MariaStacks N°02/2020

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N° 2

Mar/Apr 2020

4 Seiten

THE LIBERTINES Die Jahre 1997 bis 2004

LAURA MARLING MIT IHREM SIEBTEN SOLOALBUM BEWEIST DIE BRITIN, DASS SINGER-SONGWRITER FÜR EIN MEISTERWERK NICHT UNGLÜCKLICH SEIN MÜSSEN.



EDITORIAL

Mit ihrem siebten Soloalbum beweist Laura Marling, dass Singer-Songwriter für ein Meisterwerk nicht unglücklich sein müssen. Vor zwölf Jahren war Laura Marling eine Art Billie Eilish des Folk Pop - früh gereift, enorm talentiert, sehr eigenwillig. Nun ist Laura Marling kürzlich 30 geworden - doch es kommt einem so vor, als sei die britische Sängerin, Songschreiberin und Gitarristin mit den hellblonden Haaren schon ewig dabei. Ihr nunmehr siebtes Album enthält neben dem von Marling gewohnten ambitionierten Gitarrensound auch wunderbar warme Soul-, Gospel- und Country-Elemente. Dieses Album ist ein großer Wurf, der Laura Marling in die Liga von Joni Mitchell, Carole King, Leslie Feist oder Aimee Mann befördern sollte. «Lately I’ve been thinking ‘bout our daughter growing old / all of the bullshit she might be told.» ab Seite


INHALT

IN DIE RO CK

JA Z Z

CAROLINE ROSE SUPERSTAR Seite 16

THE FANTASY ORCHESTRA THE BEAR & OTHER STORIES Seite 30

Kritiken

Mit ihrem siebten Soloalbum beweist die Britin Laura Marling, dass Singer-Songwriter für ein Meisterwerk nicht unglücklich sein müssen.

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Brooke Bentham - Everyday Nothing Wrangler - A Situation Ratboys - Printer's Devil Cornershop - England Is A Garden Mandy Moore - Silver Landings Caroline Rose – Superstar Nadia Reid – Out of My Province Shabaka & the Ancestors – We Are Sent Here By History The Wants - Container Deap Lips – Deap Lips Porridge Radio – Every Bad The Districts – You Know I’m Not Going Anywhere The Fantasy Orchestra – The Bear And Other Stories Kelsea Ballerini – Kelsea Arbouretum - Let It All In The Weeknd - After Hours Morrissey - I Am Not A Dog On A Chain Låpsley - Through Water Moaning - Uneasy Laughter Baxter Dury – The Night Chancers Jonathan Wilson - Dixie Blur Roger Eno - Mixing Colours Code Orange - Underneath CocoRosie - Put The Shine On 5 Seconds of Summer – CALM


C OU N T RY

M. WARD MIGRATION STORIES SEITE 108

ELEC TRONIC

I N DI E P OP

LAPSLEY THROUGH WATER Seite 40

HARKIN HARKIN Seite 130

56 58 60 62 64 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108

Waxahatchee – Saint Cloud Little Dragon - New Me, Same Us Basia Bulat - Are You In Love? Pearl Jam - Gigaton The Chats – High Risk Behaviour Daniel Avery + Alessandro Cortini – Illusion Of Time Dua Lipa – Future Nostalgia Lyra Pramuk – Fountain Nap Eyes – Snapshot Of A Beginner Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs – Viscerals Melt Yourself Down – 100% YES Thundercat – It Is What It Is Anna Burch – If You’re Dreaming Purity Ring – WOMB Yves Tumor – Heaven To A Tortured Mind The Strokes – The New Abnormal Ellis – Born Again Laura Marling – Song For Our Daughter Hamilton Leithauser – The Loves of Your Life Warm Digits – Flight Of Ideas The Lovely Eggs – I Am Moron Ren Harvieu – Revel In The Drama Ashley McBryde – Never Will Empress Of – I’m Your Empress Of M. Ward – Migration Stories

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Seazoo – Joy Shabazz Palaces – The Don Of Diamond Dreams Fiona Apple – Fetch The Bolt Cutters Rina Sawayama – Sawayama Lido Pimienta – Miss Colombia EOB – Earth DVSN – A Muse In Her Feelings Lucinda Williams – Good Souls, Better Angels Hazel English – Wake Up! Brendan Benson – Dear Life Harkin – Harkin Whitney Rose – We Still Go To Rodeos Junk Drawer – Ready For The House

Special « The Libertines » 66 68 69

The Libertines - die Jahre 1997 - 2004 Up The Bracket (2002) The Libertines (2004)

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Brooke Bentham Everyday Nothing

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Das Debütalbum „Everyday Nothing“ endet mit dem ersten Song, den Bentham für das Album geschrieben hat. Das Lied wurde auf einer Sprachmemo in einer Zeit geboren, in der sie nicht viel schrieb. Sie setzte sich das Ziel, nur zu schreiben, was sie fühlte. Sie beschreibt die kleinen Details jeden Ihrer Tage, teilt aber auch offen eine intime Momentaufnahme ihres Geistes mit der Zeile “I don’t smoke, ‘cause I dont wanna die anymore.” Die Melodie windet sich träge, die perfekt zu Bentham’s Stimme und der Geschichte passt, die sie uns auf Ihrem Debüt erzählt. Brooke Bentham’s Debüt ist eine unerschütterliche, nicht entschuldigende Proklamation von Existentialismus, Gesellschaftskritik und Wertschätzung für das Weltliche. Viele Songs konzentrieren sich auf die Kleinigkeiten des Alltags – die kleinen Dinge, die wir normalerweise nicht bemerken. Auf dem exzellenten „Perform For You“ nimmt Bentham winzige Beziehungsdetails und verwandelt sie in eine hochfliegende Vermittlung der Liebe selbst, alles über einen Killer-Refrain und blickt dabei auf die hellere Seite des Grunge der 90er Jahre. Das spektrale „High“ ist in der Stimmung ähnlich, aber nicht im Klang. Stattdessen werden die verträumten Klanglandschaften der „Moon Safari“-Ära von Air kanalisiert. An anderer Stelle gibt es deutliche Kommentare zur Musikindustrie und ihrer Behandlung von Frauen. “Belittle me please/Make me feel small/Ask me for something/But give nothing at all,” sind Bentham’s beißende Reime für Branchenchefs, die gerne Geld mit Künstlerinnen verdienen, aber im Gegenzug wenig Gleichheit oder Respekt bieten. “It’s a thing I have to face every day,” singt sie müde im Refrain. Bentham ist sehr gut in dem, was sie tut. Sie ist eine unverwechselbare Songwriterin mit einer Vorliebe dafür, das Offensichtliche zu vermeiden und das Ergebnis strahlt letztlich Selbstvertrauen und sehr viel Ehrgeiz aus. 7/10

GENRE: AKUSTIK - INDIE POP

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Da alles Gute auf der Welt in Flammen aufgeht, bietet Wrangler eine Party, die für das Ende der Zeit gut geeignet scheint. „A Situation“ spielt dabei eine große Rolle und kombiniert veraltete und ursprüngliche Synthesizer mit Texten, die eine dystopische KI-Zukunft darstellen. Dieses Album ist nicht zum einfachen Anhören geeignet. Opener „Anthropocene“ ist ein paranoider Tanztrack, der lyrisch andeutet, dass etwas Schlimmes am Horizont auf uns wartet. Wrangler, eine Art experimentelle elektronische Super- gruppe, sind nach ihrer selbst zugewie- senen Mission benannt: neue Sounds aus alten Geräten herauszuholen. Die Aus- rüstung stammt von dem analogen Synthesizer-Zauberer Ben Edwards, besser bekannt als Benge, und Stephen Mallinder von den N e w - Wa ve-Legenden Cabaret Voltaire und Phil Winter von der experimentellen Folk-Gruppe Tunng. Was als Forschungspro- jekt konzipiert wurde, hat sich zu einer Band mit echter Langlebigkeit entwickelt: Nach zwei Al- ben und einer Zusammenarbeit mit John Grant als Creep Show sind sie nun bei ihrem dritten Album angekommen. Während es schwierig ist, a l l e s zu verarbeiten, was vor sich geht, geschweige denn zu versuchen, eine Lösung zu finden, ermutigt Mallinder die Zuhörer zumindest, Maßnahmen zu ergreifen und etwas zu bewirken, insbesondere in Bezug auf den Befehl „How to Start a Revolution.“ Obwohl die zugrunde liegende Botschaft des Albums ziemlich ernst ist, klingt die Musik selbst eher verspielt als düster oder reinigend. Die Tracks sind eine Mischung aus nervösem Minimal Techno, Electro-Pop und dem starren Maschinen-Funk von EBM.„Rhizomatic“ hat hüpfende, Kraftwerk-inspirierte Melodien, während das dunkle, treibende „A Situation“ fast wie ein älterer Matthew Dear Song klingt. Die Situation auf der Welt mag immer schlimmer werden, aber Wrangler gehen noch nicht in den Panikmodus. Sie haben immer noch das Ge- fühl, dass etwas dagegen unternommen werden kann und so fühlt sich jeder einzelne Moment auf „A Situation“ schrecklich real und verdammt gut an. 7/10

GENRE: ELECTRONI

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Ratboys

Printer's Devil

Auf Anhieb wird man viel Spaß mit diesem neuen Album der Ratboys haben. „Alien With a Sleep Mask On“ bietet einen klanglichen Rückzugsort für Teenie-Filme der Jahrtausendwende, wie American Pie und Road Trip – ohne die wütenden Hormone und die männliche Unreife – dafür mit einem Schuss Power-Pop. Dieser elektrische Ruck überträgt sich auch auf „Look To“ und „Anj“, zwei täuschend berührende Songs über das Erwachsenwerden und dem Beobachten, wie sich Ihre Beziehungen vor den eigenen Augen entwickeln. Wer in den frühen 2000er Jahren volljährig wurde, bei dem werden diese Songs wahrscheinlich einige Schichten tiefere nostalgischer Synapsen berühren. Was als selbst aufgenommenes akustisches Duo begann, verstärkten die Ratboys-Gründer Julia Steiner und David Sagan schon bald und fügten ihren

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gemächlichen, reflektierenden Songs kraftvolle Trommeln und Verzerrungen hinzu und kanalisierten Einflüsse wie die Breeders und die Dodos ebenso wie Wilco und Jenny Lewis. Fast ein Jahrzehnt nach Beginn ihrer musikalischen Partnerschaft setzt ihr drittes Album „Printer’s Devil“ einen allmählichen Trend zu einem breiteren, robusteren Sound fort. Es wurde in den Decade Music Studios in Chicago mit Erik Rasmussen aufgenommen, der gemeinsam mit der Band produzierte, und repräsentiert ihr erstes Album mit dem Schlagzeuger Marcus Nuccio (Dowsing, Pet Symmetry). Hier ist für jeden etwas dabei. Auf „Printer’s Devil“ trifft der Teenagergeist von Wheatus auf die erwachsene Glückseligkeit von Big Thief in einer schönen Frühlingsmischung, die verschwommenen, durcheinandergebrachten Power-Pop mit heller, lamellartiger Akustik verbindet. Songs wie


„My Hands Grow“ und „A Vision“ klingen wie ein tiefer Hauch frischer Luft an einem idyllischen Sommermorgen, mit schönen Arrangements, die den Raum optimal nutzen. „Printer’s Devil“ ist der Sound einer Band, die ihr klangliches Selbstvertrauen deutlich steigern konnte und für uns bleibt es spannend zu beobachten, wohin uns Steiner, Sagan, Neumann und Nuccio in Zukunft weiter führen werden. 7/10

GENRE: INDIE ROCK

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Cornershop

England Is A Garden „St Marie Under Canon“ eröffnet die neunte Platte von Cornershop mit einem knisternden, nordischen Schlag, der seine Audiophilie so stolz auf der Brust trägt, dass Tjinder gegen Ende sogar singende Anweisungen zum Einrichten eines Soundsystems zum Besten gibt. „Slingshot“ fährt die Platte für einen schlängelnden Gospel Country durch die Innenstadt von Wuhan – zumindest klingt Tjinder so, als würde er durch eine Gasmaske singen – und „No Rock Save In Roll“ feiert die Black Country Metal-Szene im Stil eines heftigen Dröhnens. Cornershop haben vielleicht eine achtjährige Pause zwischen der Veröffentlichung von „Urban Turban“ und „England Is a Garden“ eingelegt, aber sie waren – so ist es in den Anfangsminuten zu hören – sicherlich nicht untätig. Cornershop waren ein ziemlicher Mainstream-Erfolg der neunziger Jahre. Doch ihr baufälliger experimenteller Gitarren-Pop, der die Tamburicas und Sitars des indischen Erbes ihres in Großbritannien geborenen Sängers Tjinder Singh einbezog, erreichte 1997 mit „Brimful of Asha“ Ihren Höhepunkt. Auch wenn das neue Album diese Qualitäten nicht mehr erreichen kann, so ist „England Is A Garden“ ein pan-kultureller Schmelztiegel der Gegenüberstellung. Es sind Spaziergänge durch lockere Instrumentierungen und improvisierte Flötespiele, die auf vielen Tracks hier zu finden sind, mit dem durchschlagenden Megaphon-Gesang, den man auch bei einem Protest finden würde. Zwei der jubelndsten Höhepunkte des Albums sind „Highly Amplified“ und „Everywhere That Wog Army Roam“. Beide befassen sich mit der beunruhigenden Politik des wachsenden Nationalismus Englands unter den üppigen und grünen Weideflächen. Ersteres verbindet eine freudig befreite Flöte, Tamburica und introspektive Streicher mit Punjabi und englischem Gesang und erzählt, wie “hell’s deep and the world is sinking”. Wenn England ein Garten ist, ist es kein gesprenkeltes Paradies. Es ist ein winziger, verrottender Fleck, der von aggressivem einheimischen Knöterich befallen ist. 6/10

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GENRE: FUNK - NEO SOUL


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Mandy Moore

Silver Landings Musikalisch ist das neue Album von Mandy Moore wunderschön – lockerer, wirbelnder kalifornischer Rock und Country, angeführt von Melodien, die aus dem Zugfenster schauen. Moore’s Stimme ist klar und emotional, keine Beeinträchtigung, die eine Distanz zwischen dem Gefühl und seiner Übermittlung schafft. “It feels so good to sing,” schnurrt Mandy Moore gegen Ende ihres neuen Albums. “It’s been too damn long.” Ein Jahrzehnt, um genau zu sein. Die 35-Jährige, die um die Jahrhundertwende mit Britney Spears, Christina Aguilera und Jessica Simpson um die höchste Popposition drängte, ist jüngeren Generationen als Schauspielerin besser bekannt. Aber in den Jahren zwischen ihrem sechsten Album „Amanda Leigh“ aus dem Jahr 2009 und jetzt war sie „hungry“, mehr Musik zu veröffentlichen. Das Problem ist, sie hatte kein Label, keinen Musikmanager und war in einer scheinbar giftigen Ehe mit dem Musiker Ryan Adams gefangen. Letztes Jahr, als mehrere Frauen Adams in einer

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Enthüllung der New York Times sexuelles Fehlverhalten vorwarfen (Anschuldigungen, die er bestritt), trug Moore ebenfalls zu den Anschuldigungen bei. Sie sagte, dass ihr Ex-Mann während ihrer sechsjährigen Ehe psychisch missbräuchlich gewesen sei und ihre Musikkarriere manipuliert und behindert habe. “I want to make music,” so Ihre Worte. “I’m not going to let Ryan stop me.” Moore präsentiert uns mit „Silver Landings“ ein tadellos aufgenommenes Album kontemplativer Popsongs mit einem einladenden Westküsten-Feeling, das


sich an Fleetwood Mac’s Blütezeit Ende der 70er Jahre orientiert. Der Produzent und Co-Autor Mike Viola ist zurück und seine Studiokunst und sein allgemeiner Sinn für Handwerk tragen dazu bei, dass dieses Set auf subtile Weise glänzt. Moore hat seit ihrer letzten Veröffentlichung viel erlebt und es ist keine Überraschung, dass „Silver Landings“ von einem Gefühl der Reflexion durchdrungen ist. “Save a Little For Yourself ” ist eine kühne Bestätigung der Selbsterhaltung in der Liebe. Im herausragenden Moment singt Moore über gedämpfte Gitarren: “Start again, while I’m feeling up to it/ The innocent mask don’t fit like it did back then.” „If That’s What It Takes“ ist ein gutes, altmodisches Liebeslied und ein wunderschönes, das das kosmische Land der Kacey Musgraves kanalisiert. „Forgiveness“ flüstert mit einer spanischen Gitarre und macht einige gezielte Beobachtungen über missbräuchliche Beziehungen – “I wanted to be good enough for you, until I wasn’t good enough for me” – aber der Fokus liegt auf Moore, nicht auf der Person, die ihr wehtut. “Will I forgive you? You don’t get to know,” singt sie und fügt später hinzu, “Forgiveness is for me/ It’s in the mountain I’ve been climbing, and the mark I’m gonna leave.” Zwischen der warmen Klangpalette und der persönlichen Natur ihrer Texte gilt „Silver Landings“ als Moore’s bislang ausgereiftestes Werk und sorgt für ein starkes, wenn auch zurückhaltendes Comeback. 7/10

GENRE: FOLK ROCK

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ie Erzählung des Albums beginnt, wenn ein unbenannter Held eine falsche Nummer als Omen nimmt und sich mit stolzierenden Synthesizern auf die Suche nach Träumen macht, die zu groß für sein Handgepäck sind. Aber ihre selbst gemachte Zukunft hat die gleichen Grenzen wie ihre Vorstellungskraft: „I’ll get free ice cream and give them to the kids of the neighbourhood“, es klingt so, als wäre es während eines Sommers in der Kindheit gesagt worden. Ein Großteil des Albums in wahrer Rose-Form verkörpert diese Dualität: großhaarige, falsch gepeitschte Synthesizer und Flöten, die die Texte umfassen, während sie versuchen, in ihrem zu engen Kleid zu atmen. Die Eröffnung mit den optimistischen, verträumten Noten von „Nothing Impossible“, die die sternenklare Prämisse einer hoffnungsvollen Zukunft aufbauen, sind jedoch jäh zu Ende, wenn das dramatische “Do You Think We’ll Last Forever” die Aussaat der ersten Samen der Selbstzweifel übernimmt. Leider setzt sich in der zweiten Hälfte des Elf-Track-Albums die bittere Realität dort nieder, wo einst süße Träume lebten. Der Abstieg beginnt mit dem selbstironischen „Freak Like Me“, der langsamsten und leisesten Klanglandschaft der Produktion, die die bevorstehende gedämpftere Stimmung darstellt. Der Flaute folgt ein Ausbruch von verärgerter Energie auf dem gitarrengeführten „Someone New“, bevor ein sanfter Übergang in das herausragende „Pipe Dream“ eintritt, das einen Eindruck für Rose’s heiseren Gesang hinterlässt, der über angenehm monotonen Instrumentierungen liegt. Ihr letztes Album „LONER“ war eine unerwartete Indie-Pop-Energie-Explosion. Durch die Erweiterung ihres Sounds in neue Richtungen fand sich Rose mit einer neuen Gruppe von Fans wieder, die auf das gespannt waren, was als nächstes kommen würde. Ihr Nachfolger handelt von diesem wachsenden Anforderungsprofil, indem sie ein ehrgeiziges Album kreiert, das zum einen aus einer prahlerischen Come-up-Story und zum anderen aus reflektierender Verwundbarkeit besteht. Rose verbindet diese Elemente mit ihrem magnetischen Stil, und das Ergebnis ist unverkennbar ihr eigenes. 8/10

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GENRE: INDIE ROCK


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Nadia Reid

Out of My Province Fünf Jahre nach der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Listen to Formation, Look for the Signs“ und drei Jahre nach dem gefeierten „Preservation“ kehrt die neuseeländische Songwriterin Nadia Reid mit „Out of My Province“ zurück. Alle Aufzeichnungen von Reid haben ein so erhabenes Bild davon gemalt, wo sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befand (beispielsweise in Bezug auf das Erscheinungsbild: Jedes Cover ist ein Porträt der jetzt 28-Jährigen), dass es geschmacklos erscheint, diese gegenüberzustellen und dieses Album als ihr bisher bestes zu bezeichnen. Sie erscheinen nebeneinander gestellt daher vielmehr wie ein sich fortschreibender Reisebegleiter als untereinander konkurrierende Veröffentlichungen. Es genügt zu sagen, dass die Erwartungen an „Out of My Province“ hoch waren. Reid’s Weltbild ist jetzt weitläufig. Das Album enthält Verweise auf Stansted, Kanada, Norwegen, Spanien und mehr. Doch so klanglich und geografisch umfassend einige dieser Songs auch sind, sie bleiben intim und gesprächig – insbesondere in „All of My Love“, „High & Lonely“ und „Heart to Ride“. Das ist auch dann so, wenn sie sich mit Themen der Enttäuschung oder der Wiederentdeckung der Liebe befasst. Selbstzweifel tauchen auf in „Who is Protecting Me“, aber “making friends with who I used to be”, auf dem kathartischen Ende „Get the Devil Out“.

