsführer Steve D`Esposito. Also Anruf in Lerwick auf den


Shetlands. NENIG, die Northern European Nuclear Information Group, hatte dort seit Beginn der Aktion ihr Büro zur Verfügung gestellt. Der 20 Quadratmeter kleine Raum wurde zu einem Lagezentrum ausgebaut, das fast rund um die Uhr besetzt war. Von dort aus wurde zunächst von Gijs Thieme und der Shetländerin Rose Young - Herz, Seele und Gehirn von NENIG zugleich - die gesamt Aktions- und Transportlogistik vor Ort organisiert: Außenborder kaputt, verirrte Journalisten auf dem Flughafen, Ersatz für die Moby Dick, Salatkräuter für den Küchenchef auf der Brent Spar, Lenkdrachen für die Besetzer? Ein Fall für Gijs oder Rose bei NENIG. Seit Ulrich Jürgens eingetroffen war, liefen auch immer mehr politische Fäden in Lerwick zusammen. "Moin, Ulrich. Paß auf. Wie weit seit ihr mit der Altair? Ich habe hier noch tausend Sachen zu organisieren. Wenn wir unsere Leute und die Ausrüstung noch zusammenkriegen wollen, muß ich bis heute abend Bescheid wissen. Ja, ich weiß, das bracht seine Zeit. Aber Shell wartet mit dem Schleppen nicht, bis wir in die Gänge gekommen sinhd. Ruf mich zurück. Ciao, und grüß mir Rose." Das die Organisation das umgebaute Lotsenschiff Altair charterte, war für den weiteren Verlauf der Kampagne von existenzieller Bedeutung. Schon die Besetzung der Brent Spar mit Hilfe der kleinen Moby Dick und dem angeheuerten dänischen Frachter Embla war ein Notbehelf gewesen, weil weder die Solo, noch die MV Greenpeace, noch die Rainbow Warrior verfügbar waren. Die Solo war trotz Volldampf noch weit ab vom Schuß auf dem Rückweg aus Japan, die MV Greenpeace auf Mittelmeer-Tour und die Warrior im Pazifik, wo sie für die kommenden französischen Atomtests auch bleiben mußte. Die Logistik mit der Moby, die wiederholten Aktionen, der Austausch der Crews, der Pendelverkehr für die Journalisten, alles hatte am seidenen Faden gehangen. Einmal hatte das Schiff in Lerwick mit einem leichten Maschinenschaden für eine Woche festgelegen; unbemerkt von Shell, und ersetzt durch die Starina, einem Fischerkutter, dessen Kapitän aus Überzeugung und gegen gute Bezahlung eingesprungen war. Die Moby, da waren sich alle einig, war ein feines, kleines Aktionsschiff, aber für die Beschattung der geschleppten Brent Spar, die inclusive Rückfahrt über vier Wochen dauern würde, nicht zu gebrauchen. Was Greenpeace dafür brauchte, war ein Dampfer wie die Altair: absolut hochseetüchtig, über vierzig Kojen an Bord, nahezu perfekte Satellitenkommunikation, Kräne für die Schlauchboote und - ein Hubschrauberlandedeck. Am 7. Juni, just am Tage, als die Altair im holländischen Hafen Scheveningen mit noch feuchten


Regenbogenfarben am Rumpf die Leinen losmachte, trafen in Esbjerg die ersten Delegationen für die Vierte Nordseeschutzkonferenz ein. Greenpeace eröffnete in der Vorhalle sein Lobby-Büro. Shell dagegen hatte die Zeit, die dem Konzern zur Rettung seines angeschlagenen Images noch verblieben war, unnütz verstreichen lassen. Der Multi war von seinem Versenkungsplan keinen Millimeter abgerückt, und war in Esbjerg nicht präsent. Greenpeace dagegen nutzte das breite öffentliche Interesse für seine Argumente, für zwei Protest-Aktionen und eine weitere Breitseite gegen den unbeweglichen Konzern. 7. Juni: Die Arbeitsplattform Stadive und die Brent Spar dümpelten gegen vier Uhr früh wie zwei gelähmte Kolosse sanft in den Wellen des Brent-Feldes. Als die Moby Dick noch rund 30 Seemeilen entfernt war, setzte die Besatzung zwei Schlauchboote mit fünf Aktivisten und einem Kamerateam ins Wasser. Die Boote steuerten geraden Kurses auf die Brent Spar zu. Tina Haardt, 25 Jahre alt und engagierte Studentin der Politikwissenschaft ("Ich habe es satt, nur zu diskutieren, ich will auch was tun"), war mit von der Partie. Sie schilderte später, was geschah: "Als wir die Spar ein paar Mal umkreisten, standen die Shell-Leute zunächst nur wie auf einer Theatergalerie hoch oben auf der Stadive. Ich glaube, sie hielten es nicht für möglich, daß wir direkt unter ihren Augen eine Neubesetzung versuchen würden." Shell hatte tatsächlich einiges gegen diese Möglichkeit unternommen. Die Eisensprossen, die vom Meeresspiegel aus nach oben führten, waren mit einer Flex abgetrennt worden. Der offene, schmale Rundgang unter den Wohnquartieren war dicht mit Natodraht verkleidet. Zwischen den Greenpeace-Schlauchbooten und dem Rundgang lagen 18 Meter glitschige, senkrechte Eisenwand. Die Shell-Arbeiter feixten auf ihrer Galerie. Haardt: "Womit sie nicht gerechnet hatten, war unsere Buschhaus-Leiter." Diese Eigenentwicklung der Greenpeace-Aktionsabteilung, leichte, zusammensteckbare Aluminiumrohre mit winzigen Tritten und einem arretierbaren Haken am oberen Ende, war vor Jahren extra für eine andere geschleifte Festung, das Braunkohlekraftwerk Buschhaus bei Helmstedt, konstruiert worden. Jetzt kam sie auf der Nordsee wieder zum Einsatz. Erst als der erste Kletterer die Brent Spar wieselflink geentert, mit einem Bolzenschneider den Natodrahtverhau zerschnitten, und weitere Kletterseile abgeworfen hatte, reagierten die verblüfften Shell-Mitarbeiter. Tina Hardt: "Ich war etwa auf halber Höhe am Seil, als die Kanonade einsetzte." Die Kletterer wurden vom Begleitschiff Rembas aus mit Wasserschwaden eingedeckt; mit gezielten, schmerzenden Schüssen aus den


Feuerlöschschläuchen wollten die Besatzungsmitglieder verhindern, daß die Fünf ihre Banner an der Brent Spar befestigten. Doch um sechs Uhr in der Früh flatterte die Greenpeace-Flagge wieder auf der Plattform; die nassen und frierenden Kletterer hielten die symbolische Neubesetzung trotz des enervierenden Wasserschwalles für geschlagene sechs Stunden durch. Shell Expro in Aberdeen betrachtete die Ereignisse aus einer anderen Perspektive. Die Firma erklärte in einer Presseerklärung, der erwähnte Wasserwerfereinsatz habe mit den unklaren Aktivitäten der Greenpeace-Kletterer nicht das Geringste zu tun gehabt. "Das Begleitschiff Rembas," so Shell Expro wortkarg, habe "nur seine Wasserschläuche getestet." Doch die Video-Aufnahmen der "Tests", von einer von der Moby Dick per Funk angeforderten Hubschrauberbesatzung aus dem Wasser gefischt, wurden zum schottischen Aberdeen geflogen. Dort wurden sie in das europäische TV-Verbundnetz eingespeist, aus dem sich alle nationalen Fernsehanstalten für ihre aktuellen Nachrichten bedienen. Die Szenen mit dem Banner-Slogan "Save Our Seas - Rettet unsere Meere" gingen am Abend des 7. Juni ebenso über den Äther wie die Aufnahmen der Aktion, die am selben Tag in Aberdeen stattgefunden hatte. Dort hatten sich Aktivisten in die Masten der Smit Singapore, dem vorgesehen Brent Spar-Schlepper, gekettet und das Auslaufen verzögert. Auch dort die gleiche Forderungen: "Stoppt die Verseuchung der Nordsee Stoppt die Brent Spar - Rettet unsere Meere." Als am Tag darauf die Minister in Esbjerg - am stählernen Modell der Brent Spar vorbei - durch das Hauptportal schritten und sich an den Verhandlungstisch setzten, waren die Bilder noch frisch und die Fronten verhärtet. Der britische Umweltminister John Gummer verteidigte, im Wissen um norwegische und französische Unterstützung, zunächst mit wissenschaftlichen Unterlagen und später mit gällender britischer Arroganz den Versenkungsplan gegen die restlichen NordseeAnrainer: "Sollen die Dänen doch vor ihrer eigenen Tür kehren. Wenn ein Hund dort Wasser aus einem Graben trinkt, ist er die nächste Minute tot." Die Dänen hatten sich Gummers besonderen Zorn zugezogen, weil ihr Umweltminister Svend Auken einen Antrag auf ein generelles Versenkungsverbot von Plattformen formuliert und eingebracht hatte. Aucken über die Brent Spar: "Wenn wir das zulassen, geben wir grünes Licht zur Nutzung der Nordsee als Müllhalde für Industrieanlagen." Das mußte wirklich nicht sein. Und daß der Brent Spar-Müll entgegen der Shell-Beteuerungen


("Viel zu risikoreich, viel zu teuer") durchaus an Land entsorgt werden konnte, bewies Greenpeace in Esbjerg mit einem Überraschungs-Coup, der in dieser Form weder geplant oder abzusehen war. Paul Horsman: "Ich saß am Abend des 8. Juni nichtsahnend an meinem Schreibtisch in London, als das Fax-Gerät plötzlich anfing, Seiten auszuspucken. Als ich sah, was da reinkam, gingen mir fast die Augen über." Das Fax kam von einer Greenpeace-Quelle in der Offshore-Industrie und war purer Sprenstoff: der "Contract No. 647100/DB5235" zwischen Shell Expro und der Firma Smit Engineering. Jene Studie aus dem Jahr 1992 also, in der Smit Engineering schwarz auf weiß nachgewiesen hatte, daß ein Rückbau der Brent Spar in Norwegen technisch ohne Probleme machbar war und rund 24,5 Millionen Mark kosten sollte. Deutlich weniger als die Zahlen, mit denen Shell - und Umweltminister Gummer - in der Öffentlichkeit und in Esbjerg operierten. Die Studie war 1992 nie über einige ausgewählte Schreibtische hinausgekommen; weder im AURIS-Report noch in den offiziellen Shell-Unterlagen zum Genehmigungsantrag war auf sie Bezug genommen worden. Die englischen Ministerien für Energie und Umweltschutz kannten sie offiziell nicht. Jetzt, in der Hand von Greenpeace, bedeutete sie zwei Dinge: Shell und die britische Regierung hatten offensichtlich nicht mit offenen Karten gespielt, und eine Nachtschicht für Horsman. Als die Greenpeace-Delegation am nächsten Morgen Kopien der brandheißen Smit EngineeringStudie in Esbjerg verteilte, wurden die Gesichter der englischen Delegationsteilnehmer lang und länger. Ein Greenpeace-Lobbyist: "John Gummer war weiß wie eine Wand, aber kochte innerlich vor Wut." Die anscheinend sorgfältig aus "allen verfügbaren technischen Optionen" gebaute und wissenschaftlich untermauerte britische Trutzburg mit der Flagge "Umweltfreundlich" auf der Zinne erwies sich plötzlich als ein fragwürdiges Kartenhaus. Die Vierte Nordseeschutzkonferenz ging am Freitag, den 9. Juni, zu Ende. Sie wurde landauf, landab als erfolglos und als "Jahrmarkt der Unverbindlichkeiten" kritisiert. Zu Recht: Man hatte sich weder auf ein Versenkungsverbot geeinigt, noch war der deutsche Vorschlag, die Nordsee analog zur Ostsee zum besonders geschützten "Sondergebiet" zu erklären, konsensfähig gewesen. Die Fischerei-Lobbys der Anrainer hatten sich gegenseitig blockiert; die ausgehandelte Erklärung der Ministerrunde enthielt kein aussagekräftiges Wort zur nötigen Verkleinerung der Fangflotten. Die hochindustrielle Landwirtschaft, Quelle der Stickstoffeinträge in die Nordsee und hartnäckigster


