MariaStacks N°01/2020

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N° 1

Jan/Feb 2020

8 Seiten

T LKING HE DS

A

A

Die Jahre 1977 bis 1988

AGNES OBEL DIE DÄNISCHE BERLINERIN HAT WOMÖGLICH JETZT SCHON DAS BESTE KAMMER-POP-NOIR-ALBUM DER 2020ER GELIEFERT



EDITORIAL

Die dänische Musikerin Agnes Obel suchte die Isolation, um kreativ zu sein. Agnes Obel ist zurzeit eine der spannendsten Künstlerinnen des Unheimlichen, wie ihr auch kein Geringerer als Psycho-Horror-Regisseur David Lynch schon vor einer ganzen Weile attestierte und sich bei der Dänin mit einem nicht in Auftrag gegebenen Remix bedankte. Wer also Agnes Obel bisher für die Frau hielt, die entspannende Betthupferl-Balladen chantiert und dazu bisschen Easy Listening auf dem Klavier klimpert, sollte sich vor dem ersten Hörerlebnis dringend mit einem Psychotest auf Tauglichkeit untersuchen lassen. Die Bildhauerin des Pops begeistert aber nicht nur mit Ihren leuchtenden Arrangements, sondern auch mit der sanften und samtigen Stimme, die auf all den sparsamen Tönen liegt und diese gewinnbringend umschmeichelt. Obel hat für die neuen Songs die Isolation gesucht und sich dafür in ihrem Berliner Studio verschanzt. Eine Tugend, die nun zur Pflicht geworden ist. ab Seite 120


I N HA LT E L EC T RONIC

AMBIE NT

CARIBOU SUDDENLY SEITE 118

POLIÇA WHEN WE STAY ALIVE SEITE 44

Kritiken

Die dänische Berlinerin hat womöglich jetzt schon das beste Kammer-PopNoir-Album der 2020er geliefert.

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Selena Gomez - Rare Circa Waves - Happy Alexandra Savior - The Archer The Big Moon - Walking Like We Do Pintandwefall - Your Stories Baby Georgia - Seeking Thrills Halsey - Maniac Holy Fuck - Deleter Alice Boman - Dream On Algiers - There Is No Year Pinegrove - Marigold Boris Brejcha - Space Driver Bombay Bicycle Club - Everything Else Has Gone Wrong Pet Shop Boys - Hotspot Wire - Mind Hive Aoife Nessa Frances - Land Of No Junction Twin Atlantic - Power The Black Lips - Sing In A World That’s Falling Apart Wolf Parade - Thin Mind Nicolas Godin - Concrete And Glasses Poliça - When We Stay Alive Destroyer - Have Me Met Squarepusher - Be Up A Hello TORRES - Silver Tongue Dan Deacon - Mystic Familiar


POST PU N K

SHOPPING ALL OR NOTHING SEITE 82

E LE CTRONIC

HALSEY MANIAC SEITE 16

INDIE POP

ALICE BOMAN DREAM ON SEITE 20

56 58 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112

Squirrel Flower - I Was Born Swimming Frances Quinlan - Likewise Kesha - High Road ALA.NI - ACCA Green Day - Father Of All... Beatrice Dillon - Workaround La Roux - Supervision Isobel Campell - There Is No Other... Gil Scott-Heron - We’re New Again Nada Surf - Never Not Together Shopping - All Or Nothing Frazey Ford - U Kin B The Sun HMLTD - West Of Eden Stone Temple Pilots - Perdida The Lone Bellow - Half Moon Light Tame Impala - The Slow Rush Moses Boyd - Dark Matter Beach Bunny - Honeymoon Katie Gately - Loom Tennis - Swimmer Nathaniel Rateliff - And It’s Still Alright Tami Neilson - CHICKABOOM! Bambara - Stray Boniface - Boniface Kvelertak - Splid

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Soccer Mommy - Color Theory Best Coast - Always Tomorrow Caribou - Suddenly Agnes Obel - Myopia Lanterns on the Lake - Spook The Herd Peggy Sue - Vices Banoffee - Look At Us Now Dad Allie X - Cape Good Spinning Coin - Hyacinth Real Estate - The Main Thing

Special « Talking Heads » 60 62 64 66

Talking Heads: 77 (1977) More Songs About Buildings and Food (1978) Fear of Music (1979) Remain in Light (1980) Speaking In Tongues (1983) Little Creatures (1985) True Stories (1986) Naked (1988)

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Selena Gomez Rare

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Als die Sängerin 2014 und 2016 ihre ausgedehnten Tourneen absagte und sich auf Erschöpfung und Krankheit berief, es stellte sich heraus, dass sie an Angstzuständen und Depressionen litt, die durch die Autoimmunkrankheit Lupus hervorgerufen wurden, hat die mittlerweile 27jährige Selena Gomez anscheinend einen stabileren Ort erreicht. Für „Rare“, dem dritten Album, wählte Selena als erste Single „Lose You to Love Me“, eine spärliche, auffällige Klavierballade. Und auch nahezu jedes weitere Lied zeigt hier eine Lehre in Selbstliebe und Akzeptanz, Triumph über Härte und Hasser und den scharfen Kritiker in ihr selbst. “Is there a place where I can hide away?”, fragt sie sich in „A Sweeter Place“, bevor sie sich einen solchen Ort vorstellt: „“Out of the scene / Out in the wild … Up in the clouds / Far from the crowds.” Die Poesie ist also nicht die beste, aber der flehende Ton ihrer Stimme, umgeben von verträumten Synthesizern, die teilweise von Kid Cudi produziert wurden, überzeugen, dass sie mehr versucht, als nur Ihren Marktwert zu halten. In der Tat macht Gomez – die sehr wohl an der Aufrechterhaltung ihres Rufs interessiert ist – eine ungewöhnlich sympathische Figur auf „Rare“, die sie nach Jahren des schlauen, aber unwesentlichen Produkts als Künstlerin mit ausgeprägter Sensibilität und einem klaren Sinn für Kunst gewinnbringend erweitert. Gomez’ Alben funktionieren am besten, wenn sie keinen Trends nachjagen oder offensichtliche Dinge tun, und davon gibt es hier glücklicherweise kaum etwas. Einzig das Havanna-artige „Ring“ fällt diesem speziellen Problem zum Opfer. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich Gomez jemals an die Spitze des Pops wagt, aber „Rare“ beweist, dass sie, wenn sie starke Songs hat und die Produzenten ein bisschen von der Norm abweichen, gerade genug außerhalb des Mainstreams ist, um frisch zu klingen. Man füge noch einige tief empfundene und echte Emotionen hinzu, wie sie es hier tut, und es scheint etwas Besonderes zu sein, vielleicht ihre bisher beste Platte. Wenn es das nicht ist, ist es zumindest ihr bisher interessantestes Album und das sollten Fans der homogenisierten Popszene der Ära feiern. 7/10