„Out of My Province“ strotzt vor Zuversicht, mit einer stärkeren Stimme als auf früheren Alben, klugen Arrangements für Streicher und Hörner und 10 diskreten, unvergesslichen Songs. Die vielschichtigeren Arrangements beeinträchtigen jedoch niemals die intime Unmittelbarkeit von Reid’s Gesängen und Texten. Reid’s Melodien bleiben elegant, ihre intelligenten Texte werden klar geliefert und die Songs sind akustisch gerahmt und reflektierend. Einige kommen aber auch als läutender Folk-Rock daher, wie das radiofreundliche „Oh Canada“, in dem sie singt: “all the travelling I have done, I don’t know what I’m looking for”. Nadia Reid’s Offenheit auf dem dritten Album ist ein Geschenk – möge ihre Gesangskunst und gute Arbeit noch lange andauern. 8/10

GENRE: AKUSTIK - FOLK

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eed-Spieler Shabaka Hutchings war der erste britische Musiker, der vom legendären Impuls! Label unter Vertrag genommen wurde. Als seine Band Sons of Kemet dies 2018 tat, war es ein Deal, auf den sein Management zu Recht stolz sein konnte. Es war auch eine Bestätigung Hutchings’, denn in den 1960er und 1970er Jahren tummelten sich auf Impulse! viele seiner prägenden Einflüsse, darunter John Coltrane, Archie Shepp und Pharoah Sanders. 2019 brachte Hutchings ein weiteres seiner Projekte, The Comet Is Coming, zum Label. Shabaka & the Ancestors macht das zu einem Hattrick. „We Are Sent Here By History“ ist das großartige zweite Album der Gruppe nach „Wisdom Of Elders“, dass 2016 auf dem Londoner Label Brownswood veröffentlicht wurde. Shabaka & The Ancestors stützen sich auf die Tradition und Neuformatierung in eine spirituelle Jazz-Odyssee für die Moderne. Wo „Wisdom of Elders“ über einen bevorstehenden gesellschaftlichen Zusammenbruch nachdachte, konzentriert sich „We Are Here By History“ auf diese Umgebung und reflektiert das bevorstehende Aussterben der Menschheit. An anderen Stellen tritt die Musik einen kleinen Schritt zurück und lässt die Worte des südafrikanischen Performancekünstlers Siyabonga Mthembu an

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die Oberfläche driften (wie bei der Eröffnung von „You’ve Been Called“, wo er von einem zerbrechlichen, unheimlichen Klavier begleitet wird). Obwohl der Ton oft dunkel ist, gibt es auch Momente der Dringlichkeit, in denen „The Coming of the Strange Ones“ und „They Who Must Die“ im Wirbel aus rührendem Saxophon und treibenden Bass- und Drum-Licks ausbrechen. Das Album basiert auf dem Kontext alter Traditionen, dient aber als verurteilende Aussage über den Verlauf der modernen Gesellschaft. Shabaka sagt, dies ist “What happens after that point when life as we know it can’t continue.” Letztendlich hängt das, was wir von „We Are Sent Here By History“ gewinnen, davon ab, wie sehr wir uns mit seiner musikalischen Vision verbinden. Alt und modern, viszeral und zerebral, episch und doch intim, es ist Jazz von seiner besten Seite. Wenn das Aussterben der Menschheit unvermeidlich ist, wie Hutchings befürchtet, dann haben wir zumindest außergewöhnliche Musik für diesen letzten Lebensabschnitt. 9/10

GENRE: JAZZ

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Bei ihrem Debüt „Container“ kanalisieren die New Yorker The Wants ein Genre, das als dystopischer Fetisch-Club-Art-Punk bezeichnet werden könnte. Dahinter stehen freche, in Leder gekleidete Typen, die auf 12 Tracks einen dunklen, spannungsgeladenen Kanon heraufbeschwören. Wir hören einen düsteren Spritzer Interpol hier („Ape Trap“), ein Sci-Fi-Instrumental dort („Aluminium“). In gewisser Weise kann der Albumname als falsche Werbung erscheinen. Während „Container“ oberflächlich betrachtet eine Art-PopPlatte ist, werden Elemente von Post-Punk, Synth-Pop und minimalem Techno zusammengeformt, um einen Sound mit mehreren Kanten zu erzeugen. Der Album-Opener „Ramp“ ist eine Vorschau auf diese verspielten Kanten, da eine chaotische Kakophonie von Klängen den Eindruck erweckt, als würden sie zwischen Blechwänden schlagen. Währenddessen hat der Titeltrack mit seinem kurvenreichen Impulsen eine Depeche-Mode-Atmosphäre, die die Komplexität des Albums sehr unterstreicht. Obwohl die Platte über mehrere Jahre stückweise in diversen Studios aufgenommen wurde, hat sie einen sauberen, stromlinienförmigen Sound, der sofort ansprechend ist. Madison Velding-VanDam’s Gesänge sind schief und amüsant, aber mit einem zugrunde liegenden Schmerzgefühl versehen. Ebenso sind die Songs nervös und ziemlich knapp gehalten. Diese eng gewickelte Konstruktion gibt ihnen aber auch eine Energie, die ansteckend ist – und oft tanzbar. „Container“ ist ein kompaktes, prägnantes Paket mit sieben Songs, das eine Handvoll kakophonischer Instrumentalstücke und Zwischenspiele beinhaltet. Wie bei vielen der besten Debütalben klingen fast alle diese Songs so, als könnten sie Singles sein. Das Debüt von The Wants ist mutig, gewagt und unglaublich effektiv, während es geschickt mit viel Liebe zum Detail experimentiert. 8/10

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GENRE: POST PUNK


The Wants Container

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ie Deap Lips bestehen aus Lindsey Troy und Julie Edwards vom Garage-Pop-Duo Deap Vally und den Flaming Lips-Mitgliedern Steven Drodz und Wayne Coyne und ist eine Zusammenarbeit, die außerhalb der erwarteten Rollen der Mitwirkenden liegt. Während der experimentelle Pop der Flaming Lips die Hörer dazu bringen könnte, das Unerwartete zu erwarten, geht jeder der zehn Songs auf Deap Lips’ gleichnamigem Debüt an einen anderen Ort. Der vielleicht vorhersehbarste Moment des Albums ist der erste Song „Home Thru Hell“, ein staubiger Rocker, in dem Troy’s kehliger Gesang die Geschichte einer turbulenten Motorradreise erzählt. Der farbenfrohe und leicht psychedelische Song besteht aus E-Drums und einsamen Gitarren, die von verzerrten Gesängen, riesigen staubigen Riffs, Synthesizern und Soundeffekten gekentert werden. Für Deap Vally’s Blues Rock und dem wahnsinnigen Pop der Flaming Lips kommt es einer goldenen Mitte am nächsten, und es wäre sinnvoll gewesen, wenn der Rest des Albums ähnlich klingen würde. Es ist eine wunderbare Sache, wenn etwas größer ist als die Summe seiner Teile. Leider ist die Kombination aus Deap Lips und den erfahrenen Verrückten von The Flaming Lips keine dieser Gelegenheiten. Die selbstbetitelte Platte der Supergruppe mag den schmutzigen Rock der ersteren und die Vorliebe der letzteren für synth-geführte Tangenten enthalten, aber durch den Stil jeder Band entsteht hier eine Reibung ins Negative. Trotzdem ist nicht alles schlecht: Die Produktion ist riesig und lebendig und die besten Songs sind solide geschrieben. Die stilistischen Sprungschnitte und die schnell wechselnde Instrumentierung machen das Album perfekt für das wiederholte Hören und enthüllen bei jedem erneuten Besuch einige neue seltsame Details. So bleibt es ein erforderliches Hören für alle, die bereits in eine der beiden Bands Ihre Zuneigung ausgesprochen haben und ein wildes, unangenehmes Hören für alle Uneingeweihten. 6/10

GENRE: ROCK - EXPERIMENTAL

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orridge Radio ist ein Produkt aus Brighton’s fruchtbarer, aber unterirdischer DIY-Szene: eine Welt kassettengeteilter EPs mit amerikanischen Noise-Bands, Debütalben, die in Gartenhäusern aufgenommen wurden, Lo-Fi-Cover von Daniel Johnston-Songs und kostenlose ganztägige Festivals in winzigen Veranstaltungsorten. Was auch immer wir aus all dem machen, wir können den Beteiligten sicherlich nicht vorwerfen, von kommerziellen Ambitionen angetrieben zu werden. Das neue Album „Every Bad“ ist im Vergleich zu einigen frühen Veröffentlichungen von Porridge Radio schick, aber in einer Zeit, in der der sogenannte Alternative Rock mit einer so glänzenden Tiefe überzogen ist, dass er nicht vom Chart-Pop zu unterscheiden ist, fühlt sich die Produktion an den Rändern dennoch ansprechend rau an. „Don’t Ask Me Twice“ und die Single „Sweet“ gehören zu einer Reihe von Tracks, die auf dynamischen Pixies-ähnlichen Wechseln zwischen leise und laut beruhen. Dies zeigt Margolin als eine der großen Stimmen des Rocks: Ihr heiserer, kehliger Klang scheint von irgendwo tief im Inneren ausgebaggert zu sein, ein authentischer Ausdruck von etwas Dunklem und Gequältem, anstatt nur eine nervöse Verzierung zu sein. An anderer Stelle ist kein großer Phantasiesprung erforderlich, um sich die spindeldürren Gitarren von Porridge Radio, die schreienden Hintergrundgesänge und die Schattierungen von Violine und billig klingendem Synthesizer vorzustellen. „Lilac“ begeistert mit seinem stetigen Tuckern der Gitarre und dem Rauschen der Saiten. “I want us to get better,” fleht Margolin, “I want us to be kinder to ourselves.” Ihre Stimme wird zu einem Schrei und der Refrain schwillt an, bis er droht überzukippen. Nur wenige Alben tragen die rohe Emotion von „Every Bad“ in sich und tragen sie mit solch musikalischem Selbstvertrauen wie es Porridge Radio auf diesem Album tun. 9/10

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GENRE: ALTERNATIVE ROCK


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as neue Album „You Know I’m Not Going Anywhere“ ist eine Aufzeichnung von Widersprüchen. Hochmütig und doch einnehmend. Experimentell und doch vertraut. Expansiv und doch konfessionell. The Districts fielen ihrem eigenen Erfolg zum Opfer, als die Band nach der Veröffentlichung von „A Flourish And A Spoil“ im Jahr 2015 und „Popular Manipulations“ zwei Jahre später vom Mainstream förmlich verschluckt wurden. Ein anstrengender Tourplan und immer größere Angstzustände ließen Rob und seine Bandkollegen für eine Weile verschwinden, mit nur ein paar Single-Veröffentlichungen, um die Fans in der Zwischenzeit zu unterhalten. „You Know I’m Not Going Anywhere“ ist eine erhebende Rückkehr für die Indie Rock Band aus Philadelphia. Das Album fühlt sich weniger klaustrophobisch und fesselnd als frühere Veröffentlichungen an, wobei The Districts scheinbar die Verantwortung für ihre stärker unterdrückten Einflüsse übernehmen und mit ihnen gehen. Opener „My Only Ghost“ gibt den Ton mit einer faszinierenden Melodie an, die eine eindringliche Einführung in die neuen Klangreichweiten des Albums schafft. „Hey Jo“ ist das unbestrittene Highlight der Platte und kanalisiert Arcade Fire und Sundara Karma-artige Musikalität mit schwellenden Akkorden und einem hymnischen Refrain, der von Rob’s Falsett angetrieben wird. Das Album treibt große Pop-Momente und klassische Rock-Hymnen voran und schafft es, seine düsteren Kanten beizubehalten. Dort findet es seinen Reiz, indem es den perfektionierenden Glanz wegscheuert und die verwüstete Haut darunter freilegt. Obwohl Tracks wie „Velour and Velcro“ auf die größere Bühnen gehören, sorgen sie dennoch dafür, dass die Band ihre Intimität beibehält. Es gibt außerdem Momente, die von ihren Zuhörern mehr Vertrauen verlangen als jemals zuvor. Die rutschigen Basslinien von „Cheap Regrets“ und der faulenzende Jazz von „Dancer“ zerkleinern den erwarteten Fluss der Platte. So abenteuerlich die Dinge auch sein mögen, die Platte wird durch ihre verwurzelten Anfänge untermauert, sei es in den Rhythmusabschnitten des bluesigen Trubels oder im enthusiastischen Thrash einer Akustikgitarre. Wenn es darauf ankam, zu kämpfen oder zu fliehen, taten Grote und seine Band beides; sich als Fluchtweg in ihr Schreiben zurückzuziehen, aber mit einem kühnen Zeugnis der Widerstandsfähigkeit zurück zu kommen. „You Know I’m Not Going Anywhere“ ist der Höhepunkt einer Band, die durch Meilensteine und Rückschläge gleichermaßen gewachsen ist. 8/10

GENRE: INDIE ROCK

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eginnend mit den fein gewebten Jazz-Melodien in „Flow“ ist das Debüt von The Fantasy Orchestra eine weitläufige Zusammenarbeit von nicht weniger als 160 kreativen Energien. „The Bear and Other Stories“ ist ein fantastisches Stück DIY-Einfallsreichtum, ein Gemeinschaftsprojekt voller Cover, Hommagen und einer Fülle von großartigen Persönlichkeiten. Ähnlich wie Choir! Choir! Choir!, wo sich diverse Künstler aus Nordamerika versammelten, um Musik neu zu kreieren, macht diese hauptsächlich in Bristol ansässige Community hier das Gleiche. Ursprünglich als Ennio Morricone-Coverband angefangen, sind sie daran gewachsen, um einige außergewöhnliche Dinge aufzunehmen. Das Debütalbum von The Fantasy Orchestra klingt alles andere als amateurhaft, mit einer berauschenden Mischung aus New-Age-Chor, Progressive-Age-Jazz und einer scheinbar zufälligen akustischen Stereolab-ähnlichen rhythmischen Beugung. Es gibt hier Stücke, die manche kennen und besonders herausragend finden werden. Zum Beispiel seien hier die beiden Hendrix-Cover „Third Stone From The Sun“ und „One Rainy Wish“, sowie die Richard Dawson-Kollaboration bei „Final Moments of the Universe“ genannt. Hendrix’ „Third Stone From The Sun“ hat eine entsprechend stratosphärische Einführung und segelt auf einer Wolke seufzender Gesänge. Jimi hätte es geliebt, der Gesang strahlt wie die wärmsten Sonnen. Ihre Interpretation seines „One Rainy Wish“ hat eher eine geradlinige West Coast-Stimmung mit volkstümlichem Frauengesang. Das alles ist in einer erhebenden Freude anzuhören. Tatsächlich ist die exotisch beeinflusste Version von Jesse Vernon’s eigenem „Kurtle“ ein bongo-getriebenes Vergnügen, gefüllt mit gezupften Geigen und Sirenengesängen, dass all das zum Tragen bringt, was am Orchester großartig ist. Das Album ist eine ziemlich schöne Sache und ohne ein Lächeln im Gesicht nicht zu hören. 8/10

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GENRE: EXPERIMENTAL - JAZZ


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elsea Ballerini, eine Sängerin, die mit den Chainsmokers zusammengearbeitet hat und während ihrer gesamten Karriere mit Vergleichen zur Country-to-Pop-Pionierin Taylor Swift überflutet wurde, ist eine Künstlerin, die selbst mit anderen Arten von Musik flirtet und diese Erzählungen als Anlässe nutzt, um sich wieder von ihren Wurzeln zu überzeugen. Ihr drittes Album „Kelsea“ ist eine eingängige Abhandlung über die Pushund Pull-Dynamik einer Pop-orientierten Sängerin aus dem Süden, die versucht, Genres, Stile und Sounds zu vermischen. Kelsea macht diese Spannung – die Navigation zwischen der modernen Urbanität des Pop und der ländlichen Bedeutung der Country Musik – zum Hauptthema. Die 26-jährige Sängerin wechselt zwischen dem Club und der Kuhweide, zwischen dem Wohlfühl-Country-Konservatismus der 90er Jahre von „Hole in the Bottle“ und dem Top-20-Pop von „Love Me Like a Girl“. Das alles hat mehr mit Alessia Cara gemeinsam als mit Shania Twain. Oder wie Ballerini es ausdrückt: “I’ve got a love and hate relationship with L.A.” Das neue Album ist voller offener Geständnisse über universelle Emotionen, die alle mit glitzernden Popproduktionen verheiratet sind, bei denen alle elektronischen Elemente (und es gibt viele) erweicht werden, damit sie sich warm anfühlen. Die geschickte Vermischung von persönlichen Ängsten und sprudelnden Melodien ist glücklich, durch und durch modern und so gestaltet, dass sie auf jede Art von Streaming-Wiedergabeliste passt. Zu diesem Zweck unterstreicht Ballerini ihre Verbindung zum Pop nicht nur durch den ausgedehnten coolen Schimmer des Albums, sondern indem sie Halsey auf „The Other Girl“ einlädt und Ed Sheeran zu „Love & Hate“. Die Platte sackt an einigen Stellen ab, weil es ein oder zwei Songs zu viele sind. Insgesamt ist „Kelsea“ jedoch eine raffiniert produzierte und gut gemachte Sammlung von Songs, die Ballerini als neue Königin des Country-Pop bestätigt. 7/10

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GENRE: POP - COUNTRY


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Arbouretum Let It All In

Arbouretum basiert auf dem meisterhaften Songwriting und dem gebieterischen Gesang von Bandleader Dave Heumann, der in den 2000er und 2010er Jahren damit verbrachte, exzellente Alben mit leicht kosmischem Folk-Rock herauszubringen. Im Laufe der Zeit lehnte sich die Band an einen britischen Folk-Einfluss an und schnürte Heumann’s Erzähllieder mit eindringlichen, traditionellen Melodien. Das neunte Album „Let It All In“ findet die Band an der klarsten Artikulation ihres Sounds, die es je gab, und verwischt die Grenzen zwischen Woodsy Folk, ländlicher Psychedelia und einer experimentellen Interpretation von Roots Rock. „No Sanctuary Blues“ begleitet Arbouretum am Scheideweg all ihrer vielfältigen Impulse. Solides Rhythmus-Sektionsspiel wechselt zwischen BarRoom-Rock und weitläufigen Landschaften, während Heumann sich von temperamentvollen Gesängen entfernt und nur Gitarrensoli im Stile eines Richard Thompson anbietet. Die Momente der kosmischen Ausflüge werden durch die unauffälligen Synth-Texturen des Keyboarders Matthew Pierce hervorgehoben. Der folgende Instrumental-Track „Night Theme“ zeigt auch Pierce’s Synths-Spiel und kontrastiert sanften Folk-Rock mit verstimmten Alien-Keyboard-Tönen. Der treibende Krautrock-Beat, der den Titeltrack nach vorne peitscht, lässt viel Platz für Heumann’s Gitarrenarbeit und Texte, die die Unterschiede zwischen Massenbewusstsein und einer inneren Welt erforschen. Das Lied schiebt sich fast 12 Minuten lang vorwärts und bleibt während der gesamten Dauer engagiert und angespannt. Das Hauptproblem bei diesem Album ist, dass es hartnäckig in einer Mid-Tempo-Ruhe bleibt. Es gibt keine großen, zerreißenden Gitarrensoli und nur wenige instrumentale Crescendos. Die einzige große Ausnahme ist das angesprochene „Let It All In“. Diese 12 Minuten sind die gefühlt schnellsten 12 Minuten auf dem Album. Ruhige Kontemplation ist natürlich eine gute Sache in Maßen, aber die, zu der wir zurückkehren werden, ist Song sieben, weil er rockt. 6/10

GENRE: FOLK

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The Weeknd After Hours

In der Musik von The Weeknd ging es immer um Kontraste, und hier sind die Schönheit und der Wahnsinn reibungsloser als je zuvor integriert. „After Hours“ ist das Album eines der erfolgreichsten Musiker des letzten Jahrzehnts und testet das Gleichgewicht zwischen Innovation und Kommerzialität wie kaum ein anderer heute aus. Die drei wegweisenden Mixtapes von 2011, die nicht nur seine Karriere, sondern auch eine ganz neue Art von R&B etablierten, flossen in sein aufwändigeres, aber ebenso dunkles Major-Label-Debüt „Kiss Land“ ein. Während dieser Zeit war er zurückgezogen, lehnte Interviews ab, wurde selten fotografiert und machte ein Profil, das so trübe war wie die Produktion auf diesen Alben. Aber 2015 war „Beauty Behind the Madness“ ein abrupter und ehrgeiziger Schwenk in luftige Höhen. Er schloss sich mit Max Martin zusammen, der mit Hits von den Backstreet Boys bis Taylor Swift der erfolgreichste Produzent und Songwriter der letzten 25 Jahre ist. Dieses Album brachte mehrere massive Singles hervor, enthielt Kollaborationen mit Ed Sheeran und Lana Del Rey und machte The Weeknd – auch bekannt als Abel Tesfaye – zu einem Superstar. Noch heißer wurde er mit dem ebenso massiven „Starboy“, dass nur ein Jahr später veröffentlicht wurde und durch die Zusammenarbeit mit Daft Punk, Kendrick Lamar und Future hervorgehoben wurde. Einen Monat nach seinem 30. Lebensjahr startet The Weeknd mit seinem bisher vollständigsten Album „After Hours“ in die nächste Ära. Klanglich sind die Markenzeichen ultra-filmische Keyboards, pulsierende Subbässe, harte Beats (die selten tanzbar sind), 80er-Jahre-Synthesizer und Echos, die sich alle von seiner hohen, engelhaften Stimme abheben. Der Sound ist unverwechselbar Weeknd, wird aber eine ungewöhnliche Entwicklung begleitet – er ist irgendwie scharf und verschwommen zugleich. Langjährige Mitarbeiter wie Martin, Metro Boomin, DaHeala und Illang-

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elo sind bei den meisten Songs anwesend, aber wie immer bringt er eine exotische Menge neuer Einflüsse mit: den elektronischen Musiker Oneohtrix Point Never (dessen avantgardistische Texturen die oben erwähnte verschwommene Schärfe mehrerer Songs verleihen) , Oscar Holter (DNCE, Tove Lo, Taylor Swift), Kevin Parker von Tame Impala, Camila Cabello-Produzent Frank Dukes und Lizzo’s Zauberer Ricky Reed. Textlich betritt er auch Neuland, wenn auch nur kurz. Das Album beginnt mit einer Reihe von Songs, die ein Fünkchen der Reue für gescheiterte Beziehungen zeigen, die es nie über das Schlafzimmer hinaus zu schaffen schienen. Das federleichte, Limahl-artige „Save Your Tears“ bietet unterdessen einen Hauch von Selbstreflexion. Selbst wenn er sich entschuldigt oder nach Versöhnung sucht, ist es immer wichtig, ihm und ihm allein zu dienen. “Where are you now when I need you most?” Was „After Hours“ so erfolgreich mit seinen frühen Mixtapes verbindet, ist ein Gefühl des erzählerischen Zusammenhalts, etwas, das The Weeknd zu Beginn zu schätzen schien. Hier bluten Songs ineinander, mit durchgehend verteilten Klangreferenzen, um Fäden zu zerstören, die er zuvor hätte auflösen müssen. Durch das Ausbalancieren der beiden Seiten seiner musikalischen Persönlichkeit fühlt sich „After Hours“ wie das erste Weeknd-Album seit einiger Zeit an, das eine klare, einzigartige Vision bietet. Aber es gibt in diesem Zusammenhang eine heikle Frage nach dem, was kommen wird. Denn wenn du einmal Pop machst und dann zurück zu deinen Wurzeln wanderst, wohin gehst du dann als nächstes? Genau das ist das Problem, mit dem The Weeknd bei seinem nächsten Album konfrontiert wird. 8/10

GENRE: POP - R&B

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Morrissey

I Am Not A Dog On A Chain Morrissey ernennt sich selbst zum Zeugen verlorener, freundlicherer Zeiten in „Love Is on Its Way Out“ und zu einem weisen Veteranen der Grausamkeiten des Lebens, mit denen der Rest von uns erst jetzt aufwacht („Knockabout World“). Ein verzweifelter Rückblick lässt Morrissey jedoch die Verantwortung für seinen verminderten Ruf entziehen. Er verweist häufig auf seinen Geschmack für unbequeme Wahrheiten – “I raise my voice, I have no choice!”, ruft er auf dem Titeltrack aus, einer Hymne für Fake-News-Typen – doch nur wenige solcher Gefühle durchdringen seine Texte, abgesehen von Hinweisen auf Tierrechte und seiner Verachtung für die Massenhaltung von Rindern, “duckface in a duplex” im Song „What Kind of People Live in These Houses?“. Morrissey ist also kein Hund an einer Kette. Aber was genau ist er dann? Ist das der neue Morrissey? Musik, die zu der kompromisslosen, hässlichen Haltung passt, die er jetzt in der Öffentlichkeit mit Stolz trägt? Große Mengen von Fans wurden in den letzten Jahren durch die anhaltenden, unerbittlichen, beunruhigenden Ausbrüche und – was noch besorgniserregender ist – einige seiner tief verwurzelten Ansichten abgeschreckt. Natürlich ist sein unverwechselbarer Stil immer noch da, aber weg sind die warmen Indie-Pop-Rhythmen. Das Album beginnt mit einem unerwünschten Ruck auf „Jim Jim Falls“, mit etwas, das sich Drum’n’Bass annähert.