Verschmutzer, wurde mit keinem entscheidenden Satz gestreift. Dennoch hatte Greenpeace in Esbjerg wichtige Etappensiege errungen. Vom Aufruhr um die Brent Spar überlagert und fast unbemerkt, hatte die Chemiemannschaft eine erste Ernte langjähriger Kampagnen- und Lobbyarbeit nach Hause gefahren. Die Nordseeanrainer hatten sich nach langem Ringen - und wie üblich mit englischem Widerstand - darauf verständigt, die Einleitung von gefährlichen Chemikalien bis zum Jahr 2020 ganz zu stoppen. Darunter befinden sich vor allem Produkte der Chlorchemie, was der Engländer Tim Birch, internationaler Koordinator der Chemiekampagne, mit dem Satz kommentierte: "Die europäische Chemie-Lobby schäumt. Denn was wir heute in Esbjerg erlebt haben, war der Beginn des langen, aber finalen Todeskampfes der Chlorchemie." Für die Brent Spar-Teams bei Greenpeace war Esbjerg ebenfalls zu einem wichtigen Baustein ihrer Kampagnen-Strategie geworden. Shells Glaubwürdigkeit war durch das Auftauchen der Smit Engineering-Studie in den Grundfesten erschüttert worden. Keiner der konferenzerfahren "Dry Suits" hatte zudem erwartet, daß sich die Ministerrunde im ersten Anlauf auf ein generelles Versenkungsverbot einigen würde. Sie hatten von Beginn an auf die "Windschatten-Theorie" gesetzt: Macht den Briten mit der Brent Spar die Hölle heiß, und laßt sie sich da heftig wehren, dann sind sie in Sachen Chlorchemie wahrscheinlich zu Kompromissen bereit. Eindeutig Punktsieg: Das Thema "Plattformen" war offiziell als Tagesordnungspunkt auf der Anfang Juli kommenden Tagung der OsloParis-Kommission OSPARCOM in Brüssel gelandet. Doch was noch wichtiger war: Die Politiker hatten erstaunlicherweise einmal Klartext geredet. Angela Merkel war, wie von vielen befürchtet und von der englischen Presse zuvor angekündigt, nicht umgefallen. Sie hatte bereits vor ihrem Abflug nach Esbjerg verkündet, daß Deutschland sich entschieden für eine Entsorgung aller NordseePlattformen an Land einsetze. SPD-Chef Rudolf Scharping hatte gar noch einen Zahn zugelegt, Greenpeace öffentlich gedankt und gefordert, die Versenkung der Brent Spar zu verhindern. Doch wirklich entscheidend waren die feinen Zwischentöne. EU-Kommissarin Bjerregard hatte demonstrativ Interviews neben dem Brent Spar-Modell vor dem Konferenz-Zentrum gegeben und erklärt: "Ich würde es völlig verstehen, wenn die Verbraucher beginnen würden, ihr Benzin woanders als bei Shell zu kaufen." Die SPD-Umweltministerin von Schleswig-Holstein, Edda Müller, schlug in die gleiche Kerbe. Sie erklärte in einem Deutschlandfunk-Interview, "Sie persönlich könne sich nicht


vorstellen, jetzt noch bei Shell zu tanken." Heide Simonis, der schleswig-hollsteinische Ministerpräsidentin, war es schließlich vorbehalten, den Vorschlag zu machen, der der Plattform noch eine ganz andere Dimension geben sollte: Sie forderte Helmut Kohl auf, Brent Spar und die Nordsee zur Chefsache zu machen. Kohl gegen Shell. Der Kanzler als der große ökologische Steuermann und Boykott-Papst, der einig Deutschland bei der Abstrafung eines Industrie-Konzerns seinen Segen erteilt - den Shell-Leuten in Hamburg müssen bei dieser Vorstellung die Haare zu Berge gestanden haben. Zehn Tage nach dem Besuch der Greenpeace-Unterhändler hatten sich deren Prognosen voll bewahrheitet. Die Tankstellenpächter meldeten nun ernstzunehmenden Kundenschwund und beschwerten sich öffentlich über die Deutsche Shell. Die Glaubwürdigkeit der Muschel war tiefer im Keller als je zuvor. Ganz Deutschland lachte über den Slogan "Wir wollen etwas ändern" und die Greenpeace-Variante "Das werden wir ändern". Ein Shell-Mitarbeiter aus der Hamburger Zentrale später im vertraulichen Gespräch: "Spätestens in diesem Moment hätten wir hier in Deutschland die Notbremse gezogen." Doch das durfte offiziell nur die Betonköpfe von Shell UK, deren Inselblick jenseits von Dover jegliche Tiefenschärfe vermissen ließ. Sie glaubten auch nach dem verheerenden politischen Debakel auf der Nordseeschutzkonferenz noch, es hier mit einer Handvoll verrückter Umweltschützer zu tun zu haben. Spannung bei Greenpeace und banges Erwarten bei der Deutschen Shell: Was würden die Briten unternehmen? Sie setzten ein provozierendes Spekatakel mit geradezu perfektem Timing in Szene. Chris Fay von Shell Uk gab am 10. Juni, nur 24 Stunden nach dem hitzigen Ende der Esbjerger Konferenz, die weitere Parole aus: "Wir werden die Brent Spar wie geplant versenken." Es schien, als wollte er aller Welt nun erst recht beweisen, daß ein Multi ein ungestörtes Eigenleben führen kann. Augen zu und durch. Im Innern der belagerten Brent Spar wurden die Sprengstoffpakete, mit denen die Plattform in die Tiefe gebombt werden sollte, unterhalb der Wasserlinie gesetzt und sorgfältig verkabelt. Am selben Tag versuchte die abgekämpften und seekranken Greenpeace-Kletterer, die drei Tage zuvor schon das Banner "Save Our Seas" gehängt hatten, das Kappen der sechs Brent SparAnkerketten zu verhindern. Eine Rettungsinsel der Moby Dick mit drei Leuten an Bord wurde von einer rabiaten Shell-Bootsbesatzung mehrmals gerammt und schließlich untergepflügt: Totalschaden vor laufender Kamera.


In der Nacht vom 12. auf den 13. Juni, Punkt 23.15 Uhr, nahmen die beiden Schlepper Smit Singapore und President Hubertus vom Brent-Feld aus Kurs auf das North Feni Ridge im Nordatlantik. Sie hatten etwas im Schlepptau, das zu diesem Zeitpunkt längst keine rostige ShellRuine mehr war. Die Brent Spar war das öffentliche Symbol für die schiere Arroganz der Macht.

Nervenkrieg

In Hamburg hatte es das Brent Spar-Team nach der Esbjerger Konferenz aufgegeben, langatmige Planungssitzungen über die weitere Kampagnenstrategie abzuhalten. Die Angelegenheit hatte eine eigene Dynamik entwickelt, die Dinge entwickelten sich rasend; viel zu schnell für langwierige Analyseprozeduren. Im Aktionsraum waren weiße Plakate an die Wand gepinnt worden; mit Filzstiften konnte jeder spontan und zwischendurch seine Aktions- und Kampagnenideen mit entsprechender Begründung festhalten: "Aktion bei Gummer-Besuch in Bonn 29.5. (englische Medien vor Ort) ERLEDIGT! Flugblätter auf dem Kirchentag (Beginn nach 2. Juniwoche, GP-Gruppen, Koordination macht die Hamburger Gruppe) - Blockade bei der Shell-Raffinerie Harburg (5 Uhr früh Abfahrt der Tankwagen, viel zu früh!) - weitere Lobby beim ADAC (Pressesprecher windet sich nervös nach erstem Anruf) Öffentliche Ausschreibung für Abwrackunternehmen (wir weisen nach, daß ein Industrieinteresse da ist, Arbeitsplätze, Ansprache Gewerkschaft, Financial Times, FAZ, Handelsblatt) - Aktion Schrottautos vor Shell-Zentrale (Wer Plattform versenkt, soll meinen Schrott gleich draufpacken...) gemeinsame Presseerkl. mit den deutschen Fischern (mit Fischereikampagne wg. Kontakten absprechen, Flaggen auf Boote!) - Rundruf bei Talksshows (Schreinemakers, Koschwitz, Gottschalk, keine Versenkung von Gummi-Bärchen)." Hipp und seine Kollegen hatten es sich außerdem zur Angewohnheit gemacht, wann immer es ging (und das war meistens spät in der Nacht), den sogenannten "Kampagnensimulator" einzuschieben. Rollenspiel: Zwei Greenpeacer mimten zuerst Peter Duncan und Chris Fay, dann zogen zwei Kampagner ihre Schlüsse daraus. Was würde ich tun, wenn ich Shell wäre? Was sollte Greenpeace weiter tun? "Ok, unsere Schlepper sind unterwegs. Greenpeace wird mit Sicherheit versuchen, die Plattform wieder zu besetzen. Wie wollt ihr das verhindern, mein lieber Chris?" Kichern. "Mach Dir


darüber mal keine Sorgen, Peter. Wir haben drei Begleitschiffe mit der strikten Order, rund um die Uhr einen geschlossenen Wasservorhang zu legen. Eine Wiederbesetzung schaffen die auf keinen Fall." Wieder Kichern. "Wenn Du meinst. Ich gebe nur zu Bedenken, daß eine Verteidigung weitaus schwieriger ist als eine Räumung. Aber andere Frage, Chris. Wir hier in Deutschland glauben, daß es gut wäre, ein eigenes Shell-Schiff für die Journalisten zu chartern und mitzuschicken. Wie Du weißt, hat Greenpeace an Bord der Altair mehrere TV-Teams. Wir haben gehört, daß sich die Sender quasi um die Plätze an Bord geschlagen haben." Lange Pause, Stimme wird härter. "Nein, keine gute Idee, ist außerdem zu spät. Vergiss das." Duncan wird fordernder. "Aber Chris, ich bitte Dich, Du mußt uns verstehen, die deutsche Öffentlichkeit..." Fay fällt ihm unwirsch ins Wort. "Hör jetzt auf damit, Peter. Ich habe Dir schon tausendmal gesagt, daß die Brent Spar eine rein britische Angelegenheit ist." Und Tschüß. Jetzt waren die beiden Greenpeacer an der Reihe. "Wir könnten die Shell-Raffinerie in Köln für eine Weile belagern oder dichtmachen, die Beluga ist auf dem Rhein unterwegs und hätte jetzt Zeit." Energischer Widerspruch. "Nein, auf keinen Fall. Mein Gefühl sagt mir, daß wir die Deutsche Shell mit Aktionen nicht weiter angehen sollten. Duncan unter starkem Druck ist unsere beste Waffe gegen Fay, aber zuviel Druck ist kontraproduktiv. Wenn einer am Boden liegt, treten wir nicht nach. Laß uns lieber alle Energie auf den kommenden Kirchtag konzentrieren." Kurze Pause. "Ok, aber was ist mit der Altair? Laß uns überlegen, was wir draußen auf See machen sollten, halb Europa starrt auf das Schiff. Was ist, wenn die Marine eingreift und das Schiff aus dem Verkehr zieht? Dafür gibts keine rechtliche Handhabe, aber bei den Briten kann ich mir alles vorstellen. Dann stehen wir dumm da." Lange Pause. "Gut, wir sollten uns zunächst etwas zurückhalten und weiter nur beschatten. Außerdem sollten wir darüber nachdenken, was wir aus der Luft bewerkstelligen könnten." Sehr, sehr lange Pause. "Apropos Luft. Mir ist noch was aufgefallen. Ich habe mir vorhin mal die Zusammensetzung des Shell-Konvois näher angeschaut. Sechs Wasserkanonen und drei Begleitschiffe rund um die Spar sind sicher ein harter Brocken. Aber sie haben zwei Fehler gemacht. Sie haben a) während des Schlepps keine Leute auf der Plattform und b) keinen eigenen Hubschrauber dabei. Das ist unsere Chance. Wir brauchen einen Hubschrauber. Haben wir eigentlich noch Geld? " Kichern. "Keine Ahnung. Ich dachte, Du wüßtest das." Im Aktionsraum hatte inzwischen ein kleiner Zettel einen Ehrenplatz auf der Seekarte mit der Route


der Brent Spar: "Unsere Stärke: Keiner weiß, was wir morgen tun. Nicht mal wir." Die Altair mit der Greenpeace-Besatzung und einem Dutzend internationaler Journalisten an Bord verfolgte die Shell-Armada seit dem Schleppbeginn am 12. Juni. Die Aufgabe der Besatzung: die Versenkung zu verzögern und im besten Fall zu verhindern. Spiegel-Redakteurin Michaela Schießl setzte ihren ersten Bericht ab: "Die Ausgangslage ist schwierig. Das schwimmende Tanklager wird bewacht von den Sicherheitsschiffen Rembas und Torbas, die mit ihren Wasserwerfern wie zwei Köter in Drohhaltung ihr Gebiet markieren. Ein drittes Sicherheitsschiff observiert die Altair. Dahinter kreuzen ein Fischereischutzschiff der Royal Navy und ein weiterer Versorger, die Grampian Pride. "Kein Zweifel, unsere Freunde meinen es ernst", sagt Kapitän Castle, "wir müssen es also auch ernst meinen. Und das möglichst schnell. Wenn ihr über Lösungen nachdenkt: Findet die einfachen, naheliegenden. Man muß die Dinge nur tun." Doch in keinem Fall zu schnell, oder gar überhastet. Harald Zindler, Aktionskoordinator an Bord der Altair: "Im Grunde war es eine Woche permanenter Nervenkrieg mit direktem Blickkontakt. Auf der einen Seite wir und der immer stärker werdende Druck an Land durch die täglichen Fernsehbilder und Nachrichten von der Boykottentwicklung. Und auf der anderen Seite die englische Regierung und Shell auf allen Ebenen - Shell im Vorstand, Shell in London, Aberdeen und Hamburg, und Shell an den Wasserkanonen. Die Uhr lief jedenfalls ab. Es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendjemand agierte und einen Fehler machte." Zindler gibt zunächst die Order aus, die Taktik der Begleitschiffe, die die Brent Spar rund um die Uhr mit ihren Wasserkanonen einnebelten, mit den Schlauchbooten zu testen. Die Shell-Leute auf ihrem Feldherrenhügel an Bord der Rembas und die Norweger in den Abschirmbooten sind ausgesprochen clever. Sie bleiben stoisch auf ihren strategischen Positionen, und lassen sich nicht von der Plattform weglocken. Normalbetrieb, Abwarten. Am Dienstag spielt Shell seine erste Karte. Ein Hubschrauber aus Edinburgh mit einem Gerichtsdiener an Bord versucht, einen Haftbefehl gegen Jon Castle zuzustellen. Castle hatte, mit der Vorbereitung der Altair in Scheveningen beschäftigt, eine Vorladung vor Gericht verpaßt. Die Landeerlaubnis auf der Altair muß "aus Sicherheitsgründen" verweigert werden. Als der Mann im Helikopter versucht, das Schreiben per Megafon zuzustellen, laufen die Signalhörner des Greenpeace-Schiffes auf voller Lautstärke. Auch der letzte Versuch, die


