VN_10_01_2004

Page 1

Samstag/Sonntag, 10./11. Jänner 2004

VO R A R L B E RG E R

LOKAL /A9

NAC H R I C H T E N V o r a r l b er g e r Nachrichten

&9OAF=FLG< & A < AAF 0GJ9JD:=J?

Tage des Grauens im Großwalsertal

Die Lawinenkatastrophe vor 50 Jahren BLICKPUNKTE „Leusorg im Großen Walser-

tal“ heißt das Buch von Eugen Dobler, in dem der 94-jährige Augenzeuge minutiös über die Lawinenkatastrophe des Jahres 1954 berichtet. Aus Trauer wurden bis 20. Jänner alle Tanzveranstaltungen in Vorarlberg abgesagt. Durch Spenden konnten 90 Prozent der Wiederaufbaukosten gedeckt werden. 22 Staaten der Welt bezeugten ihre Anteilnahme mit der Bevölkerung.

Tod im Stundentakt 10. Jänner

Um 8.50 Uhr, einem Sonntag, geht in Fontanella eine Lawine ab und tötet Siegfried und Erich Stark. Die beiden Brüder befanden sich gerade auf dem Weg in die Kirche, als das Unglück geschah.

Um 6 Uhr früh rasen tagsüber fast pausenlos Lawinen ins Tal. In Fontanella werden 16 Personen verschüttet, fünf sterben. Gleichzeitig bricht in Blons die Hölle los. Um 10.05 bricht die Falvkopflawine oberhalb von Blons los, 82 Bewohner werden verschüttet. Um 19 Uhr kommt dann noch die Montcalvlawine, dutzende Menschen sterben.

11./12. Jänner

Blons (VN) Es begann mit einem leichten Flockentanz im neuen Jahr 1954 und endete am 12. Jänner mit der größten Naturkatastrophe, die Vorarlberg je erlebte. Das Lawinendrama vor 50 Jahren kostete 122 Menschen das Leben, allein 80 im Großwalsertal. Besonders betroffen war die 380-Einwohner-Gemeinde Blons. Dort löschte der „weiße Tod“ in den Schreckenstagen zwischen dem 10. und 12. Jänner gleich 57 Menschenleben aus. Es waren speziell zwei Lawinen, die insgesamt 15 Prozent der Bewohner des Walserdorfes ausradierten: Die Falvlawine und die Montcalvlawine. Erstere donnerte um 9.40 Uhr vom Falvkopf zu Tal, verschüttete 82 Personen in 16 Häusern. 34 Menschen konnten nur noch tot geborgen werden. Um 19 Uhr kam die Montcalvlawine. Sie begrub 41 Personen in acht Häusern unter sich. 22 Menschen

überlebten ihre Wucht nicht. Unbeschreibliche Szenen spielten sich ab. Im meterhohem Schnee unter ständiger Gefahr weiterer Lawinen suchten verschont gebliebene Dorfbewohner und jene, die sich selbst aus den Schneeund Schuttmassen befreien konnten, nach Überlebenden. Ihnen bot sich ein Bild des Grauens. Menschen und Vieh lagen erschlagen oder erstickt unter Trümmern und Schnee, Schwerverletzte mussten abtransportiert werden, kaum ein Anwesen war vor den Naturgewalten noch wirklich sicher. So fielen zum Beispiel in der Sennerei vier aus der Falvlawine lebend Geborgene am Abend der Montcalvlawine zum Opfer.

2000 Helfer von überall Die Leichen wurden ins Dorf geschleppt und in den Gängen der Kirche in Tücher gewickelt „ausgelegt“. Hilfe von außen kam erst am Mittwoch. Vorher gab es in die Unglücksorte des Großen Walsertales kein Durchkom-

Am Morgen des 13. Jänner, einem Mittwoch, läuft die Hilfsaktion an. Der 13. Jänner Bludenzer Bezirkshauptmann hatte zuvor via Radio zu einer Großaktion aufgerufen, tausende Männer – auch aus Liechtenstein, der Schweiz und Deutschland – brechen ins Katastrophengebiet auf, darunter Schweizer und US-Hubschrauber.

Katastrophen im Montafon, Bregenzerwald und Klostertal

Flucht mit den letzten Habseligkeiten. Allein in Blons wurden 34 Häuser beschädigt, davon 28 total zerstört. men. Danach allerdings gelangten 2000 freiwillige Helfer aus verschiedensten Organisationen und Vereinen ins Unglückstal. Flugzeuge und Hubschrauber warfen Hilfsgüter ab, sogar Hubschrauber der US-Besatzungsmacht kamen zum Einsatz. In einer bewegenden Zeremonie mit tausenden von Trauernden wurden die Lawinenopfer am 24. Jänner in einem Massengrab beigesetzt.

Ausstellungen

Im Großen Walsertal gingen zwischen dem 10. und 12. Jänner 1954 29 Lawinen ab. 164 Menschen wurden verschüttet, 80 starben.