Die erste Single “Bobby, Don’t You Think They Know” ist eine knallharte Ballade über einen erbärmlichen Drogenabhängigen, die sich zu einem explosiven Crescendo aus Orgel und Saxophon entwickelt. Das glatteste aus Morrissey’s experimentellen Ambitionen erscheint in der Mitte des Albums auf „Knockabout World“. Es ist ein fröhlicher, hüpfender Popsong, dessen Gitarren und Synthesizer mit seinen summenden Versen verschmelzen. Das Lied ist an jemanden gerichtet, der sich in einer herausfordernden Zeit befindet. “You’re OK by me”, singt er. Er spricht wahrscheinlich mit sich selbst. Danach endet das Album. Morrissey wird durch seine eigene Abenteuerlust verwirrt – streunende Trompeten auf “Darling, I Hug the Pillow” wirken ruinös, „The Secret of Music“ verschwendet Zeit mit vagen Worten, die am besten in Morrissey’s Kopf geblieben wären. „I Am Not A Dog On A Chain“ hat seine Momente, aber sie sind zu kurz und praktisch verloren inmitten der experimentelleren Streifzüge. Und dennoch bleibt es eine der besseren Morrissey-Platten der letzten Tage. 6/10

GENRE: ROCK

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LÃ¥psley

Through Water 40


Manchmal sagt das Artwork eines Albums alles, was wir brauchen, um etwas über die darin enthaltene Arbeit zu wissen. Beim Debüt „Long Way Home“ im Jahr 2016 blickte uns Låpsley eindringlich an. Der trotzige Ausdruck auf ihrem jungen Gesicht bereitete uns auf ihre traurigen Synth-Mediationen über enttäuschende Beziehungen und innere Verletzungen vor. Bei „Through Water“ hat sie aufgehört, Antworten zu verlangen, und sich den Elementen hingegeben – ein tiefer Sprung des Engagements, wohin auch immer die Wellen sie führen mögen. Der Sprung hat sich definitiv gelohnt – ihre unnachahmliche Stimme gedeiht in der wahnsinnigen Dancehall und dem von Afrobeat inspirierten „First“ und dem großen Pop-Selbstvertrauen von „Womxn“, weiß aber auch, wann sie einen Schritt zurücktreten muss, indem sie die Platte mit gesprochenen Wortsegmenten und herzlichen Mantras aufpeppt, die das Ganze fest zusammenhalten. Ihre Arbeit wird immer von ihrer zurückhaltenden, verletzlichen Natur geprägt sein, aber hier fühlt es sich viel mehr als eine Absicht als ein Unfall an – eine Künstlerin, die lernt, sich in ihre Stärken hineinzulehnen und im Zuge der Dunkelheit nicht mehr zurückzuschrecken. Das Album beginnt mit einer Reflexion über die Klimakrise, während sie mit Glas, Öl und Wasser kommuniziert. Dieser achtsame Moment scheint eine Befragung des Endes einer Beziehung durch die Linse der natürlichen Welt auszulösen, mit Liebesversuchen, die als Feuer, Lawinen, Blumen und das allgegenwärtige Wasser mit seinem abgeleiteten Potenzial zur Pflege oder zum Ertrinken geworfen werden. Gelegentlich verwandeln sich die Metaphern in Klischees – “love we didn’t buy evergreen” -, aber selbst die bekannteren Bilder erhalten durch ihre Stimme, die die Lachfalten und Falten gelebter Erfahrung in sich trägt, neue Kraft. Abgesehen von zwei oder drei Füllern sind dies herausragende Songs. „Through Water“ ist nicht formelhaft, da Songs wie „Ligne 3“ und „Speaking of the End“ eine kontrastierend theatralische Qualität haben, die an ein melancholisches Keyboard-Kabarett angrenzen. An anderer Stelle hören wir rumpelnde Synth-Bässe, Klangstäbe und eine klarinettenartige Gegenmelodie als traumwandlerische Untermalung. Während die Fans froh sein werden zu wissen, dass „Through Water“ im Allgemeinen an der gut angenommenen, gepolsterten Indie-Electronica von „Long Way Home“ festhält, wird es durch seine verbesserten Qualitäten zu einem noch besseren Einstiegspunkt für Uneingeweihte. 9/10

GENRE: ELECTRONIC - DANCEHALL

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Moaning

Uneasy Laughter ie zweite Veröffentlichung der in Los Angeles ansässigen Band Moaning baut auf ihrem beeindruckenden Debüt aus dem Jahr 2018 auf und leiht sich Treibstoff ihren Jahren in der DIY-Szene aus. Moaning’s selbstbetiteltes Debütalbum verwendete eindrucksvoll üppige, übersteuerte My Bloody Valentine-artige Gitarren. Die Band hat diese Tendenz bei Ihrem zweiten Album „Uneasy Laughter“ zurückgenommen, aber mit umstrittenen Ergebnissen. Sie führen ihre Entscheidung teilweise auf die neu entdeckte Nüchternheit von Frontmann Sean Solomon zurück. Moaning behalten jedoch die gleichen lyrischen Bedenken bei, aber sie überarbeiten ihren Sound komplett und ersetzen die Gitarren durch Synthesizer und elektronische Loops. Nicht dass Gitarren das Bild vollständig verlassen hätten, da jeder Song sie in irgendeiner Form enthält, aber hier wird eine viel größere Auswahl an Klängen gezeigt. Selbst mit dem Wechsel von Noise-Pop zu dunkler New Wave und dem verstärkten Experimentieren mit Klängen schreibt die Band immer noch hakenreiche Songs mit schneidenden Texten, die versuchen, einen ständigen Sturm widersprüchlicher Gefühle zu verstehen. Während sich die Texte des Albums mit Selbstzweifeln und Bedauern befassen und Solomon die Schuld auf sich selbst lenkt, spiegeln die Songs ein größeres Gefühl von Empathie wider. Trotzdem warnt er andere Menschen vor seinen Fehlern, damit sie nicht in einen Strudel aus Schmerz und Zerstörung geraten. In „Fall in Love“ drückt er die Angst aus, dass potenzielle Partner nicht an ihm interessiert sein werden, wenn sie ihn kennenlernen und herausfinden, wer er wirklich ist.

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Dies scheint ein überwältigend trostloses und deprimierendes Album zu sein, aber die besten Songs werden so geschrieben und die Kreativität der Musik selbst macht es leichter, die harten Gefühle zu verdauen. „Running“ ist sowohl komplex als auch luftig, mit einer geräumigen Produktion und einem Rhythmus, der über dem Boden zu schweben scheint und dennoch hartnäckig klingt. „Connect the Dots“ ist ein minimalistisch schimmernder Shoegazer und zeigt eine aufkeimende, expansive Sensibilität. „Say Something“ ist gefüllt mit sanften Pulsen der Drum Machine und den beruhigenden Wellen der Synths. Selbst mit dem erweiterten Sound gibt es immer noch direkte Hits wie „Make It Stop“, dem rifflastigsten Rocksong des Albums. Den Songs hier fehlt zwar meistens die klangliche Kraft und Wirkung ihrer Vorgänger, aber sie erfüllen die nicht unerhebliche Aufgabe, das Wachstum der Band weiter voran zu bringen. 6/10

GENRE: INDIE ROCK


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it „The Night Chancers“ präsentiert uns Baxter Dury eine Art Konzeptalbum und dokumentiert darin die zu harte Faszination, die von Social-Media-süchtigen Instagram-Voyeuren ausgeht. Prominente der C-Liste, die sich in einem letzten verzweifelten Versuch, berühmt zu werden, an die Mantelschwänze der Etablierten klammern. Jedes seiner 10 Stücke dokumentiert Charaktere, die Dury entweder bewusst ausgewählt, oder durch Zufall getroffen hat. Baxter Dury war der fünfjährige Bengel, der neben Papa auf dem Cover von Ian Dury’s bahnbrechendem Debütalbum „New Boots and Panties!!“ stand. Er hat eine faszinierende Karriere im Windschatten seines Vaters geschmiedet, der im Jahr 2000 starb, zwei Jahre vor Baxter’s eigenem Debütalbum „Len Parrot’s Memorial Lift“. Wie bei vielen musikalischen Nachkommen sind Ähnlichkeiten sowohl in der Stimme als

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auch im Stil oberflächlich auffällig – ein ganz besonderer Zusammenfluss von gesprochenem Wort und geschmeidigen Grooves, bei denen die Londoner Umgangssprache verwendet wird, um ungewöhnliche Geschichten mit dunkel komischen, surrealistischen Kanten zu erzählen. Baxter ist jedoch kein Möchtegern-Dummkopf. Wir sehen einen reifen Künstler, der weniger auf schillerndes Wortspiel angewiesen ist und sich mehr auf Stimmung und Charakter konzentriert. Er setzt die gute Arbeit mit dem sechsten Album „The


Night Chancers“ fort, einer Reihe verführerischer, atmosphärischer Late-Night-Grooves. Wo sein Vorgänger sich mit Dury’s zusammenbrechender Beziehung befasste, ist „The Night Chancers“ – wie der Titel schon sagt – charaktervoller. “He’s just a slobby spiv / With an open shirt, scales breath / And high level bronzer / Covering up what you campaigned against,” intoniert er auf „Saliva Hog“. Es hängt von Dury’s Erzählung und seinem besonders heruntergekommenen Charisma ab – die Musik (geschrieben mit dem Gitarristen Shaun

Paterson und von Craig Silvey co-produziert) soll der Stimme dienen: Wir kommen nicht zu „The Night Chancers“, um große Hooks und Singalong-Refrains zu hören. Dury entschied sich für einen dunkleren, sinnlicheren Sound, was zum großen Teil dem Hip-Hop-Einfluss der 90er Jahre zu verdanken ist. Er kanalisiert dabei die sexuellen Fähigkeiten von Biggie Smalls durch den Glamour des französischen Pops und dekonstruiert das Genre, indem er Details auswählt, die der eleganten Atmosphäre des Albums am besten entsprechen. „The Night Chancers“ ist Dury’s erfolgreichstes Werk. Sein Selbstbewusstsein und sein angeborenes Verständnis für Musik und Sprache zeigen, dass der Songwriter in der Blüte seines kreativen Schaffens steht. 8/10

GENRE: POP - ROCK

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Jonathan Wilson Dixie Blur

Jonathan Wilson hat sich als Produzent für Künstler wie Father John Misty und Dawes einen guten Ruf erarbeitet. In der Zwischenzeit bekommt er als Bandmitglied auf Roger Waters’ Tourneen die meiste Aufmerksamkeit. Aber für viele Fans sind seine eigenen Aufnahmen das Maß aller Dinge und es mangelt nicht an Lob für sein neues Album. Das heißt: Wilson’s Rückkehr zu seinen Wurzeln im Süden ist voller Gefühl, Charakter und seine bisher stärkste Veröffentlichung. Der Singer-Songwriter, Multiinstrumentalist und Produzent stand mit „Dixie Blur“ vor einer hohen Messlatte, die er durch die Alben „Rare Birds“ von 2018 und den zwei zuvor gefeierten Soloalben selbst gesetzt hat. Er hatte diesen Sound so weit wie möglich ausgereizt und begriffen, dass er sowohl für das Schreiben als auch für die Aufnahme einen völlig neuen Weg wählen musste. Die Songs erinnern an die südlichen Wurzeln des in Los Angeles ansässigen Musikers. Es scheint fast wie ein Klischee, aber in diesem Fall kombiniert Wilson die Bluegrass-, Country- und Americana-Sounds, mit denen er früher aufgewachsen ist zu einer homogenen Einheit. Ebenso wählte er für den Aufnahmevorgang eine etwas andere Herangehensweise. Anstatt das Album Stück für Stück einzuspielen, wie er es bei seinen Soloprojekten getan hatte, ging er auf Drängen von Steve Earle nach Nashville, um das Album live mit

den besten Spielern der Stadt aufzunehmen. Dazu gehören Mark O’Connor (Geige), Kenny Vaughan (Gitarre), Dennis Crouch (Bass), Russ Pahl (Pedal Steel), Jim Hoke (Holzbläser, Mundharmonika), Jon Radford (Schlagzeug) und Drew Erickson (Keyboards). Wilson war selbst Co-Produzent von Pat Sansone von Wilco. Das sanfte Schwanken des Eröffnungssongs ist für psychedelische Enthusiasten und wird von sanften Holzbläsern getragen, in „69 Corvette“ erinnert sich Wilson an seine Kindheit und seinen Vater. Die Pedal Steel-Gitarre von „New Home“ würde selbst ein Glasauge zum Weinen bringen, bevor die „la la la“ -Stimme diesen traurigen Moment durchbricht. „So Alive“ und „Heaven Making Love“ nehmen die Dinge ein wenig auf und erlauben ein leichtes mitwippen. „Pirates“, „Enemies“ und „Fun For The Masses“ driften dann alle auf eine sehr angenehme Art und Weise ab und es wird einem danach strengstens geraten, bis zum schönen und abschließenden „Korean Tea“ zu bleiben – einem Song, den er in den 90er Jahren mit seiner Band Muscadine aufgenommen hat. Jonathan Wilson war immer in der Lage, Musik zu machen, die sich mit allen Emotionen beschäftigt und wie bei seinen anderen Alben, passen ihm die stilistischen Verbesserungen auch wie angegossen. 8/10

GENRE: AMERICANA - COUNTRY

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Roger Eno

Mixing Colours Trotz aller Behauptungen von Brian Eno über die Klangpalette von „Mixing Colours“ – er hat über die Verwendung von Elektronik gesprochen, um die Räume zwischen den „islands“ klassischer Instrumente zu erkunden – ist die musikalische Textur des Albums dünnhäutig, eine Welt aus abwischbarer Oberflächen und teurer Texturen, die einer besonders lakonischen Air B-Seite ähneln. Die meisten der 18 Songs basieren auf leuchtenden Synth-Mustern und behandeltem Klavier, eine Mischung, die so subtil einlädt, dass man ihre banale Oberfläche fast verzeihen kann. Die Ambient-Ikone und sein jüngerer Bruder, selbst ein bekannter Pianist, enthüllen die Ergebnisse eines intimen musikalischen Gesprächs, das 15 Jahre zurückreicht. Angesichts des experimentellen Vertrauens von Brian Eno hat diese Zusammenarbeit mit seinem jüngeren Bruder etwas ungewöhnlich Zurückhaltendes und sogar ziemlich Süßes. Roger Eno, selbst ein bekannter Pianist, nennt es “a back-and-forth conversation,” das 15 Jahre zurückreicht: Er nahm musikalische Skizzen auf seinem MIDI-Keyboard auf und gab sie dann zur weiteren Bearbeitung an Brian weiter. Nun stellt sich jedoch die Frage, ob das Album in der Familie hätte bleiben sollen. „Mixing Colours“ schadet dem Ruf der Eno’s nicht, verbessert diesen aber auch nicht. Obwohl Tracks wie das bewegende „Celeste“, das umtriebige „Cinnabar“ und das hauchdünne „Desert Sand“ als die emotionalsten Stücke des Albums gelten, scheinen sie strukturell identisch zu sein. „Mixing Colours“ zeigt Roger und Brian Eno in ihrer lässigsten und unbedachtesten Form, aber es gibt einfach nicht genug Abwechslung, Neugier oder Abenteuerlust, um es als ein Muss zu bezeichnen. Zumindest bleibt das Debüt von Brian und Roger Eno ein erfrischender Gegensatz zu den heutigen harten und beschleunigten Zeiten. Mehr aber auch nicht. 5/10

GENRE: ELECTRONIC - AMBIENT

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uf Tracks wie „Sulphur Surrounding“ und insbesondere dem Kraftpaket „Autumn and Carbine“ weben Code Orange die sauberen Haken, die das letzte Album „Forever“ zu einer solchen Offenbarung gemacht haben, ohne von der Tiefe des gesamten Albums abzuweichen. An anderer Stelle, auf „You and You Alone“, nimmt Sänger Morgan Maß und liefert einen ähnlich hymnischen Song ohne jegliche Melodie. Diese Songs sind an sich schon beeindruckend, aber „Underneath“ spielt sich nicht wie eine Sammlung von Singles. Die wiederholte Verwendung von Samples als Motive und eine clevere Sequenzierung verleihen dem dritten Album die Art von narrativem Flow, die Hörer von einem Konzeptalbum einer Progressive-Rock-Band erwarten – und wie bei den besten Konzept-Platten bittet es um ein wiederholtes Hören, wenn es vorbei ist. Einige Songs auf „Underneath“ sind nackte und aggressiv Ungetüme in den Grenzen von Hardcore, Metal oder was auch immer man sonst noch nennen möchte, um diese Aggro-Ausbrüche zu beschreiben. In anderen Momenten erleben wir eine knirschende, stressige Schallmigräne, bei der sorgfältig manipulierte digitale Verzierungen die Wirbelsäule hinunterkratzen, um echtes Unbehagen und manchmal ein gewisses Maß an absichtlicher Reizung zu verursachen. Umgekehrt ist ein Teil davon sehr eingängig, schleicht sich gruselig an uns heran und geht unter die Haut. Aber Jami Morgan ist auch absolut korrekt in Bezug auf die Wirkung der Klänge. „Underneath“ ist zweifellos das Schwierigste, was man seit geraumer Zeit gehört hat. Solch ein teuflisch kompliziertes Sounddesign könnte dazu führen, dass diese Songs splittern oder umkippen, aber abgesehen von „In Fear“ bauen sie durchweg auf hymnischen Melodien auf. Dies ist eine Band, die möchte, dass wir uns mit ihren Platten verwundbar und unwohl fühlen. Jami hat kommentiert, dass sie mit „Forever“ ein Album erstellen wollten, das “artful and thoughtful but that also hurt” ist. Selbiges gilt auch für „Underneath“. Man weiß nie genau, was passieren wird, aber egal welche Mauer die Band als nächstes durchbrechen wird, diese Unvorhersehbarkeit macht Code Orange und „Underneath“ zu einem so aufregenden Hörerlebnis. 9/10

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GENRE: METAL - HARDCORE


Code Orange Underneath

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CocoRosie

Put The Shine On Während des größten Teils ihrer 16-jährigen musikalischen Karriere als CocoRosie haben die Schwestern Bianca und Sierra Casady versucht, die komplizierte Kindheitsgeschichte, die sie teilen, zu entwirren. Sie wurden in Iowa und Hawaii von einem zwanghaft nomadischen Paar geboren und verbrachten viele ihrer frühen Sommer in Reservaten der Ureinwohner, während ihre Eltern in Peyote-Kreisen saßen. Nach einem Jahrzehnt der Entfremdung kamen die Schwestern als junge Erwachsene in Frankreich wieder zusammen und begannen, über eine ungewöhnliche Mischung aus verdrehtem Freak-Folk und Lo-Fi-Hip-Hop über ihre ungewöhnlichen Familienerinnerungen nachzudenken. Das erste Album der Casady-Schwestern seit fünf Jahren markiert auch eine Rückkehr zu ihren maximalistischen Tendenzen, die sich auf Drumcomputern, kitschigen Synthesizern und Nu-Metal-Gitarren stapeln. Ihr siebtes Album verarbeitet weiterhin Familientraumata, ist aber einprägsamer und strukturierter als die vorangegangen Bemühungen. „Restless“ würdigt ihre Mutter, die während der Aufnahme des Albums gestorben ist, mit flottem Klavier, verzerrter Gitarre und schimmernden Synths, während „Burning Down the House“ kein Talking Heads-Cover ist, sondern ein dunkler Trip-Hop-Genuss, der Akkordeon und Akzente mit der Harfe inmitten rasselnder Percussions setzt. „Mercy“ ist ein anachronistischer Rap, der von Saxophon, einem Spieluhrklavier und Synthesizer perfekt arrangiert wird. Viele Tracks, wie „High Road“

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mit seinen dunklen, märchenhaften Bildern, krächzenden Krähen und dahinjagenden Beats, fühlen sich wie eine bewusste Rückkehr zu den Kern-Eigenheiten der Schwestern an. Die Stimmen von Bianca und Sierra, deren enge Harmonien und geronnene Kanten den auffälligsten Aspekt früherer CocoRosie-Platten darstellten, neigen hier leider dazu, sich in der Fülle der Produktionselemente zu verlieren. Harfen, Aufnahmen von Tieren und trillernde Synths konkurrieren im geschäftigen Durcheinander des Albums um Aufmerksamkeit und vergraben seine erzählerischen Elemente in einer zusammenhangslosen Melange. Der Schmerz hinter den Worten bleibt real und gehaltvoll, aber die Wiedergabe überschreitet hier das Maß des Verträglichen. 6/10

GENRE: INDIE ROCK - FOLK


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as vierte Studioalbum des australischen Quartetts 5 Seconds of Summer – und die Fortsetzung von „Youngblood“ aus dem Jahr 2018 – war ein mit Spannung erwartetes Album. „CALM“ beginnt mit dem rhythmischen und hymnischen „Red Desert“ und ist auf größere und bessere Dinge ausgelegt, bevor die radiofreundliche Klanglandschaft der neuesten Single „No Shame“ die Fähigkeit der Band hervorhebt, explosive Instrumentals über bedeutungsvolle Texte und rohe Geschichten zu legen. Der Gesang von Hemmings’ wird von einer leichten Bassvibration von Calum Hood gesäumt. Der Rest der Gruppe mischt sich ein, bevor ein komplettes Feuerwerk aus Gitarre, Percussion und pulsierenden elektronischen Schallwellen von Gitarrist Michael Clifford und Schlagzeuger Ashton Irwin zwischen den Refrains explodiert. Die Texte über Zufriedenheit und Verlieben geben den Ton des Albums an. „Old Me“ ist ein Aufschrei für ein vergangenes Selbst und vergangene Entscheidungen, beginnend mit dem zugrunde liegenden Organ, bevor eine Fülle von Percussion den Beat aufpumpt, um den Track in eine energiegeladene Tanzhymne zu verwandeln. Metaphorisch ist dies der Sound der Band, die die Ver-

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gangenheit hinter sich lässt. Das Beste kommt jedoch später: „Wildflower“ ist gefüllt mit Hood’s warmen Gesängen, die im Laufe des ersten Verses immer sexyer werden. Es ist durch und durch ein freiatmendes und sommerliches Lied – während den 3 Minuten und 41 Sekunden können wir so tun, als wären wir nicht mitten in einer globalen Krise im eigenen Haus gefangen. Die letzten paar Songs sind emotionaler und zeigen das Beste aus der farbenfrohen, berührenden und selbstreflexiven Lyrik der Band. „Best Years“ ist eine berührende Ballade, die sich mit einer Beziehung befasst und anerkennt, dass “you got a million reasons to hesitate”, aber versichert, dass “darling the future’s better than yesterday”. Es malt spezifische Bilder der fraglichen Beziehung, wird aber auch bei den Fans Anklang finden, die mit der Band aufgewachsen sind – und dies auch weiterhin tun werden. Wenn „CALM“ zu Ende geht und die letzten Töne des Songs verblassen, haben wir ein Gefühl der Erfüllung, des Friedens und nicht überraschend ein überwältigendes Gefühl der Ruhe. 7/10

GENRE: POP - SYNTH POP

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Waxahatchee’s Katie Crutchfield letztes Album „Out In The Storm“ führte die Sängerin zum größten Publikum ihrer bisherigen Karriere. Als Inspiration wandte sie sich ihrem Lieblingsalbum aller Zeiten zu: Lucinda Williams’ „Car Wheels on a Gravel Road“. Crutchfield ist eine ausgesprochene Lucinda-Akolytin, die zum 20-jährigen Jubiläum sogar eine Hommage an das Album schrieb. „When I discovered Car Wheels, I fully realized how powerful it can be to embrace the contradictions and the unknown because that is the only path to making something that is truly original,“ so Ihre Worte. „As a songwriter with some parallels with Lucinda, two women from the Deep South, it makes me emotional to think about what she did just in making this album. It’s everything I ever set out to. It’s proof it can be done.“ Es ist kein Zufall, dass Crutchfield diese Zeilen zur gleichen Zeit aussprach, als sie „Saint Cloud“ schrieb, ihr exzellentes und inspirierendes neues Album. Crutchfield nutzt ihre Bewunderung für Williams als Ausgangspunkt, aber „Saint Cloud“ ist eine originelle Aussage, die einen Höhepunkt in einer bereits beeindruckenden Karriere darstellt. „Saint Cloud“ setzt vor allem auf Klarheit, sowohl im Klang als auch im Geist. Jedes Instrument klingt makellos und lässt sowohl den verzerrten Dunst von „Out in the Storm“ als auch das Lo-Fi-Summen früherer Platten wie „Cerulean Salt“ aus dem Jahr 2013 hinter sich. In Abwesenheit von Studioeffekten wird Crutchfield’s Stimme in die Mitte gerückt. Die Songs wirken dadurch ausgeprägter und emotionaler als je zuvor. Es gibt hier immer noch viele scharfe Beobachtungen und Selbstreflexionen, aber es ist jetzt in hellem, sauberem, zurückgezogenem Americana verpackt. Die in Alabama geborene Sängerin versteckt sich nicht mehr hinter einer Wand aus Verzerrungen oder verwirrtem Klimpern und stellt ihre charakteristische südländische Front in den Mittelpunkt. Sie denkt über die frische Perspektive nach, die sie für ihr zentrales Thema aufgegriffen hat und gesteht: “I love you till the day I die” in der ländlichen Brise von „Can’t

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Do Much“ und verspricht “I can learn to be easy as I move in close to you” in der wunderschönen, langsam brennenden Single „Fire“ und versichert “you got a friend in me” inmitten der zarten Dämmerung von „Ruby Falls“. Der Klang ist klarer und heller, ihre Stimme stärker. „Saint Cloud“ ist ein erfrischendes Hörerlebnis eines außergewöhnlichen Singer-Songwriters. 8/10

GENRE: INDIE ROCK - AMERICANA


Waxahatchee Saint Cloud

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Yukimi Nagano singt „Time has changed us so in every way“ auf „Hold On“, dem eröffnenden Stück von Little Dragon’s neuem Album „New Me, Same Us“. Es ist eine Aussage, die auf die Band angewendet werden könnte. Von der Grammy-Nominierung bis zur Zusammenarbeit mit allen von SBTRKT bis hin zu den Gorillaz, ist das Quartett weit von ihren Wurzeln in Göteborg entfernt. Für das sechste Album streben sie einen musikalischen Übergang an und bringen ihre Instrumente in den Vordergrund. Das heißt nicht, dass „New Me, Same Us“ eine völlige Abkehr von ihren jüngsten Ausflügen ist. Es behält immer noch die Einstellung der Band zum Left-Field-Pop bei und Synthesizer verstecken sich nicht im Hintergrund. Das Ergebnis wirkt weniger zurückhaltend als sein Vorgänger, neigt jedoch gelegentlich dazu, in ein etwas träges Midtempo zu fallen. Für „Hold On“ gilt diese Devise noch nicht – hier halten Little Dragon das Tempo hoch und präsentieren uns einen optimistischen und hoffnungsvollen Song, den die Band als „Slick House Track“ bezeichnet – aber anderen Tracks fehlt im weiteren Verlauf dieser Punch. Der schwüle Gesang und die emotional prägnanten Texte der Sängerin Yukimi Nagano sind das Herz und die Seele des Albums. In „Another Lover“ singt Nagano: “I can’t understand what I’m doing, don’t understand where we going, please understand where I’m coming from, understand that’s all in me, but not plain to see.” Der dezente Bass und das melodische Summen des Songs gehen schließlich in einen komplizierten Rhythmus mit Disco-klingenden programmierten Drums und dröhnenden subharmonischen Bässen über. Das Album scheint völlig frei von Wut und Aggression zu sein. Sogar Traurigkeit wirkt eher eindringlich und schön als grimmig, was heutzutage eine nette Abwechslung ist. Sie schleifen gekonnt die Ränder von Pop, R&B, HipHop und Soul ab, ohne die ihnen vorgelegten Regeln zu beachten. Als Menschen scheinen wir immer auf das Nächste zu schauen, wie wir uns verbessern können, wie wir unsere Grenzen überschreiten können. Manchmal ist es besser, sich auf das zu konzentrieren, was wir bereits haben, was wir tun können, was sonst niemand kann. Little Dragon machen es in diesen Tagen gekonnt vor. 7/10

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GENRE: R&B - SOUL


Little Dragon

New Me, Same Us

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Basia Bulat

Are You In Love? Basia Bulat forderte sich auf Ihrem neuen Album „Are You In Love?“ heraus, über Vergebung zu schreiben, was in Anbetracht der Tatsache, dass ihr „Good Advice“ aus dem Jahr 2016 – produziert von Jim James, Frontmann von My Morning Jacket – ein Trennungsalbum war. James nimmt in diesem Fall wieder seinen Platz auf dem Produzentenstuhl ein. Er verwendet seine zuvor erfolgreiche Formel und lenkt Basia von ihren frühen Folk-Stilen ab, indem er die neuen Songs mit Keyboard-basierten Arrangements versetzt, die eine Grenze zwischen elektronisch und organisch ziehen und gleichzeitig die Rhythmen real halten. Ihre kraftvolle Stimme ist atemberaubend, aber ihr Talent vielleicht noch mehr, da sie eine versierte Multiinstrumentalistin ist, die Gitarre, Klavier, Orgel, Synthesizer und Harfe beherrscht. Wie zu erwarten, ist sie ziemlich genreunabhängig, nachdem sie ihre ersten beiden Alben mit einem Punkrock-Produzenten aufnahm und sich schließlich in Folk, Country und R&B ausprobierte. Das Cover für „Are You in Love?“ ist ein Gemälde von Basia Bulat, der in Toronto lebenden Künstlerin Kris Knight. Es zeigt Bulat, die sich mit geschlossenen Augen in der Sonne aalt und in der Gegenwart völlig versunken ist. Das Bild fühlt sich wie das Ergebnis der anstrengenden Reise an, die Bulat auf ihrem fünften Album durchläuft. Auf der ganzen Platte reflektiert sie, wie gut sie sich fühlt, aber auf Tracks wie „Already Forgiven“, wo Bulat durch instrumentalen Dunst in Richtung Vergebung wandert, oder auf dem Titeltrack, wo sie sich auf einem harten, kurvenreichen Weg in Richtung Verwundbarkeit befindet, meditiert sie über die harte Arbeit, die nötig ist, um die Liebe hereinzulassen.