Zustellung des offiziellen Schreibens per Shell-Boot, scheitert. Als die wasserdichte Schriftenrolle an Bord geworfen wird, werden gerade die Decks geschrubbt. Ein ungeschickter Besen befördert die unerwünschte Postwurfsendung über Bord. Was ist der nächste Schachzug? Warten. Die Kletterer überprüfen zum zehnten Mal ihr Geschirr und die Überlebensanzüge, die Journalisten langweilen sich. Zindler und die Kampagner halten den Kontakt zum Land. Aus Amsterdam, London und Hamburg laufen widersprüchliche Informationen ein. 15. Juni, Donnerstag früh: Bei Shell scheint sich intern etwas zu bewegen. Jan Slechte, der Direktor der Shell Niederlande, hat in einem Interview die Möglichkeit angedeutet, über die Entsorgung der Brent Spar neu zu verhandeln. Auch die Deutsche Shell, daß lassen Telefonate erkennen, übt inzwischen verstärkt Druck auf Chris Fay aus. Hoffnung? Am Donnerstag nachmittag dementiert die Shell Uk jede Änderung des Plans. John Major verkündet in Halifax auf dem Weltwirtschaftsgipfel, er halte ebenfalls an der Versenkung der Brent Spar fest. Die Shell-Leute auf den norwegischen Sicherheitschiffen interpretieren das als Aufforderung, den Verfolgern jetzt entgültig den Schneid abzukaufen. Die Wasserkanonaden nehmen zu; der Kapitän der Kronbas läßt mit dem harten Wasserstrahl direkt auf das Brückenhaus der Altair halten. Er droht Jon Castle über Funk, ein Netz in die Schiffsschraube zu werfen. Kronbas an Altair: "Ich habe hier eine nette Falle für Euch und mein Messer schon aus der Scheide. Und schöne Grüße von Walfänger Bastensen." Altair an Kronbas: "Danke für die Information. Hört sich interessant an." Immer freundlich, immer ruhig. Warten. Nach über fünf Tagen Geleitfahrt geht es am frühen Freitagmorgen schließlich zur Sache; die Wasserschlacht beginnt. Der Spiegel wie gewohnt süffisant und in Starkdeutsch: "Die Außenborder heulen auf, ein letztes Nicken, dann geben die Umweltschützer guten Gewissens vollen Stoff. Entschlossen wie ausgehungerte Moskitos werfen sich die fünf winzigen GreenpeaceSchlauchboote den drei eisernen Sicherungsbooten Rembas, Torbas und Grampian Pride entgegen. Eine Inszenierung wie aus dem Bilderbuch: aufrechte Gläubige auf dem Weg zu den Löwen." Harald Zindler sieht die Sache weniger prosaisch: "Alles eine Frage der Taktik und des Timings. Die fünf Schlauchboote hatten ihre klaren Jobs. Drei Boote fuhren Ablenkung direkt bei der Brent Spar, zwei Besatzungen sollten zeitgleich an der Reling der Rembas für Irritation sorgen. Das war alles." Den zentralen Job der Aktion, die Besetzer auf die Plattform zu bringen, übernimmt ein anderer, mit dem


Shell nicht gerechnet hat: Hubschrauberpilot Uwe Lahrmann. Lahrmann, Pilot einer Hamburger Charterfirma, war erst wenige Tage zuvor angefragt worden: "Als Greenpeace uns um den Flug gebeten hat, war mir das Risiko klar." Lahrmann sagte dennoch zu. Am Freitagmorgen fliegt er pünktlich mit seiner BO 105 ein. Er nimmt drei Kletterer von der Altair auf, und steuert, während die Wasserkanonen noch mit den fünf Schlauchbooten beschäftigt sind, seinen Helikopter weiter zur Brent Spar. Der Anflug mißlingt: "Zuerst war der Strahl gar nicht zu spüren, aber dann drang das Wasser durch das Seitenfenster." Die Maschine wird von den Spritzkanonen getroffen und droht, ins Drudeln zu kommen. Lahrmann dreht ab und landet auf der Altair. Auch die Schlauchboote sind zurückbeordert. Lahrmann beruhigt die Gemüter, keine Gefahr. Doch die erste Bilanz sieht schlecht aus: Shell hat die Brent Spar erfolgreich verteidigt und hält zwei Leute aus den Schlauchbooten gegen ihren Willen an Bord der Rembas fest. Der Kapitän teilt mit, sie müßten bleiben - der eine sei ein normaler Schiffbrüchiger, der über Bord eines Schlauchboots gespült worden sei, der andere allerdings ein Pirat, weil er über die Reling an Bord gekommen sei. Abwarten. Zwei Stunden vergehen; Zweifel. Dann kommt der nächste Anlauf wie aus heiterem Himmel. Plan B. Der Spiegel: "Tatsächlich lassen die Shell-Schiffe zufrieden Druck ab. Der zweite Angriff um 12 Uhr mittags überrumpelt sie vollkommen. Ohne Vorwarnung zieht der Hubschrauber von der Altair in die Luft und ist diesmal vor den Fontänen über der Plattform. Den Helikopter abschießen, das will dann doch keiner riskieren. Al und Eric, die beiden ausgebildeten Kletterer, springen aus zwei Meter Höhe auf die Plattform." Al Baker, einer der Besetzer, meldet sich über CBFunk bei der Altair. Kollege Eric hat sich bei der Landung auf Deck die Ferse angebrochen, aber ansonsten sind beide wohlauf: "Wir wissen jetzt, wo die Verkabelung für die Sprengsätze verläuft." Zindlers Anweisung ist knapp und eindeutig: "Kappen." Am späten Nachmittag durchtrennen die Besetzer sytematisch die Kabelstränge, die von der elektronisch gesteuerten Zündeinheit zu den Sprengstoffpaketen führen. Daß die Brent Spar am North Feni Ridge auch nach einer Räumung nicht mehr sofort versenkt werden kann, hat der Shell-Krisenstab auf der Rembas nur vermuten können. Die Shell-Schiffe und die gecharterte Altair waren mit Satelliten- und Kommunikations-High-Tech ausgestattet und hörten sich, wenn sie über die VHF-Seefunkkanäle kommunizierten, mit sogenannten "Scannern"


konsequent gegenseitig ab. Jedes Wort, auch der VHF-Sprechfunkverkehr mit den zwei Besetzern, wurde von Computern aufgezeichnet. Doch die wirklich wichtigen Gespräche zwischen Altair und Besetzern blieben Shell immer ein Rätsel. Die Greenpeacer wechselten, nachdem das Codewort "Mikrowelle" gefallen war, von VHF auf CB-Funk, den sogenannten "Bürgerkanal". Das waren jene kleinen Handgeräte, die nur eine geringe Reichweite haben, und in der Spielzeugversion für 29,80 DM, inclusive Batterien, in jedem Kaufhaus angeboten werden. Richtige Funk-Profis schütteln über die Billigteile aus China nur den Kopf - und Shell hatte die Geräte wie erwartet nicht an Bord. Auch auf See hatte der Konzern kein Ohr für die Stimmen der Bürger. Wie sagte Jon Castle: "Wenn ihr über Lösungen nachdenkt: Findet die einfachen, naheliegenden. Man muß die Dinge nur tun." Greenpeace hatte das Symbol Brent Spar zum dritten Mal besetzt.


8. Wer hat hier Boykott gerufen?

E.F., Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, war spürbar vergrätzt, denn so etwas hatte er noch nicht erleben, geschweige denn kommentieren müssen. "Die smarten Kampagnen-Designer von Greenpeace," grantelte er am 21. Juni, "können wahrscheinlich ihren Erfolg nicht fassen. Eine ganze Nation tanzt nach ihrer Pfeife, und die politische Klasse verliert den Verstand. Minister, Parteiführer, Gewerkschaftsvorsitzende, Kirchentagspräsidenten schwören mit martialischem Kriegsgeschrei die Deutschen auf ein Feindbild ein: Shell. Die Kriegskeule, die geschwungen wird, heißt Boykott. (...) Wie kommen eigentlich demokratisch gewählte Politiker dazu, sich zu Statisten in einer Inszenierung symbolischer Politik machen zu lassen?" Das dürfe, so E.F. weiter, nicht ohne Folgen bleibe. Der Kommentator drohend: "Man wird, wenn der Shell-Trubel vorbei ist, über die Macht gut organisierter Pressure-Groups wie Greenpeace sprechen müssen." Die Schelte ging an die falsche Adresse. Greenpeace hatte weder die Bonner Politiker zu Marionetten degradiert noch zum Shell-Boykott aufgerufen. Die Organisation hatte nur getan, was sie am besten beherrscht: In aller Öffentlichkeit ihre Finger auf eine Wunde gelegt. Zu sprechen wäre in Sachen Boykott allenfalls über die Rolle einer Organisation, bei der auch die FAZ umstürzlerische Umtriebe kaum vermuten würde: die Junge Union. Der nordrhein-westfälische Landesverband der christdemokratischen Jugend war es gewesen, der am 24. Mai, einen Tag nach der Räumung der Brent Spar, als erste politische Gruppierung in der Bundesrepublik dazu aufgerufen hatte, die Tankstellen mit der Muschel weiträumig zu umfahren. Auch Greenpeace war überrascht. Angenehm. Anruf eines Brent Spar-Kampagners bei der Pressestelle der Jungen Union in Bonn: "Sagen Sie, ist Ihnen klar, auf was Sie sich da gerade einlassen? Ist das ein ernstzunehmender Boykottaufruf gegen Shell?" Stille. Äh, man muß sich erst einmal schlau machen. Rückruf der JU nach mehreren Stunden: "Nein, das ist keine beschlossene bundesweite Geschichte, das ist eindeutig ein Alleingang." Doch der Gedanke, klein vermeldet in einigen überregionalen Tageszeitungen, keimte. Die JU-Landesverbände Schleswig-Holstein und Brandenburg zogen nach. Gerüchte kamen auf, die CSU führe ähnliches im Schilde. Fünf Tage später sprach auch Klaus Lennartz, Bonner SPD-Abgeordneter, von der Möglichkeit, "daß die Verbraucher Shell-Tankstellen meiden."


Laut der EMNID-Studie, die Greenpeace nach dem ersten Vorstoß der Jungen Union in Auftrag gegeben hatte, waren schon Ende Mai rund 74 Prozent der Bevölkerung zu einem Boykott bereit. Nur: Sie wußten es nicht. Viele Autofahrer verzichteten spontan darauf, ihren Tank bei Shell zu füllen. Doch von einem flächendeckenden Boykott gegen Shell konnte noch Anfang Juni die Rede nicht sein. Erst nach der Esbjerger Nordseeschutzkonferenz, wo der Widerstand gegen den Multi politisch absolutiert worden war, und dem fast zeitgleichen Schleppbeginn der Brent Spar entwickelte sich der spontane Einzelprotest zu einer erstaunlichen "Volksabstimmung an der Zapfsäule". Die Entwicklung des Boykott, der Shell am 20. Juni schließlich zur Umkehr zwang, war ein vielschichtigen Szenario. Die wichtigsten politischen Stationen: CSU-Generalsekretär Bernd Protzner kündigt am 12. Juni an, er werde in Zukunft seinen Wagen nicht mehr bei Shell betanken. Die Umweltbeauftragten und die Synodale der nordelbischen Kirche rufen am gleichen Tag zum Boykott auf. Die Grünen in Hessen und der Verkehrsclub Deutschland (VCD) schließen sich an. Am 13. Juni verlautbart FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle den Entschluß, die Dienstfahrzeuge der Parteizentrale nicht mehr bei Shell zu betanken. Renate Schmidt vom Präsidium der SPD und Joschka Fischer verkünden ebenfalls ihren Boykott. Am 14. Juni ist die hessische CDU mit von der Partie. Der Strumpfhersteller Kunert AG betankt seine Fahrzeugflotte nicht mehr bei Shell. Das baden-württembergische Umweltministerium in Stuttgart gibt seine Shell-Flottenkarte zurück. Auch der Auto Club Europa (ACE) gibt bekannt, daß seine Pannenhelfer und Dienstfahrzeuge ShellTankstellen nicht mehr anfahren. 15. Juni, der Tag des Kabinetts. Außenminister Klaus Kinkel ("Die Meere dürfen nicht als Müllkippe mißbraucht werden") und Ex-Umweltminister Klaus Töpfer fordern eine Entsorgung an Land. Finanzminister Theo Waigel (CSU) äußert zeitgleich Verständnis für den Boykott. Die PDS schließt sich an. Auch die Junge Union ruft nun bundesweit zu einem Boykott auf. Hätten allein diese Politiker, Funktionäre, Firmen und spontanen Verweigerer auf Shell-Sprit verzichtet, der Boykott und die Verluste für Shell wären lächerlich gewesen. Daß Millionen von Autofahrern mitzogen und der Protest den Konzern überrollte wie eine Lawine, dafür sorgten weder die Politiker noch die Greenpeace-Kletterer, sondern die Medien. Sie griffen, mit plötzlich erwachter Lust auf Parteilichkeit, beherzt ein und machten die Idee zu einem Massenphänomen, den leisen Aufruf zur lauten Bewegung. Zwischen dem 13. und 20. Juni verging kein Tag, an dem die Position