Zur selben Zeit, als das Große Walsertal von Lawinen geradezu verschüttet wurde, wurden auch andere Talschaften Vorarlbergs vom „weißen Tod“ heimgesucht. Im Bregenzerwald wurden 33 Menschen verschüttet, 13 starben. In Hittisau kam die ganze Familie Lipburger ums Leben. Schwer getroffen wurden auch Mellau und Schnepfau. Im Klostertal fegte eine Lawine den Bahnhof in Dalaas und einen tonnenschweren Zug weg: 30 Personen wurden verschüttet, zehn starben – darunter neun Personen, die im Warteraum des Bahnhofs Unterschlupf gesucht hatten. Im Montafon rissen Lawinen 19 Menschen in den Tod. „Der Schrecken war so groß, dass die Menschen sich in Kellern verkrochen und sich die ganze Nacht bei Winterskälte unter Steine und Schröfen verschloffen“, hieß es.

Puppenmuseum in Blons (11., 18., 25. Jänner, 14 bis 17 Uhr; Tel. 0 55 53/81 12. Heimatmuseum Schruns; Eröffnung Sonntag, 18 Uhr/ D9

44 Leichen in Kirche abgelegt.

Bilanz der Lawinenkatastrophe vom 10. bis 12. Jänner 1954 Todesopfer Landesweit: 122 Großwalsertal: 80 (davon 3 in St. Gerold, 10 in Sonntag, 10 in Fontanella und 57 in Blons) Montafon: 19 Bregenzerwald: 13 Klostertal: 10 Schäden in Blons 84 Gebäude beschädigt, davon 76 total zerstört 139 Stück Vieh getötet

50 Jahre danach: Die Überlebenden Eugen Dobler (r.) und Siegfried Jenni zeigen ehrfürchtig dorthin, von wo die Todeslawinen abgingen.

„Es wurde ganz dunkel um uns . . . “ Wie Augenzeugen die Katastrophe von Blons erlebten Siegfried Jenni: „Im Augenblick des Lawinensturzes waren Vater, Bruder Alois und ich im Stall beschäftigt, während die Mutter sich im Haus befand. Wir waren mit Stallarbeit beschäftigt, als plötzlich ein starker Windstoß das

Die Ereignisse von damals sind mir noch in Erinnerung, als wären sie gestern geschehen. SIEGFRIED JENNI

Retter

im Anmarsch. Zum ersten Mal wurden bei einem Alpinunglück in Vorarlberg Hubschrauber eingesetzt – im Bild ein Helikopter der US-Armee in Blons.

Impressum Texte: Klaus Hämmerle, Gerhard Thoma Fotos: VN/Hofmeister; Gemeindearchiv Blons

Entsetzen, Trauer und Ratlosigkeit nach der Katastrophe.

Stallfenster hereinschlug. Wir erschraken sehr und spürten auch, wie der Sturm an den Balken des Heustalles zerrte. Es wurde ganz dunkel um uns, der Vater rief noch – a Leu. Wir sprangen auseinander, ohne einen Laut von uns zu geben. Da kam auch schon die

Stalldecke auf mich zu. Herr, hilf uns! rief ich aus und warf mich blindlings zu Boden. Ich glaubte zuerst, zerquetscht zu werden, doch im selben Augenblick wurde alles um mich in Nichts aufgelöst ( . . . ). Ich schrie laut nach dem Vater und Bruder Alois, erhielt aber keine Antwort . . .“ ***** Albert Dünser: „Vater Engelbert wurde auf der Heizbank überrascht. Der Ofen fiel auf ihn und verletzte ihn schwer. Ich erblickte zuerst die Hausfrau Filomena; bei vollem Bewusstsein saß sie in schwer

V o r a r l b er g e r Nachrichten

w w w. v o l . a t

http://vntipps.vol.at Überlebt. Zwei weitere Berichte von Augenzeugen der Lawinenkatastrophe von Blons aus Eugen Doblers „Leusorg im Großen Walsertal“ zum Download (254 KB).

verletztem Zustand auf dem verwehten Trümmerhaufen ihres Heims. Sohn Hans, rücklings bergab liegend, stöhnte zwischen klemmenden Balken. Ich konnte ihn aus der misslichen Lage befreien; er erlitt einen Oberschenkelbruch. In diesem Moment erhob sich fast unmittelbar daneben eine suchende Hand aus dem Schnee, nach etwas greifend. Ich grub danach, und Vater Engelbert kam ans Licht. Es war mir aber nicht möglich, ihn zu befreien ( . . . ). Mittlerweile vernahm der verschüttete Sohn Hubert unsere Nähe, der viel tiefer in den Trümmern des eingestürzten Kachelofens lag und um Hilfe rief . . .“ Alle Helfer von damals werden gebeten, sich auf dem Gemeindeamt Blons zu melden. Vorarlberger Nachrichten


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.