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Letztendlich geht es jedoch um den Produzenten Jim James, einem Künstler, der dafür bekannt ist, bei jedem seiner Aufträge ein atmosphärisches Ambiente zu schaffen. Das Ergebnis ist ein faszinierendes Netz aus ätherischen Effekten und durchscheinenden Tönen. Er ist eindeutig ein idealer Mann, wenn es darum geht, Bulat’s sich ständig verändernde Gefühle zu interpretieren und einen Klang zuzulassen, der gleichzeitig fesselnd und überzeugend, aber auch mysteriös und faszinierend wirkt. Wie viele der akribisch komponierten Songs schimmert es auch nachdenklich in „Electric Roses“, mit geschwungenen Saiten und der warmen Sehnsucht nach ihrem Vibrato. Ebenso zu ihren besten gehören „Homesick“, „Hall of Mirrors“, „I Believe It Now“ und „Already Forgiven“. Die Musik von Basia Bulat kann uns an einen anderen Ort bringen. Es ist genau die Art von Musik, die viele von uns gerade brauchen. 8/10

GENRE: INDIE POP


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Pearl Jam Gigaton

Die Stimmung des Songs „Seven O’Clock“ trifft das Herz von Pearl Jam’s erstem Album seit über sechs Jahren auf den Punkt. „Much to be done“, singt Eddie Vedder und führt die Worte im Schlussakt des Songs mit einer atemberaubenden Melodie zusammen. „Much to be done“, wiederholt er dabei immer wieder. „Much to be done, much to be done.“ Auf „Gigaton“, der ersten Platte, die Pearl Jam während der Trump-Amtszeit aufnahmen, hat die Gruppe die ansteckende Angst von „Jeremy“ und „Alive“ mit einem Gefühl der Zärtlichkeit und sogar blitzender Hoffnungsschimmer vermischt. Obwohl Trump nicht der einzige Schwerpunkt des Albums ist, gibt Vedder dem Präsidenten viel Sendezeit. Auf „Quick Escape“, einer klobigen Hymne mit einem echoartigen U2-ähnlichen Riff, beschreibt Vedder seine Reise “to find a place Trump hadn’t fucked up yet.” Es ist sieben Jahre her, dass diese berühmten Söhne von Seattle – und tragischerweise der letzte der vier großen Söhne der Alt-Rock-Revolution der 90er Jahre mit ihrem ursprünglichen Leadsänger – ein Album veröffentlicht haben. Fast 30 Jahre (und fünf Schlagzeuger später), die von ihrem Debüt „Ten“ aus dem Jahr 1991 entfernt liegen, tauchen Pearl Jam wieder in unserer neuen Welt auf. Sie sind eindeutig unerschrocken. Zumindest musikalisch, da das Album von Flecken der Angst, Furcht und Wut durchdrungen ist, die sich angemessen, deprimierend und kathartisch anfühlen – auch wenn viele der Songs selbst nicht lyrisch explizit daherkommen. Produziert vom langjährigen

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Techniker Josh Evans und den Bandmitgliedern, beginnt „Gigaton“ mit einem atemberaubenden Hattrick, der dem Namen des Albums mehr als gerecht wird. Es ist ein Album, das sich auch durch seine musikalische Elastizität auszeichnet. Nehmen wir zum Beispiel das von Jeff Ament verfasste „Alright“, eine gedämpfte Ode an die Selbstständigkeit, bei der Kalimba-Noten als Rückgrat dienen. Oft ist „Gigaton“ jedoch eine Platte, die von einem Gefühl brennender Empörung angetrieben wird. Über eine hämmernde Basslinie gibt „Quick Escape“ einen apokalyptischen Bericht aus einer Zukunft heraus, in der die Menschheit auf dem Mars gestrandet ist. Nach dem schnellen Rasseln von „Never Destination“ und „Take The Long Way“ sinken die Dezibelwerte von „Gigaton“. Doch auch hier verstärkt sich die Emotion weiter. „Buckle Up“ ist ein Schlaflied-ähnliches Gewirr aus Traum und Erinnerung. „Retrograde“ ist eine langsam brennende Meditation über den Klimawandel, während „Comes Then Goes“ über „incisions made by scalpel blades of time“ nachdenkt. Als erstes Album der Band seit „Lightning Bolt“ aus dem Jahr 2013 wird auf klangliche und emotionale Details geachtet, wobei der Schwerpunkt auf musikalischem Licht und Schatten liegt, was sich auch in der langen Spielzeit niederlegt. Wenn wir uns, wie Vedder sagt, in einem kollektiven Zustand befinden – und es fühlt sich auf jeden Fall so an – ist es schön, diese Jungs zurück zu haben, um diesen Endzeiten ein wenig Schwung zu verleihen. 7/10

GENRE: ALTERNATIVE ROCK

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ebellisch, jugendlich und verschwitzt haben die Chats den klassischen Punk-Sound mit einigen frischen Ideen belebt. Auf Anhieb ist „Stinker“ vielleicht nicht die Art und Weise, wie ein durchschnittlicher Nordamerikaner einen extrem heißen Tag beschreibt, aber wenn Frontmann Eamon Sandwith das australische Adjektiv über den ersten Refrain legt, wissen wir genau, was es zu bedeuten hat. Auf die gleiche Weise, wie man ein ganzes Ramones-Album in einen einzelnen Song der San Francisco-Rocker The Grateful Dead packen könnte, sind

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die Chats eine ähnliche Lektion in perfekt geschliffener Kürze. Keiner der 14 Songs ist länger als drei Minuten und einige gehen kaum länger als eine Minute. Die rebellische Gruppe beherrscht die Kunst, einfache Geschichten aus dem Alltag eines Punks zu erzählen, und jeder Songtitel bereitet uns auf die nächste Posse vor. „Drunk N Disorderly“ teilt lebhaft die A l koh ol - Age n d a : “Four swigs of gin at the bus stop/ Three pints of Guinness at the bowls club/ Two 750s in a double brown bag/ One shot of fire-


ball at the pub.” Das eingängige „Dine N Dash“ verrät den Plan für das Essen: “Any restaurant/ Any time/ We can commit the perfect crime/ You just gotta run/ When ya done/ Dine n dash/ It’s only fun!” „The Chats don’t make songs for people to look at in a fucking emotional or intellectual way,” erklärte Sandwith. “We just make songs for people to jump around and have fun to.” In diesem Fall erledigt „High Risk Behavior“ seine Aufgabe. Es gibt Lieder über die einfachen Freuden des Le-

bens, die Gefahren von Internet-Drogendealern und die Langeweile in der australischen Hitze. Es mag keine großartige Kunst sein, aber es ist ein aufregender, fröhlich und anspruchsloser Spaß, der aktuell bestens funktioniert. 7/10

GENRE: PUNK ROCK

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he Libertines, zu dama liger Zeit eine der phantastisch ten Bands die es auf der gro ßen weiten Welt gab. Jung, verückt nach Musik und ha tte n den Dreh raus perfekte n Sound zu kreirren. Ganze sieben Jahre gab es Die Libertines als Pete Doherty, wegen seines zunehmenden Drogenkonsums, gezwungener Maßen ausstieg und Carl Barât schließlich die Libertines ein Jahr später auflöste... ...doch zurück ins Jahr 1996. Nach der offiziellen Geschichte her lernten sich Carl und Pete über dessen Schwest er kennen. Carl war ein alter Bekannter seine r Schwester Amy-Jo und eines Tages bat sie Ihn auf ihren damals 16-Jährigen Bruder aufzu passen, während sie einen Kurs besuchen mu sste. Schließlich erkannten beide das gemeins ame Interesse an der Musik und beschlos sen das Studium an der University of Lond on abzubrechen und bezogen eine gemeins ame Wohnung in Camden Road. Geme insam mit dem damaligen Nachbarn Ste ve Bedlow und dem Bassisten John Ha ssal nahmen sie dann innerhalb weniger Wochen in den Odessa Studios drei So ngs auf. Schließlich wurde die Postion an den Drums getauscht: Neu hinzu kam Paul DuFour. Auf einem Konzert in Islington entde ckte sie der englische Journalist Roger Morton des britischen Musikmagazins NME. Der bot an, Sie zu fortan zu managen. Allerdings lief die Zusammenarbeit nur kurze Zeit, denn nach sec hs erfolglosen Monaten trennte er sich wieder von der Band. Und der Erfolg ließ weiterhin auf sich warten. Mitte März 2000 trafen The Libertine s auf Banny Poostchi, eine Anwältin der Warner Music Group. Sie ma-

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8 nd. Daraus entstanden nagte schließlich die Ba Er en offt cht zu dem erh Songs die wiederum ni ike entsprechend auch zu folg führten und dem ch vor Ende des Jahres nem Plattenvertrag. No beArbeit mit der Band zu beschloss auch sie die sHa ch au tschluss fassten enden. Den selben En h uc br lang ersehnte Durch sal und DuFour. Der ten vor. Trotz der beende stand jedoch kurz be es sie ten ch Poostchi versu Zusammenarbeit mit en ein an bei Plattenlabes immer wieder erneut nr noch zu zweit bestehe Vertrag für die, jetzt nu 01 men. Im Dezember 20 den, Libertines zu kom im dlich einen Vertrag be unterschrieben sie en e Di e. ad Tr -Label Rough englischen Kult-Indie rm Fo en wurden schnell in beiden freien Position ll ms) und Johnny Borre von Gary Powell (Dru en ch bevor sie dazu kam (Bass) besetzt. Doch no be ll rre Bo nehmen verließ die ersten Songs aufzu , nd Ba e nes um seine eigen reits wieder die Liberti z sat Und wieder wurde Er Razorlight, zu gründen. r es dann, der zurückge gesucht. John Hassal wa . Bass zu spielen kehrte, um wieder am te Single "What A Was Schließlich war die ers n de attenläden und schaffte ter" am 3. Juni in den Pl rr englischen Charts. Da Einstieg in die Top 40 de g". on Al t Ge ch der Song "I auf befand sich auch no iSongs von Ex-Suede-G Produziert wurden die g fol Durch den großen Er tarrist Bernand Butler. Ex-Clash Mitglied Mick der Single wurde auch tes m, mit dem sie ihr ers Jones auf sie aufmerksa uod pr t“ im Jahre 2002 Album „Up The Bracke . en ben Jahr veröffentlicht zierten und noch im sel ge sich allesamt durch un Die Songs zeichneten n de en seh szu nicht vorau hobeltes Grölen, es ich tzl den und urplö Ak ko rin Abbremsen im Refra


aus. Doherty und Ba rât wechseln sich ge konnt auf den Stücken mit dem Gesang ab oder leg ten ihre Stimmen quer üb ereinander. Ohne au ch nur im geringsten auf de n Tempowechsel de r Songs oder der Strophen zu achten. Ein achtungs voller Einstieg in die Welt der Musik mit einem lan gen Wiederhall. Was folgte waren an die knapp hundert Ko zerte, alle noch im se nlben Jahr. Highlight s waren mit Sicherheit zum einen der Support be im großen Idol Morrissey in Londons großer Br ixton Academy oder der Reunion Gig im Ta p´n Tin Pup. Hintergrund di eses Auftrittes war, da ss Pete an Carls Geburtstag ein geheimes Konzer t plante, in der Absicht, die W ogen zu glätten. Sein Bandkollege allerdings be vorzugte jedoch eine Party in anderer Gesellschaft. In Wut und Verwirrun g darüber brach Pete ansc hließend in die Woh nung ein und bekam dafür zw ei Monate Gefängnis. Nach diesen turbulenten Monaten veröffentlic hten sie die Single "Up The Br acket", die am 30. Se ptember rauskam und Platz 29 der Charts erreich te. 2003 folgten die beiden Si ngle Auskopplungen „Time For Heroes“ und „D on´t Look Back Into Th e Sun“. Schließlich ging es nach Amerika und dort begann wohl auch de r leise Abschied der Libertines. Doherty verfiel nun endgültig den D rogen, was Barât einfach m ächtig gegen den Stric h ging. Musste er doch mite rleben wie sein beste r Freund immer mehr abdrift ete und Ende Juni ni cht mehr mit Ihnen auf der Bü hne stehen konnte. Auf der anschließenden Japa n Reise wurde Doher ty nicht mitgenommen. Da er in dieser Zeit anfin g, stark Crack und Heroin zu konsumieren. Im Zu ge seiner Wut gründete er in der Zeit die Baby shambles. Ähnlich wie m it den Libertines, sp ielte er spontane Guerilla-Gi gs in Londoner Ba rs und

Kneipen. Im Oktober kam Pete wegen erneuten Drogenkonsum ins Gefängnis. Nach seinem zwei monatigen Aufenthalt fing Ihn Carl nach seiner Freilassung bei den Eingangstoren ab, um ihn von seinen seltsamen Freunden fern zu halten. Am selben Abend ging ein großer Libertines-Reunion-Gig über die Bühne, mit dem Versprechen, endlich von den Drogen wegzukommen. Der erneute Entzugsversuch scheiterte aber wieder kläglich - samt neuen Streit mit dem Rest der Libertines. Irgendwie schafften sie es im Frühjahr 2004, in einer Rekordzeit von zwei Wochen, das neue und auch letzte Album „The Libertines“ fertigzustellen. Die Presse überschlug sich in der Zeit vor Meldungen und Schlagzeilen. So wurden zu den Aufnahmen zwei Bodyguards abgestellt, die auf die beiden Streithähne Carl und Pete aufzupassen sollten. Da es des Öfteren, auch unter den Songs, Gerüchten zu Folge zu Schlägereien kam. Im Spätsommer kam ihr gleichnamiges Album schließlich raus. Mittlerweile war Pete von der Band verbannt worden und durfte erst wieder mitspielen, wenn er seine Sucht in den Griff bekam. Ersetzt wurde er vor der anschließenden Welttournee durch Anthony Rossomando an der Gitarre. Nach dreimonatiger Tour und nach dem letzten gemeinsamen Konzert ohne Pete am 17. Dezember 2005, gab Carl Barât dem NME bekannt, dass es nun zum vorläufigen Aus der Libertines kommen sollte. Fünf lange Jahre später folgte die langersehnte Reunion und im September 2015 schließlich das dritte Album "Anthems for Doomed Youth" mit 12 neuen Tracks. To Be Continued ... ?

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ach den großartigen Debütalbum von Interpol und den Walkmen´s in diesem Jahr, bescheren uns die Likühlen Herbstzeit ein der bertines nun in weiteres Highlight. Nachdem die Strokes und die White Stripes in den USA, die Hives in Schweden und die Datsuns in Neuseeland für das Garage-Rock Revival gesorgt haben, beginnt es mit den Libertines nun auch auf der britischen Insel. Verhältnismäßig spät könnte man anmerken, aber die zusätzliche Zeit hat sich für die vier Engländer rund um Pete Doherty mehr als ausgezahlt. So entstand mit "Up the Bracket" eine sehr erfrischende Platte, die auch nach der Produktion Ihren unpolierten Charme behalten konnte. Der Name leitet sich von dem britischen Komiker Tony Hancock ab, der in „Hanncock´s half Hour“ den Titel in einem Slangs verwendete, im Sinne eines Schlages in die Kehle. Ebenso kommt er im Eröffnungstrack von "Vertigo" vor, mit dieser Geste drückt Pete Doherty seine Leidenschaft als Fan zu Hancock aus. Alle 13 Songs bestechen durch Ihre unwiderstehliche Art vollgepackter Gitarren, holpernder, abrupt aufhörender Melodien und einem sehr ausdrucksstarken Gary Powell am

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Schlagzeug. "D eath On The Stairs" und "B In The Wand" oys vereinen diese Eigenschaften wunderbar bi auf zarre Art un d Weiße, stän Tempowechsel dige gepaart mit Garage-Punkroc und jungfräulic k h britischen M elodien beweise eine ungeheuer n e Reife innerh alb einer total rückten Songs vertruktur. Diese wiederum kan man wohl nur n auf dem Papie r wieder finden der Praxis sch . In meißen dann Songs wie "Hor how" oder "Tel rosl The King" alle Theorien mit d Kopf voraus übe em r Bord. Der groß e Ideenreichtum scheint manch mal auch direk t während den zelnen Songs en eintstanden zu se in, derart viel Unerwartbaren an kommt auf den es manchmal sc Hörer zu, das s hwer fällt dem Ganzen folgen können. Mehr zu als vier Jahrzeh nte scheinen die bertines hier zu Liverarbeiten un d auf sehr unte haltsame Weiß re wird die britis che Geschichte aufgerollt. Ein neu weitere Reiz d ieser Songs ist Duo Doherty u das nd Carl Barât. Zusammen sin gen sie beide d ie gleichen Text doch selten treff e en Ihre Stimm en die selben Text zeilen, wie ein betrunkener K irchenchor trifft ner der beiden eimeist zu spät se inen Einsatz, zi seinen Part ab eh er dennoch lie t benswert sturk bis zum Ende du öpfig rch. In "The God den poppige M Old Days" werelodien mit krie gerischen Refra gemischt, die ins sich not about tenem dann wie folgt anhören:“It´s ents and needle s and all the ev in their eyes an ils d the backs of th ei r minds“. Auch wenn "U p The Bracket " mit seinen 36 Minuten ein w enig kurz gera ten ist, reicht dennoch für ei es nen fulminante n Auftritt der bertines. Wenn Liman nun etwas Negatives sage müsste, würde n es einem sehr schwer fallen. einzigste über Das Ihre schwachen Tracks bleibt zu sagen, dass Sie wirklich solide und eingängig worden sind. A gensonsten lauer t unbeschreiblic Ideenreichtum her auf den Hörer und wird für ei glückselige Stim ne mung sorgen, w enn mit "What Waster" der letz A te Song über d ie Bühne gegan ist. gen Ohne Neid m uss man anerke Platte des Jah nnen, dass die res 2002 an d ie Libertines ge wird, denn der hen Name steht fü r erfrischend n es. Unverbrau eucht und unterh altsam verzaube die Engländer rn mit Ihrem Char me die Hörer u niemand, wirkl nd ich niemand, so llte sich "Up Th Bracket" entgeh e en lassen.


ar das ein Sommer. Im Jahr 2004 erschien das zweite und letzte Album der Libertines und bereits mit der ersten Single – diese Tage "Can’t Stand Me Now" wussten wir ending fitwerden niemals wieder kommen. „An love apart“. ting for a start/ You twist and tore our s quälend Es war der frühzeitige Höhepunkt eine s wäre „wa Ein . voyeuristischen Hörerlebnisses ebe geg n. The wenn…“, hat es damals noch nicht lten zu den Libertines und Franz Ferdinand zäh Renaissance Anführern der größten britischen sik der LiMu seit mehr als einem Jahrzehnt. Die chenden und bertines besteht bis heute aus beraus wohl speziell schmutzigen Hymnen, wie man sie ben wird. Es in dieser Form lange nicht mehr erle h nicht erauc ch wäre für heutige Bands sicherli halten zu d strebenswert, diesen Vergleichen stan "The Man müssen. "Last Post On The Bugle" und nahmeerWho Would Be King" waren zwei Aus "Last Post e der scheinungen, wenngleich insbeson weise auf On The Bugle" textlich unnötige Hin konsum gab. den damals überschwelligen Drogen selbst betiKokain, Crack, was auch immer – das icht oder Abs Mit telte Album war ein Wrack. lich von den nicht, die Drogen wurden schlussend Libertines stets als Grund genannt…

Aber was soll’s. Denn kurz darauf tobte "Narcissist" durch die Gehörgäng e und hier spürte man einmal mehr was passieren kann, wenn die eigenen Ideen zu leichtfüßig aus den Köpfen sprudeln. "Narcissist" war ein e meisterliche Skizze, offenbarte die schiere Kunst fertigkeit des Albums und zeigte, wie man pu re Unterhaltung ohne große Mühen in zwei Minu ten Spielzeit pressen kann. Aber es war eben zu gleich diese teuflische Verlockung, sich durch die vielen halbgeformten und überschüssigen Ideen schleifen zu lassen. Natürlich ist das Kritik au f einem äußerst hohen Niveau. „Arbeit macht fre i“ war eine Parole, die in erster Linie durch ihre Ve rwendung als Toraufschrift an den nationalso zialistischen Konzentrationslagern bekannt wu rde. Die Formulierung fand sich dann auch im Jah r 2004 in einen der Songs wieder. Die Libertine s machen daraus eine 73-sekündige Trash-Punk Nummer und zelebrierten im folgenden Stück "Campaign Of Hate" einen Weiteren der unzählig schonungslosen und genussvollen Höhepunkte. "What Katie Did" zeigte uns dagegen eine neue bis her unbekannte Zärtlichkeit. Man kann heute noch während diesen Minuten so einfach diese ärgerliche Schlampigkeit vergessen, als wäre es damals. "Road To Ruin" beginnt mi t dem für mich persönlich besten Gitarren-Pa rt, den die Libertines jemals aus dem Ärmel ges chüttelt haben. Sicherlich ein brillanter Zufall, ab er so ist das eben als musikalisches Genie. „How can we/ Make you understand/ All you can be/ Is written in your hand?“, heißt es dort fragen d und ehe man eine Antwort parat hält, befind en wir uns auch schon im letzten atemberaubende n Stück "What Became Of The Likely Lads". Ein Pe ndant zu "Can’t Stand Me Now" und ein Plädoyer für die alten Tage, als die Libertines noch gegen die Welt waren. Und was immer in der Zukunft passieren wird – diese Platte ist Geschaffen für die Ewigkeit. Ein Wegweiser und ein stets gern gen ommener Rückblick.