der Brent Spar und der Stand der Boykott-Bewegung nicht in den TV-Nachrichten aller Sender vermeldet wurde. Der Spiegel, obwohl mit der Titelstory "Aufstand gegen Shell", zwei Leuten an Bord der Altair und einem Spiegel-TV-Team selbst schnell auf den fahrenden Zug gesprungen, süffisant über die Kollegen: "Abend für Abend wurde das rostige Stahlgerippe, fast so hoch wie der Kölner Dom, in majestätischer Langsamkeit vor den Augen des Fernsehvolkes vorbeigezogen." Boulevardblätter wie BILD, die Hamburger Morgenpost oder der Kölner Express machten das Thema zu ihrer ureigenen Kampagne. Sie fragten "Tanken Sie noch bei Shell?" und bezogen eindeutig Position: "Schämen Sie sich, Mister Shell!". Die Berliner BZ forderte am 14. Juni auf der Titelseite "Shell muß die Öl-Plattform stoppen!" und führte eine bunte Riege von Fürsprechern ins Feld: u.a. Harald Juhnke, Eberhard Diepgen, Margarete Schreinemakers, Lotti Huber, Heinrich Lummer, Regine Hildebrandt und Bärbel Bohley. Der Express, besonders hartgesotten, wenn er jemand auf dem Kieker hat, fuhr seine Kampagne unter dem Slogan "Kehrt um!" und brachte mit jeder Ausgabe vorgedruckte Protestbriefe an den Shell-Chef Peter Duncan unter die Leser. Radiosender stellten bundesweit ihre Programme um. Jede Hörerbefragung lief jetzt unter dem Thema: Brent Spar. Die feinsinnigeren unter den deutschen Tageszeitungen beobachteten dagegen mit Verwirrung, was da plötzlich vor sich ging: "Doch seltsam: CDU/CSU/FPD-PolitikerInnen, die die Grünen glatt rechts liegen lassen? Autofahrer als wahrhafte Kämpfer für den Erhalt der Lebensgrundlagen?" spekulierte die Taz und schulmeisterte weiter: "In Deutschland gehört es inzwischen zum guten Ton, ein bißchen die Umwelt zu schützen." Noch am Tag zuvor hatte das gleiche Blatt dazu aufgerufen, alte Schrottautos bei Shell-Tankstellen abzugeben, und sich für die Boykottisten erwärmt. War die Teilnahme am Shell-Boykott etwa eine moderne und praktische Form des Ablaßhandels? Mahnend an die Adresse der Boykotteure die Stuttgarter Nachrichten: "Nein, Verzicht mußte niemand üben. Opfer wurden keinem abverlangt. Ein kleiner Umweg zur nächsten Zapfsäule, 500 Meter vielleicht oder ein bißchen mehr. Dort wird die gleiche Leistung zum gleichen Preis angeboten. Den Boykott gab es zum Nulltarif." Der Vorwurf der Heuchelei und das schlechte Gewissen mancher Boykotteure half Shell indess wenig weiter. Dort liefen die Telefone heiß. Im Hamburger Hauptquartier des Konzerns wurden zusätzliche Sicherheitskräfte abgestellt; jedes eingehende Paket durchleuchtet. Die Angst vor einem


Anschlag war nicht unbegründet. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni wurde eine Shell-Tankstelle in Mörfelden-Walldorf bei Frankfurt beschossen. Die sechs Projektile trafen die Zapfsäulen, das Schaufenster und ein Werbeplakat. Eine Nacht später, am 17. Juni, stand im Hamburger Stadtteil Volksdorf eine Shell-Station in Flammen. Unbekannte Täter hatten Feuer gelegt, und Parolen wie "Keine Versenkung von Brent Spar" und "Shell to Hell" gesprüht. Der Feuerwehr gelang es mit Mühe, den Brand zu löschen und das Übergreifen auf die unterirdischen Tanks zu verhindern. Konsequenz: Die Polizei fuhr nun verstärkten Objektschutz bei den 43 Hamburger Shell-Tankstellen. Die Volksbewegung gegen den Shellschen Starrsinn drohte sinnlos zu eskalieren und wie die Brent Spar selbst aus dem Ruder zu laufen. Am Freitagmorgen, sechs Stunden nach dem Hamburger Brandanschlag, klingelte bei Rainer Winzenried, dem Pressechef der Deutschen Shell, das Telefon. In der Leitung war ein Brent SparKampagner. Er erklärte Winzenried, daß in wenigen Minuten eine Greenpeace-Erklärung an die Presseagentur dpa gehen würde und las ihm die zentralen Passagen vor: "Greenpeace appelliert an die Öffentlichkeit, bei Boykott-Aktionen und Protesten auf jegliche Art von Gewalt zu verzichten. Wir haben für kriminelle und gewalttätige Handlungen nicht das geringste Verständnis, sagt Thilo Bode, Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland." Doch die Boykott-Welle sei inzwischen emotional so hochgeschwappt, so der Greenpeacer, daß selbst ein Abzug der Altair den Zorn auf Shell nicht mehr bremsen könne. Nur noch die Shell selbst sei jetzt in der Lage, die Dinge zu ordnen, indem sie die Brent Spar stoppe. Der Greenpeacer bat Winzenried, auch in den Shell-Stellungnahmen die Lage nicht weiter anzuheizen, und schlug vor, sich gemeinsam zu äußern. Winzenried stimmte ohne Zögern zu. Am Abend des gleichen Tages waren Thilo Bode und Klaus-Peter Johanssen in eine Talkshow des Bayrischen Rundfunks geladen. Sie stritten sich in der Sache, aber richteten einen gemeinsamen Appell an die Öffentlichkeit, ruhig zu bleiben und wegen einer Plattform nicht die Nerven zu verlieren. Eine Stunde vor der Sendung saß Roland Hipp in Hamburg an seinem Schreibtisch. Er fragte sich, ob Greenpeace die gesamte Brent Spar-Kampagne nicht sofort abblasen und einstellen mußte. Vor ihm lag eine dpa-Meldung, wonach in Belgien, kurz hinter der deutschen Grenze, eine Autobahntankstelle in die Luft geflogen war. Die erste Meldung sprach von mehreren Toten. Erst nach einer halben Stunde kamen weitere Informationen. Es war ein Unfall, und keine Shell-


Tankstelle. Die Tankstellenpächter litten schwer unter dem Boykott. Die Deutsche Shell, mit rund 13 Prozent Marktanteil nach Aral (20 Prozent) zweitstärkster Anbieter im bundesdeutschen Tankstellennetz, beziffert die zwischenzeitlichen Umsatzeinbußen vage mit "20 bis 30 Prozent". Doch einzelne Pächter wurden weitaus härter getroffen. Mit dem Evangelischen Kirchentag, auf dem sich auch sein Präsident Ernst Benda für den Boykott ausgesprochen hatte, war die ganze Wucht der Bewegung entfacht worden. Die Christen beließen es nicht bei stillen Gebeten für die Besetzer. An den Hamburger Shell-Tankstellen sah sich jeder Motorist, der sich an die Zapfsäule wagte, von demonstrierenden Kirchtagsbesuchern oder Schülergruppen umringt. "Unser Umsatz ist um 70 Prozent zurückgegangen", bestätigte der Tankwart an der Station am Hamburger Bahnhof Dammtor. Auch in Berlin waren die Shell-Stationen praktisch tot: "Die Leute kommen rein, kaufen Zigaretten, und fragen, wo die nächste Tankstelle ist." In Freiburg sagte Pächter Berthold Schott: "Ich rechne mit rund 50 Prozent Minus." Schott nahm`s relativ gelassen: "Wenn die Leute von Greenpeace nochmal kommen, mach ich ein Grillfest. Die haben doch recht, und ich kann`s nicht ändern." Das konnte nur die Deutsche Shell. Die Hamburger Krisenmanager mühten sich hinter den Kulissen bereits redlich, der Konzernspitze das Ausmaß der Katastrophe zu schildern und Shell UK zum Einlenken zu bewegen. Kein Konzern hatte jemals in so kurzer Zeit soviel an Glaubwürdigkeit verloren. Die Falle, die man sich mit der gefährlichen "Verantwortungs"-Werbekampagne selbst gestellt hatte, war durch die britische Plattform zum "PR-Gau" geworden. Die Brent Spar hatte einen zentralen Nerv in der Bevölkerung getroffen, und die Boykotteure spürten, daß der Koloss verwundbar war. Am Donnerstag, den 15. Juni, schienen Peter Duncans Meldungen bei der Zentrale auf Gehör gestoßen zu sein; seine Geheimdiplomatie Erfolge zu zeigen. Der Direktor der niederländischen Shell, Jan Slechte, in einem frühmorgendlichen Interview: "Falls sich die britische Regierung zu einer Überprüfung ihrer Entscheidung entschließt, wäre Shell bereit, die laufende Aktion zu stoppen und neu zu verhandeln." Das sah nach Kapitulation, nach der ersehnten Weißen Fahne aus; damit schien die Sache gelaufen. Die Medien vermeldeten: "Konzern lenkt ein!" Irrtum. Am gleichen Abend stellte Chris Fay für die Shell Uk verbissen klar: "Alles weiter wie gehabt. Es wird versenkt." Doch inzwischen waren auch die Medien in Londons Fleetstreet aufgewacht. In der Woche, als in Deutschland der Zorn hochkochte, wurden die ersten kritischen Artikel lanciert, die


den Boykott nicht mehr allein als überzogene "German Angst" oder pure Umwelthysterie abtaten. In Dänemark und den Niederlanden hatten sich weitere Politiker und Kabinettsmitglieder, Umweltminister und Wirtschaftsminister, ebenfalls zu Boykotteuren erklärt. Beeindruckt waren die Briten vor allem, nachdem sie die Ausweitung des deutschen Protestes nicht nur nach Holland, Belgien und Dänemark, sondern vor die eigene Haustür vermerkten. Am 16. Juni, als draußen auf dem Nordatlantik der Nervenkrieg tobte und der Hubschrauber die zwei Kletterer auf der Brent Spar absetzte, standen in sieben englischen Großstädten über 300 Greenpeacer und Greenpeacerinnen an 40 Shell-Tankstellen. Sie informierten die Autofahrer, überreichten Flugblätter und Protestpostkarten. Und: Sie riefen im Namen von Greenpeace UK zum Boykott auf, was offenbar auf fruchtbaren Boden fiel. Erste schnelle Umfragen in London ergaben, daß auch die englischen ShellTankstellen Umsatzeinbußen von 20 bis 30 Prozent erlitten hatten. Das war plötzlich eine Story nicht nur für die politischen Kommentatoren oder Umweltreporter, sondern für die Skandal-Presse. Im deutschen Brent Spar-Aktionsraum mehrten sich die Anrufe von Londoner Journalisten, die Brent Spar nicht einmal buchstabieren konnten und von der Nordsee-Problematik keine Ahnung hatten. Sie wollten wissen, wie die deutschen Zeitungen in den Boykott eingestiegen waren. Wichtigste Frage dabei: Welche Leser-Aktionen waren am erfolgreichsten? Das konnte nur eines bedeuten: Die Stimmung schlug um. Die absolut blutrünstigen Londoner Boulevardblätter, wie die Sun oder der Daily Mirror, hatten nun Lunte gerochen. Der ungeliebte Premierminister John Major war bisher bei allen Gelegenheiten als energischster Verteidiger und Fürsprecher Shells aufgetreten. Jetzt lag der Konzern auf dem Kontinent am Boden; und offensichtlich war nun die Gelegenheit da, ihm und damit auch dem Premier billig in die Parade zu fahren. Die Brent Spar wurde zu einem weiteren Akt in dem seltsamen Schauspiel, mit dem die Insulaner in masochistischer Lust am Königsmord ihre Innenpolitik zelebrieren. Selbst der seriösere Observer titelte in seiner Wochenendausgabe vom 18. Juni plötzlich "Give Shell Hell" und führte aus: "Brent Spar muß zurück an Land; ein Präzedenzfall geschaffen werden, daß der Verursacher auch wirklich zahlt. Shell wird nur zu Sinnen kommen, wenn es an den Geldbeutel geht. Schließen Sie sich dem Boykott an." John Major, derlei Ungemach gewohnt, schlug sich wacker und nahm sich, um Stärke zu beweisen, zunächst den Kanzler vor. Helmut Kohl hatte die Brent Spar zum Thema auf dem G7-