GENRE: POP

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Circa Waves Happy

Es ist keine leichte Aufgabe, einen einzigartigen Weg in der Popmusik zu finden, da der Großteil des Genres formelhaft ist und sich so schnell entwickelt, dass nicht viel darüber nachgedacht wird. Dies ist jedoch bei den Circa Waves kaum der Fall. Das eröffnende Stück „Jacqueline“ zieht uns musikalisch an und bringt uns zum Tanzen. Es sind jedoch die tiefen, bedeutungsvollen Texte, die die Circa Waves von den meisten anderen Pop-basierten Acts unterscheiden. Obwohl diese meist vage gehalten sind und das eigentliche Thema meist nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wird, gibt es eine wirklich gut geschriebene Aussage: “it’s hard to make sense out of the movie when you’re in the starring role“. Und diese führt uns zu dem, was aus der Sicht eines guten Freundes zu einem dringend benötigten Maß an ehrlicher Ermutigung führt. Indem die Circa Waves klugerweise nicht konkret werden, womit uns „Jacqueline“ eigentlich konfrontiert, lassen sie uns den gesamten Song für Hörerinterpretationen offen – wir können uns selbst und unser eigenes Problem in den Song einfügen, wie wir es für richtig halten. Im weiteren Verlauf klingt jeder Track deutlich anders als der nächste. Der verführerische, flockige Song „Be Your Drug“ verbindet Post-Punk mit amerikanischen Alt-Rock und bringt einen herzklopfenden Stampfer zum Vorschein. Der letzte Track „Love You More“

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beendet die Platte mit einem dauerhaften, ansteckenden Glücksgefühl. Es ist ein Lied über das Verlangen nach jemandem, der nicht genauso empfindet. Es gibt uns eine Vorstellung davon, wie der zweite Teil der Platte „Sad“ klingen wird. „Happy“ ist fröhliche Musik. Es ist der Sonnenschein aus den vorherigen Tracks „T-Shirt Weather“ und „Movies“, aber eine klare Weiterentwicklung der letzten Veröffentlichungen. Die Circa Waves wissen, wie wichtig es ist, neue Wege zu gehen, um ihre künstlerische Arbeit zu verbessern. Sie sind hier, um Musik von Dauer zu machen und indem sie ihr Album in zwei Teilen veröffentlichen, bekämpfen sie den unersättlichen Hunger der modernen Welt, wenn es darum geht, Musik schnell zu konsumieren. 7/10

GENRE: INDIE ROCK

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Alexandra Savior The Archer

Das zweite Studioalbum „The Archer“ von Alexandra Savior wurde mit Hilfe von Sam Cohen als Produzent und unter der Schirmherrschaft des neuen Danger Mouse Labels 30th Century Records realisiert. Darauf zu hören ist eine 24-jährige Musikerin, die endlich Songs gemäß ihrer Identität und ihren Vorstellungen schreiben und kreieren konnte. Zu Beginn ihrer Karriere hatte sie das Gefühl, dass die Menschen um ihr herum es nicht erlaubten, in Übereinstimmung mit ihrer wahren Identität zu leben, über sie bestimmten, um etwas zu sein, von dem andere dachten, dass es zu ihr als Sängerin passen würde. „The Archer“ ist eine Manifestation all dieser Erfahrungen in den letzten Jahren. Dieses Album enthält Angst, Trauer und Wut über eine Karriere als Musikerin und als Frau, die ungesunde Beziehungen erlebte. Gegenüber dem wilden Debüt zeigt uns dieses Album aber auch vermehrt die sanfte und anmutige Seite der amerikanischen Sängerin. Während den zehn neuen Songs vertieft sich Savior in Melancholie, Herzschmerz und überzeugt mit klaren Metaphern und einem bluesigen Sound. Ausgelöst von dem Gefühl, in jemanden verliebt zu sein, der aber von einem selbst tief enttäuscht ist, trägt sich Savior mit lebhafter Coolness durch die gesamte Spieldauer, wobei jeder Titel darauf abzielt, eine bestimmte Emotion widerzuspiegeln. „Crying All The Time“, dem ersten für dieses Album geschriebene Lied und von diesem Thema maßgeblich inspiriert wurde, ist ein echtes Highlight. Mit der großartigen Produktion

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und dem körnigen Gesang fühlt es sich an, als wäre es einem Film von Quentin Tarantino entsprungen. Es steckt auch Substanz dahinter, als sie über ihre verlorene Liebe nachdenkt: “My death, it haunts him like a ship / Without a sail.” Auch Songs wie das eröffnende „Soft Currents“, oder „The Archer“ sind einfach, aber erblühen und entwickeln sich zu den beeindruckendsten Songs, die sie je geschrieben hat. Es gibt viele Songs, die eine gemeinsame DNA mit „Belladonna of Sadness“ haben, wie das ausgefallene und dunstige „Saving Grace“, aber die Dinge sind im Allgemeinen heller gehalten, wie im hübschen und verspielten Track „Can’t Help Myself “, oder im lockeren, weniger konventionell strukturierten „The Phantom“. Im Zentrum des Ganzen bleibt sie immer noch eine überzeugende Erzählerin, mit einer Stimme, die unsere Hand hält und uns durch ihre musikalische Welt führt. Savior bleibt ihren träumerischen Klängen treu, zeigt aber in „The Archer“ mehr kreative Unabhängigkeit. Die Klangvielfalt, mit der Songs voller nachdenklicher Traurigkeit geschaffen wurden, sowie die Ästhetik in ihren Texten, verweisen und festigen die hohe Kunstfertigkeit der Alexandra Savior. 9/10

GENRE: BLUES ROCK


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as eröffnende Stück „It’s Easy Then“ auf dem zweiten Album „Walking Like We Do“ ist lyrisch, thematisch und klanglich expansiv und berührt soziale Ungleichheit und Frustration in dem aktuellen politischen und gesellschaftlichen Klima. In „Dog Eat Dog“, inspiriert durch das Feuer im Grenfell Tower, beklagt Sängerin Jules die Ungerechtigkeit: “Around here, they say it’s dog eat dog but / it’s more like pigeon eating like fried chicken on the street”. Musikalisch wird man bemerkt haben, dass The Big Moon ihre Signature-Gitarren gegen Keyboards und einen Sound getauscht haben, der mehr von den 80ern inspiriert ist. The Big Moon suchen die Herausforderung und zeigen mit der klanglichen Neuausrichtung, dass sie keine Angst haben, die eigene Komfortzone zu verlasen und sich als Musiker, Songwriter und als Mensch neu zu definieren. The Big