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as neue Album ist wahrlich reich an Ideen, die allesamt um die Krone kämpfen. Es ist ein Album, auf dem Daniel Avery und Alessandro Cortini sich auf eine Atmosphäre einlassen, wie sie es noch nie zuvor getan haben, und es ist ein Album, das sich letztendlich weigert, seine Bedeutung zu vereinheitlichen. Es ist auch eine der unmittelbar faszinierendsten Ambient-Veröffentlichungen des Jahres. Alessandro Cortini ist ein italienischer Synth-Guru, der auch Mitglied von Nine Inch Nails ist. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die beiden zusammengeschlossen haben. 2017 produzierten sie aus der Ferne eine limitierte 7“ Auflage namens „Sun Draw Water“. Die beiden Songs dieser Platte erscheinen beide auf „Illusion of Time“, der Rest des Albums wurde 2018 fertiggestellt, als sich die beiden Künstler schließlich persönlich trafen. Avery mag hier der größere Name sein, aber die Platte zeigt überall Cortini’s Fingerabdrücke, besonders wenn das Album den Blick in das von Synths getriebene Gebiet der exzellenten „Volume Massimo“ aus dem letzten Jahr eintaucht. Obwohl „Illusion of Time“ die hellen Farben und Klangdimensionen des Albums fehlen, gibt es bei der Arbeit ein ähnliches Gefühl synthgetriebener Anstiege, wenn auch weniger poliert und gelegentlich dunkler im Ton. „Illusion of Time“ ist bedrückend, unversöhnlich und schön. Gleichzeitig ist es mit diesen wunderschönen Momenten musikalischer Klarheit gefüllt. Nehmen wir zum Beispiel

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den gleichnamigen Titel. Ein anmutiges Stück, bei dem dieselbe rollende Synth-Melodie flink um einen alles verzehrenden Bass wirbelt. Der vorletzte Track „Water“ verdient ebenfalls Anerkennung, da er eines der breitesten und schönsten Ambient-Stücke der letzten Jahre ist. Trotz Avery’s DJ-Stammbaum hat „Illusion of Time“ keine wirkliche Beziehung zum Club. Es gibt keine Beats auf dem Album und obwohl es nicht gerade Ambient ist, tendiert die Musik dazu, zu driften und zu schweben. Es gibt keine konkrete Erzählung, von der man sprechen könnte, aber Avery und Cortini haben ihren Blick eindeutig in den Himmel gerichtet. Es ist ein sehr flüssiges Album, bei dem Songs ineinander führen und klanglich sehr gut zusammenhalten. Es verbindet Ambient, Electronica und experimentelle Kompositionen, die ineinander zu gleiten scheinen. Alles fühlt sich mühelos an. 8/10

GENRE: ELECTRONIC - AMBIENT


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Dua Lipa

Future Nostalgia Das selbstbetitelte Debütalbum aus dem Jahr 2017 präsentierte uns einen durch und durch modernen Popstar. Und nun? „You want what now looks like / Let me give you a taste,” schnurrt sie auf dem Titeltrack ihres zweiten Albums „Future Nostalgia“. Auf der neuen Platte zeigt sie uns ihre Vision für 2020 durch die Linse der Musik, mit der sie aufgewachsen ist. Dazu gehören Outkast, No Doubt, Prince, Blondie, Jamiroquai und Moloko, aber der vorherrschende Sound des Albums ist Disco. Lipa ging sogar mit der Legende Nile Rodgers ins Studio und auch wenn seine Beiträge nicht für die endgültige Fassung berücksichtigt wurden, so kann man seinen Einfluss überall hören. Die unterschiedliche Qualität und der Sound von Lipa’s Debüt waren ein Echtzeitdokument dafür, wie sich moderne Popstars in der Öffentlichkeit entwickeln müssen. Vermutlich ermutigt durch ihren Erfolg, bleibt Lipa auch bei „Future Nostalgia“ beim Titelthema. Gelegentlich zu wörtlich – der Kitsch-Titeltrack zitiert den futuristischen amerikanischen Architekten John Lautner, eine zu obskure Referenz für einen Popsong – aber ansonsten ist ihre Verschmelzung von Disco und rücksichtslos effizientem zeitgenössischem Pop instinktiv brillant. Sie verankert diese Songs mit bissigen Basslinien, macht sie dann transzendent und formt die umgestaltete Natur der Romantik inmitten einer modernen Produktion zu einer überraschend organischen Grundlage um. Lipa ist seit langem als etablierte Künstlerin bekannt und setzt sich für das ein, woran sie glaubt, einschließlich der Rechte der Frauen. Die weibliche Erfahrung ist von Anfang bis Ende eine starke Nuance auf „Future Nostalgia“.

“No matter what you do, I’m gonna get it without ya / I know you ain’t used to a female alpha”. Das Vertrauen in ihrer Stimme gibt uns keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln. Der teure Glanz von „Future Nostalgia“ ist beeindruckend und größtenteils befriedigend. Es ist jedoch auch eine enttäuschend leichte Rückkehr für eine Künstlerin, die eindeutig nach Größe strebt. Zu keinem Zeitpunkt fällt dies deutlicher auf als bei „Boys Will Be Boys“, das mit dem spitzen sozialen Kommentar beginnt, “It’s second nature to walk home before the sun goes down/And put your keys between your knuckles when there’s boys around” nur um es als Einführung in eine Reihe harmloser Slogans zu verschwenden. Es ist einer von zu vielen Momenten, die auf die Möglichkeit einer mutigeren Platte hinweisen, bevor sich diese wieder in die Komfortzone zurückziehen. 6/10

GENRE: POP

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Auf ihrem Debütalbum arbeitet die amerikanische Musikerin ausschließlich mit Aufnahmen ihrer eigenen Stimme, verarbeitet und überlagert weitgehend nonverbale Klänge, um damit jede einzelne Faser ihres Seins zu erkunden. Keine Synthesizer, kein Schlagzeug – kein Problem. Die in Berlin lebende Komponistin zaubert mit ihrer Stimme epische und harmoniereiche Lieder. Pramuk wuchs in Pennsylvania auf und verbrachte ihre Kindheit im Kirchenchor, wo ihre Großmutter Pianistin war. Sie entschloss sich, Musik professionell zu betreiben, trat einem Konservatorium bei und beherrschte das Singen auf verschiedene Arten und in mehreren Sprachen. In den ersten Takten von „Witness“ sind die religiösen Einflüsse sofort erkennbar: ein Nachhall, der wie durch einen höhlenartigen Tempel schwingt. Pramuk’s Gesang wird von einem summenden, Techno-durchdringenen Ambiente begleitet. An dieser Grenze zwischen einer Clubumgebung und dem Göttlichen wird „Fountain“ lebendig. Mit ihrer Stimme als modulares System schlägt Pramuk ein Ritual vor, das sowohl folkloristisch als auch futuristisch ist. Während „Fountain“ intellektuell herausfordernd ist, ist es aber auch nicht weniger als ein angenehmes Hören, wie ein delikater Wein, der sich im

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Laufe der Zeit öffnet. Jeder Ton auf „Fountain“ stammte aus derselben Quelle: Pramuk’s Stimme. Die Rhythmen, die Melodien, die Texturen – es ist alles sie, sogar die Teile, die nicht wie sie oder gar unmenschlich klingen. Neben erkennbaren Aufführungstechniken wie Vibrato und Summen verarbeitete Pramuk viele ihrer weitgehend nonverbalen Gesängen stark, manipulierte und überlagerte sie, um ein Orchester für sich selbst zu schaffen – eine technologische Ausgrabung der Resonanzmöglichkeiten ihres eigenen Körpers innerhalb einer zarten Vision. „Fountain“ kann nicht als Ambient charakterisiert werden und provoziert dennoch den Trance-ähnlichen Zustand, den das Genre hervorrufen kann. 7/10

GENRE: EXPERIMENTAL


Lyra Pramuk Fountain

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ie Suche nach spiritueller Harmonie ist ein Thema, das Chapman von Nap Eyes seit mindestens „No Fear of Hellfire“ interessiert, dem Schlusslied von „Whine of the Mystic“, das sich über siebeneinhalb Minuten langsam in herzzerreißender Schönheit entfaltet. Das neueste Album der Band wurde mit „Mark Zuckerberg“ vorgestellt, einem nach dem berüchtigten Facebook-Gründer benannten Ohrwurm, dessen tiefgreifende Konzepte in einfachen Beobachtungen wie einer Gruppe von Jugendlichen im Park, die eine Bong rauchen, zu finden sind. Während der Musiker Caleb Glasser von der Halifax-Kultband Fake Buildings seine Texte schrieb, endet „Mark Zuckerberg“ mit einer wiederholten Zeile, die das Mantra von Nap Eyes sein könnte: „Transcendence is all around us.“ Das eröffnende Stück „So Tired“ ist ein erstes Highlight und begeistert mit einem Gefühl, das scheinbar im Widerspruch zu dem Prozess steht, in dem es erstellt wurde. Während Chapman sich in der zweiten Person anspricht, befasst er sich mit der Neuerstellung eines Songs in seiner polierten Endform. Ironischerweise hat die Band selten so raffiniert geklungen. „Primordial Soup“ ergänzt ihre Instrumentalpalette mit schimmernden Synthesizern, während „If You Were In Prison“ das größte Schaufenster für Loughead’s Gitarren-Schredder ist, da er in der Tradition von Dinosaur Jr. umhüllenden Shoegaze und verbrannte Riffs entfesselt. Für langjährige Fans kommt der befriedigendste Moment des Albums mit „Dark Link“, einem Song, der auf Chapman’s Solo-Projekt „Mighty Northumberland“ vor Nap Eyes zurückgeht. Mit einem Charakter aus der Legend of Zelda-Serie liefert er einige seiner motivierendsten Worte: „Life never ends / There’s no chance of giving up / There’s only getting up again.“ Nigel Chapman’s Texte sind sarkastisch, ohne jemals zu zynisch und introspektiv zu sein, während sie sich immer noch an uns wenden. Die Band arbeitet mit dem klarsten Sound, den sie jemals benutzt haben, und sie füllen ihn wunderbar aus. In Bezug auf den Katalog von Nap Eyes fühlt sich „Snapshot For A Beginner“ dazu wie eine kühne neue Ära an. 7/10

GENRE: INDIE ROCK

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rotz der Tatsache, dass sie sich mit einem delikaten Riff gut auskennen, ist es schwierig, die Mainstream-Erfolge von Pigs x7 auf viel anderes als ihren blöden Namen und die halb-ironische Hingabe zurückzuführen, der ihnen eine Ausrede gewährt, um ihre Liebe zu Maiden wiederzuentdecken, ohne zu viel Ihrer Glaubwürdigkeit zu verlieren. Ihre neueste Platte „Viscerals“ zeigt, ähnlich wie ihre Vorgänger in Stil und Aussage, dass sie auf eigene Gefahr entlassen werden müssen. Der Doppelschlag von „Reducer“ und „Rubbernecker“ ist so intelligent wie jede stämmige Nummer, die wir von Pigs x7 gehört haben. „New Body“ und „Halloween Bolson“ bie-

ten so viel Erfindungsreichtum für die Gitarre wie alle Longform-Songs von „King of Cowards“ aus dem Jahr 2018. Die gemeinsamen Laubsägearbeiten von Sam Grant und Adam Ian Sykes sind nach wie vor einnehmend, aber Matt Baty’s tief empfundene Lyrik lässt die sich verändernde Natur moderner Männlichkeit und den Drogenmissbrauch unter seinem gequälten Schrei noch immer leicht übersehen. Seit der Veröffentlichung ihres Debüts wurden Pigs x7 regelmäßig mit Motörhead und Black Sabbath verglichen, und es ist unwahrscheinlich, dass diese mit „Viscerals“ ins Stocken geraten. Dies ist kein Vergleich, den die Band versucht abzuschütteln. Die schmutzigen, knorrigen Riffs, die dem mechanischen „New Body“ zugrunde liegen, sind methodisch in ihrem Gemetzel, da Baty seine Ausschweifungen ausführlich beschreibt: “I’ve had too much to eat, too much to drink / I’m dancing with the devil with two left feet”. Während er noch kein Lebewesen auf der Bühne enthauptet hat, gehen Baty und seine bunte Crew immer noch klar und absichtlich den abgenutzten Weg, der vor ihnen liegt. Dieser Punkt ist jedoch, wie bei den beiden vorherigen Platten, angesichts ihres reinen Engagements für die Produktion von hochkalibrigem Schwermetall weitgehend überholt. Selten trifft man auf ein Musikstück, das so vernichtend affektiv ist wie „Halloween Bolson“, ein verstörendes Unwohlsein von Riffs und Baty’s Aufschreien, das uns atemlos zurück lässt. Dies ist das dritte Album der Pigs, und sie verbessern sich mit der Zeit. Sie müssen nur noch ein paar Schichten abwerfen, bevor sie bereit sind, ihre endgültige Form anzunehmen. 7/10

GENRE: ROCK

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Melt Yourself Down 100% YES

Nach zwei zu Recht gelobten Alben verlor Bristol’s Melt Yourself Down zwei seiner Gründungsmitglieder. Den Saxophonisten Shabaka Hutchings und den Schlagzeuger Tom Skinner. Beide spielen bei Sons of Kemet, sowie in mehreren anderen Gruppen. MYT-Bandleader Pete Wareham verschwendete keine Zeit damit, den Saxophonisten / Keyboarder George Crowley und den Schlagzeuger Adam Betts in Vollzeit zu rekrutieren. Diese neue Version spielte eine Reihe von Auftritten, um ihre neuen Mitglieder zu akklimatisieren, und engagierte dann die Co-Produzenten Youth und Ben Hillier, als sie das Aufnahmestudio betraten. Die Band feierte Ihren Einstand mit drei brillanten Singles, darunter der futuristische, avantgardistische, globale Jazz-Funk von „Every Single Day“, „It Is What It Is“ und die kantigste, politischste Parteihymne des 21. Jahrhunderts „Boot and Spleen“. „100% Yes“ ist das dritte Album der Band und enthält diese und sieben weitere Tracks. Ihr Sound hat sich etwas verschoben; Es ist mehr introvertiert, funkiger und schmutziger. Die frenetische Tanzmusik, die den Kern des Sounds der Band prägt, ist immer präsent, aber der ausufernde Jazz tritt ein wenig in den Hintergrund, um spröden, punkigen kosmischen Funk, lateinamerikanische und afro-kubanische Rhythmen, Cumbia und sogar brasilianische Musik hat auf dem neuen Album Einzug gehalten. „100% Yes“ macht sich daran, den Geist und das Gewissen ebenso zu trainieren wie die Arme und Beine. In diesem Sinne ist es ein Fortschritt gegenüber den beiden vorherigen Alben von Melt Yourself Down, in denen die Texte oft nur Ausrufe oder Mantras waren.

In diesen Songs ging es vielleicht um bestimmte Dinge, Konzepte und Ideen, aber ihre Bedeutungen wurden eher durch Stimmung und Energie als durch Worte vermittelt. Umgekehrt enthalten die meisten Tracks auf „100% Yes“ Texte, Themen und Botschaften. Es ist also ein politisches Album, aber es will nicht predigen oder protestieren. Stattdessen nutzt es die große Fähigkeit der Musik, viele Gefühle gleichzeitig auszusprechen. All dieser Herzschmerz und diese Not halten die neue Platte nicht davon ab, mit einer hoffnungsvollen Energie zu sprudeln, die aus den sich schlängelnden psychedelischen Melodien und geloopten Mantras des Titeltracks, explosiven Saxophonsoli und knallharten Rhythmusabschnitten von „It Is What It Is“ hervorzugehen. Melt Yourself Down’s neu entdeckte sozialpolitische Neigung fügt ihrer Musik zweifellos neue Ebenen hinzu, und tatsächlich fühlt es sich absolut notwendig an. Das einzige Problem ist, dass sie in einem einzigen Album zu viel wollen. Es ist alles sehr gut, aber irgendwann muss es eine Pause geben, um nachzudenken. Dennoch, oder gerade deswegen, verdient „100% Yes“ wiederum einen stärkeren Fokus der ganzen Welt. 8/10

GENRE: JAZZ - AFROBEAT

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ür das vierte Album „It Is What It Is“ hat sich Thundercat zahlreiche namhafte Gäste ins Studio eingeladen. Darunter zu finden sind Steve Arrington, Childish Gambino, Louis Cole, Zack Fox, Steve Lacy, Lil B und Ty Dolla $ign. Thundercat sagte vorab, sein neues Album handelt “about love, loss, life and the ups and downs that come with that”, und es ist definitiv ein kontrastreiches Projekt. Thundercat macht seit Jahren Musik, die das Genre physikalisch an die Grenzen bringt, aber 2017 war „Drunk“ der große Wurf, der Stephen Lee Bruner auf ein höheres Niveau brachte. Der Nachfolger „It Is What It Is“ ist noch besser. Bruner schmückt dabei alles mit Elektro-Funk aus, fügt aber auch eine Schicht emotionale Tiefe hinzu, die Wachstum, Reife und ein tieferes Gefühl der Sinnlichkeit zeigen. Die Sequenzierung auf „It Is What It Is“ zeigt die spielerisch lebendige Natur von Thundercat’s früheren Bemühungen und seiner dynamischen Musikalität, während die ernsthafteren, introspektiveren Nummern für die zweite Hälfte des Albums aufbewahrt werden. Mac Miller’s Tod hat Bruner schwer belastet und er kanalisiert den Schmerz, einen engen Freund zu verlieren, mit großer künstlerischer Wirkung. Die Platte beginnt mit dem kurzen Intro „Lost In Space / Great Scott“ und fließt nahtlos in das erste von vielen Highlights, „Innerstellar Love“. Bruner zeigt sein wunderschönes Falsett, das sich um eine exzellente Saxophonarbeit entfaltet, wobei er sich herrlich mit seinen funky fließenden Basslinien auf einem Track paart, der sich unendlich ausdehnen könnte, bevor er langsam verblasst.

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Seine regelmäßigen Kollegen sind alle anwesend und harmonieren perfekt: Der Komiker Zack Fox verstärkt Thundercat’s klugen Sinn für Humor, während Produzent Flying Lotus eine filmische Größe hinzufügt. Thundercat lädt seine Idole eher zur Zusammenarbeit ein, als sich nur ihren Sound zu leihen. Beeindruckend ist, wie Thundercat diese Musik mit ihren komplexen Strukturen und zickzackförmigen Rhythmen so menschlich macht. “Dance away the pain,” singt er auf „Miguels Happy Dance“. “It’s gonna be alright… just do the f***ing dance.” Der Bass umkreist sein luftiges Falsett wie ein Auto, das dem Verkehr ausweicht und von Synthesizern im Stil der Achtziger unterbrochen wird. „How Sway“ ist der Tanz selbst, ein nervöser Energiestoß, der so schnell verschwindet, wie er ankommt. „It Is What It Is“ schließt mit dem kurzen, angespannten „Existential Dread“ vor dem übergreifenden Titeltrack ab. Das Finale ist eine zweiteilige Dynamitexplosion, dass einsam und hochfliegend mit einer wirbelnden Bewegung aus Akustikgitarren, sattem Bass, einem hüpfenden Schlagzeug und einem Gefühl des Staunens das Album beendet. Es ist Bruner’s verstorbenen Freund gewidmet. 9/10

GENRE: FUNK


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s ist kein neues Dream-Pop-Album von Anna Burch, aber der Titel der Platte ist immer noch völlig angemessen. „If You’re Dreaming“ ist definitiv nicht so unmittelbar wie „Quit the Curse“ und obwohl es kein anspruchsvolles Album ist, erfordert es etwas mehr Konzentration, um es besser zu verstehen. Einige Songs haben einfachere Einstiegspunkte, wie der gurrende wortlose Hook von

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„Can’t Sleep“ oder die üppigen, mehrfarbigen Gitarren in “Party’s Over“. „Tell Me What’s True“ beginnt mit einem harten Text („When I used to hate myself, I saw things so clearly“), aber die Musik selbst ist ein hüpfender, lockerer Spaziergang. Ebenso begegnet „Not So Bad“ den angespannten lyrischen Bedenken mit schwankenden Saxophonen und einem beruhigenden Refrain. Der Abschluss-Track „Here With You“ scheint das Finale „With You Every Day“ vom letzten Album


widerzuspiegeln, aber anstatt eine geradlinigere, seufzende Veröffentlichung zu sein, beginnt er als kunstvollere Folk-Ballade mit zart verdrehten Akustikgitarren und klagendem Gesang, bevor eine hellere Tönung der Gitarren und ein einfacher Refrain Sicherheit bieten. An manchen Stellen fühlt sich das Album so akribisch geplant an, dass es langweilig und träge wird, mit ein paar minutenlangen Instrumentals, die explizit einen Stimmungswechsel beschreiben. Ansonsten ist es

aber einfach nur schön. Wir wickeln uns mit einem Klimpern ein, das sich anfühlt, als würde Regen über unser Schlafzimmerfenster tropfen und kehren damit zu einer der Eröffnungsbemerkungen von Burch zurück: „If there is someone to love, is that what you are dreaming of?“ 6/10

GENRE: DREAM POP

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Purity Ring WOMB

Wenn der heftige, eisige Ansturm von Synthesizern in die ersten Takte von „rubyinsides“, dem eröffnenden Stück von Purity Ring’s neuem Album, strömt, fühlt es sich an, als wäre das Duo nie weg gewesen. Doch es ist fünf Jahre her, seit Megan James und Corin Roddick ihr letztes Album „Another Eternity“ veröffentlicht haben. „WOMB“ wurde vollständig von dem Paar geschrieben, aufgenommen, produziert und gemischt. Die Kontrolle, die James und Roddick über diese zehn Tracks haben, zeigt sich in ihren gelegentlichen Streifzügen durch das Neuland, wie die Einführung der Spieluhr in „Stardew“, oder den welligen Basslinien und dem abgespeckten Klavier in „i like the devil“. Das kanadische Duo veröffentlichte vor acht Jahren ihr Debütalbum „Shrines“, und ihre zusammenhängende Vision war von Anfang an beeindruckend. Es war eine unheimliche, dahinjagende Kreation, die per E-Mail hin und her komponiert wurde und unruhige, zappelige Beats mit gruseligen Bildern beinhaltete. Textlich wurden sezierte Körper und märchenhafte böse Großmütter dargestellt, die kleine Löcher in die Augenlider bohrten. Es waren makabere Bilder, eingehüllt in hypnotische Elektronik. Es ist eine Formel, an der auch „Another Eternity“ weitgehend festhielt – obwohl sich diese zweite Platte optimistischer anfühlte.