Wirtschaftsgipfeltreffen im kanadischen Halifax gemacht und vollmundig angekündigt, mit Major "von Mann zu Mann" reden zu wollen. Die Versenkung, die John Major da guthieß, müsse nicht sein. Helmut Kohl: "Wenn ich eine Firma zu leiten hätte, würde ich nicht ein Verhalten an den Tag legen, das mein Geschäft negativ beeinflußt." Major sagte Kohl in Halifax, was er davor hielt, und gab dem Deutschen eine deutliche Abfuhr. Kohl kleinlauter nach dem Gespräch: "Wir haben darüber gesprochen und sind uns nicht einig. So einfach ist das." Doch so einfach war es nicht. Allein die Tatsache, daß eine rostige Shell-Plattform zu einem Thema auf dem Wirtschaftsgipfel der sieben wichtigsten Industrienationen geworden war und plötzlich auch die Titelseiten der Times und der Washington Post bestimmte, bewirkte einen politischen Umschwung. Die Front der Ignoranz in Großbritannien weichte weiter auf. Die Opposition im britischen Unterhaus stürzte sich auf die Regierung und verlangte eine aktuelle Stunde im Parlament. Energieminister Tim Eggar kam unter Beschuß; seriöse Wirtschafts-Journalisten begannen zu recherchieren, wie es zu der Versenkungsentscheidung gekommen war. Die britischen Fernseh-Kanäle waren plötzlich voll mit den Aufnahmen, die sie bisher abgelehnt hatten. Die Brent Spar war nun ein brandheißes Thema; Chris Fay ein gefragter Interview-Partner, der sich unbequemen Fragen stellen mußte. Spätestens am dritten Juni-Wochenende war auch Shell Uk klar, daß mit der Versenkung der Brent Spar die Affäre nicht vom Tisch sein würde. Vor allem, daß sich Wirtschaftszeitungen wie das Wall Street Journal oder die Financial Times der Brent Spar angenommen hatten, sandte ein klares Signal aus: Hier ging es nicht mehr um eine Plattform, sondern um den guten Ruf der Industrie, den Shell zu verspielen drohte. Der massive Boykott der Verbraucher hatte Shell zwar allein in Deutschland Verluste in zweistelliger Millionenhöhe beschert, aber keinesfalls an den Rand des Ruins getrieben. Portokasse. Auch daß die 30 Millionen Mark für die Werbekampagne in den Wind geschrieben waren, steckte der Konzern bei einem Jahresgewinn von knapp 6,3 Milliarden US-Dollar (1994) noch locker weg. Alarmierend war dagegen die zu erwartende Langzeitwirkung: Nach Aussage eines Branchenkenners entsteht aus der Bereitschaft des Kunden, sich an der "richtigen" Tankstelle langfristig einzunisten, eine starke Markenbindung. Oder umgekehrt: Der Stammkunde, der Shell boykottiert und damit von der "falschen" Marke weggeht, kommt nicht so schnell wieder. Analysen, die dem Shell-Konzern vorlagen, zeichneten dementsprechend ein düsteres Bild. Der Konzern


konnte sicher sein, nach der Versenkung und dem hochwahrscheinlichen Ende des spontanen Massenboykotts die große Menge der Laufkundschaft wiederzugewinnen. Gleichwohl lief er aber Gefahr, kritische Prozentpunkte und Marktanteile auf Dauer zu verlieren. Die Verve und Intensität, mit der die Brent Spar in den Tagen vor dem 20. Juni in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, brannten Shells kühl geplanten Umweltfrevel tief ins Gedächtnis der Kunden ein. Bei einer Versenkung wäre die Plattform über Jahre hinweg zu einem Menetekel geworden, gegen das Bhopal oder das EssoDesaster mit der Exxon Valdez wie kleinere Betriebsunfälle verblaßt wären. Fazit: Bei einer Versenkung war der Ruf des Weltkonzerns auf Jahre hinaus ruiniert; der Langzeitverlust weit, weit höher zu beziffern als die 85 Millionen Mark, die Shell Expro bei der Versenkung eingespart hätte. Der Boykott gegen Shell war so schnell zu einer kreuzzugartigen Massenbewegung geworden, so schnell und schlagartig erfolgreich, daß den Analytikern und gewerblichen Bewegungsmeldern kaum eine Chance blieb, zeitgleich zu räsonieren. Dafür fielen die Wertungsnoten nach der Kür umso höher aus. Der Soziologe Ulrich Beck in der Berliner Wochenpost: "Das politische System hat in Umweltfragen seine Legitimation verbraucht. Industrie, Politik, Verwaltung treffen Absprachen mit dem Effekt, daß die Meere, die Arten sterben. Nicht Greenpeace erzeugt eine Krise des politischen Systems, sondern Greenpeace macht eine latente Legitimationskrise des politschen Systems sichtbar, die in manchen durchaus Parallelen zu dem hat, was wir in der DDR erlebten." War die Brent Spar die Berliner Mauer der Industriepolitik? Beck weiter über die Boykotteure: "Es war ein Bündnis der Nicht-Bündnisfähigen, der sich ausschließenden Wahrheiten, wenn man daran denkt, daß Autofahrer gegen die Benzinindustrie mobil machten, daß ein außerparlamentarischer Akteur wie Greenpeace sich letztlich verbündet hat mit der parlamentarischen Gewalt, nämlich Kohl. Es war ein völliger Wechsel der Szenarien: Die Regierungen saßen auf der Zuschauerbank, während nichtauthorisierte Akteure das Geschehen bestimmten." Die gleiche Kerbe traf Konrad Adam im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen: "Die Akteure im Drama vor der Küste Schottlands waren nicht mehr Minister oder Parteivorsitzende, sondern zwei Multis, von denen der eine mit Öl, der andere mit Emotionen handelt. Beide sind professionell geführt und straff organisiert, ziemlich wohlhabend, geschäftserfahren und hart in der Wahl ihrer Mittel. Die dritte Hauptrolle spielten die gleichfalls überstaatlich agierenden Medien. Sie stellten den Resonanzboden und die Projektionsflächen, auf denen alles, was Shell und Greenpeace taten, rund


um die Welt verbreitet wurde. Diese drei lieferten die Argumente, erzeugten den Druck und trafen letztlich auch die Entscheidungen. Die sogenannte große Politik kam erst viel später. Und als sie kam, spielte sie eine kleine und ziemlich lächerliche Rolle, die des Lakaien oder Clowns." Die Folgen sind nach Einschätzung des Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter allerdings nur ermutigend. Er schreibt über die Bereitschaft von Millionen, Shell zu boykottieren: "Die Politik kann nicht mehr scheinheilig grüne Begriffe besetzen und hinter dieser Tarnung ungestraft industriehörig Risikotechnologien fördern. Die Industrie selbst steht auf dem ökologischen Prüfstand und kann Shell hat es bitter erfahren - auch mit den gewieftesten und aufwendigsten PR-Kampagnen vorhandene Unglaubwürdigkeit nicht länger verdecken. Überdies hat der Boykott sich als eine legale friedliche Waffe von ungeheurer Schlagkraft erwiesen." Kein Wunder also, daß E.F., Redakteur der konservativen FAZ, überlaunig folgerte: "Man wird über die Macht von Greenpeace reden müssen." Wird man auch über die neu erwachte Macht der Verbraucher, über das Erwachen aus der Ohnmacht, über das daraus erwachsene neue Selbstbewußtsein reden müssen? Wie wird man diese aus dem tiefen Schlummer erwachten Kräfte wieder einschränken wollen? Für Thilo Bode ist es bezeichnend, daß man erst darüber reden will, nachdem Greenpeace vor laufenden Kameras eine Plattform besetzte und die Verbraucher in Folge einen Weltkonzern in die Knie zwangen: "Solange der Bürger brav seine Rollen als Steuerzahler, Urnengänger, und stummer deutscher Michel spielt, und die Politik mit der Industrie die Fäden in der Hand hält, ist alles bestens geregelt. Da stört auch Greenpeace als Überdruckventil nicht weiter. Doch wenn sich die Beiden verbündeten, und gemeinsam eine politische Kampagne gegen den drittgrößten Konzern der Welt gewinnen, dann kommen erst die Erkenntnis "Mein Gott, die haben ja Macht!" und dann der Aufschrei "Gefahr, Anarchie!". Und eben die entscheidende Frage: Wer, wenn nicht der Bürger, hat in diesem Land die Legitimation, Boykott zu rufen?"


9. Der zwanzigste Juni: Shell

Noch sechsunddreißig Schleppstunden bis zur Ankunft der Brent Spar im Versenkungsgebiet West Feni Ridge; und auf den Tag genau zehn Wochen, seit Greenpeace die Besetzung in Amsterdam beschlossen hat - auf dem Flugplatz von Stornoway, der Hauptstadt der Äußeren Hebriden-Insel Lewis, fliegen an diesem 20. Juni zwei Hubschrauber der britischen Chartergesellschaft Bristow Ltd. ein. Die Zivilmaschinen, eine Bell 212 und ein Tiger, landen kurz nach 11 Uhr auf einem abgeschirmten Teil des Flughafens, der normalerweise der königlichen britischen Luftwaffe RAF und der Küstenwache vorbehalten ist. Die rund ein Dutzend Passagiere, die den Maschinen entsteigen, tragen orange und olivgrüne Overalls und verschwinden in einem abseits gelegenen Hangar. "Irgendwas sehr Außergewöhnliches geht da vor sich. Seit dem Besuch der königlichen Familie in Stornoway habe ich solche Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr erlebt," bemerkt ein Flughafenarbeiter. Auch über dem Ärmelkanal herrscht an diesem Dienstag morgen außergewöhnlicher Reiseverkehr. Ein firmeneigener Jet der Shell ist auf dem Weg nach Den Haag. An Bord der Maschine: Chris Fay, der Vorsitzende von Shell Uk. Der Brite ist, nachdem er in den vergangenen Tagen fast täglich mit dem Konzern-Chef Cornelius Herkströter in Kontakt gestanden hat, nun von der obersten Leitung der Royal Dutch/Shell-Gruppe, dem Committee of Managing Directors (CMD), einbestellt. Chris Fay soll zu dem einzigen Punkt auf der Tagesordnung sprechen: Brent Spar. Just zu Fays Flugstunde sind weitere Ungereimtheiten in der Sache aufgetaucht. Greenpeace hat in London und Hamburg zeitgleich einen hausinternen Vermerk des Fischerei-Labors des britischen Ministeriums für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung veröffentlicht. In dem zweiseitigen Schreiben vom 6. Dezember 1993 wird auf die Anfrage eines AURIS-Mitarbeiters Bezug genommen, der sich bei dem Labor nach den Entsorgungsbestimmungen für 4.500 Liter der Chemikalie Glyoxal erkundigt hat. Das Glyoxal ist an Bord der Brent Spar verwendet worden, um insgesamt 50.000 Kubikmeter kontaminiertes Öl zu binden. Der Vermerk ist über den Schreibtisch des Laborleiters gegangen, und der hat als Antwort an den Verfasser handschriftlich vermerkt: "Danke für die Notiz. Der Abfall kann grundsätzlich nicht auf See entsorgt werden. Die einzige Option ist die Behandlung an Land. Jegliche Freisetzung von Abwässern braucht die Zustimmung der RPB."


Der Sachverhalt stellt die Shell-Unterlagen und die Gutachten für die Versenkungsgenehmigung in Frage und erschüttert die ohnehin belastete Glaubwürdigkeit des Konzerns noch weiter. Die besagte RPB, die Fachbehörde River Purification Board, ist weder in das Brent SparGenehmigungsverfahren einbezogen noch wegen des angefragten Glyoxals kontaktiert worden. Warum überhaupt erkundigt sich ein von Shell beauftragter AURIS-Mitarbeiter Ende 1993 nach den Vorschriften für 4.500 Liter giftiges Glyoxal, exakt jener Menge also, die wenige Wochen später im fertigen AURIS-Report als längst entsorgt gelten? Im Gutachten von Rudall Blanchard Associates (RBA) wird in Absatz 3.2.6. auf AURIS Bezug genommen und konstatiert: "Es wird davon ausgegangen, daß das Glyoxal eine chemische Reaktion eingegangen ist, und daß alle Reaktionsstoffe während der Außerbetriebstellungsoperation im Jahr 1991 entfernt wurden (AURIS, 1994)." Wenn das Glyoxal bzw. seine Reaktionstoffe während des Shellschen "Großreinemachens" im Spätjahr 1991 tatsächlich entfernt wurden, gibt es im Dezember 1993 keinen schlüssigen Grund mehr für die AURIS-Nachfrage. Oder sind die 4.500 Liter Glyoxal noch an Bord der Brent Spar? Sind sie sowohl von AURIS als auch im RBA-Gutachten einfach unter den Tisch gekehrt worden, weil die Chemikalien nach britischem Recht an Land zu entsorgender Sondermüll waren? Klar sind an dem Rätsel nur drei Dinge: Keiner außer Shell weiß, was an Bord war. Mit Glyoxal an Bord wäre die Versenkungsgenehmigung auf der Basis lückenhafter Shell-Angaben erteilt worden. Und: Mit Glyoxal auf der Brent Spar muß die gesamte Plattform zurück an Land, weil der Sondermüll auf See nicht vom Rest der Schadstoffe an Bord getrennt und isoliert behandelt werden kann. Der aufgetauchte Glyoxal-Vermerk ist nicht die einzige schlechte Nachricht, die Chris Fay vor der CMD-Sitzung erreicht. Auch auf See sind die Dinge noch komplizierter geworden. In der Nacht ist ein zweites Greenpeace-Schiff, die Solo, zum Schleppkonvoi gestoßen; der Bordhubschrauber hat bei Sonnenaufgang zwei weitere Kletterer auf der Brent Spar abgesetzt. Die nunmehr vier Besetzer haben angekündigt, bis zum bitteren Ende auf der Plattform auszuharren. Der englische Kampagnendirektor der Umweltschützer, Chris Rose, hat am Morgen pünktlich vor Fays Abflug in den Frühnachrichten der BBC erklärt: "Wir werden unsere Leute nicht zurückziehen. Es liegt ganz in der Hand von Shell, sie zu räumen, oder die Versenkung abzublasen." Das CMD-Treffen am diesem 20. Juni, im Sitzungssaal ganz oben unter dem Dach des Royal