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Moon sind eine von Natur aus altmodische Besetzung aus Schlagzeug, Bass, Gitarren und Keyboards, die live auf der Bühne mit harmonischem Gesang begeistern und dabei keine Computer nutzen. Der Sinn für gemeinsame Werte spiegelt sich in dem subtil abgestimmten Look der Gruppe, die langen Haaren und der lässigen Indie-Kleidung, wider. Ihre Videos haben einen verrückten Charme, sie verkörpern eine starke Zusammengehörigkeit und tragen es wie einen Schatz


in sich. Was sie ebenso besonders auszeichnet, ist das Talent der Songwriterin, Sängerin und Gitarristin Juliette Jackson, einer witzigen Texterin mit melodischem Schwung und einer gesprächigen, lockeren Ausdrucksweise. Sie bleibt sehr im Zentrum ihres zweiten Albums, aber ihr Schreiben hat sich vertieft, während sich die Palette der Band erweitert hat. “I never saw the tide coming, I only saw the waves,”singt sie über ein unvorhergesehenes Auseinanderbrechen in

„Waves“, einem wunderbar strukturierten Song, der Jackson’s Selbsttäuschungen widerspiegelt. Sie trauert um ihre Freunde im bittersüßen Barcelona, die ​​ wegziehen, erfolgreich werden und ein erwachsenes Leben führen: “I may be present, but I’m not all here.” Jackson ist einfühlsam und temperamentvoll, als sie über ihre Befürchtungen singt, zurückgelassen zu werden. Während sich ihr Debüt auf Romantik und soziale Sitten konzentrierte, widmet sich „Walking Like We Do“ der Generationsangst in apokalyptischen Zeiten, wenn auch mit einer Leichtigkeit, die den Geist des Optimismus bewahrt. Das Ergebnis mag letztlich etwas seltsam und unmodern sein, aber eines der großen Vergnügen von „Walking Like We Do“ ist, dass es einfach nur von The Big Moon gemacht werden konnte. 7/10

GENRE: INDIE ROCK

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Pintandwefall

Your Stories Baby

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Die finnische Supergruppe Pintandwefall ist seit über einem Jahrzehnt dabei und auf dem neuen Album, dem ersten seit 2017, können wir hören, wie sich die Handwerkskunst im Laufe der Jahre entwickelt hat. Die musikalischen Elemente sind in der Mischung ziemlich reduziert, was perfekt ist, da sich die Tracks wirklich nur um die Gesangselemente drehen. Wundervoll sind die leicht engelhaften Töne der Sängerin Ninni Luhtasaari hier, aber es wäre nicht annähernd so erfolgreich, wenn Sie nicht die chorale Atmosphäre dahinter hätte. Es ist die stimmliche Textur von ihrer besten Seite. Das einstige experimentelle Garage-Projekt mit vier Frauen hat sich zu einer Band entwickelt, deren Kreativität in den Projekten der Mitglieder an einigen Orten noch stärker gedeihen, als in ihrer Hauptband. Trotzdem ist Pintandwefall bestenfalls größer als die Summe seiner Teile. „Your Stories Baby“ ist eine vielseitigere und durchdachtere Angelegenheit als das vorherige Pintandwefall Album „Red and Blue Baby“, das im Rückblick ein hübsches eindimensionales, gut aussehendes Album war, aber nun durch den eigenen Nachfolger entthront wird. Das post-apokalyptische Liebeslied „World of Dirt“ taucht in die zynische und graue Welt der Environmental-Katastrophe ein und findet diese auch inmitten eines angespannten unteren Endes. Während die Stimmung düster ist, der Schweiß in Strömen fließt und der Galgen überhängt, hat das melodische Rasseln des Songs Haken und schöne Übergänge. Wenn wir den ersten Teil also entfernen, finden wir Leichtigkeit und Behaglichkeit. Als würde nach einer stechenden Wüstenwanderung für einen Moment die Oase Wirklichkeit werden. Natürlich muss man dann wieder in den Sandsturm eintauchen. Die Reife der Band wärmt sich noch immer an der unkomplizierten Machart des Garage Rocks von Pintandwefall’s ersten Alben und bietet eine neue, schmackhafte Mischung aus verschiedenen Aspekten der Band. Das Material ist hervorragend und der Produzent Risto Ylihärsilä lässt den Klängen genau dann ihren freien Lauf, wenn wir diese brauchen. 7/10

GENRE: INDIE ROCK

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Das freudvolle Cover zu Georgia’s zweitem Album „Seeking Thrills“ wurde von der San-Francisco-Fotografin Nancy Honey geschossen, die in den 1980er Jahren junge Frauen an Abenden im Norden Englands fotografierte. Honey’s Foto fängt die seltsame Spannung der Tanzfläche ein: Es ist ein öffentlicher Raum, ja, aber auch ein zutiefst individualistischer, in dem Feiernde ihre eigenen Erzählungen im Einklang zum Ausdruck bringen. Es ist dieser Widerspruch, der sich über eine tadellos produzierte Platte zieht und gemeinsam mit der neu gewonnenen Nüchternheit, besticht das Album durch intensive Klarheit und eine allumfassende Lebenslust, die diese 13 Tracks von einer bewanderten Hommage an die großartigen

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Tanzszenen – wie Chicago House und Detroit Techno – in ihr eigenes Reich hebt. Die in London ansässige Produzentin und Sängerin beginnt mit „Started Out“, das die düstere Basslinie von Fingers Inc.’s „Mystery of Love“ aufgreift und in etwas Besseres verwandelt. Von hier aus wirbelt sie durch eine labyrinthische Platte, die zwischen dem schreienden Punk von MIA in „Feel It“ und den schlurfenden, schreienden Texturen von Frankie Knuckles schwankt. Während das selbstbetitelte Debüt von 2015 eine ruhige Grundlage bildete, lehnt sich Georgia bei „Seeking Thrills“ viel stärker an die Late-Night-Grooves an, die ihren Durchbruch unterstützt haben. Es gibt keinen Mangel an Ideen,


„I Can’t Wait“ fährt entlang der Regenbogenstraße und Songs wie „About Work the Dancefloor“ (mit Abstand ihr eingängigster Song) zeigen, dass der Drang, sich im Club zu verlieren, genauso groß ist wie sich in jemanden zu verlieben. Während dieser Track glitzernder Synth-Disco ist, der Robyn’s Bestleistung in nichts nachsteht, ist das ebenso überzeugende „Never Let You Go“ eine rasante New-Wave-Nummer mit der Kraft einer ganzen Band. Insgesamt hinterlässt ihr zweites Album jedoch den überwältigenden Eindruck einer Musikfanatikerin, die auf der Tanzfläche Menschen zusammenbringen kann. Ein Track wie „Feel It“ hat eine flatterhafte Qualität, die sich von einem Pop-Konfekt

zu etwas viel gezackterem verwandelt. Georgia kennt ihre Tanzmusikgeschichte und weiß, wie ein Rave im Jahr 2020 aussehen soll: feierlich und gemeinschaftlich. Wie das erste Georgia-Album ist „Seeking Thrills“ ein raffiniertes, emotional komplexes Pop-Werk und ein aufschlussreiches Dokument ihres Lebens, das sich unter den Lichtern der Discokugel zu voller Schönheit entfaltet. 8/10