Fünf Jahre später bewohnt „WOMB“ wieder dieselbe Welt – aber intensiviert. Obwohl Purity Ring uns mit sanften Melodien hereinlockt, sind James’ Bilder oft sehr spezifisch und normalerweise beunruhigend. Eine Reihe verdrehter Liebeslieder sind physisch und masochistisch. “If I could I would let you see through me. Hold our skin over the light to hold the heat. Flood the halls with ruby insides til we spill.” Nach so einer langen Abwesenheit wird das neue Album Purity Ring wahrscheinlich nicht wieder an die Spitze der Pop-Avantgarde setzen – es ist eher eine stetige Verfeinerung als ein großer Sprung nach vorne. Das Warten mag lang gewesen sein, aber die Ergebnisse sind ausgereift und die neuen Songs beweisen mit viel Selbstvertrauen, dass Purity Ring noch immer einiges an Glanz versprühen. 6/10

GENRE: SYNTH POP

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Es gibt zwei Dinge, die wir immer von Yves Tumor erwarten können: Lärm und Chaos. Die angespannte Stimme und die verzerrten Synth-Effekte würden sicherlich einen passenden Soundtrack für einen Film der Brüder Safdie bilden. Aber im Chaos steckt oft Schönheit, und Yves Tumor schafft es immer, sie zu finden. Der Titel von Tumor’s neuestem Album, „Heaven to a Tortured Mind“, scheint dann passend und fühlt sich in solch schwierigen Zeiten besonders ergreifend an. Keine einzige Emotion bleibt verschont, da manische Zusammenbrüche in polierten Pop und Momente der Melancholie übergehen. Durch dieses Chaos und diese emotionale Kriegsführung scheint Tumor jedoch Frieden zu finden. Wie wir es von einem Künstler erwarten würden, der mit den verzerrten Ambient-Collagen von Serpent Music bekannt wurde, ist diese Neuerfindung alles andere als gewöhnlich. „Heaven to a Tortured Mind“ ist genauso schwindelerregend erfinderisch, aber es ist auch sein bisher geradlinigstes Album. Zum Glück geht das nicht auf Kosten seiner experimentellen, avantgardistischen Sensibilität. Während des gesamten Albums wechseln die Songs häufig von großen Rocknummern und souligen Funk-Jam-Songs zu paranoiden Ausbrüchen, wenn er Melodien angreift und auf Hooks trifft. Der phänomenale Opener „Gospel For a New Century“ überlastet die Sinne schnell mit rumpelnden Hip-Hop-Basslinien, schockierten Brass-Loops und stotternden Rhythmen. Irgendwie gelingt es Tumor, all diese unterschiedlichen Elemente zu einem täuschend einfachen Indie-Song zusammenzufassen, der an die frühen TV On The Radio erinnert und einen Refrain enthält, der wie ein tiefvioletter Bluterguss als Erinnerung zurückbleibt. Von „Hasdallen Lights“ aus erreicht das Album ein zufriedenstellendes Plateau; der Rhythmus bleibt intakt, die Pop-Sensibilität leuchtet. Was folgt, sind unbestreitbar

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hörbare Tracks, die unterschiedliche Elemente von Glamour, Indie-Rock und Soul zusammenfügen – leicht deformiert in das Unheimliche. Das Highlight „Folie Imposée“ behält die melancholische Angst der vorherigen Platte bei, eher ein fragiles Fragment, als ein voll ausgearbeiteter Track. Verlorene Synthesizer sind mit Gitarrenstichen und gebrochenen Drum Breaks durchbohrt, die Texte werden im Gegensatz zu den zuvor angebotenen Gesängen gemurmelt. „Strawberr y Privilege“ folgt mit der Verbindung v o n wunderschönen Basslinien und hauchdün nem Gesang. Die hier gezeigte leichtere Note hilft dabei, das Projekt insgesamt stärker in den Fokus zu rücken und die bombastischen Elemente der vorhergehenden Tracks auszugleichen. Das Album mit


GENRE: EXPERIMENTAL

Yves Tumor

9/10

Heaven To A Tortured Mind

all seinen Eigenheiten wird von einer der wichtigsten Rock-Ikonen unserer Zeit als endgültiges Stück in Erinnerung bleiben – einem Popstar, der so grenzüberschreitend ist, wie die Legenden der 70er und 80er Jahre, die wir jetzt für selbstverständlich halten.

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The Strokes

The New Abnormal The Strokes, die als Retter des Rock’n’Roll in den Neunzigern angekündigt wurden, befanden sich damals auf dem Höhepunkt der Welle neuer Bands, die aus der New Yorker Szene hervorgingen. Ob sie ihren hohen Status verdienten, war nebensächlich, es wurde der Maßstab, an dem sie selbst gemessen wurden. Nach ihrem Debüt 2001 geriet die Band in einen allzu vertrauten Strudel: Schlagzeilen, Drogenmissbrauch und Kämpfe, bis ihre Präsenz so weit nachließ, dass nach der „Future Present Past EP“ aus dem Jahr 2016 die Aussicht auf neues Material immer unwahrscheinlicher wurde. Dann, im Februar diesen Jahres, kündigten sie ihr erstes neues Album seit sieben Jahren an. Aber nach so langer Zeit stellte sich die Frage, ob sich überhaupt noch jemand darum kümmerte. „The New Abnormal“ zeigt die Gruppe über weite Strecken in Bestform, kanalisiert die Stärken Ihres Debüts, ersetzt aber das mit Amphetamin angereicherte Feuer durch das gemächliche Vertrauen in die Kontrolle über die eigenen Ziele. Es gibt überall eine spürbare Melancholie. Nicht aus Selbstmitleid, sondern aus der inhärenten Traurigkeit, die sich unweigerlich in jede gemessene Reflexion der Vergangenheit einschleicht. In „Brooklyn Bridge To Chorus“ ist die Gruppe in einem Arcade-Spiel aus den 80er Jahren gefangen, als futuristische Disco-Grooves in einen mürrischen Refrain übergehen, der sich reumütig mit den Gefahren des Ruhms auseinandersetzt („I want new friends, but they don’t want me”).

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„Bad Decisions“ ist eine ihrer unmittelbarsten Hymnen seit Jahren, während das etwas verwirrende „Eternal Summer“ wie The Police klingt, bevor der Track in einen bellenden Ska-Punk abtaucht, der genug von dem liebenswerten Charme der Band bewahrt, um über 6 Minuten durchzuhalten. Selbst wenn The Strokes sich beim schläfrigen, stolpernden Intro von „Not The Same Anymore“ zu verirren scheinen, trumpfen sie mit einem Refrain auf, der mit der gleichen Prahlerei daherkommt, wie einst auf „Room On Fire“. Unscheinbar, mühelos cool; schimmernde, sprudelnde Melodien, die intelligente Texte durchschneiden; die Fähigkeit, lebendig zu klingen und gleichzeitig keinen Scheiß von sich zu geben. Alle Eigenschaften, die die besten Songs der Band untermauern, sind vorhanden, von „Dancing With Myself “ – der jüngsten Single „Bad Decisions“ bis zum funkelnden und sehnsüchtig klingenden „Selfless“. Das sechste Album der Strokes ist kein regressiver Versuch, „Is This It“ 2.0 zu machen – hier gibt es wenig, was auf diese funkelnde, jugendliche erste Platte passen würde – aber diese Rockstars sind endlich alt genug, um diese guten alten Zeiten hinter sich zu lassen und jetzt auch klug genug, um uns einen Soundtrack mit verlockend vertrauter Energie zu geben, den diese seltsamen neuen Zeiten verdienen. 7/10

GENRE: INDIE ROCK


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Ellis

Born Again Die in Hamilton, Ontario, ansässige Singer / Songwriterin Linnea Siggelkow begann in der Musikszene von Toronto und spielte in Bands, bevor sie selbst ihr Solomaterial in kleinen Clubs der Stadt präsentierte. Unter dem Künstlernamen Ellis veröffentlichte sie Ende 2018 eine EP namens „The Fuzz“, die zu einem Plattenvertrag bei niemand anderem als Fat Possum führte. Etwa anderthalb Jahre später angekommen, ist „Born Again“ ihr Debüt in voller Länge. In Zusammenarbeit mit dem Produzenten Jake Aron (Snail Mail, Yumi Zouma) verfeinerte sie die üppige, unaufgeräumte Atmosphäre ihrer EP für zehn neue Tracks, die persönliche, verletzliche Texte und eine resignierte Gesangsdarbietung mit einer Mischung aus Gitarrenverzerrung und hoher Synth-Atmosphäre verbinden. Die Ballade „Shame“ zeigt all diese Eigenschaften, mit niedergeschlagenen Versen, begleitet von sparsamen Trommeln und einer schlendernden Gitarre, bevor hallende, saitenartige Keyboards, hochfliegende Gitarrenlinien und krachende Becken den Refrain übernehmen. Die klar gesprochenen Texte des Songs richten sich an eine emotional schmähende Partnerschaft („And you took all of my words, used them against me/When I tried to talk about the way you wronged me“). Es ist eine Blaupause, die zum Großteil des Albums passt. Die fließenden, leicht sommerlichen Melodien werden nicht das Leben einer Party sein, aber das ist nicht das, wonach sie sucht. Vielmehr spricht Ellis über ihre innersten Unsicherheiten, Frustrationen und Ängste und hofft, mit anderen in Verbindung zu treten, die ähnliche Gefühle haben. Titel wie „Embarrassing“, „Fall Apart“ und „Shame“ sind ein Hinweis auf den Selbstzweifel, den Ellis in diesen allgemein atmosphärischen Tracks zum Ausdruck bringt. Ellis schreibt seit jungen Jahren, begann aber erst in ihren Zwanzigern öffentlich aufzutreten und dieses Gefühl des jahrelangen intimen Songwritings durchdringt die Platte durch und durch. Es ist eine schöne Mischung aus Indie Folk und Emo, die zum wiederholenden Hören einlädt. 6/10

GENRE: POP - FOLK

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Das siebte Album von Laura Marling, das über ein imaginäres Kind geschrieben wurde, ist reich an Facetten, intim, höhnisch, traurig und mit wunderschönen Melodien übersät. Wir erleben 10 luftige Meditationen, sorgfältig verarbeitet und elegant arrangiert, ist dieses neue Album ein absoluter Triumph. „Song For Our Daughter“ kommt mit dem Frühling: eine frische Brise, klarer Himmel, etwas Licht als Wegweiser. Die in Berkshire geborene Künstlerin, die aus einer Reihe von kollaborativen und nichtmusikalischen Projekten (einschließlich eines Master-Abschlusses in Psychoanalyse) gestärkt wurde, hat sich längst von dem frühen „Nu-Folk“ -Label befreit, für das sie Mitte der Nullerjahre ein Synonym wurde. Der Titel von Marling’s letzter Platte, der welt-

lichen „Semper Femina“ aus dem Jahr 2017 (lateinisch für „immer eine Frau“), bezieht sich darauf, wie launisch und ständig verändernd Frauen sein können. In „Song For Our Daughter“ kanalisiert Marling dies mit einem aufregenden Trotz, gerade als sie 30 wird – eine Phase des Übergangs an sich – und bietet ihre bisher beste Arbeit an. Marling’s frühere Alben basieren auf eindrucksvollen erzählerischen Geschichten über Liebe, Alter und Erfahrung vor pastoralen Gitarrenlandschaften. Nicht umsonst wurde sie mehr als einmal als Stimme einer Generation gefeiert. Diese neuen Songs sind subtiler als ihre vorherigen Werke und so fragmentiert und schön wie Glasmalereien.Das Album „The New Abnormal“ von The Strokes ist mit einer angespannten Langeweile aufgeladen und

Laura Marling

Song For Our Daughter 94


„Blow by Blow“ ist eine exquisite Klage dazu – eine poetische Anatomie einer zerbrochenen Beziehung. Klavierakkorde fallen mit spärlicher Zärtlichkeit. Cellos steigen und fallen wie Blüten, die im Wind getragen werden. Marling’s Gesang – sanft und verwundet – ringt vor Kummer. Dies ist jedoch nicht nur ein trauriges Album. Sie schreitet mit Absicht auf die jubelnde „Alexandra“ zu, die teilweise von Leonard Cohen’s „Alexandra’s Leaving“ inspiriert ist. Zwischen Trostphasen in der Londoner British Library und dem Zusammenleben mit der Familie freut sie sich jetzt über ihre soziale Unbeholfenheit: „Stay alone, be brave“, drängt sie auf das gut gelaunte und schlurfende „Strange Girl“.Sie schreibt immer aus einem extremen Ansatz, entweder aus der Perspektive eines Charakters ihrer eigenen Erfindung oder eines tief in der Literatur verwurzelnden Charakters und gibt selten, wenn überhaupt, Hinweise darauf, was das wirkliche Leben ist oder nicht. Infolge-

dessen konzentrieren sich auch Ihre neuen Songs auf bestimmte Charaktere oder auf ein lockereres Thema. Vielleicht wird Marling deshalb nicht als die legendäre Sängerin und Songwriter angesehen, die sie wirklich ist: Es ist schwierig, sich an ihre Alben zu klammern, weil sie sich unter verschiedenen Charakteren und Perspektiven versteckt und sich nie wirklich offenbart. Aber wie Bob Dylan vor ihr ist dies auch ihre größte Stärke, so undurchdringlich ihre Texte auch sein mögen. Fast jedes Lied in ihrer mittlerweile langen Diskographie unterliegt mehreren Interpretationen, die absichtlich unklar und in Metaphern gehüllt sind – und es ist eine absolute Freude, die lyrischen Brotkrumen zu analysieren und zu versuchen, alles zu verstehen. „Song For Our Daughter“ setzt diesen Trend fort, ist aber zugleich mit nur 36 Minuten Spielzeit ihre bisher kürzeste Platte und gleichzeitig Marling’s bisher geradlinigste, musikalisch einfachste und ihre bisher schönste Veröffentlichung. „Song For Our Daughter“ ist beruhigend und dient uns als warme Decke, unter der wir uns in diesem unruhigen historischen Moment verstecken können. “I thank a god I’ve never met, never loved, never wanted, for you,” singt sie auf dem letzten Stück “For You.” Und wir danken für dieses ganz bezaubernde Gesamtwerk. 10/10 GENRE: FOLK

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s war schon immer eine große Aufgabe, es als unabhängiger Künstler zu schaffen, nachdem man jahrelang in einer Band tätig war, die so verehrt wurde wie The Walkmen. Viele Songwriter hatten Mühe, den Schatten zu überwinden, den ein so umfangreiches und beliebtes Projekt über eine Karriere werfen kann. Das dritte Soloalbum von The Walkmen’s Hamilton Leithauser ist eines der wenigen Indie-Rock-Juwele, die es mit ihrem Erbe und ihrer Würde aus dem New York der 2000er Jahre aufnehmen können. „The Loves of Your Life“ ist unverschämt altmodisch. Das Album wurde von ihm in seinem eigenen DIY-Studio erstellt und produziert und hat die Form einer Reihe von konstrastreichen Vignetten, in denen schmuddelige Bürgersteige und die dort geführten Gespräche als Filmopern projiziert werden. “Til the garbage men go by, all the playboys dance on the black tiles like a swarm of flies”, beobachtet er mit seiner typisch raspelnden Stimme, während ihn die nächste Szene “on a sparking subway train breaking through a tunnel underneath Broadway”. Leithauser hatte schon immer eine einzigartige Art, solche Sinnesbilder hervorzurufen, die seine verschwommenen Skizzen einer Stadt zu voller Leben formten. In „The Loves Of Your Life“ hat Leithauser darüber gesprochen, wie alle Songs auf dem Album über echte Menschen geschrieben wurden, denen er in seinem Alltag in New York begegnet ist – Menschen, die er kennt oder denen er begegnet ist – ob flüchtige Schnappschüsse oder detailliertere Charakterstudien. Beispielhaft dafür ist „Isabella“. Ein Mädchen, dessen Miete in Manhattan von ihren Eltern bezahlt wird, eine Belastung, die sie daran hindert, das Erwachsenenalter zu erreichen und für Ihr Leben selbst Verantwortung zu übernehmen – eine erfolgreiche Kombination derselben Mischung aus Subtilität und Müdigkeit, die

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einst die großen Geschichten von The Walkmen bereicherten. Das Album wird von „The Garbage Men“ und „The Old King“ getragen, zwei Songs, in denen seine Frau und seine Töchter als Background-Sängerinnen auftreten. Die Wirkung seines vorherigen Albums, eine Zusammenarbeit mit Rostam Batmanglij von Vampire Weekend, ist nicht verloren gegangen. Wie bei Batmangij’s Produktionen schwingen die Trommeln dieser Songs laut in die Mischung ein und schneiden durch verschwitzte Saxophonriffs, jubelnde Klaviere und Leithauser’s eigenen charakteristischen Gesang. Er scheint nur diesen Modus zu haben – einen, in dem man fast die angespannten Venen hören kann -, aber während einige Variationen nicht verkehrt gewesen wären, verschafft er sich im Chaos dieser Songs Gehör. Trotzdem ist Leithauser sehr bemüht, sicherzustellen, dass es die Charaktere seiner Geschichten sind, die im Mittelpunkt des Albums stehen. Das schwingende „Cross-Sound Ferry (Walk-On Ticket)“ erzählt von einem weltfremden Fremden, den er auf der Fähre von Orient Point nach New London getroffen hat, während die Single „Hear They Come“ einen Freund zeigt, der sich vor den Problemen des Lebens in einem Kino versteckt und die reale Welt sich weigert, draußen zu bleiben. “I was a fool, I was blind, I kept my eyes shut half the time”, und „Don’t Check the Score“ zeichnet sich durch wunderschöne weibliche Gesänge aus, die mit einem Klavier von Stuart Bogie und klapperndem Schlagzeug in ein wunderschönes Crescendo ausbrechen. Aber das Album funktioniert am besten in seiner Gesamtheit. Vom filmischen Eröffnungstrack „The Garbage Men“ bis zum intimen „The Old King“, wo Leithauser mit seinen Töchtern bestens harmoniert, ist es positives und lebensbejahendes Zeug. Sehr empfehlenswert. 9/10

GENRE: INDIE ROCK


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ährend andere zeitgenössische Künstler (Bat For Lashes, Thundercat) von der Breitbild-Pop-Seite der Mitte der achtziger Jahre beeinflusst sind, spielt dieses Projekt in den am weitesten entfernten Bereichen der Rave-Kultur und ist dennoch in der Gegenwart verwurzelt. Und es funktioniert wirklich gut: Es ist eine schöne Dosis kinetischer hyperaktiver Energie, wo wir sie doch gerade jetzt am dringendsten brauchen. Das vierte Album des Multiinstrumentalisten-Duos Andrew Hodson und Steve Jefferis, das sich durch ein eigenes kosmisches Universum bewegt, erwartet uns mit Synthesizern, cleveren Beats, nostalgischer Zwischenspielen und vielen Gäste. Warm Digits sind von ihren perfekt erzeugten Wellen hochfliegender Klänge umgeben und fühlen sich in ihrer eigenen, einzigartig widersprüchlichen kreativen Welt wohl. Auf einem grenzenlosen Spielplatz mit kalkulierten Beats laden sie ihre Gastsänger ein, zu kommen und frei zu sein. Die Single „Shake The Wheels Off “ ist eine tadellose Wahl für die Zusammenarbeit mit den glänzenden neuen Disco-Rettern The Orielles in einem Stück puren

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Synth-Pop-Genuss. Die farbenfrohen Grafiken, die die Veröffentlichungen dieses Albums begleiten, verstärken das Bild von Warm Digits, während jeder Künstler sich selbst überlassen bleibt, um den Track zu seinem eigenen zu machen. „Feel The Panic“ mit The Lovely Eggs ist ein ansteckender psychedelischer Elektro-Grunge. Die Sängerin Holly Ross vermittelt ein Gefühl der Freiheit, während an anderer Stelle die höhlenartigen Töne von Paul Smith von Maximo Park im astronomischen „Fools Tomorrow“ in unseren Gehörgängen bruzeln. Danach wandert die verträumte Stimme von Emma Pollock durch das frenetisch funkige „The View From Nowhere“. Vollgepackt mit Ideen und launischen Ausbrüchen, werden diese durch Ihre Melodien und einer Reihe von Synthesizern (das ist der Sammelbegriff) zusammengehalten. „Flight off Ideas“ hebt ab und wird nicht so schnell wieder herunterkommen. Und wir auch nicht. 7/10 GENRE: ELECTRONIC

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The Lovely Eggs I Am Moron

Mit den Lovely Eggs erwartet uns ein zweiteiliges psychedelisches Lo-Fi-Garage-Rock-Duo aus Lancashire, bestehend aus dem Ehepaar Holly Ross (Gitarre, Gesang) und David Blackwell (Schlagzeug). Sie bringen Rock in kurzen, scharfen und absolut verrückten Songs über den wahnsinnigen Zustand des modernen Lebens auf das Wesentliche. Über die letzten Jahre konnte das Duo eine beachtliche Fangemeinde aufbauen, die den fast aggressiv dummen Rock-Minimalismus von The Lovely Eggs lieben und zu schätzen gelernt haben. „I Am Moron“ ist ihr sechstes Studioalbum und das vierte auf ihrem eigenen Label Egg Records. Es macht ziemlich Eindruck. Irgendwo zwischen der Electro-Poesie von Sleaford Mods, dem genrebiegenden Wahnsinn von Primal Scream und der animalischen Herangehensweise bezüglich Songkonstruktionen von Throbbing Gristle – erzeugen The Lovely Eggs eine Schallflutwelle, die ihre Einflüsse mit Stolz trägt, aber dennoch trotzig eigene Weg verfolgt. Es gibt viele Bands, von denen es heißt, sie hätten einen „einzigartigen Sound“ und nur sehr wenige von ihnen haben wirklich einen. Aber im Fall von The Lovely Eggs passt dieses Prädikat wirklich zu einem Sound, der zwischen schläfrigen Psychedelika, knirschenden Gitarrenriffs und weicheren, leisen Momenten wechselt, die effektiv interpunktieren. „I Am Moron“ ist ein Album, in dem die Band scheinbar – und auf eine ungewollt zeitgemäße Weise – über Isolation nachdenkt. Das Album, das von David Fridmann (von Flaming Lips’ Yoshimi Battles the Pink Robots) co-produziert wurde, filtert dies durch eine Metapher des räumlichen Verlusts, durch lyrische und musikalische Anspielungen. Sogar auf dem Albumcover schweben viele alltägliche Trümmer durch die Weiten des Weltraums.

Während die Band das Album schrieb, war sie fasziniert vom Mars One-Programm, einem globalen Projekt, das darauf abzielt, eine dauerhafte menschliche Siedlung auf dem Mars zu errichten. Bewerbern wird ein One-Way-Ticket angeboten, um die Erde nie wieder zu sehen. Dies faszinierte Holly und David, die Parallelen zwischen dieser Mission und ihrer eigenen Isolation als Band zogen. „Long Stem Carnations“ ist ein schöner Eröffnungs-Track, der psychisch beginnt und psychisch endet. Der Ein- und Ausgang enthält eine Punk-Pop-verzerrte Blondie-artige Melodie, die mit reinem Eggs-Sound nur so sprudelt und vor schierer Energie zu platzen droht. Dieser erste Track stellt die Technik der Band zwischen dem Drücken und Ziehen der Dynamik und dem fast nahtlosen Wechsel von Dur zu Moll her. Im Verlauf des Albums vergisst man leicht, dass dieser Wahnsinn eine Methode hat. Trotz der Freude, die die ersten paar Songs versprühen, braucht es zugegebenermaßen ein paar, um sich wirklich darauf einzulassen. Sobald die Punk-Sensibilität von „This Decision“ eintritt und Holly Ross über ohrenbetäubende Synthesizer schreit: “It’s all part of the design”, läuft das Album los und lässt den Rest der vierzig Minuten wie im Fluge vergehen. Die Energie des Albums ist überwältigend. Vielleicht wäre es aber ohne den vorletzten Song, dem etwas unnötigen „Still Second Rate“, etwas effektiver geworden. Es bleibt aber ein phantastisches Album, in dem Dave Fridmann wieder einmal großartige Arbeit geleistet hat. „I Am Moron“ ist ein dringend benötigter Hauch frischer Luft und viel schlauer, als The Lovely Eggs uns glauben lassen wollen. 9/10

GENRE: ALTERNATIVE ROCK

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Ren Harvieu

Revel In The Drama Harvieu lernte 2015 den Frontmann der Magic Numbers, Romeo Stodart, kennen und verbrachte den größten Teil von zwei Jahren damit, an diesen Dutzend Songs mitzuschreiben und mitzuarbeiten. Zu gleichen Teilen waren auch Phil Spector, Dusty Springfield, Shirley Bassey, Duffy und Lana Del Rey mit ihren atemberaubenden, kraftvollen, unschuldigen und sexy Gesängen im Breitbild-Retro-Pop-Gebiet beteiligt. Diejenigen, die Nicole Atkins’ gut aufgenommenes Album „Goodnight Rhonda Lee“ aus dem Jahr 2017 zu schätzen wissen, werden sich für dieses ähnlich gestaltete Stück fackeligen Pop der 60er Jahre interessieren. Es ist die Fortsetzung von Ren Harvieu’s „Through the Night“ aus dem Jahr 2012 und behält die meisten funkelnden Retro-Einflüsse dieses Albums bei. Aber da diese Veröffentlichung vor acht langen Jahren erfolgte, fühlt sich dies für die opulente Sängerin wie ein Neuanfang an. Oder vielleicht eine neue Einführung in ein umwerfendes Talent. „Revel In The Drama“ handelt über Wiedergeburt, Selbstakzeptanz und künstlerische Befreiung. Trotz der acht Jahren bleibt die eindringliche Stimme, der in Salford geborenen Sängerin, stark. Im Gegensatz zu der sauberen Chart-Absicht ihres Debüts zeigt sich Harvieu weitaus mehr einem seltsamen und zeitlosen Barock-Sound verpflichtet, der Peggy Lee und Regina Spektor weit mehr kanalisiert als Adele. Opener „Strange Thing“ bietet einige Roy Orbison Gitarren-Licks und einen wunderschönen Chor. Stodart’s Produktion ist dicht und barock: Allein dieser Track platzt aus allen Nähten mit trillernden Synths, Violinen, einem Chor und einem Klavier; alles nahtlos gemischt. „Teenage Mascara“ endet in einem wunderbaren Spaghetti-Western, der von einer spanischen Gitarre und lässigem Pfeifen angetrieben wird.

