dance for you magazine 52

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schon dahin. Nur der Grabstein bleibt der Heranwachsenden als Erinnerung, und der wird mehr und mehr zum Ort, auf den sich das Geschehen konzentriert. Dazwischen geblendet hat Wheeldon die Welt des Prinzen, der bei ihm sogar einen Namen trägt. Und so wie Siegfried in “Schwanensee” seinen Benno hat, stellt ihm der Choreograf (d. h. der Librettist Craig Lucas) mit Benjamin einen Freund zu Seite, mit dem er erst einmal gehörig über die Stränge schlagen darf, bevor ihn König Albert zur Ordnung ruft. Die ist offenbar nur durch eine Heirat garantiert, und deshalb machen sich die beiden auf den Weg, selbst nach geeigneten Kandidatinnen zu suchen - nicht ohne zuvor allerdings ihre Rollen zu tauschen. Als Bettler verkleidet, erkennt der Prinz so zum ersten Mal das wahre Gesicht seiner späteren Gattin.

Matthew Golding & Anna Tsygankova © Angela Sterling

All das ist schnell erzählt, und der Artistic Associate des Londoner Royal Ballet choreografiert seine Geschichte denn auch so schlüssig und dabei so leichtfüßig, ja geradezu witzig, dass das Publikum daran seine helle Freude hat. Wie im Flug wechseln die Schauplätze, und Julian Crouch ist gemeinsam mit dem Video-Künstler Daniel Brodie Fantastisches eingefallen, um den Lebensbaum ganz lebendig erscheinen zu lassen und die Natur so natürlich, wie das in einem klassisches Ballett überhaupt möglich ist. Anna Tsygankova jedenfalls tanzt keinesfalls in Sack und Asche, selbst wenn sie sich ein anderes Dasein ersehnt, und Matthew Golding, ohnehin schon ein Sympathieträger des Het Nationale Ballet, gibt den Prinzen weniger abgehoben als in anderen “Cinderella”-Choreografien, ja fast schon etwas bürgerlich-hemdsärmelig. Selbst die beiden Stiefschwestern, von Megan Zimny Gray und Nadia Yanowsky verkörpert, sind letztlich zum Verlieben, und das geschieht denn auch im Fall von Clementine und Benjamin. Wir gratulieren.

Schwanensee Schwanensee Ch. Sergej Vanaev © Heiko Sandelmann

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Von Karin Hiller

„Der König ist tot – es lebe der König“ ertönt eine Stimme aus dem Off und Sergei Vanaevs ungewöhnliche Interpretation der klassischen Schwanensee-Geschichte nimmt ihren Lauf.

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wei ungleiche Brüder konkurrieren nach dem Tod des Vaters um den Thron. Die Mutter bevorzugt Siegfried, den Älteren. Der aber kämpft mit seiner zweiten Natur und verwandelt sich, von José Martinez Grau impulsiv vertanzt, unter epileptischen Zuckungen in ein schwanenähnliches Wesen. Doch nicht nur Siegfried hat ein gespaltenes Ich, auch die Damen der Hofgesellschaft tragen Masken mit zwei Gesichtern. Vanaevs Botschaft: kein Mensch ist nur eindimensional geprägt, jeder Charakter trägt auch konträre Seiten in sich. Minimalistisch, auf wenige Handlungselemente fokussiert, führt Vanaev die Protagonisten ein. Gegenspieler Siegfrieds ist sein jüngerer Bruder Henry. Er versucht mit Hilfe einer Spionin Siegfrieds Anderssein zu entlarven. Siegfried flieht und gelangt an einen See, wo er Schwanenwesen findet, die ihm gleichen. Auf der Bühne markiert eine große Spiegelfläche als Instrument der Selbsterkennung den See. Schräg gestellt bietet sie Möglichkeiten für halsbrecherische Bewegungsabläufe der Compagnie. Dahinter sieht man drei hohe Türme, die innen beklettert werden können, die Zufluchtsorte für die Wesen. Vanaev, selbst lange als klassischer Tänzer auf der Bühne, hat im Laufe der Jahre seine eigene choreographische Sprache entwickelt mit sehr akrobatischen Elementen, die Kraft und Dynamik vermitteln. Doch auch die klassische Basis geht dabei nicht verloren. So stehen Handstand und Flic Flac neben Fouettés und Spagatsprüngen. www.danceforyou-magazine.com

Langeweile kommt nicht auf. Nach erster Ablehnung akzeptieren der Hüter des Sees (großartig: Oleksandr Shyryayev) und sein Schwanengefolge den Eindringling als ein gleichartiges Wesen. Aber auch bei Vanaev gibt es kein Happy End, denn Henry, der seinem Bruder gefolgt ist, tötet Siegfried. Die Schwäne rächen den brutalen Mord. Vanaevs Affinität zu Handlungsballetten ist unverkennbar. Ihn fasziniert es alte Sagen und Geschichten umzudeuten und für bekannte klassische Stoffe eine neue choreographische Umsetzung zu finden. Die Themen drehen sich immer wieder um die Suche des Menschen nach sich selbst. Starke Individualisten, die abseits der Gesellschaft stehen, sind nicht selten die Protagonisten in Vanaevs Choreographien. Für den düsteren Plot seiner „Schwanensee“ Fassung ist die Bühne (Johannes Bluth) ganz in schwarz getaucht. Mit Hilfe riesiger beweglicher Elemente kann der Raum unterteilt werden und durch die entstehenden Öffnungen farbiges Licht strahlen. Hoch zu loben ist die tänzerische Qualität der kleinen Compagnie. Hier gibt es keine Nebenrollen, alle Tänzer wirken hoch motiviert und überzeugen neben technischer Sicherheit durch physische Kraft, Kondition und Emotionalität. Allen voran José Martinez Grau als sensibler, seelisch zerrissener Prinz Siegfried, Jason Franklin, der kraftvoll den von Eifersucht und Ehrgeiz zerfressenen Bruder Henry gibt und Elizabeth Towles als mitfühlende Schwanenfrau Odette, die sich in Siegfried verliebt. Musikalisch hält sich Vanaev an Tschaikowskys Original, ändert jedoch die Reihenfolge und kürzt. Dadurch kommt es zu Brüchen in


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