GENRE: NEW WAVE

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Halsey Maniac

Als sie gerade dabei war, ihr drittes Studioalbum im Jahr 2019 fertig zu stellen, sagte Halsey in einem Interview des Rolling Stone, die Platte würde „hip-hop, rock, country, fucking everything because it’s so manic. It’s soooooo manic.“ Und so entschied Halsey, dass „Manic“ der richtige Titel für dieses hochkarätige Album ist. Die erste Veröffentlichung seit 2017, „Hopeless Fountain Kingdom“, hat dazu beigetragen, dass sie regelmäßig an der Spitze der Charts steht. Wie sich herausstellt, ist „Manic“ in der Tat ein passender Name für ein Album, das so viele Wendungen aufweist, dass es sich wie eine Doppel-LP anfühlt. Eine solche Beschreibung ist jedoch leicht irreführend, was darauf hindeutet, dass das Album eine Reihe von deutlichen Stimmungsschwankungen aufweist, wenn es sich um eine Momentaufnahme handelt, die zwischen geschmackvollen, formverändernden Hybriden pendelt und die Wiedergabelisten aller Genres bevölkert. Hört man genau zu – bestimmte Stilaspekte setzen sich durch – eine mit den Fingern ausgewählte Gitarrenlinie rollt hier entlang, es gibt einen schlagenden Reggae dort – und ihre Auswahl an Gaststars sagt alles. Alanis Morissette – die in gewisser Hinsicht die 1.0 Version von Halsey ist – konkurriert mit Rapper Dominic Fike und Suga von der K-Pop Sensation BTS, wobei jeder ihrer Auftritte als „Zwischenspiel“ bezeichnet wird. Der Mangel an konkreten Songtiteln unterstreicht die Präsenz von Künstlern, die unterschiedliche Genres bedienen. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass „Maniac“ scheinbar verstreute Auftritte verdeckt, dass Halsey das Album so konzipiert hat, dass es ein möglichst breites Publikum anspricht und all diese Klänge rationalisiert, damit sie in jeder erdenklichen Playlist einen Platz finden. Textlich überzeugte bereits die

Single „Without Me“, eingebettet in der eingängigen und modischen Trap-Produktion, und diese Besonderheit treibt auch „Maniac“ an. Wo der Pop in der Vergangenheit mit breiten Pinselstrichen in die Songs gemalt wurde, die für jedermann relevant sein könnten, verwendet Halsey eine fein geschärfte Feder. “I’m so glad I never ever had a baby with you / cause you can’t love nothing unless there’s something in it for you”; “Nobody loves you, they just try to fuck you / and put you on a feature on the B-side”, niemand wird tatsächlich genannt, aber diese Zeilen lassen uns trotzdem mitfühlend zusammenzucken. Letztere Zeile stammt aus dem wunderschönen „929“, in dem sich Halsey danach sehnt, “for my father to finally call me” – zu diesem Zeitpunkt fühlt es sich an, als würde man weinen, nachdem wir einen Blick in ihr Tagebuch geworfen haben, während Halsey gerade neuen Wein holen geht. „Maniac“ erzählt Geschichten voller Wahrheiten und Samples verleihen den Songs ihr fließendes Rückgrat, dass dem Album letztlich einen wilden Charme verleiht. Zwar schwelgt „Maniac“ in dem erforschenden Genre-Pop-Bombast, aber es ist die Seele, die hier so dominant leuchtet und dieses Album zu etwas ganz besonderem macht. 8/10

GENRE: ELECTRONIC

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it einer beeindruckenden Liste an Gästen, darunter Hot Chip’s Alexis Taylor, Nicholas Allbrook von Pond und Liars’ Angus Andrew, gleicht das vierte Studioalbum von Holy Fuck einer elektronischen Achterbahn, die verschiedene Genres, Tempi und Stimmungen vereint, um eine beeindruckend nahtlose Platte zu kreieren. Die Toronto Electro-Rock-Gruppe Holy Fuck hat es geschafft, ihre Junk-Shop-Ästhetik zu einer überraschend stimmigen Form verzerrter Popmusik zu verfeinern. Nach dem hervorragenden „Congrats“ von 2016 und der tanzorientierteren Begleiterin „Bird Brains EP“ schärft die Band ihren Fokus 2020 noch weiter. „Deleter“ wurde wie ihre vorherigen Alben aus spontanen Jams und Skizzen bei Proben und Soundchecks geboren. Zu diesem Zeitpunkt ihrer Karriere ist die Chemie der Gruppe so stark, dass die Musik von Natur aus von selbst zu fließen scheint, und sie haben noch nie so engmaschig geklungen. Nachdem vergrabene, verzerrte Gesänge in ihre letzten Veröffentlichungen zum Einsatz kamen, haben hier die eingangs erwähnten Gäste diesen Maschinenrhythmen eine etwas menschlichere Note verliehen. Schon beim ersten Anhören wird schnell klar, dass es in „Deleter“ viel zu entdecken gibt und dass das wiederholte Hören neue und subtile Nuancen aufweisen wird. Mit vielen Genres, die immer wieder durchbohrt und erkundet werden, bewegt sich der Hörer mehrmals auf und ab, angefangen von angespannten, basslastigen Momenten in „Luxe“ und „Moment“, bis hin zu langsameren, synthgeladenen, chilligeren Rhythmen in „Near Mint“ oder „Endless“. Insbesondere mit „Free Gloss“ fühlen wir uns wie im Neonlicht auf einer sonnenbeschienenen Tanzfläche. „Deleter“ ist eine entzückende und hoch nuancierte Mischung aus pulsierenden Krautrock-Elementen, umtriebigen Gitarren, Deep-House-Traumlandschaften und motorischen Percussions. Voller Lebensfreude ist der sättigende Sound des Albums sowohl verspielt als auch turbulent. Es ist nicht so, dass Holy Fuck eine völlig andere Einheit sind als 2005. Es ist nur so, dass sie zumindest im Studio (teilweise) zu neuen Ufern weitergezogen sind. Vielleicht passt es also, dass die ersten Worte, die wir auf „Deleter“ hören, die immer wieder faszinierende Transformation ziemlich prägnant zusammenfassen: “I’d like to scrap all of this / And start over again”. 8/10