Dutch/Shell-Hauptquartiers in Den Haag, beginnt um 10 Uhr und ist eine der turbulentesten Veranstaltungen, die in den heiligen Hallen bisher stattgefunden haben. Das Gremium ist nicht vollzählig: Die Amerikaner von der Shell Petroleum Inc. sind nicht da. Das Rumpf-Kabinett, die Briten John Jennings und Mark Moody-Stuart, der Holländer Martin van der Bergh sowie der CMDVorsitzende Cornelius Herkströter, haben neben Fay auch den Niederländer Jan Slechte und Peter Duncan vorgeladen. Es geht von Anfang an hoch her; Streit liegt in der Luft. Herkströter hat sich in den Wirren der vergangenen Woche seltsam zurückgehalten; von Führungsstärke an der ShellSpitze war in der Öffentlichkeit nichts angekommen. Die eigentliche Auseinandersetzung wird eine Etage tiefer, auf nationaler Ebene, ausgefochten. Während Fay weiter an seinen Versenkungsplänen festhalten will, fordert Duncan seit Tagen, die Brent Spar zu stoppen. Im Konzern tobt ein Krieg zwischen zwei verfeindeten Töchtern und Kulturen. Jan Slechte, Direktor der Shell Niederlande, schildert die Stimmung in Holland und outet sich, nach seinem vorsichtigen Verhandlungsangebot in der vergangene Woche, nun auch offen als Versenkungs-Gegner. Slechte vermeldet, daß das niederländische Königshaus, mit rund zwei Prozent an Royal Dutch beteiligt, den Konzern aufgefordert hat, dem Hochsee-Drama ein Ende zu bereiten. Die Amsterdamer Zeitungen sind voll mit Brent Spar; Shell Niederlande droht, in den deutschen Strudel hineingerissen zu werden. Peter Duncan berichtet, wie regelmäßig in den Tagen zuvor, aus Deutschland. Die Plattform, die dem Konzern von den Briten ohne Vorwarnung untergeschoben wurde, ist inzwischen das größte Desaster in über hundert Jahren Firmengeschichte. Eine katastrophale politische Fehleinschätzung der Shell-Leute auf der Insel, auf die noch katastrophaleres Krisenmangement im ganzen Konzern folgte. Duncan hat es am eigenen Leib erfahren müssen, als Shell UK ihn am vergangenen Freitag ins offene Messer laufen ließ. Duncan hatte auf einer Pressekonferenz zur Brent Spar einen Brief der Shell UK verlesen, in dem es sinngemäß hieß, man nütze die verbleibende Zeit, um den ShellStandpunkt in der Öffentlichkeit zu verdeutlichen. Peter Duncan interpretierte dies - bewußt oder unbewußt, sei dahingestellt - vor laufenden Kameras als Möglichkeit, die Versenkung zumindest zu verschieben. Zwanzig Minuten später kam über die Nachrichtenagenturen nicht nur das Dementie von Shell UK, sondern auch die Einschätzung der Journalisten, daß der Konzern offenbar nicht mehr wisse, was er tue. Greenpeace hatte den Vorgang genüßlich kommentieren können: "Wir waren


soeben Zeugen, wie bei der Weltmacht Shell die Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen vollständig kollabiert sind." Der Neuseeländer ist nach wie vor überzeugt, daß die von Shell UK vorgeschlagene Versenkung der Brent Spar die ökologischste Lösung des Problems darstellt. Doch Duncan hat in den vergangenen drei Wochen in Deutschland auch lernen müssen, daß ein Konzern in eine Sackgasse läuft, wenn er seine Umwelttechniker die Umweltpolitik des Unternehmens gestalten läßt. Duncan hat sich in einer Wertediskussion verheddert, in der tiefschürfende massensoziologische, philosphische und staatstheoretische Fragen aufgeworfen werden, während der gesunde Menschenverstand millionenfach die praktische Antwort an der Tankstelle gibt. Versenkung oder Rückzug, darum geht es längst nicht mehr, denn beide Varianten sind nach Duncan vorliegenden Analysen gleich bitter für den Konzern. Wenn die Brent Spar im Nordatlantik versinkt, ist damit das Wertesymbol längst nicht verschwunden und auf unbestimmbare Zeit mit dem Namen Shell verbunden. Das wird man in den Bilanzen lesen können. Wenn der Konzern allerdings nachgibt und an Land entsorgt, muß er nicht nur die billige Schmähung abwettern, "daß ein Konzern vor einer professionellen Spendensammlertruppe in die Knie gegangen" ist. Die Royal Dutch/Shell-Gruppe setzt sich auch dem Vorwurf aus, aus "der Schwäche heraus, die eigene Haut zu retten" etwas verspielt zu haben, das nicht nur Shell wert und teuer ist: Planungssicherheit. Wenn Shell seine Schlepper zurückpfeift, haben kühle Kosten-NutzenAnalysen, wissenschaftliche Beweisführung, Genehmigungsverfahren, abgestimmte BehördenRichtlinien und eingespielte Entscheidungswege plötzlich und entscheidend an Stellenwert verloren. Kein Mineralölkonzern, keine Industriebranche kann sich mehr sicher sein, daß ein langfristiges, kostenintensives Großprojekt am Ende nicht doch noch scheitert. Scheitert an Größen, die betriebswirtschaftlich und politisch bisher nicht einkalkuliert wurden: die öffentliche Meinung und die Macht des Verbrauchers. Duncan klagt dennoch den Rückzug ein. Er ist ein Shell-Mann, und denkt in Konzern-Kategorien: Zahlen, Umsatz, Sicherheit. Wenn der Konzern jetzt die Notbremse zieht und der Boykott damit ermattet, kann endlich Shell-like abgerechnet werden. Umsatzrückgänge an Tankstellen verteilt über zwei Wochen, Entschädigungszahlungen von zwei bis drei Millionen Mark an die Pächter, neue PRund Werbekampagne zum geeigneten Zeitpunkt plus ein paar Prozentpunkte Verlust wegen


mittelfristiger Rufschädigung ergeben eine relativ glatte Summe, die abgeglichen wird mit dem zu erwartenden Gewinn aus dem "Einsicht kommt nie zu spät"-Bonus. Der Neuaufbau der ruinierten Reputation wird zwar teuer, ist aber, da die Preise von PR-Agenturen und Werbern bekannt sind, ebenfalls plan- und kalkulierbar. Duncan hat in den vergangenen Tagen nicht nur mit Thilo Bode bei Greenpeace telefoniert, sondern auch die politische Lage genauestens sondiert. Die Politiker in Bonn haben sich so offen auf die Seite der Boykotteure geschlagen, daß es kein Zurück gibt. Glaubt man den weder bestätigten noch dementierten Berichten der englischen Daily Mail, hat Duncan sich am Wochenende Rat von höchster Stelle geholt. Kanzler Kohl, so das Blatt, habe ihn nach den Rückkehr vom Wirtschaftsgipfel zu einem persönlichen Treffen empfangen. Der Kanzler habe ihm erklärt, daß er nach der Abfuhr, die Major ihm in Halifax erteilt hat, keine Veranlassung sehe, dem britischen Premier und Shell zur Hilfe zu eilen. Er habe sich eindeutig und unwiderruflich positioniert. Die Briten sollten die Versenkung absagen; Duncan solle weiter Druck auf Fay und Herkströter machen. Duncan hat auch mit mehreren Shell-Chefs auf dem Kontinent ausführlich gesprochen. Seine Analyse: Die Lage ist inzwischen unhaltbar ist, die Entwicklung der Anti-Shell-Bewegung nach einer Versenkung nicht abschätzbar. Niemand kann bestimmen, wie weit und heftig der Boykott noch Kreise zu ziehen vermag. Doch es ist hochwahrscheinlich, daß sich die Wut auf den Konzern in die Rache für die versenkte Brent Spar verwandelt. Wohin das ausufern könnte, haben die sinnlosen und kriminellen Anschläge auf Shell-Tankstellen gezeigt. Zu erwartende Verluste also bei der Versenkung: unwägbar, nicht in Planungs- und Bilanzzahlen auszudrücken. Die europäischen ShellChefs scheinen Duncans kühle Einschätzung zu teilen. Deshalb klagt der Aufsichtsrats-Vorsitzende der Deutschen Shell in der CMD-Runde nicht nur eine bittere Niederlage ein, sondern fordert auch die Palastrevolution: Entgegen aller Shell-Tradition soll eine Tochtergesellschaft sich diesmal dem Willen anderer Töchter beugen. Shell UK soll die Brent Spar stoppen. Sofort. Cornelius Herkströter, der oberste Konzern-Chef, hat seinen Urlaub, in den er vor 14 Tagen aufgebrochen war, nach der Hälfte abgebrochen, und hat die Affäre inzwischen selbst in die Hand genommen. Mit seinen Urlaubspläne mitten im heftigsten Brent Spar-Gewitter hat er sich sowohl intern als auch in der Öffentlichkeit deftigste Kritiken eingefangen; manche vermuten, daß sein Stuhl


wackelt. Diesen Eindruck gilt es für Herkströter zu korrigieren; er muß heute nicht nur zwischen den verfeindeten englischen und deutschen Positionen vermitteln, sondern auch eine glasklare Entscheidung treffen. Nach Duncan hat Fay hat das Wort. Der Ruf vor das erlauchte Gremium war für Chris Fay kein einfacher Gang. Er hat den KonzernOberen einiges zu erklären, und vieles zu rechtfertigen. Auf dem Kontinent ist die Shell ein Pariah, und seit dem ersten Protest-Wochenende der britischen Greenpeacer sind auch an den Tankstellen auf der Insel die ersten finanziellen Einbußen zu spüren. Eilig in Auftrag gegebene Kundenbefragungen haben ergeben, daß auch die britische Boykottbereitschaft wächst. Die Presse hat sich auf Shell und Major eingeschossen: "Mord auf hoher See - wie das Meeresleben ausgelöscht wird" titelt das Massenblatt Daily Mirror und der liberale Independent fragt: "Bomben in Deutschland, Proteste an Tankstellen in Großbritannien... welchen Preis ist Shell bereit, für das Brent Spar-Fiasko zu zahlen?" Alles scheint sich gegen Shell UK verschworen zu haben, doch Fay ist nicht gewillt, die Brent Spar von sich aus zu stoppen. Shell UK glaubt sich im Recht, hat die Versenkung mit den britischen Behörden abgestimmt, und ist sich der vollen Unterstützung der Regierung sicher. Energieminister Tim Eggar hat mit Verweis auf die Kostenseite noch einmal vor einem Rückzug gewarnt; die Sache durchzuziehen, ist von beiderlei Interesse. John Major verteidigte die angegriffene Shell persönlich gegen Helmut Kohl und hat die Plattform damit ebenfalls zur Chefsache gemacht. Shell UK steht bei ihm im Wort; Fay kann dem Premier jetzt nicht in den Rücken fallen oder sich gar vorwerfen lassen müssen, an Majors Demontage mitgewirkt zu haben. Jetzt ein Kniefall vor Greenpeace, vor den hysterischen Deutschen und vor dem grünen Opportunismus der Politiker auf dem Kontinent: ein Ding der schieren Unmöglichkeit. Fay und die britischen Regierung sind stattdessen auf eine alternative Lösung des Problems verfallen: die militärische. "Während wir hier tagen," erfahren die Anwesenden, "stehen in Stornoway auf den Äußeren Hebriden zwei Hubschrauber bereit." Wenn sie grünes Licht bekommen, fliegen sie los und räumen die Brent Spar. Die Kommandos, die in einem Hangar auf den Einsatzbefehl warten, bestehen aus ShellSicherheitsleuten und zusätzlichen Räumkräften, deren Identität nicht bekannt werden soll: Es sind handverlesenen Elitesoldaten der Marine, auch bekannt unter dem Namen Special Boat Service


(SBS). Die Eingreiftruppe, vergleichbar mit der deutschen GSG 9, war während der Ölkrise in den siebziger Jahren ins Leben gerufen worden, als Großbritannien damit rechnete, Terroristen auf Nordseeplattformen bekämpfen zu müssen. Der Einsatz der Royal Navy-Terrorexperten ist sowohl mit Premier Major als auch mit dem Verteidigungsministerium abgestimmt und von langer Hand vorbereitet. Die SBS hat Videoaufnahmen der Brent Spar ausführlich studiert, das Terrain in Stornoway observiert und hat vor dem Flug auf die Hebriden auf einer Plattform im Brent-Feld den Angriff trainiert. Ihr Plan sieht vor, sich aus den Helikoptern auf die Plattform abzuseilen und die Besetzer außer Gefecht zu setzen. Die Luftlandung soll von einer Aufklärungsmaschine der königlichen Luftwaffe RAF überwacht werden. Der vierstrahlige Jet vom Typ Nimrod kreist bereits über dem Brent Spar-Schleppkonvoi. Diese Räumung, so Chris Fay, sei für Shell UK die richtige Alternative zu den Rückzugsphantasien der Shells vom Kontinent. Wessen Entscheidung es schließlich ist, die Brent Spar zu stoppen, bleibt offen. Ob Herkströter sich das Hausrecht bei Shell UK nimmt, Fay entmachtet, und für ihn entscheidet: möglich. Ob Duncans Zahlen und Verlustprognosen Herkströter in seinem Sinne zum Handeln zwingt, oder ob die CMD-Runde Fay doch noch in letzter Minute überzeugt und einen Konsens findet; Beides kann nur vermutet werden. Der Spiegel in seiner Einschätzung: "Am Ende votiert das Gremium in alter Shell-Tradition doch noch einstimmig für ein Ende des Dramas. Die Briten hatten nach Stunden erbitterter Redeschlacht keine andere Wahl, als zuzustimmen: Brent Spar, das Stahlgerüst mit der Ölschlacke im Bauch, muß nun an Land entsorgt werden." Hektische Telefonate beginnen. Auf dem Flugplatz in Stornoway wird Bescheid gegeben, daß die Räumungsaktion ausgesetzt ist. Ein Anruf erreicht auch das Ministerium für Handel und Industrie (DTI); Fay bittet um einen sofortigen Termin bei Energieminister Eggar unter vier Augen. Als Grund gibt er an, es "handle sich um extrem wichtige Entwicklungen". Dann fliegt Fay mit dem Shell-Jet zurück zum britischen Luftwaffenstützpunkt Northholt bei London. Gegen 15 Uhr begibt er sich zum Amtssitz Eggars im Ashdown House im Stadtteil Victoria. Die Financial Times: "Die beiden Männer hatten sich nicht viel zu sagen." Fay teilt Eggar mit, daß Shell ausgestiegen sei. Sein Stab arbeite gerade an einer Presseerklärung, in der das Unternehmen dies noch innerhalb der nächsten Stunde öffentlich machen werde.