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Dieser neu ansprechende Stil zeichnet die ansteckende Lebensfreude von Harvieu auf dem gesamten Album nach. Flüchtige Bilder halten kleine Momente persönlicher Befreiung fest, wie „cutting my hair in the bathroom mirror”, während andere wie das witzige „Tomorrow’s Girl Today“ Leitbilder für die Zukunft verkünden: “as soon as I stop making bad decisions / oh world, watch out!” Eines der bewegendsten – das anschmiegende „My Body She Is Alive“ – fängt die Erleichterung und das erneute Gefühl der Kontrolle ein, mit denen sich jeder, der eine lebensverändernde Situation überwunden hat, sicherlich verstanden fühlt. Es gibt Anspielungen auf Regina Spektor in der orchestralischen Ballade „Spirit Me Away“, während solche wie Nadine Shah einen Einfluss auf den herausragenden Track „Cruel Disguise“ zu haben scheinen. Bei 12 Tracks gibt es manch füllenden Moment, aber der Abschluss von „My Body She Is Alive“ ist ein erhebendes Ende dieses Albums und feiert die Überwindung von Widrigkeiten – ein passendes Ende für eine Platte, die letztendlich ein Aufruf an die Waffen ist, um das Drama nicht nur zu genießen, sondern es zu feiern. 6/10

GENRE: ROCK


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Ashley McBryde Never Will

Die trotzige Atmosphäre im Namen „Never Will“ setzt Erwartungen an Ashley McBryde’s zweites Major-Label-Album und spiegelt wider, wie der Titel „Girl Going Nowhere“ das Verständnis für die 11 Songs ihres herausragenden Debüts 2018 umrahmte. „Never Will“ ist dabei eher eine Zusammenlegung als eine Abkehr von „Girl Going Nowhere“ und bietet die gleiche Mischung aus herzlichem Country und stämmigem Rock & Roll und wurde auch von Jay Joyce produziert. Es fühlt sich an, als ob McBryde in diesen neuen Songs genau weiß, wohin sie geht. McBryde ist eine kluge, freche und vor allem emanzipierte Frau, deren verwurzelte Musik die klassischen Country-, Folk- und sogar leichten Bluegrass-Einflüsse in Einklang bringt. Die aufregendsten Tracks der Platte klingen wenig anderes als im Country-Radio: „Velvet Red“ ist eine Emmylou Harris-Bluegrass-Ballade über einen Appalachen-Romeo und Julia. Ihr Label traf eine etwas mutige, sogar mutwillige Entscheidung, indem es „One Night Standards“ als erste Single des neuen Albums veröffentlichte. Aber es ist ein Song, der in der fernen Zeit, als das Country-Radio betrügerische Wehklagen spielte, ein Knaller gewesen wäre. “How it goes is, the bar closes / There ain’t no king bed covered in roses,” singt sie in einer Ballade über das Versumpfen in einer Bar, die dir hilft, die Nacht zu überstehen.

Aber im Allgemeinen ist es McBryde’s aggressivere Seite, die auf Tracks wie „Martha Divine“ zu sehen ist, wo die Protagonistin den Liebhaber ihres Vaters mit einer Schaufel schlägt, während eine Leadgitarre schreit. Ähnliche Emotionen treten in „Shut Up Sheila“ auf, einer von nur zwei Songs, die nur teilweise von McBryde komponiert wurden. Der einzige Fehltritt des Albums ist das abschließende „Styropor“, ein schrulliges Funk-Reggae-Stück mit humorvollen Versen über die nominelle Substanz. Es könnte in ihrer Live-Show funktionieren, fällt aber hier flach, besonders neben den anderen zehn Edelsteinen. Ungeachtet dessen ist es schwer vorstellbar, dass McBryde’s beliebte und hoch gelobte erste Veröffentlichung besser und selbstbewusster hätte fortgesetzt werden können. 7/10

GENRE: COUNTRY

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Die prominenteste Stimme auf dem eröffnenden Stück von Lorely Rodriguez’ drittem Album ist nicht ihre eigene. Sie gehört ihrer Mutter. “Look how many times she represents herself in each one of you,” sagt sie stolz. Es bildet die Grundlage für das, was die US-amerikanische Künstlerin unter dem Namen Empress Of über 12 hervorragend produzierte Tracks machen will: Die Dinge erforschen, die uns verbinden, ob gut oder schlecht. Wenn wir über „Us“ aus dem Jahr 2018 nachdenken, können wir nicht anders, als das Gefühl zu haben, dass es eine schwere Fehlzündung war, besonders jetzt, wo sie zwischen dieser neuen Arbeit und ihrem prächtigen Debüt „Me“ von 2015 gefangen ist. Wo „Us“ halbherzig von aktuellen Pop-Trends zu schöpfen schien, ist „I’m Your Empress Of “ eine kühne Aussage über ihre Individualität, die auf ihr honduranisches Erbe, aber auch auf ihre klare Liebe zur elektronischen Musik und zu Chicago House hinweist. “I love the exchange,” gibt sie über die ruckartigen Beats und Donnerschläge von „Bit Of Rain“ zu, gefolgt von „Love Is A Drug“ und einer pochenden Synth-Linie: “I just wanna be touched.” Rodriguez hat eindeutig gelernt, ihren eigenen Instinkten zu vertrauen, und das hat sich ausgezahlt. In der ersten Single „Give Me Another Chance“ bittet Rodriguez einen Ex-Liebhaber, sie zurückzunehmen, und singt lautstark, “Somebody told me/You’ve got another/I’m asking you baby/ Choose me over her,” über stolzierende Beats und pulsierende Synth-Riffs. Und da ist das benommene „Awful“, wo Rodriguez zugibt, dass sie jemanden braucht, und fleht: “I need some help, I need some help/I need myself, I need myself ”. Aber es sind nicht nur gebrochene Herzen und vereitelte Romantik. Das Album umfasst alle Aspekte des Lebens von Rodriguez. Die dramatische Eröffnung des Titeltracks verbindet Rodriguez’ verträumte Produktion mit filmischen Schnörkeln. Die Produktion wurde gegenüber früheren Veröffentlichungen um einiges gesteigert, mit emotionalen Texten, die über gigantische Refrains gesponnen sind. Das schwindelerregende „What’s The Point“, in dem Rodriguez untersucht, ob eine Beziehung für sie richtig ist, ist voller pochender Beats und dunstiger, gestapelter

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Gesänge. „I’m Your Empress Of “ enthält auch Momente sexueller Ermächtigung, in denen eine Begegnung mit einem Fremden in „Not The One“ erzählt wird. In voller Vocoder-Pracht teilt Rodriguez mit: ”I can’t decide what type of girl I like / What type of girl to be.” Die Identität der Person spielt keine Rolle, nur die Tatsache, dass sie keine Angst hat, auf ihre Wünsche einzugehen. Und das euphorische „U Give It Up“ mit seiner freudigen Melodie und dem wohlklingenden Gesang ist bis 6 Uhr morgens zum Tanzen gedacht. Ob letztlich aus dem Hintergrundgeschwätz von „U Give It Up“ oder der Euphorie, die bei „Awful“ durch ihre agilen Gesänge strömt – dies ist ein Album, das vor Leben nur so strotzt. 8/10

GENRE: POP


Empress Of

I’m Your Empress Of

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Ward ist eine Art Künstler, der einfach immer etwas zu machen scheint. Er scheint immer eine Platte herauszubringen und die schiere Tiefe seiner Diskographie kann für Unvorbereitete atemberaubend sein. Kurz gesagt: der Mann ist ein Arbeitstier. Und er hat mit einer unglaublichen Anzahl von Menschen zusammengearbeitet: Mavis Staples, Jenny Lewis, Norah Jones, Cat Power, Neko Case, Lucinda Williams und Peter Buck. Es sind einige unter vielen. Er ist auch die eine Hälfte des Twee-Pop-Duos She & Him und der Folk-Supergruppe Monsters Of Folk. „Migration Stories“ ist sein 10. Album und für diese Sammlung zog er

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nach Quebec, Kanada, um mit drei der unzähligen Mitglieder von Arcade Fire zusammenzuarbeiten: Tim Kingsbury, Richard Reed Parry und Produzent Craig Silvey. Ward dazu: “some records are… self-fulfilling prophecies – visualising change to wish something into being. Those records inspired this one.” Ward’s Stimme war schon immer eines seiner größten Stärken. Sie kann schleichend, schwül, klar, sexy und aufrichtig sein. Während die Erzählung des Albums zusammenhängend ist, sind die Gesamtinhalte äußerst vielfältig. Von der Synth-Single „Unreal City“ über das Instrumental „Stevens Snow Man“ bis hin zu seinem Cover der Cowboy-Ballade „Along the Sante Fe Trail“ bietet Ward den Hörern eine Reihe verschie-


dener Sounds. Die resultierende Platte klingt so elegant und professionell wie jedes Indie-Rock-Album, ohne dabei Ward’s akustisch angetriebene, zwielichtige Melodien zu opfern. „Migration of Souls“ eröffnet die Platte mit vertrauten, wärmenden Gitarrentönen, gepaart mit Ward’s einzigartig trägen und dunstigen Gesängen, die dazu dienen, eine verträumte Eröffnungsklanglandschaft zu schaffen. „Heaven’s Nail and Hammer“ verfolgt dann einen anderen Ansatz und obwohl wir immer noch in eine Decke aus Akustikgitarre und klassischem Twang gehüllt sind, werden wir auch mit bluesigen Gitarren und Rhythmen behandelt, die um die Melodie tanzen. Die Anwesenheit von Richard im Studio fühlt sich lehr-

reich an, da die warmen, dunstigen Melodien und der geschmackvolle Einsatz von Synthesizern (insbesondere im angesprochenen „Unreal City“) an seine eigene zweiteilige Solo-Veröffentlichung „Quiet River of Dust“ erinnern. „Migration Stories“ ist ein leichtes Album – aber ein vollendetes Projekt. Ward und seine Arcade Fire-Kollegen haben mit etwas Nostalgie ein beruhigendes Gefühl von Wärme geschaffen. 8/10

COUNTRY - FOLK

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Seazoo Joy

Das neue Album „Joy“ von Seazoo wurde in den Big Jelly Studios mit Unterstützung von Produzent Mike Collins aufgenommen und findet nach jüngsten Projekten mit Girl Ray und Pip Blom die Gruppe dort wieder, wo sie bei ihrem für den Welsh Music Prize nominierten Debüt „Trunks“ aus dem Jahr 2018 aufgehört haben. In vielerlei Hinsicht haben sich die letzten zwei Jahre für Seazoo als besonders produktiv erwiesen. Zunehmende Bekanntheit sowie Auftritte vor den IDLES, The Lovely Eggs und Circa Waves. Durch die Kombination von liebenswerter Twee-Sensibilität mit verschwommenem neo-psychischen Texten ist es einfach, Elemente im Sound des Quintetts zu lokalisieren, die bei stilprägenden Personen Anklang finden. Eine anhaltende Sparsamkeit beim Songwriting und ein Mangel an Anspruch sind sofort erkennbar. Der Gesang von Frontmann Ben Trow gleitet in schlenderndem Tempo, ausgerichtet auf eine sorglose und dennoch gebieterische Präsenz. In ähnlicher Weise wie andere walisische Aushängeschilder (Super Furry Animals), schweben auch Seazoo zwischen Direktheit und heimatloser Weltflucht in einer Dichotomie, die ein Gefühl von Intrigen und rustikalem Charme hervorruft. „Joy“ ist ein Beweis dafür, dass sich die Band dieser Formel weiter verpflichtet fühlt, letztere in reichlichen Mengen liefert und vor natürlicher Unschuld funkelt, ohne sich in einem abgenutzten Klischee zu verlieren.

Auf 10 Tracks nimmt uns die Band auf eine mit ansprechenden Rhythmen gefüllte Tour durch die seltsamen und wunderbaren Sounds mit, die aus ihren Aufnahmesitzungen hervorgegangen sind – Frontmann Ben Trow erklärt: “The main bulk of ‘JOY’ was recorded at Big Jelly Studios in Ramsgate. It’s a large, open, bright and light converted chapel situated on the coast, six hours away from our home in North Wales. This brightness, energy, escapism and break from the typical-way-of-doing-things really seeped into the record; there’s a real light, warmth and positivity to it” Mit „JOY“ erkundet die Band Themen der Hoffnung und schätzt die alltäglichen Momente im Leben. Der Eröffnungstrack „The Pleasure“ bietet farbenfrohe Synthesizer und humoristische Texte. Neben „The Pleasure“ sind „Throw It Up“ und „Heading Out“ die Höhepunkte des Albums. „Throw It Up“ ist schrullig und voller Überschwang, mit elektrisierenden Gitarrenparts; Ähnlich wie die anderen Tracks bietet auch „Heading Out“ einen verzerrten Sound mit statisch geschnürten Gitarrenriffs. Überraschenderweise ist es tatsächlich ein ziemlich liebenswertes Lied. In der Zwischenzeit sind „We Return“ und „The Start of Everything“ ebenso voller bedeutungsvoller Texte. „I See Beauty“ ist ein weiterer optimistischer, ansteckender Track. Seazoo stattet sich mit einer erweiterten Palette aus – sie fügen ihrer üblichen Vorlage subtile, komplexere Farbtöne hinzu und zeigen dabei lebhafte Anspielungen auf alternative Künstler aus den Neunzigern und frühen Neunzigern. 8/10

GENRE: INDIE POP

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Shabazz Palaces

The Don Of Diamond Dreams Die fünfte Studio-Veröffentlichung des Duos um Ishmael Butler und Tende „Baba“ Maraire enthält Gastauftritte von Darius, Carlos Overall, Purple Tape Nate und Stas THEE Boss. Während das inzwischen aufgelöste Trio von Digable Planets Anfang bis Mitte der 90er Jahre an der Spitze eines kurzlebigen Booms stand, war die Gruppe eine von vielen, die das Genre des klassischen Hip-Hop revolutionierten. Als ihr kreativer Funke die wachsenden Kämpfe politischer und gesellschaftlicher Not ans Licht brachte, löste das Ergebnis einen Aufschwung für einen wahren Wandel aus, bei dem korrupte Ideologien und zerbrochene Systeme auf ein Maß an Rechenschaftspflicht gebracht wurden. Digable Planets diente nicht nur als Leuchtturm für kollektive Solidarität, sondern auch als Gruppe, die tief in der Befürwortung von Gleichheit und Frieden verwurzelt ist. Etwa ein Jahrzehnt später haben Shabazz Palaces unsere Wahrnehmung der Realität unter ihrer kryptischen, illustrativen Sicht auf Hip-Hop verändert. „The Don Of Diamond Dreams“ fühlt sich auch wie ein Höhepunkt der Arbeit eines Jahrzehnts an. Dies ist die erste Veröffentlichung des afro-futuristischen Duos seit den Projekten „Quazarz: Born On A Gangster Star“ und „Quazarz vs. The Jealous Machines“ aus dem Jahr 2017. Es war ein weitläufiges und umwerfendes Doppelalbum, dass dennoch die Marke ihrer vorherigen Alben leicht verfehlte. Aber es ist drei Jahre später. Seitdem hat sich alles geändert, ebenso Shabazz Palaces. Das Album beginnt mit „Portal North: Panthera“. Schimmernde Synthesizer kaskadieren über stotternde Trommeln und feuchte Basslinien. Dies ist das Rückgrat des Albums. Über diesem spärlichen, aber zerebralen Konstrukt schweben Texte, die sanft nach unten driften.

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Es zeigt, dass dies die selben Künstler von früher sind, aber sie haben sich weiterentwickelt, wie es alle großen Künstler tun müssen. Und auf „The Don of Diamond Dreams“ entwickeln sich Shabazz Palaces zu einem großartigen Act. Während Shabazz Palaces in der Vergangenheit den Versuchen widerstanden haben, sich selbst als Teil eines afrofuturistischen Kontinuums zu bezeichnen, fühlt sich dieses Album so an, als wäre es aus einer alternativen Zeitlinie hervorgegangen, die verschiedene Genres entlehnt und mit ihnen spielt – darunter P-Funk, Jazz und Trap – ohne sich ihnen voll verpflichtet zu fühlen. Nehmen wir das eröffnende Stück „Ad Ventures“. Es ist ein wunderschöner, verspielter Track, der sich anfühlt, als wäre er von einer fliegenden Untertasse auf die Erde herabgelassen worden. Das Album endet mit „Reg Walks By the Looking Glass“. Die Stimmung sieht eine neonbeleuchtete Sommernacht vor – Wind trifft unser Gesicht und zieht in Zeitlupe vorbei, aber der Track besucht dann eine andere Dimension mit einem Gastauftritt des Saxophonisten Carlos Overall, der Psych-Soul-Marmelade darunter spinnt. Butler’s Körnung ist hier mehr als beeindruckend, aber obwohl es nicht verwunderlich ist, wie weit er bereit ist, einen Moment zu schaffen, ist es eher das, was er entdeckt, während er dort verweilt. 8/10

GENRE: EXPERIMENTAL - JAZZ


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iona Apple’s erstes Album seit acht Jahren, „Fetch The Bolt Cutters“, ist endlich da. Das fünfte Album wurde hauptsächlich in ihrem Haus am Strand von Venedig aufgenommen. Zu einem ausgewählten inneren Kreis von Musikern gehörten Sebastian Steinberg von Soul Coughing, Amy Aileen Wood, Cara Delevingne und fünf Hunde namens Mercy, Maddie , Leo, Little und Alfie. Ein musikalisches Erlebnis, das sich über die Wiedergabetreue erstreckt – der Stil der Platte ist oft so unkompliziert wie das Cover des Albums, gefüllt mit Rhythmen, die wie Feldaufnahmen und Schlagzeugpeitschen klingen und den Songs eine instabile Grundlage geben. Aber sie zu erden ist Apple, mit einer durchdringenden kristallklaren Absicht. Sie singt von weiblicher Solidarität, von Freunden aus Kindertagen, aufdringlichen Liebhabern und dem Gewicht der Depression, alle mit einem feurigen Witz versehen, der das Chaos durchschneidet. Sie behandelt die Songs wie einen Tagebucheintrag oder wie eine Therapie und spuckt einmal, “I resent you for presenting your life like a fucking propaganda brochure”, auf dem harmonischen „Relay“ aus. Die Rhythmen sind angenehm, aber gegenläufig und ungewöhnlich. Auf dem Titeltrack singt sie halb über einem provisorischen Orchester aus Küchengeräten, Hundebellen und Katzenjammern.

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Der Beat auf „Under the Table“ begeistert mit brodelnden Tempoverschiebungen, während sie bei „Ladies“ am vertrautesten wirkt und über eine seelenvolle Kulisse brüllt, dabei ihre eigene Stimme wie Tabak kaut und diese dann plötzlich in den Himmel aufsteigen lässt. Es ist bemerkenswert, wie intim Apples Stimme hier klingt – halb gesprächig, halb selbstmurmelnd, was jeden Kratzer, Atemzug und wildes Aufschreien zulässt. Dies ist ein Album voller Trotz. Vielleicht nirgendwo mehr als auf „Under the Table“, auf dem sie warnt: “Don’t you, don’t you, don’t you push me”. “Kick me under the table all you want,” grinst sie im Refrain. “I won’t shut up.” Gut so. 9/10 GENRE: ROCK

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Rina Sawayama Sawayama

In der ersten Single aus Sawayama’s Debütalbum „SAWAYAMA“, schimpft die britisch-japanische Sängerin gegen die rassistischen Mikroaggressionen, mit denen sie sich ihr ganzes Leben lang auseinander setzen musste. Sawayama brüllt immer wieder den Refrain von „Shut the fuck up“, bevor sie fragt: “Have you ever thought about / Taping your big mouth shut ’cause I have many times”. Es ist ein atemberaubender Song, der irgendwo zwischen Evanescence, Limp Bizkit und JoJo liegt und eine kraftvolle Einführung in eine Welt bietet, die Sawayama auf ihrem neuen Album uns hier präsentiert. Die Veröffentlichung ihres Debütalbum hat lange gedauert. Seit Sawayama 2013 ihr erstes Lied (das umtriebige „Sleeping in Waking“) veröffentlichte, war sie jahrelang als unabhängige Künstlerin tätig. Sie finanzierte sich ihre Musik durch Model-Deals und Teilzeitjobs. Nun ist das Album also endlich erschienen und bietet uns mit „Dynasty“ den perfekten Einstieg, der mit all seiner Glam-Metal-Wut explodiert, Aufmerksamkeit fordert und die Messlatte für den Rest der Songs setzt. Ein Großteil des Albums ist eine Anspielung auf die frühen 2000er Jahre. Aber anstatt nostalgisch in diese Ära zu blicken, überarbeitet Sawayama die Musik und erweckt sie zu neuem Leben. Es ist eine passende Ode an diese Zeit: Die Inspiration des Albums stammt hauptsächlich aus Rina’s Erfahrungen mit Erwachsenwerden, Familie und Identität. Rina’s stimmliche Präsenz ist genauso beeindruckend wie die Genre-Spanne des Albums. In den 13 Tracks von „SAWAYAMA“ hören wir die kraftvollen Töne einer Frau, deren Leidenschaft und Wildheit unbestreitbar ist – niemals mehr als in de erhebenden Stücken „Love Me 4 Me“ und „Chosen Family“.