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GENRE: ELECTRONIC - DREAM POP


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Alice Boman Dream On

Das lang erwartete Debüt der schwedischen Künstlerin ist sicherlich ihre bisher beste Leistung. „Dream On“ ist wahrlich hinreißend, die zehn erhabenen Tracks verschmelzen fast zu einem einzigen eindringlichen Erlebnis. Bestimmte Songs stechen hervor: „Heart On Fire“ ist eine aus dem Gleichgewicht geratene, leise verheerende Ode an eine Liebe, von der sie sich wünscht, sie hätte es nie gegeben, während „This Is Where It Ends“ ein Slowburner ist, spärlich beginnt und sich zum mitreißenden Höhepunkt der Platte entwickelt, in dem Boman einfach ihre Erklärung, “it’s over”, wiederholt. Boman’s Stimme ist hypnotisch, liegt gespenstisch auf den Noten und ist von der zarten Einfachheit ihrer Texte nicht zu trennen. Die Klanglandschaften, die sie heraufbeschwört, sind absolut umfassend und schichten Synthesizer mit hübschen Piano-Noten, Gitarren mit eindringlichen Steel-Pan-Riffs, mit einem gleichmäßigen Ambiente und einer zarten Romantik, die an die Arbeit von Cigarettes After Sex erinnert. Aus einer Gesamtperspektive ist es jedoch eine Klarstellung eines Sounds, der immer noch bemerkenswert intim und haudünn wirkt. Das Album beginnt mit dem melancholischen „Wish We Had More Time“, dass den Ton für eine Reihe von Sehnsüchten widerspiegelt und Titel wie „Everybody Hurts“, „It’s OK, It’s Alright“ und „The More I Cry“ tröstend in die Arme nimmt. Starke Emotionen neigen dazu, schnell in Klaustrophobie zu verfallen, aber Boman gleicht den Aufruhr in ihrem Kopf mit ätherischen Indie-Pop-Arrangements aus, die ruhig und gefasst wirken, fast bis

zum Punkt der Gelassenheit. Die Songs entfalten sich auf eine entspannte Art und Weise, Keyboards sickern wie Bodennebel um Boman’s gefiederte Stimme. Sie singt oft, als ob sie in einer kahlen Traumwelt schwebe, ihre Stimme sanft und flehend nach Texten, die zwischen Verzweiflung und Leidenschaft schwingen. Ein Teil dessen, was die Songs auf „Dream On“ so verlockend macht, ist Boman’s Talent für Hooks, die unauffällig erscheinen, bis sie sich unerschütterlich aufdrängen. Die meisten ihrer Refrains bestehen aus einfachen Phrasen, die sie wiederholt – eine sofort wirksame und eindringliche Herangehensweise. Das Album schließt mit „Mississippi“, einem kurzen, sparsamen, selbst aufgenommenen akustischen Beitrag, der davon handelt, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft zu stehen und dennoch die Vorwärtsbewegung zu antizipieren. „Dream On“ ist letztlich ein erstaunlich beeindruckendes Debüt und strahlt eine Intimität und Emotion aus, die grenzenlos erscheint. 9/10

GENRE: INDIE POP

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Algiers

There Is No Year Das dritte Album „There Is No Year“ der in Atlanta ansässigen Algiers, wurde von Randall Dunn und Ben Greenberg gemeinsam produziert. Es erweitert die Reichweite ihrer vorherigen Ausflüge und bietet gleichzeitig eine strategisch besser artikulierte, disziplinierte Musikalität, ohne ihren Kernklang, oder ihre emotionale Wirkung zu beeinträchtigen. In einem heißen Eintopf aus Post Punk, mutiertem Gospel, chaotischem Blues und verwüstetem Funk und Soul fügen sie ihrem Angriff schmutzigere elektronische und industrielle Elemente hinzu. Pulsierende Synthesizer und elektronische, klappernde, mechanisierte Beats lassen den Titeltrack beginnen und reflektieren eine schreckliche Welt und beleuchten die Schrecken, die sich in den Augen verbergen. Dies geschieht mit Hilfe von Fischer’s impressionistischen lyrischen Beschwörungen, die auf einem epischen Gedicht basieren, das er Misophonia nennt und das auf der Suche nach Sinn in einer längeren persönlichen Angstperiode verfasst wurde. Wie schon beim selbstbetitelten Debüt von 2015 und „The Underside of Power“ aus dem Jahr 2017, soll das neueste Werk der Band nicht nur persönlich, sondern auch politisch eine revolutionäre Energie hervorbringen und musikalisch im Zuhörer. Leider hört es sich über weite Strecken so an, als hätten sie etwas von ihrem Funken verloren. Das gleiche gilt auch für „Hour of the Furnaces“. Zumindest „Chaka“ überzeugt mit einem stark bearbeiteten Saxophon-Solo, das den Song in eine interessante No-Wave-Richtung treibt. Die Band hat sicherlich immer noch Rhythmus im Blut, besonders im Bassspiel von Ryan Mahan, aber es ist frustrierend zu sehen, dass ihr einzigartiger Sound unter Synthesizern so gedämpft klingt und einfach nicht gut in die Mischung passen will. Das Ergebnis ist letztlich ein Album, das Algiers nachweisliche Vorliebe für radikales politisches Songwriting unter den schlimmsten Impulsen der Synths vergräbt. 6/10

GENRE: BLUES ROCK

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Pinegrove Marigold

Nur ein Jahr hat es gedauert, bis Pinegrove, die Band aus New Jersey, mit neuem Album zurück kehrt. „Marigold“ ist die mittlerweile vierte Platte und die erste Veröffentlichung auf dem britischen Label Rough Trade. Bekanntheit erlangten Pinegrove leider durch etwas anderes als Musik, nämlich als der Sänger Evan Stephens Hall bekannt gab, dass er von einer Frau, mit der er eine Beziehung hatte, wegen „sexueller Nötigung“ (verbal, nicht physisch) angeklagt worden war. Im Zuge der Bekanntgabe wurden einige andere Details enthüllt. Hall und sein Anwälte kamen durch einen privaten Vermittler zu einer Lösung, und die Gruppe war ein Jahr lang außer Sicht. Jetzt sind Pinegrove aber mit ihren ersten neuen Aufnahmen zurückgekehrt. Und das Gute daran: Sie klingen immer noch wie Pinegrove auf „Marigold“ und weben einen schönen Teppich aus E-Gitarren, der von gelegentlichen Wolken von Alt-Country beschattet wird. Stärkere Tracks, darunter das mitreißende „Phase“ und das elegante „No Drugs“, sind von luftiger Schönheit geprägt und selbst die kleineren haben eine beruhigende Anmut. Währenddessen verleiht Schlagzeuger Zack Levine, die nicht mehr ganz so geheime Waffe der Gruppe, den sanften Melodien mit seinem raffinierten Spiel einen ruhigen Touch. “I woke up the same as yesterday / With no news of any kind”, singt Hall über langsam marschierende Percussions auf „Endless“. Die träge Instrumentierung erinnert an jemanden, der seine Füße hochhebt, sein Körper schwer und sein Verstand trübe, angesichts der Aussicht, einem neuen Tag gegenüberzustehen. Wenn auf der locker klimpernden „Alcove“ Hall singt: “my friends in the east / They bring me peace”, klingt das eher sehnsüchtig als triumphierend – seine Freunde klingen weit weg, der Sänger wirkt isoliert. Auch wenn mal gelegentlich der Funke nicht ganz überspringen möchte und „Marigold“ keine großen Überraschungen oder Änderungen im Sound der Band bietet, so bleibt es qualitativ hochwertiges Songwriting und eine bemerkenswerte Konsistenz, die Pinegrove ohne Zweifel in eine neue, erwachsenere Phase ihrer Karriere geleiten wird. GENRE: INDIE ROCK