Die Erklärung von Shell UK, die kurz nach 17 Uhr die BBC und die Nachrichtenagenturen erreicht, beginnt mit dem Statement, daß die Firma die Versenkung nach wie vor für die umweltfreundlichste Option der Entsorgung halte. Shell UK habe jedoch beschlossen, die Brent Spar an Land zu entsorgen, da die Situation ihrer kontinentalen Schwestergesellschaften unter dem politischen Druck inzwischen unhaltbar geworden sei. In den 18 Uhr-Nachrichten melden die Radiostationen in London, daß "Greenpeace triumphiert" und Shell den Kampf um die Brent Spar verloren habe. Zu dieser Zeit, in Hamburg ist es bereits 19 Uhr, kommt die Nachricht auch bei Greenpeace an. Michaela Schießl vom Spiegel in ihrer letzten Depesche von Bord der Altair über den Kollegen der BBC: "Wie wild geworden schoß er am Dienstagabend, 18.10 Uhr, aus dem Radioraum. Er raste den schmalen Gang entlang, hangelte sich die steilen Treppen zur Brücke hinauf, und da stand er nun, atemlos und bleich: "Shell hat aufgegeben, sie werden die Brent Spar nicht versenken, es ist vorbei, gerade wurde es durchgegeben", schrie es aus ihm heraus." Die Shell-Schiffe Rembas, Torbas und Kronbas stellen die Wasserkanonen ab; eine Stunde später setzt die Rembas die vier Tage lang festgehaltenen Greenpeace-Aktivisten mit einem Beiboot über zur Altair. Während Chris Fay im Shell-Hauptquartier eine improvisierte Pressekonferenz abhält, um die Entscheidung zu rechtfertigen, versucht sich die völlig überrumpelte Regierung wieder zu sammeln. Krisenmanagement. Tim Eggar und Indutrieminister Michael Heseltine sind außer sich vor Wut über den "Hinterhalt, in den wir gelockt wurden". John Major schäumt und beschimpft die Shell-Manager. Sie seien erbärmliche "Schlappschwänze". Am Nachmittag noch, gegen 15 Uhr, hat er sich im britischen Unterhaus öffentlich vor die Shell gestellt, sich mit der Opposition herumgestritten, und die gemeinsam beschlossene Versenkung hartnäckig verteidigt. Spott und peinliche Zwischenrufe wie "Versenkung? Das wird Dir auch bald passieren!" hat er sich eingefangen. Hat der undankbare Konzern es wirklich gewagt, ihn nichtsahnend im Regen stehen zu lassen und ihn "öffentlich zu demütigen"? In der Nachbetrachtung eine gute Frage des Premiers, die viele weiter ebenso unbeantworte Rätsel aufwirft. Nach Chris Fays Auskunft gegenüber der BBC habe er, oder einer seiner Mitarbeiter, direkt im Anschluß an die Den Haager CMD-Sitzung das DTI angerufen, und um eine sofortige Audienz bei Minister Eggar nachgesucht. Der Grund: "extrem wichtige Entwicklungen". Die Räumkommandos in Stornoway wurden ebenfalls telefonisch zurückbeordert; sie flogen gegen 15.30 Uhr vom Flughafen


ab. Auch der Nimrod-Luftaufklärer wurde am Nachmittag zurückgerufen. War das am britschen Verteidigungsministerium spurlos vorbeigegangen? Gab es keinen gemeinsamen Krisenstab? War das eilig anberaumte Nachmittags-Treffen zwischen Fay und Eggar ohne Rücksprache mit Eggar vereinbart worden? Hatte Eggars Stabsstelle im DTI "extrem wichtige Entwicklungen" im Krisenfall Brent Spar zur Kenntnis genommen, einen Not-Termin gemacht, ohne den Minister sofort zu informieren? Hatten niemand im DTI sich gemüßigt gefühlt, bei Shell UK weiter nachzufragen? Oder hatte das DTI von Shells Rückzugsplänen Wind bekommen, aber versäumt, das Büro des Premiers zu warnen, daß sich bei dem Konzern etwas bewegte? Wo waren an diesem 20. Juni 1995 die Informationen versickert, und warum? Hatte etwa nicht Shell, sondern das DTI, unter der Führung vom Majors Erzrivalen Michael Heseltine, den Premier im Regen stehen lassen? Michael Heseltine tritt am Abend des 20. Juni als erster Vertreter der Regierung vor die Kamera von BBC Channel 4.. Er erklärt, daß "John Major von einem britischen Unternehmen besseres verdient gehabt" hätte. Dann sagt Heseltine vieldeutig: "Ich glaube, der Premier hat sich beispielhaft verhalten, als er Shell seine volle Unterstützung zukommen ließ." Heseltine droht Shell, daß eine Genehmigung zur Entsorgung auf britischem Boden nicht gewährt werde, und attackierte den Konzern: "Sie hätten besser die Nerven behalten und getan, was sie vorhatten." Die Deutsche Shell erklärt zur gleichen Zeit in Hamburg lapidar, daß sie "die Entscheidung der Tochtergesellschaft Shell Uk mit Erleichterung und Freude" aufgenommen habe.


10. Welche Zukunft hat das Meer?

Chris Fay hatte während der Pressekonferenz von Shell UK am 20. Juni verzweifelt bemerkt: "Ich sitze hier und weiß nicht, wohin ich die Brent Spar schleppen lassen kann." In der Tat warf Shells in letzter Minute getroffene Entscheidung, das Plattform-Wrack an Land zurückzuholen, heftige neue Probleme auf. Der wütende Energieminister Tim Eggar kündigte an, daß der Konzern keine Genehmigung erhalten werde, die Brent Spar nach Großbritannien zu bringen. Welchen Kurs sollte der Schleppzug nehmen? Nach einer Woche hektischer politischer Sondierungen gab schließlich das Umweltministerium in Oslo die einzig sinnvolle Zusage: Die Brent Spar durfte zunächst wieder im Erfjord geparkt werden. Es dauerte drei Wochen, bis die Plattform in Begleitung der Altair just den Ort in Norwegen erreichte, an dem sie zusammengebaut worden war. Am 11. Juli 1995, neunzehn Jahre nach ihrem Auslaufen, bugsierten sechs Schlepper die Brent Spar durch den schmalen Zugang in den idyllischen und geschützten Fjord; sie wurde wieder an ihren alten Ketten vor Anker gelegt. In Großbritannien und Deutschland war während des Schlepps in den Erfjord ein heftiger Disput ausgebrochen: Wer konnte und durfte die Brent Spar nun entsorgen? Die Plattform war wieder, diesmal allerdings in einem anderen Sinne, das Pilotprojekt für die über 400 Offshore-Anlagen, die langfristig zur Entsorgung anstehen. Obwohl sich niemand im Detail Gedanken gemacht hatte, was dies technisch bedeutete, war eines sofort klar: Ein geschätztes Auftragsvolumen von mehreren Milliarden Mark war zu erwarten. Arbeitsplätze winkten nicht nur auf den Shetlands, in Aberdeen oder in den Niederlanden. Auch in den deutschen Küstenbundesländern meldeten sich Politiker aller Coleur, die Brent Spar für sich reklamieren wollten. Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder wurde bei Shell-Chef Peter Duncan persönlich vorstellig, und bot Wilhelmshaven als Standort für die Abwrackung der Plattform an. Man wolle an der Jade langfristig einen "Entsorgungspark" schaffen. Auch in Schleswig-Holstein wurden Hafenanlagen ins Gespräch gebracht. Die CDU-Fraktion im Kieler Landtag forderte, die Brent Spar nach Brunsbüttel in der Elbmündung zu schleppen. Am 9. Juli unterbreitete ein Konsortium von zehn norddeutschen Firmen unter Führung der Howaldtswerke-Deutsche Werft (HDW) Shell ein konkretes Entsorgungs-Angebot in Höhe von 100 Millionen Mark.


Das brachte auf der britischen Insel die Wut auf die Deutschen noch mehr zur Wallung. Der Verdacht wurde laut, die Unterstützung von Greenpeace durch die Bonner Politiker sei ein abgekartetes Spiel gewesen, um der notleidenden britischen Werftindustrie zu schaden. Der Nationalstolz, durch die Schlappe der "britischen" Firma ohnehin schon schwer getroffen, brach sich ungestüm Bahn und förderte alte Ressentiments zu Tage. Britannia murrte über die "Kapitulation vor der deutschen Volksfront", etwas, das selbst Hitler nicht geschafft hatte. In den Zeitungen wurde daran erinnert, daß es schließlich die Deutschen gewesen seien, die im Zweiten Weltkrieg mit ihrer U-Bootflotte Schiffe und Tanker versenkt und den Meeresboden mit Tonnen von Schrott verschandelt hatten. Ein Leserbrief in der Times zum perfiden deutschen Wesen: "Sir, nie zuvor wäre es mir in den Sinn gekommen, etwas Gutes über Frankreich oder die Franzosen zu sagen. Aber ich applaudiere ihrer Entschlossenheit, Atomtests im Südpazifik durchzuführen, aus dem einzigen Grund, daß jedenfalls irgend jemand in der westlichen Welt bereit ist, das Geschrei der ÖkoFaschisten zu ignorieren." "Die Angebote kommen etwas verfrüht", bemerkte wesentlich moderater Rainer Winzenried, der Pressechef der Deutschen Shell. Zu Recht. Vor einer internationalen Ausschreibung und Auftragsvergabe müssen zunächst andere Schritte absolviert werden: Erst nach der genauen Inventarisierung der Tankinhalte und der Wintersicherung der Anlage kann ein technisches Konzept der Landentsorgung entworfen werden. Entschieden werden muß zunächst auch die Frage, ob eine senkrechte Abwrackung - dafür kommen aus technischen Gründen nur Ankerplätze in Norwegen in Frage - günstiger ist, oder ob ein Drehen der Brent Spar in die Waagerechte ohne zusätzliche Risiken erfolgen kann. Davon wird es nicht zuletzt abhängen, wo die Brent Spar schlußendlich rückgebaut werden wird. Am 12. Juli vergab Shell UK zunächst den Auftrag, eine unabhängige Bestandsaufnahme der Brent Spar-Tankinhalte vorzunehmen, an die norwegische Gesellschaft Det Norske Veritas (DNV). Die DNV sollte bis zum 18. Oktober 1995 ihre Ergebnisse vorlegen, welche Schadstoffe sich exakt noch an Bord der Anlage befinden und welche Entsorgungsschritte damit vorgegeben sind. Ein Angebot von Greenpeace, die Analysen des Exeter-Labors zu nutzen und einen Wissenschaftler der Organisation während der Untersuchung an Bord der Brent Spar zu nehmen, wurde von Shell UK zunächst abgelehnt. Begründung: Greenpeace sei nur eine Gruppe unter vielen, die daran ein Interesse hätten. Greenpeace drohte, mit der Meldung, Shell versuche


wieder etwas zu verheimlichen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Anfang August 1995 kam schließlich ein Treffen zwischen den Umweltschützern und DNV zustande. DNV versprach, Greenpeace an Bord einzuladen, und bei dieser Gelegenheit die Art der Probennahme zu demonstrieren. Unterdessen hat die Brent Spar noch an anderen Fronten für Stellungskriege gesorgt. Auf der Vierten Nordseeschutzkonferenz Anfang Juni 1995 in Esbjerg hatte die Ministerrunde sich wegen des britischen, norwegischen und französischen Widerstandes nicht auf ein einheitliches Votum für ein generelles Versenkungsverbot für alte Offshore-Installation einigen können, eine entsprechende Empfehlung aber zur Beschließung auf die kommende Sitzung der Mitgliedsstaaten der Oslo und Paris Kommission OSPARCOM ausgesprochen. Die OSPARCOM-Sitzung fand vom 26. bis zum 30. Juni in Brüssel statt. Von den Mitgliedsstaaten stimmten die elf Länder Belgien, Dänemark, Finnland, Deutschland, Island, Irland, Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und schließlich auch Frankreich für eine schwedische Vorlage, die ein Versenkungs-Moratorium bis 1997, und danach ein generelles Versenkungsverbot vorsah. Großbritannien und Norwegen lehnten den schwedischen Vorschlag, und wie in Esbjerg, ein generelles Versenkungsverbot widerum ab. Nach den Spielregeln der OSPARCOM können beide Länder formal nicht gezwungen werden, auf Versenkungen zu verzichten. Doch daß die beiden Länder nach der gescheiterten Brent Spar und der eindeutigen politischen Willensbildung der restlichen OSPARCOM-Unterzeichner Plattformbetreibern die Genehmigung erteilen, neue Plattformen in den Nordatlantik zu schleppen oder in der Nordsee vor Ort zu versenken, ist höchst unwahrscheinlich. Ein konferenzerfahrenes Delegationsmitglied von der Bundesanstalt für Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH) schätzt die Lage nach der Brüsseler OSPARCOM-Sitzung positiv ein: "Die Norweger würden ein absurdes Projekt wie die Brent Spar nie ins Auge fassen. Ihnen geht es im Grunde nur um die riesigen Betonsockel ihrer Plattformen. Nun, mit diesen massiven Klötzen auf dem Meeresgrund könnte man zur Not leben. Und die Briten? Für die ist es zunächst ein finanzielles Problem, und deshalb sträuben sie sich mit Händen und Füßen. Das erinnert mich an ihre Haltung in der Frage der Dünnsäureverklappung. Da waren die Briten auch die letzten, die schließlich mitgezogen wurden. Ich schätze, sie in der Plattform-Frage auf politischer Ebene zum Einlenken zu bewegen, wird noch zwei bis vier Jahre dauern. Aber es gibt kein Zurück."