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Die Tracks „Akasaka Sad“ und „Paradisin“ untersuchen speziell die Erinnerungen an das Aufwachsen zwischen zwei Orten (für Rina war es Japan und Großbritannien) und die widersprüchlichen Emotionen, die mit dieser Herausforderung einhergehen müssen. Obwohl „SAWAYAMA“ ein zutiefst persönliches Album ist, kann die Bandbreite der durchgehend dargestellten Emotionen auf jeden von uns selbst übertragen werden. Der Einsatz von Heavy Metal, Theatralik, Synth und Pop zeigt so viele unterschiedliche Emotionen – von Wut über Schuldgefühle bis hin zu Verwirrung und Hochstimmung. Jede dieser Schichten trägt zum Schmelztiegel bei, und diese harten Emotionen haben letztendlich zur Schaffung einer makellosen Pop-Platte beigetragen. Man darf sich wirklich nicht von den Plastik-Pop-Motiven und ausgefallenen Gegenüberstellungen täuschen lassen. Dies ist eine sorgfältig ausgearbeitete, komplexe Pop-Platte, die von den Produktionsbeiträgen von Branchenschwergewichten wie Nicole Morier (Britney) profitiert, aber zweifellos ist es die neue Interpretation und der Star-Appeal von Rina Sawayama, die diesem Album seine funkelnde Essenz verleihen. 9/10

GENRE: NU METAL - POP


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Lido Pimienta

Miss Colombia

Die Fortsetzung zu „La Papessa“ aus dem Jahr 2016 zeigt eine Künstlerin, die eine klare Vision und den Wunsch hat, mit Klängen zu experimentieren. Neben den Produktionsfähigkeiten von Prince Nifty (Matt Smith von Les Mouches) knistern einige Songs wie „No Pude“ vor Elektrizität, andere wie „Quiero Que Me Salves“ mit der kolumbianischen Percussion-Truppe Sexteto Tabalá, zeigen Pimienta’s Stimme über Afro-Kolumbianischen Rhythmen. „Nada“, ein Duett mit Li Saumet von Bomba Estéreo, ist eine Offenbarung – eine ätherische Hymne an Mutterschaft und die Bereitschaft Opfer zu bringen. Der ironische Titel des Albums wurde zwischen ihrem Heimstudio in Toronto und einem abgelegenen Dorf in Kolumbien aufgenommen. Von Pimienta als „cynical love letter to Colombia“ beschrieben, fasst die transgressive, formverändernde „Miss Colombia“, die sie präsentiert, das traditionelle Bild der Schönheitskönigin in eine trotzige, multikulturelle und künstlerische Universalgelehrte um, die sich mit Fragen des Rassismus, der Ungleichheit der Ureinwohner, der Liebe und des Verlusts befasst. Das Album wird von einem großartigen Paar von A-cappella-Songs, „Para Transcribir SOL“ und „Para Transcribir LUNA“, eingerahmt, die dazu beitragen, den verschiedenen Inhalten dazwischen einen Zusammenhalt zu

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verleihen. Herausragender Titel „Eso Que Tu Haces“ verbindet flinke Cumbia-Rhythmen mit himmlischem Synth Pop, während Pimienta’s Stimme über üppigen, perkussiven Holzbläsern schwebt und ermahnt, „that thing you do is not love.“ Es gibt eine relativ stabile Instrumentalpalette, die reich an Synthesizern, Hintergrundgesängen und traditionellem Latin-Drumming ist und Songs wie „Coming Thru“, einem minimalen Pop-Track ein Gefühl der Beständigkeit verleiht. Hier singt Lido in Spanisch und Englisch, ebenso in „Pelo Cucu“ und „Te Queria“, die in ihren Arrangements freier sind. Es steht außer Frage, dass ein wenig von Lido’s beeindruckender Lebensenergie in der Übersetzung hier verloren geht, aber „Miss Colombia“ bleibt eine lebendige und zugängliche Einführung in ihr grenzüberschreitendes Werk. Jedes Lied ist anders und anders ist gut. Sehr sehr gut sogar. 8/10

GENRE: POP

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EOB

Earth Der Versuch darf erlaubt sein. Das erste Album von Radiohead’s Ed O’Brien mag während der gesamten Laufzeit Momente der Hoffnung und des Mitgefühls bieten, aber die meisten Songs fühlen sich zu indirekt und zu unterspielt an. Ed zog 2012 ins ländliche Brasilien und diese Inspirationen aus Rhythmen und der Freude an Rio’s Karneval zeigen sich am deutlichsten in der zweiten Hälfte des entsprechend benannten „Brasil“ mit seinen resonanten, rhythmischen Basslinien und drückenden Drum Beats. Sie wurden mit ähnlichen Sequenzern überlagert, wie wir es bereits aus den Remixen von Radiohead’s „The King Of Limbs“ kennen. In Interviews sagte O’Brien, dass er das Gefühl hatte, die Platte veröffentlichen zu müssen, dass ein Teil von ihm „sterben“ würde, wenn er es nicht tun würde. Dieses Gefühl der Dringlichkeit ist überall auf „Earth“ zu spüren. Ein Großteil auf „Earth“ ist entspannt und friedlich und dreht sich um die zerebralen „Brasil“ und „Olympik“, die in über acht Minuten das Gehirn mit wirbelnden Synthesizern und verträumten Linien über Liebe und Perfektion kitzeln. “A love supreme is all I need,” singt er im Letzteren. “To be waking up from the deepest sea.” Direkt hinter „Brasil“ versteckt sich das schöne „Deep Days“, ein akustischer langsamer Brenner, der wie eine Pause zu dem langen Track davor wirkt: “Where you go, I will go/where you stay, I will stay,” verspricht er. “And when you rise, I will rise/and if you fall, you can fall on me.” Dementsprechend darf „Earth“ mit seiner geschwungenen Länge als eine Platte gesehen werden, die zur Meditation einlädt. Zugleich ist aber das Album in den langsameren, spirituelleren und aufschlussreicheren Tracks am schwächsten unterwegs und bleibt in diesen Phasen meist charakterlos und unverbindlich. „Earth“ mag musikalisch einwandfrei sein, aber es fehlt der Biss aus seinem eigentlichen Job mit Radiohead. 5/10

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GENRE: AMBIENT


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ieses Album ist ein kunstvoll gefertigtes Werk mit einer hochkarätigen Gästeliste, darunter Namen wie Future, PARTYNEXTDOOR, Popcaan, Buju Banton, Summer Walker, Jessie Reyez, Snoh Aalegra, Ty Dolla $ign und Shantel May. „A Muse In Her Feelings“ bringt den R&B zu Ausdrucksformen zurück, die das Genre großmachten. Von Verletzlichkeit, Sehnsucht bis hin zu Begehren bezieht das Album seine Inspirationen aus den frühen Nullerjahren, textlich präziser denn je zu Papier gebracht von Daniel Daley und gepaart mit Nineteen85s innovativer Produktion, die zugleich fest in den Grundpfeilern des R&B der goldenen Ära verankert ist. Anonymität in der Musik muss kein Hindernis für den Erfolg sein – man frage einfach Daft Punk. Und so vermeidet auch das R&B-Duo DVSN ihre Persönlichkeiten im Vergleich zu ihren R&B-Kollegen, nämlich Miguel und Drake (auch ihr Label-Chef), ins Rampenlicht zu stellen. Der Sänger Daniel Daley und der Produzent Nineteen85 ziehen es stattdessen vor, dass ihre Musik für sich selbst spricht, und das tut sie seit dem Debüt von 2016 sehr erfolgreich. „Sept 5th“ und der Nachfolger „Morning After“ aus dem Jahr 2017 klingen warm und leidenschaftlich, ohne krank oder zuckersüß zu wirken. „Sept 5th“ war eine starke Absichtserklärung und „Morning After“ gelang es, die Qualität trotz des thematischen Übergangs von Romantik zu Herzschmerz aufrechtzuerhalten. Bei diesem dritten Album ist die Produktion von Nineteen85 zurückgegangen und Daley’s Gesang ist nun weniger ein Instrument, als vielmehr ein Schwerpunkt gegenüber früheren Veröffentlichungen. Den Beweis gibt es im Intro. „No Good“ schimmert wie Licht, das von einem Swarovski-Kristall reflektiert wird. In Abweichung von einem Großteil der Musik bei ihrer letzten Veröffentlichung, ist Daley’s Stimme der klare Star der Show. Die Produktion ergänzt seine Stimme und passt perfekt zu dieser gequälten Trennungshymne. Hier spricht eine Frau über ihre Angst, verletzlich zu sein. Worum geht es bei R&B-Alben? Das wir das Gefühl haben, jemandes Therapiesitzung zu belauschen? Starke Eröffnung.

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Einige der besten Tracks sind diejenigen, die sich an die bewährte Slow Jam-Vorlage halten. „A Muse“ ist eine Ballade, die des Besten der Branche würdig ist. „Still Pray For You“ nimmt klassische Soul-Einflüsse auf, ohne banal zu klingen und das Usher-Sampling „Between Us“ nickt mit dem Kopf zu seinen Einflüssen, während es frisch und unverbraucht klingt. Insgesamt ist das Album ein voller Erfolg. Mit ihren bescheidenen Rollen und ihrer subtilen Produktion könnte es ein leichtes sein, die dritte Platte von dvsn zu ignorieren, aber wiederholtes Hören offenbart eine warme und unprätentiöse Platte aus einem Guss, die sich selbstbewusst zu entwickeln beginnt. 8/10

GENRE: R&B


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ucinda Williams’ dreizehntes Album wurde in nur fünfzehn Tagen im November 2019 aufgenommen. Aber in den folgenden fünf Monaten ist das Album in einer völlig veränderten Welt entstanden, aus der es hervorgegangen ist. Musikalisch gesehen ist „Good Souls, Better Angels“ fernab von „The Ghosts Of Highway 20“, einem weitläufigen, trüben Höhepunkt der späten Karriere, das an Neil Young’s unterschätzten und gleichermaßen besiegten „Sleeps With Angels“ erinnert. Während „Sleeps With Angels“ aus dem Äther gerissen wurde, hat Williams’ „Good Souls, Better Angels“ aus dem Dreck gegraben – zwölf Scheiße-werfende-Songs, die von Rechtschaffenheit zu Resignation torkeln. Es gibt tausend Möglichkeiten, Lucinda Williams’ Gesangsstimme zu beschreiben – und es gab sicherlich mindestens so viele während der 40-jährigen Karriere der amerikanischen Singer-Songwriterin – aber „hübsch“ gehört nicht dazu. In den ruhigeren Momenten ihres neuen Albums klingt es wie der schnurrende Motor eines verprügelten Pickups. Wenn sie loslässt, wird es so tödlich, wie der Abzug einer abgesägten Schrotflinte. Sie ließ sich für ihre politische Neigung von Robert Johnson und Bob Dylan inspirieren, mit denen sie im Laufe der Jahre hartnäckig verglichen wurde. Dämonen, das Böse und der Teufel sind in diesem Album im Überfluss vorhanden. “Basically, the world’s falling apart,” erklärte sie in der Pressemitteilung des Albums. Statements könnten nicht viel offensichtlicher als in „Bad News Blues“, dem eröffnenden Stück, zu vernehmen sein. “Bad news hangin’ in the air, bad news layin’ on the ground,” singt Williams, ihre Stimme schaufelt und knurrt, während die Band unter ihr dahin rumpelt. Die Dinge laufen auf Hochtouren. “Who’s gonna believe/ Liars and lunatics/ Fools and thieves/ Clowns and hypocrites?” In „Big Black Train“, das den Blues des Zuges als Metapher für Depressionen verwendet, erreicht sie eine verzweifelte, herzzerreißende Intimität. Aber sie macht uns wirklich fertig, wenn sie auf „Down Past the Bottom“, einer der heftigsten Gesangsdarbietungen des Albums, unruhig tobt. „Good Souls Better Angels“ ist voll von heftiger, faszinierender Musik von einer großartigen Band mit einer faszinierenden Frontfrau und ist es letztendlich ein gutes Album von jemandem, der in der Vergangenheit durchweg großartig war. 7/10

GENRE: BLUES - ROCK

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Hazel English Wake Up!

Das Debütalbum „Wake UP!“ ist ein Album, das aus der eigenen Selbstfindung stammt. Beginnend mit „Born Like“ liefert der Text “Born like / you’re born like / born like any other” die Realitätsprüfung, dass wir alle tatsächlich Menschen sind, während der Titeltrack als öffentliche Bekanntmachung dient, um sich aus der fiktiven Welt des Smartphones zurückzuziehen. Hazel English mag gewichtige Themen des Kapitalismus und Machtkämpfe in Beziehungen angehen, aber das umtriebige Ambiente Ihres Shoegaze und der von den Sechzigern inspirierte Pop wird Sie nicht gerade in eine belebende neue Lebensweise treiben. Dafür wird dieses anmutige Debüt von einer Stimme geleitet, die so süß und ausdrucksstark ist, dass sie sowohl an Lana del Rey als auch an Hope Sandoval erinnert. Der Album-Opener „Born Like“ hat ein West Coast Americana-Feeling mit seinen gefühlvollen, grüblerischen Gesängen, den vielschichtigen Sounds und der Forderung nach „Feel my Electricity“. Der melodische Garagenrock von „Shaking“ folgt mit einem Ohrwurmchor: „You’re shaking, this is an awakening. You’re shaking, I know it’s a lot to take in.“ „Five and Dime“ geht in diesem Sinne weiter, während Hazel darüber spricht, Trost aus einer schwierigen Situation an einem unerwarteten Ort zu finden: „The way you’re looking at me. I feel I can’t breathe. You know you’re in my space“, und „Like a Drum“ erinnert mit seinen verspielten Drums und verträumten Gesängen an die zeitlose Motown-Ära.

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„Combat“ zielt auf einen ätherischeren Sound ab und ist in minimalem Maße erfolgreich, da es dem Song nicht gelingt, die Atmosphäre zu nutzen und etwas Interessantes daraus zu machen. Generell hat man häufig das Gefühl, dass sie etwas eingeschränkt wirkt: In ähnlicher Weise scheint „Milk And Honey“ ständig am Rande einer Explosion in etwas Großes zu stehen … und tut es nie. Unbeabsichtigt frustrierend. Am Ende des Tages ist „Wake UP!“ keineswegs ein schlechtes Album und definitiv in der Lage, seine Zwecke zu erfüllen. Es ist ein Album, das für gelegentliches Hören konzipiert ist, während wir etwas anderes tun: Es kann als absolut akzeptable Hintergrundmusik fungieren. Das ist eine Schande, aber die subtilen Hinweise auf Brillanz, die in dieser Platte enthalten sind, deuten darauf hin, dass Hazel English zu viel mehr fähig ist: Hoffentlich können wir sehen, wie sie diese eingeschränkte Kreativität bei zukünftigen Projekten ablegen wird. 6/10

GENRE: INDIE POP


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Brendan Benson Dear Life

Bei den Raconteurs erweisen sich Brendan Benson’s klassisches Songwriting und Beatles-ähnliche Melodien als die perfekte Vorlage für die eher ungebundenen Momente von Bandkollege Jack White. Aber Brendan’s siebtes Soloalbum „Dear Life“ versucht sich nun selbst im experimentellen Bereich und muss dafür Leergeld zahlen. In „Dear Life“ erkundet Benson sowohl die Rock-Schwere der Raconteurs als auch in geringerem Maße die Power-Pop-Songwriting-Momente, die seine Solo-Arbeit definieren. Der Album-Opener „I Can If You Want Me To“ beginnt mit einem geloopten Vokal-Sample und bearbeiteten Gesängen, programmierten Drums und einem fast Dubstep-artigen Refrain, die zu einer großen Abweichung von allem führen, was Benson zuvor veröffentlicht hat. “So looked over, so underrated/Every move proves to be ill-fated,” sang Brendan Benson 2012 in „What Kind of World“ und fasste seinen abgenutzte traurige Masche in wenigen Worten zusammen. Im Gegensatz dazu ist „Dear Life“ das lebhafteste und selbstbewussteste Album, das er seit seinem Debüt 1996, „One Mississippi“, aufgenommen hat. Es ist das angebliche Ergebnis, das letzte Jahrzehnt damit verbracht zu haben, nüchtern zu werden, eine Familie zu gründen und schließlich als die Hälfte der Raconteurs die allgemeine Anerkennung zu erhalten, die ein Musikschmied seines Kalibers sicherlich verdient.

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Die luftige Positivität des neuen Albums wurde von den Singles „Good to Be Alive“ und „Richest Man“ im Vorfeld angekündet: “I’ve got two beautiful babies/And one hell of a good-looking wife/Got twice the love and half the money/And I feel like the richest man alive,” singt Benson in Letzteres, die einfache Schwachsinnigkeit seiner Texte werden durch die unerschütterliche emotionale Authentizität des Gefühls ausgeglichen. Und während niemand die Texte auf „Richest Man“ mit Poesie verwechseln würde, klingen sie angesichts der jahrelangen Songs, in denen es darum geht, sich verloren und unerfüllt im Single-Leben zu fühlen, tiefgreifend und wahr. Mit seiner Wand aus klingenden Gitarren, fröhlichen Blechbläsern und euphorischen Harmonien ist „Richest Man“ der offenkundigste Wohlfühlsong, den Benson jemals geschrieben hat. Benson’s neue Songs enthalten einfache, aber ansprechende Philosophien, in denen es darum geht, das Beste aus dem herauszuholen, was wir haben. Seien es die Freuden der Ehe und der Elternschaft, oder existenzielle Verzweiflung mit strahlender Bestimmtheit zu bekämpfen. Sogar Songs, in denen der Protagonist Probleme hat, haben einen McCartney-artigen, optimistischen Charme, der von ihrer bloßen Melodie und der Freude an musikalischen Details durchdrungen ist. Es ist so über weite Strecken aufregend zu hören, wie Benson mit diesen Songs neue Risiken eingeht, aber auch eine Ernüchterung, wenn er zu weit geht. Dennoch ist er nie zu weit von dem geschickten Songwriting und der Pop-Sensibilität entfernt, die er seit all den Jahren immer wieder gewinnbringend verfeinert. 6/10 GENRE: ROCK - POP

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arkin’s selbstbetiteltes Soloalbum hat einen professionellen, unverwechselbaren Indie-Sound, der sofort an Wolf Alice und an die Yeah Yeah Yeahs mit einem Schuss Anna Calvi erinnert. Als Tourmitglied von den Wild Beasts, Sleater-Kinney, Courtney Barnett und Kurt Vile hat sich Harkin als angesehene Figur in der Indie-Rock-Community etabliert. Wir können Katie Harkin ihre Verspätung bei der Veröffentlichung dieses lang diskutierten Solo-Debüts deshalb verzeihen. Die Ergebnisse sind überraschend kohärent; Sky Larkin war oft so heftig, dass es an Bombast grenzte, aber dies ist ein Album, das für ein wachsendes Maß an Reife spricht. Die Momente, die an ihre riffgetriebene Vergangenheit mit Sky Larkin erinnern, sind voller Atmosphäre, insbesondere das launische „Decade“ und das frostige „Bristling“, aber oft fühlt es sich an, als würde die Gitarre für Farbe und Interpunktion verwendet (das spärliche „New France“ ist es ein gutes Beispiel dafür). Katie Harkin ist seit ihren Tagen vor dem Leeds-Trio wohl eine der produktivsten Künstlerinnen unserer Zeit geworden und wenn wir die Platte auflegen, werden wir mit „Mist On Glass“ begrüßt, das einen großartigen Bass-Groove erzeugt, der unsere Füße zum Klopfen bringt. Sie zieht die Rhythmusgitarre zurück, um tatsächlich eine solide Songwriting-Fähigkeit darunter zu enthüllen. Es ist ein vollendetes Album, aber es fühlt sich wie ein Debüt an und es gibt hier nichts, was irgendeine Art von Aufregung oder Unterscheidungsmerkmale hervorruft. Und, aber das ist definitiv kein Fehler von Harkin, sie hat das Album zu einer Zeit veröffentlicht, als sie Texte über sozialen Druck schrieb und Stärke von innen heraus fand. Es wirkt so weit entfernt von der Situation, in der wir uns jetzt alle befinden, dass es wirklich schwer ist, sich in diese Welt hineinzuversetzen. Es scheint auf eine Welt zurückzugehen, an die man sich kaum noch erinnern kann. Dies wurde vor der Pandemie geschrieben und man kann sagen – das Letzte, was man hören möchte, ist, jetzt Lebensweisheiten zu leisen Indie-Tönen für komplexe soziale Situationen zu erhalten, die derzeit keiner von uns erleben kann. Es gibt daher eine Menge Emotionen und Selbstreflexion in dem Album, die sie anderen vermitteln möchte und besondere Erwähnungen sollten das dystopische Ambiente von „Red Virginia Creeper“ und die eingängige und komplexe Produktion von „Dial It In“ und „Charm And Tedium“ finden. Auch wenn es nicht in die Zeit passen will, so hat sich die Multiinstrumentalistin mehr als fähig bewiesen, mit sich selbst umzugehen – und zeigt uns hier ihr kunstvolles Talent für aufrichtiges Songwriting.

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6/10

GENRE: INDIE POP


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Whitney Rose

We Still Go To Rodeos Unter einem bestimmten Gesichtspunkt könnte der Titel „We Still Go to Rodeos“ als Whitney Rose gesehen werden, die eine präventive Verteidigung des Eklektizismus in diesem dritten Album in voller Länge betreibt: Obwohl sie sich einer Vielzahl von Klängen und Stilen hingibt, spielt sie immer noch Country-Musik. Rose ist zwar wie in ihren vorherigen Aufnahmen im Country verwurzelt, aber es ist eine weitreichende Definition dieses Genres, das Soul, Rock & Roll, Power Pop und alles umfasst, was entweder als Americana oder Roots Rock klassifiziert werden könnte. Die reinen Country-Einflüsse stehen nun etwas weiter hinten und gemeinsam mit Paul Kolderie haben die neuen Songs nun eine kraftvollere Singer / Songwriter-, Folk / Rock-Ästhetik. Kolderie hält ihre Stimme vorne und die Gitarren, die überwiegend von Dave Leroy Biller gespielt werden, produzieren knusprige, aber melodische Riffs, die nicht weit von denen von Mike Campbell entfernt sind. Manchmal kann Rose das Tempo und die Verstärker ankurbeln – sie tobt auf „In a Rut“, während sie versucht, sich aus der Flaute herauszuziehen – aber normalerweise, wenn das Tempo schneller wird, gibt es ein Knacken und Knurren, was auf eine Kreuzung zwischen Tom Petty und Nick Lowe hindeutet. Ein Großteil von „We Go Go to Rodeos“ brodelt jedoch, ob es nun der südländische Soul-Groove von „You’d Blame Me for the Rain“ oder der sepia-gefärbte Seufzer von „Home with You“ ist, der Geister des 80er-Jahre-Landes beschwört. Rose mag dazu neigen, in die Vergangenheit zu blicken, aber sie ist keine Wiederbelebungskünstlerin. Sie mischt diese vertrauten Klänge auf schlau eigenwillige, persönliche Weise, die „We Still Go to Rodeos“ ein ansehnliches, modernes Gefühl verleihen, das sich von anderen retro-orientierten Americana-Platten, ihren vorherigen Alben inbegriffen, unterscheidet. 7/10

GENRE: AMERICANA - COUNTRY

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Junk Drawer

Ready For The House Das erste Auffällige an Junk Drawer’s Debütalbum hat eigentlich nichts mit der Musik zu tun. Wenn wir uns den Albumtitel und den Bandnamen ansehen, scheint es für einen Moment wie ein Auszug aus einer Checkliste, die bestätigt, dass sich Junk Drawer jetzt tatsächlich für dieses Haus bereit fühlen. Während die Absicht dahinter mit ziemlicher Sicherheit nicht existiert, fühlt sich die Vorstellung, dass etwas verworfen und unappetitlich akzeptiert wird, seltsam relevant an, sobald die Musik ins Spiel kommt. „Ready For The House“ ist ein dichtes und oft beunruhigendes Tier, das die erstickenden Gefühle von Selbstzweifeln, Verleugnung, Krankheit, Selbstbestätigung und Akzeptanz nachahmt, die große Mengen junger Menschen plagen, wenn sie durch zermürbende Perioden der Selbstfindung schleichen. Geschrieben vor dem Hintergrund von Depressionen und persönlichen Krisen, unter denen die beiden Sänger und Brüder Jake und Stevie Lennox leiden, ist das Ergebnis ein Nebel aus Apathie und Verzerrung, unterbrochen von gelegentlichen Momenten ermutigender Klarheit. Die Eröffnung ist das bedrohliche „What I’ve Learned / What I’m Learning“, ein Rückblick auf die vielen Lektionen, die wir lernen, während wir verzweifelt versuchen, unseren Weg durch unsere Zwanziger zu finden. Von den Brüdern Jake und Stevie gesungen, ist dies der einzige Track mit gemeinsamem Gesang und enttäuscht nicht. „Year Of The Sofa“ ist eine ruhige und lässige Ballade. Diese Nummer ist weicher als der Einführungs-Track der Platte, düster und dennoch elegant von Falsett-Gesängen und klimatischen Instrumentierungen gehalten.

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„Mumble Days“ erhebt sich mit wirbelnden Power-Akkorden, eine Gegenüberstellung zu einem Song, der offen die Probleme der Band mit ihrer psychischen Gesundheit anspricht. „Ready For The House“ bietet eine Vielzahl von Klängen, die insgesamt einen soliden amerikanischen Underground-Sound der 90er Jahre bewahren. „INFJ“ bietet jedoch wohlüberlegte Gitarren-Parts und übersteuerte Biegungen, die zu seinem mehrdeutigen Thema passen und auf klassische Rock-Einflüsse hinweisen. Das glückselige, psychedelische Gefühl der 70er Jahre von „Temporary Day“ trägt ebenfalls dazu bei. Zum Abschluss von „Pile“ packen Junk Drawer mehrfarbige Melodien zusammen und führen Sie mit verzerrten Instrumenten und fauler Stimmabgabe über ihre spirituelle Reise. Während des gesamten Albums erzählt das Quartett eine Menge erschreckender Geschichten, in denen es um psychische Erkrankungen und bessere Tage geht. „Ready For The House“, das von den Brüdern Jack und Stevie Lennox gemeinsam geschrieben wurde, ist ein sehr reales und unberührtes Bild ihrer eigenen Kämpfe und wird durch die kaleidoskopischen Riffs und die ungewöhnliche Gesangsdarbietung perfekt illustriert. 8/10

GENRE: ART ROCK


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est. 09 www.mariastacks.de


VORSCHAU It's been a long time since I've wanted to hear all albums every day, let alone more than once a day.

DIE GESCHICHTE DER WHITE STRIPES Ausgabe 03/2020




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Brendan Benson – Dear Life

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pages 129-130

Whitney Rose – We Still Go To Rodeos

3min
pages 133-134

Hazel English – Wake Up

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Lucinda Williams – Good Souls, Better Angels

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Rina Sawayama – Sawayama

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EOB – Earth

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Lido Pimienta – Miss Colombia

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Laura Marling – Song For Our Daughter

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Yves Tumor – Heaven To A Tortured Mind

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Ellis – Born Again

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Anna Burch – If You’re Dreaming

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pages 85-86

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Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs Pigs – Viscerals

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Nap Eyes – Snapshot Of A Beginner

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pages 77-78

Thundercat – It Is What It Is

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pages 83-84

Dua Lipa – Future Nostalgia

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pages 73-74

The Libertines (2004

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The Libertines - die Jahre 1997 - 2004

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pages 67-68

Pearl Jam - Gigaton

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Up The Bracket (2002

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The Chats – High Risk Behaviour

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Little Dragon - New Me, Same Us

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Basia Bulat - Are You In Love?

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Waxahatchee – Saint Cloud

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