7/10

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Boris Brejcha Space Diver

Sehnlichst haben wir darauf gewartet, endlich ist der Tag gekommen und glücklich sind wir über das Ergebnis der neuen Songs von Boris Brejcha. Der maskierte deutsche Produzent und DJ hat seit seinen Anfängen Mitte der 2000er Jahre einen langen Weg zurückgelegt. Seine Musik hat sich vom schrulligen Minimal zu einer optimistischeren Mischung aus House, Techno und Trance entwickelt. Auf seinem fünften Album destilliert „Space Diver“ das, was für ihn in den letzten Jahren zu einer bemerkenswerten Karriere führte. Dieses Album ebnet zwar keine neuen Wege, flirtet jedoch mit verschiedenen anderen Genres, um uns von der ersten Sekunde an zu beschäftigen. „Space Diver“ beginnt mit einem bekannten Track aus diversen Sets, erstreckt sich aber hier das erste Mal auf stimmungsvolle neun Minuten Spielzeit. „Gravity“ ist Minimal, IDM, Electro, Techno und letztlich ein stolzes Produkt seines charakteristischen „Hi-Tech Minimal“ -Sounds in Perfektion. Langsam erheben sich die Bässe, die Trommeln und ein treibender Beat münden in wunderschönen klassischen Klavierelementen. Mit einem ruhigen Abfall blicken wir rasch dem baldigen Ende entgegen. Außergewöhnlich wie rasant neun Minuten vorübergehen können. Es ist kein Geheimnis, dass Boris Brejcha ein außergewöhnlich talentierter DJ und Produzent ist. „Gravity“ ist definitiv ein weiteres Meisterwerk und wir lieben es. Mit dem folgenden „Happinezz“ geleitet uns Boris in eine außergewöhnliche, mystische Atmosphäre und präsentiert uns auch hier erstmalig den Original-Mix

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auf knappen 8 Minuten. Mit „Lieblingsmensch“ folgt im weiteren Verlauf ein absolut hypnotischer Track, eine epische, energiegeladene Reise und einer der bisher faszinierendsten melodischen Tracks von Brejcha überhaupt. Ein Wirbelwind aus dichter, aber dennoch raffinierter Elektronik, der die magische Verbindung zwischen intensiver Emotion und ansteckender Dancefloor Energie findet. Während die genannten Tracks hauptsächlich die Lücke zwischen House und Trance schließen, indem Trance-ähnliche Melodien den einzelnen Songs Charakter und Emotionen verleihen, sind einige ausschließlich für die Tanzfläche gedacht, wie beispielsweise die säurebildende Nummer „Take It Smart“. Das Album läuft über 12 Tracks und mehr als anderthalb Stunden. Obwohl es ziemlich lang ist, fühlt sich der Großteil der Platte mit seinen tuckernden Rhythmen und schwebenden Melodien immer noch ziemlich zusammenhängend an. Einzig zum Ende hin entlädt sich so manche Überlänge. Im Gesamten bringt Brejcha damit die Tanzfläche auf sein Album und „Space Diver“ damit zurück auf die Tanzflächen dieser Welt. 7/10

GENRE: TECHNO - ELECTRONIC


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Bombay Bicycle Club

Everything Else Has Gone Wrong

Nach einer Pause von drei Jahren kehrt das Londoner Quartett mit seinem fünften Studioalbum „Everything Else Has Gone Wrong“ zurück. Das Album erscheint sechs Jahre nach dem gleichermaßen inspirierten Album „So Long, See You Tomorrow“. Die Gruppe ist sehr nachdenklich und blickt auf ihre über zehnjährige Karriere zurück und zugleich auf eine Welt, die von Konflikten, Tragödien und Unruhen heimgesucht zu werden scheint. Es ist eine nuancierte, raffinierte Stimmung, die sich am besten in „Good Day“ ausdrückt, einer warm gedämpften Hymne, in der Sänger Jack Steadman perfekt zusammenfasst, wie Ihre Sorgen um den Zustand der Welt mit Ihren innersten persönlichen Sorgen verflochten werden. Er singt: „First my looks and now my friends, day by day I’m losing them, losing them, losing collagen, losing elastin/The melting ice caps in my dreams, made me stop and think about, think about time running out.“ Sie halten diesen Ton während „Everything Else Has Gone Wrong“ aufrecht und beleuchten ihn mit unscharfen analogen Keyboards, neonreichen Gitarren und kinetischen

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Percussion-Rhythmen. Der Titelsong ist eine Erklärung für die gesamte Band und insbesondere für Steadman: „I guess I’ve found my peace again, and yes, I’ve found my second wind“, und bis es soweit ist wird es zum Mantra für ihn und den Zuhörer. „Keep the stereo on, everything else has gone wrong“, bemerkt Steadman und zeigt, dass Musik das sein könnte, was ihn und vielleicht uns alle rettet. „Eat, Sleep, Wake (Nothing But You)“ ist ein weiteres Album-Highlight und


der erste Song, der letztes Jahr uraufgeführt wurde. Während das bloße Lesen der Zeilen den Eindruck erwecken könnte, dass „Eat, Sleep, Wake (Nothing But You)“ einer dieser täuschend gruseligen Songs ist, suggeriert die leuchtende Musik eine unschuldigere Sehnsucht, “awkward hearts beating faster and faster“. Der Kampf um die Aufrechterhaltung der Hoffnung erstreckt sich dann auf dem letzten Titel des Albums. Steadman beendet das Lied wie eine Hymne, indem er ein weiteres