Die Nichtversenkung der Brent Spar war nicht nur ein Sieg für die politischen Argumente der Umweltbewegung und der Triumph der öffentlichen Meinung über die profitable Option der Industrie, sondern auch eine Niederlage für die kühle Rationalität der britischen Naturwissenschaftler, die der Versenkung das Wort geredet hatten. Kein Wunder, daß die konservative Wissenschaft versuchte, ihre Position zu rechtfertigen. Beispiel: Das Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichte am 29. Juni einen Leitartikel unter dem Titel "Brent Spar, Broken Spur", der Greenpeace beschuldigte, wissenschaftlich "flach" zu argumentieren. Als Beweis wurde die Untersuchung der beiden britischen Forscher E. Nisbet und C. Fowler ins Feld geführt, die die hohe Menge an Schwermetallen, die an Ausströmfeldern oder offenen Quellen wie denen im Tiefseegebirge "Broken Spur" im Atlantik natürlich freigesetzt werden, mit den Schwermetallen an Bord der Brent Spar verglichen. Die Schlußfolgerung im Nature-Kommentar: "Viele Tief-See-Mikroben brauchen Schwermetalle als Elektron oder Energiequelle für ihren Metabolismus. Für die Bakterien auf dem Grunde des Ozeans sind Schwermetallrückstände weder tödlich noch unappetitlich. Im Gegenteil, sie hätten die Ankunft der Brent Spar begrüßt, wie wenn alle Weihnachtsbescherungen auf einmal gekommen wären." Die Nature-Darstellung wurde von der Major-Regierung, Shell UK, einigen britischen Medien - und einer Handvoll Wissenschaftsjournalisten in Deutschland - begierig aufgenommen. Die Richtigstellung erschien in der folgenden Nature-Ausgabe am 20.Juli: Acht andere britische wissenschaftler und Tiefseeexperten stellten klar, daß Nisbit und Fowler nicht nur einen Rechenfehler gemacht hatten, der den natürliche Schwermetallaustoß künstlich in die Höhe getrieben hatte. Nisbit und Fowler hatten auch verschwiegen, daß die Brent Spar nicht in einem Quell-Gebirge, sondern im quellfreien North Feni Ridge - und somit in einem Gebiet ohne natürliche Schwermetallfreisetzung - versenkt werden sollte. Die künstliche Debatte über die Folgen eventueller Brent Spar-Schwermetalle im North Feni Ridge hat inzwischen noch eine andere Wendung genommen. Im New Scientist vom 26.August warfen die zwei schottischen Meeresforscher John Gage und John Gordon Shell UK vor, Warnungen vor dem geplanten Versenkungsort North Feni Ridge zwar frühzeitig erhalten, aber gänzlich ignoriert zu haben. Nach Untersuchungen der beiden Wissenschaftler toben im North Feni Ridge in regelmäßigen Abständen sogenannte "Unterwasserstürme", schwere Strömungen, die die Brent Spar mit hoher Wahrscheinlichkeit in Stücke zerissen hätten. Der Inhalt der Plattform hätte sich, so die New


Scientist-Autoren, in kürzester Zeit "auf schottischen Fischmärkten" wiedergefunden. Brent Spar - seit die Plattform im Erfjord einen vorübergehenden Ankerplatz gefunden hat, ist es in der Öffentlichkeit still um sie geworden. Doch die Wisssenschaftsdebatte ist nur ein Zeichen dafür, daß sich hinter den Kulissen vor allem in Großbritannien einiges bewegt. Handels- und Industrieminister Michael Heseltine hatte am Tag nach Shells Umkehr in einem BBC-Interview öffentlich verkündet, daß er die Demütigung durch die "Öko-Terroristen" von Greenpeace nicht auf sich sitzen lassen wolle. Er werde "diesen Leuten", so Heseltine wörtlich, "ihre Grenzen deutlich aufzeigen." Auch die Offshore-Industrie hat sich inzwischen von den Schockwellen erholt, die die Shell-Niederlage ausgesendet hat. "Der 20. Juni, das war für die Öl-Multis Stärke 12 auf der RichterSkala", sagt ein britischer PR-Fachmann. "Das hat sie so unerwartet wie heftig erwischt, sie waren wie gelähmt." Inzwischen sind sie wieder handlungsfähig. Nach Berichten britischer PR-Magazine hat die UKOOA, die Vereinigung der Offshore-Firmen, inzwischen vier bekannte PR-Agenturen beauftragt, eine europaweite Werbe- und Informationskampagne zu entwickeln. Ziel: das drohende generelle Versenkungsverbot zu verhindern. Harold Hughes, Geschäftsführer der UKOOA: "Die Öffentlichkeit muß über die Entsorgungs-Optionen der Industrie besser informiert werden. Wir waren mit der Desinformation durch Greenpeace sehr unzufrieden." Hughes wollte nicht dementieren, daß sich unter den unter Vertrag genommenen Unternehmen auch die Firma Burson-Marsteller befindet. Doch allein, daß sie bei der Offshore-Industrie im Gespräch ist, zeigt, wie ernst die UKOOA ihre Lage einschätzt: Burson-Marsteller ist Expertin in Desaster-Management. Die Firma hat schon versucht, PanAm nach dem Jumbo-Absturz von Lockerby, Union Carbide nach der Katastrophe von Bhopal und Exxon nach dem Valdez-Öl-Unfall wieder ins rechte Licht zu setzen. Burson-Marsteller war auch die Firma, die die Pro-Kahlschlag-Kampagne in der kanadischen Provinz British Columbia inszeniert hat. Wie immer der geplante Werbefeldzug der Fördergesellschaften aussehen und ausgehen mag, Greenpeace hat bereits angekündigt, nicht nur den weiteren Weg der Brent Spar zu begleiten, sondern auch die anderen Entsorgungspläne der Fördergesellschaften im Auge zu behalten. Kooperation dabei ist nicht zu erwarten. Die Offshore-Industrie ist nicht bereit, sich mit Umweltschützern an einen Verhandlungstisch zu setzen. Zitat aus einem Bericht über ein Arbeitsessen einiger Offshore-Chefs im schotischen Scotsman:"Ich weiß nicht, ob ich mit Terroristen


kooperieren will,"knurrte der Boß einer amerikanischen Öl-Gesellschaft. Paul Horsman von Greenpeace dazu: "Das ficht uns nicht an. Wir werden nicht nur die einzelnen Firmen mit unbequemen Fragen angehen, sondern auch versuchen, das Offshore-Geschäft politisch unter Kontrolle zu halten." Zentraler Termin ist dabei die im Dezember 1995 stattfindende Sitzung der Internationalen London Konvention. Das Gremium mit Rechtsgebungsstatus, früher nach dem Jahr der ersten Zusammenkunft bekannt unter dem Namen London Dumping Convention 1972, reguliert weltweit, welche "Abfälle und andere Gegenstände" von Schiffen, Flugzeugen und Plattformen legal ins Meer eingeleitet werden dürfen. Die für alle Mitgliedsstaaten bindenden Vorschriften schreiben auch vor, wie Plattformen entsorgt werden müssen. Die Offshore-Lobby hat bereits argumentiert, daß die Plattform-Entsorgung in der Nordsee ein Sonderfall sei, und daher als "regionale" Angelegenheit, die nicht unter die Bestimmungen der London Konvention falle, betrachtet werden müsse. Horsman: "Die London Konvention ist das entscheidende Gremium. Dort entscheidet sich, ob die Meere zur Müllkippe werden oder in Zukunft eine Chance zum Überleben haben. Greenpeace wird alle Anstrengungen unternehmen, um im Dezember 1995 ein weltweites Versenkungsverbot zu erreichen. Und wenn es im Dezember nicht kommt, dann eben etwas später. Aber es kommt." Wie die Plattform, die nach neunzehn Jahren im Brent-Feld wieder im Erfjord vor Anker liegt, ist auch Greenpeace wieder bei einer seiner Ursprünge - dem Kampf um den Schutz der Meere angekommen. Dieser Kampf ist noch lange nicht gewonnen; das beweisen die andauernde Auseinandersetzung mit der Offshore-Industrie, die Protestfahrten nach Muroroa, der Streit um die Industriefischerei und viele andere Kampagnen. Doch Greenpeace scheint gut gerüstet. Mit dem Brent Spar-Kraftakt hat die Organisation nicht nur eine ihrer Kampagnen gewonnen, sondern auch zu den Stärken und Tugenden ihrer Anfänge zurückgefunden: Die Wahl der Brent Spar als Symbol für den Kampf um die Zukunft der Meere war nicht allein ein geschickter strategischer Schachzug. Die Shell-Ruine, Garant für spektakuläre Bilder und dramatische Auseinandersetzungen, ergänzte sich ideal mit der Hintergrundarbeit auf politischer Ebene, ohne die Schlauchboot-Attacken längst zum medialen Selbstzweck verkommen wären. Brent Spar war auch pfiffig und clever eingefädelt: Greenpeace hat nicht nur die Verblüffung und Überraschung des Kampagnen-Gegners geschickt genutzt, sondern auch im Gegensatz zu Shell auch die Öffentlichkeit gesucht. Die Schnelligkeit und Durchschlagskraft der Brent Spar-Kampagne war ein erster Beweis, daß die Organisation in 25


Jahren zu einer eigenen Art von internationalem Multi gereift ist, dessen Macht und Rolle noch genau definiert werden will. Mit Brent Spar ist Greenpeace zudem erstmals etwas gelungen, was sich in Zukunft als vielleicht größte Stärke der Organisation erweisen kann: Sie hat das Herz der Bevölkerung so bewegt, daß diese von sich aus Partei ergriffen haben und auf Seite von Greenpeace aktiv wurden. Ob diese unerhörten Kombination der Vorgänge - die spontane Parteinahme und der massenhafte Boykott einer industriellen Weltmacht - von dauerhaftem Erfolg sein wird, liegt nicht allein in den Händen der Umweltschützern. Brent Spar hat bewiesen, daß alte Autoritäten - kühle Wissenschaft, behördliche Rechthaberei und industrielle Arroganz - in grundsätzlichen Fragen des Umweltschutzes an ihre Grenzen stoßen. Entscheidend wird in Zukunft sein, welche Schlüsse Politik und Industrie daraus ziehen. Es reicht nach Brent Spar nicht mehr aus, bloße Lippenbekenntnisse zur Besänftigung der Wähler zu formulieren und Umweltschutz als Werbemaßnahme und technische Lösung zu begreifen. Die Sorge um die Zukunft - und nicht allein der Meere - muß sowohl bestimmendes Element von Parteiprogrammen als auch Leitmotiv von Unternehmensphilosophien werden. Wie wird sich Shell wirklich verändern, wie wird Helmut Kohl reagieren, wenn es um naheliegendere Umweltprobleme geht? Investiert der Multi, dessen Reichtum auf endlichen fossile Kohlenwasserstoffe gebaut ist, in Zukunft verstärkt in regenerative Energien, in Photovoltaik und in die Sonne? Wann spricht sich der Kanzler mit Greenpeace für ein Tempolimit aus? Der eigentliche Schlüssel liegt allerdings in der noch unbeantworteten Frage: Welchen Bewußtseinsprozeß hat Brent Spar bei den begeisterten Boykotteuren in Gang gesetzt? Shell zu boykottieren, war ein guter Anfang, aber eine einfache Übung. Wieviele Boykotteure überprüfen indess, ob sie ihr Fahrzeug - mit oder ohne Shell-Sprit -tatsächlich brauchen? Wann fangen sie an, die deutschen Automobilhersteller wegen der Verschleppung des Drei-Liter-Autos unter Druck zu setzen? Angst vor der unbekannten Macht und Konsequenz des Verbrauchers ist jedenfalls zu erkennen. Schon am Tag nach dem Shellschen Einlenken im Nordatlantik meldete sich Olaf Henkel, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie BDI, zu Wort. Er mahnte zur "Versachlichung". Die Industrie sei besorgt, daß gerade in Deutschland zunehmend auf Umweltprobleme reagiert werde. Sorgenfalten also bei den einen, Hoffnung bei den andern. Der englischen Tagfeszeitung The


Guardian soll es vorbehalten bleiben, die bisherige Geschichte der Brent Spar, und dessen, was sich daraus noch entwicklen wird, zusammenzufassen: "Menschen zählen noch. Boykotte können noch funktionieren. Das ist für die Demokratie genauso erfrischend wie für die Nordsee."

Hamburg, Herbst 1995 Jochen Vorfelder


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