Mantra wiederholt: „This light will keep me going / And I don’t even know wherever I may go / This light will keep me going.“ Falls die Frage, ob eine Rockband mit zunehmendem Alter wirklich besser werden kann, immer noch umstritten ist, zeigen Bombay Bicycle Club uns, dass es durchaus möglich ist. Musikalisch gesehen passen Bombay Bicycle Club damit hervorragend zu zeitgenössischen Bands wie Wilco, Editors oder Vampire Weekend. Ob absichtlich oder nicht, Einflüsse früherer Popbands kommen ebenfalls zum Vorschein. Kurze Stücke von „Is It Real“ könnten beispielsweise bestimmte Zuhörer an A Flock of Seagulls und ABBA erinnern. Bombay Bicycle Club haben sich mit „Everything Else Has Gone Wrong“ beeindruckend zurück gemeldet und ein ausdrucksstarkes Album aufgenommen, dass einen sicheren Platz im diesjährigen Jahresrückblick inne haben wird. 8/10

GENRE: INDIE ROCK

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Pet Shop Boys Hotspot

Die neue Platte „Hotspot“ der Pet Shop Boys beginnt auf einem Höhepunkt mit „Will-O-The-Wisp“ und erinnert ohne Umschweife daran, wie eingebettet die Pet Shop Boys in der britischen Popkultur sind. Es ist ein Dance-Pop-Stück über eine zufällige Begegnung mit einer alten Flamme – man denke dabei an The Pop Kids Pt. II. Es ist alles ein Monolog, kein Dialog, während unser Protagonist an vergangene Jahre erinnert und sich fragt, wie das Leben heutzutage ist („maybe you’ve gone respectable / with a wife and job and all that / working for the local government / and living in a rented flat”). Dazu gibt es einen ansteckender Synthesizer, der das i-Tüpfelchen setzt. Aufgenommen in Berlin’s legendären Hansa Studios, sieht man das renommierte Duo mit dem 14. Album fest in ihrem Element und liefert knackige Electro-Pop-Beschwörungen, verschrobene Dance Banger und melodische Juwelen, sowohl sonnig als auch stürmisch. Es geht weiter mit „Happy People“, ein erfreuliches Stück Vintage-House. Klavierstiche prallen von synchronisierten Bass-Riffs ab, während der Drumcomputer die Dinge vorantreibt. Leider sehen wir in der zweiten Hälfte „Monkey Business“, dass in der Disco nach einer Melodie sucht, die nur ungewöhnlich albern klingt. Aber es funkelt im Anschluss mit „Only The Dark“ ein 80er-Jahre-Glanz, der so umwerfend ist, dass er praktisch wie eine Retrowelle wirkt, gepaart mit perfektem Songwriting. Auch das mit Disco-Treibstoff betriebene „Dreamland“ funktioniert hervorragend in Zusammenarbeit mit Olly Alexander von Years & Years, dass einen subtilen Protest hinzufügt: “You don’t need a visa/ You can come and go and still be here.” Zum Abschluss läuten in „Wedding in Berlin“ die Glocken, ein Jubiläum der gleichgeschlechtlichen Ehe und zugleich ein Ausdruck der Hoffnung für die Zukunft. Letztlich gibt es nur ein paar leichte Stolpersteine auf einem Album, das einige der bisher schönsten Melodien der Pet Shop Boys enthält. 7/10

GENRE: DANCE POP - ELECTRONIC

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ie klischeehemmende Natur von Wire’s bisherigen Alben stützt die Tatsache, dass sie in ihrem fünften Jahrzehnt ihrer Karriere nachhallende Musik produzieren, die einer gewissen Logik folgt. Die Rekrutierung eines neuen Gitarristen aus einer viel jüngeren Generation (Matt Simms, der 2010 das Gründungsmitglied Bruce Gilbert ablöste) brachte zweifellos zusätzliche Vitalität mit sich, aber was auch immer die Langlebigkeit von Wire letztendlich ausmacht, findet sich überwiegend im Jahr 2011 wieder. „Red Barked Tree“ ist daher nahezu unverzichtbar. Die Kehrseite ist natürlich, dass jede neue Wire-Platte sich gegen die legendäre Anfangsphase der Band und ihre jüngste Vergangenheit behaupten muss. Während „Mind Hive“ – der mit Spannung erwartete Nachfolger des beeindruckenden „Silver / Lead“ aus dem Jahr 2017 – mit einer gewissen Erwartungshaltung aufwartet, droht es nie, sich unter der Belastung zu verbiegen. Es ist nicht so, dass „Mind Hive“ besonders wegweisend ist. Tatsächlich flirten einige der besten Tracks (der unruhige, motorische Antrieb von „Cactused“ und die gezackten, Stakkato-artigen Ausbrüche des bedrohlichen „Be Like Them“)

ganz offen mit Vertrautheit. Doch wie es bei dieser Gruppe immer der Fall zu sein scheint, stecken in diesen Songs beneidenswerte Reserven an zeitgenössischer Energie, die sicherstellen, dass sie frisch und ohne die geringste Spur von Parodie serviert werden. Wire’s altbewährtes Gespür für das Verschleiern bedrohlicher Stimmungen in unwiderstehlichen Melodien erstrahlt in „Mind Hive“ insbesondere in einer Reihe prägnanter Popsongs im Stil von „Chairs Missing“ aus dem Jahr 1978. Später, wenn Wire den expansiveren Stil von Alben wie „Silver / Lead“ wieder aufgreifen, klingt es genauso zielgerichtet wie früher. Das täuschend ruhige Gleiten von „Unrepentant“ bietet eine Verschnaufpause von den kraftvollen Anfängen des Albums und leitet eine brütende zweite Hälfte ein, die durch „Shadows“ veranschaulicht wird. Während die Zeiten der Erfindung des Genres lange vorbei sind, haben Wire mit „Mind Hive“ eindrucksvoll bewiesen, dass es möglich ist, bestehende Grenzen durch Einführung äußerer Einflüsse sinnvoll zu erweitern. 7/10

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GENRE: ROCK - POST PUNK


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Aoife Nessa Frances Land of No Junction Möchte ein Songwriter heutzutage ein Album erstellen, dass sich einer einfachen Kategorisierung und einer guten Vergleichbarkeit entzieht, so muss schon einiges dafür getan werden. Aoife Nessa Frances schafft dieses Kunststück über weite Strecken auf ihrem Debüt mit bemerkenswerter Leichtigkeit. „Land of No Junction“ etabliert einen klaren Stil, der eine einzigartige, fast jenseitige Qualität einführt. Cian Nugent’s hypnotische Gitarrenriffs dienen als perfekte Kulisse für Frances’ reichen und samtigen Gesang. Die irische Folksängerin zeigt dieses Element besonders deutlich in „Blow Up“, dass wundervoll mit Streicher-Arrangements von Ailbhe Nic Oireachtaigh untermalt wird. Die Streicher sind auf dem gesamten Album verteilt und bereichern die Songs mit ihrem seidigen Klang. Das Album hat ein eindringliches, manchmal melancholisches Gefühl, aber Tracks wie „Libra“ und „In the End“ fügen ein Element der Leichtigkeit hinzu, während sie dennoch dem unverwechselbaren Stil des Albums entsprechen. „Here in the Dark“ gehört neben dem verträumten Titeltrack, der das Album mit einem weichen Finish abschließt, zu den stärkeren Tracks auf dem Album. Eine wachsende Dynamik treibt dabei das Album mit großer Zuversicht voran, als würde es von einer vertrauenswürdigen transparenten Einheit über ein unbekanntes Gebiet geführt. Es ist also eine Schande, wenn dieses Gefühl der Weiterentwicklung zum Ende des Albums hin nachlässt. Trotzdem bleibt „Land of No Junction“ ein Album, das den Hörer beruhigt und verblüfft neben dem wunderschön arrangierten Set mit seiner seltsamen klanglichen Anziehungskraft. Aber vor allem ist es Frances’ exzellentes Songwriting, das dieses sehr starke Debüt letztlich aufrechterhält. 7/10

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GENRE: AKUSTIK - FOLK


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anchmal kann eine Veränderung gut sein – zumindest haben Twin Atlantic darauf gehofft. Das in Glasgow ansässige Outfit löste sich von seinem jahrzehntelangen Vertrag mit Red Bull Records und mit ein wenig Ermutigung von Produzent Jacknife Lee (The Killers, U2) zog die Band in ein eigenes Studio, bevor es sein neuestes Album veröffentlichte. Diese Entscheidung würde einen Künstler normalerweise in Gefahr bringen. Diesmal schien es jedoch eine Lizenz für künstlerische Freiheit zu geben, eine Chance, die Flügel zu strecken und ihrer Palette einen neuen Anstrich zu verleihen. Damit haben sie die volle Kontrolle darüber, was als nächstes in ihrer Geschichte passiert. Nachdem sie sich entschieden hatten, alleine zu spielen, verwandelten sie den Proberaum in Glasgow, den sie in den letzten zehn Jahren genutzt hatten, in einen legitimen Aufnahmeraum, in dem sie anfingen, Songs zu schreiben, die von jeglichen äußeren Erwartungen befreit waren. Aus diesen Sessions heraus ist „Power“ entstanden: 10 Tracks, die mit Abstand das seltsamste, kühnste und – ja – mächtigste Material sind, auf das die Gruppe ihren Namen gesetzt hat. Schon von den ersten Momenten des eröffnenden „Oh! Euphoria!“ an, ist es offensichtlich, dass diese Band nicht nur belebt wurde – sie haben ihren alten Sound so gut wie abgerissen und in einem ganz anderen Gebiet neu begonnen. Starkes Keuchen, pochende Synths und Sam McTrusty’s verzerrter Falsett-Gesang öffnen die Tür für einen Song,

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der mehr Space-Age-Electro-Rock bietet, als wie wir es bisher von der Rockgruppe gewohnt waren. Die Ergebnisse dieses stilistischen Wandels sind oftmals unterhaltsam und neu, wenn nicht sogar stark einnehmend. Zudem erwarten uns zwei Zwischenspiele – eines mit ohrenbetäubender Verzerrung und eines mit durchscheinendem Klavier – weiterer Beweis dafür, dass die Band den Drang verspürt, außerhalb ihres stadionreifen Klangs zu experimentieren. „Power“ kann sich aber auch banal anfühlen: Die Macher sind eindeutig nicht bereit, ihre Hyperzugänglichkeit zu vernachlässigen, und die Vielzahl interessanter Macken verbergen sich manchmal hinter kopfschmerzauslösenden Eingängigkeiten. „Barcelona“ – ein lyrisch dichter und seltsamer Track mit knirschenden Gitarrensounds, der auf halbem Weg von einem unnötig einfachen Refrain überflutet wird – ist der schlimmste Übeltäter. „Power“ ist im Gesamten vielleicht nicht so lebendig wie frühere Veröffentlichungen von Twin Atlantic, aber immer noch eine solide Platte, die auf potentiell aufregende neue Zeiten hindeutet. 6/10

GENRE: SYNTH POP

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lack Lips‘ neues Album „Sing In A World That’s Falling Apart“ erscheint nach Jahren mehrerer Besetzungswechsel innerhalb der Band und großen Änderungen im Lebensstil, die mit dem hektischen, chaotischen Leben eines Tour-Musikers einhergehen. Es ist das Dokument einer Band, die sich wieder finden musste und trotzdem ist diese Platte voller neuer und goldener alter Ideen. Es passt, dass die Black Lips aus Atlanta wieder ihrer ursprünglichen, mitreißenden Vision treu geblieben sind. In den Wänden dieser Veröffentlichung stecken musikalisch und spirituell die Skelette aller Country-Größen, sei es das im Willie-Nelson-Stil gemachte Echo in „Chainsaw“ oder „Holding Me Holding You“, dessen mitreißende Hintergrundmusik auch Johnny Cash sein eigen nennen würde. Das von der Mundharmonika geleitete, seltsam emotionale Lied „Rumbler“ versetzt uns in den tiefen Süden Amerikas und ist dabei doch nur eine alberne Hommage an die berüchtigte G.I. Joe-Actionfigur. Trotz des Gefühls des Chaos zeigt sich überall ein gewisses Maß an Raffinesse und Ausgeglichenheit. „Georgia“ beginnt als perfekt passierbare, leicht aufgemotzte Tennessee Three-Hommage, aber durch langsames Hinzufügen von Disco-Drums und SoulSax wird es zu etwas Aufregendem. „Closer Live Fast Die Slow“ mit seinen knallenden Gesangseffekten und kratzenden Verzerrungen klingt wie ein Country Song und zeigt eine andere spannende Facette der Black Lips – außerhalb Ihres Fachwissens im perfekt ausgeführten Chaos. Sie sind einfach Meister auf ihrem Gebiet. Es ist von Anfang bis Ende überzeugend: Dies sind keine einfachen Künstler. Diese Garage-Cowboys sind nach wie vor die wahren Hingucker, in die wir uns zum ersten Mal verliebt haben. “This old middle finger has grown sick and tired of flipping the bird“, heißt es da noch in „Gentleman“. Ja die Welt mag vielleicht brennen, aber wir haben zumindest die Black Lips! 8/10

GENRE: ROCK

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uf dem neuen Album stellen sich Wolf Parade den Herausforderungen des zügellosen Tech-Zeitalters. Das Konzept von „Thin Mind“ wurzelt in einer zunehmenden Abhängigkeit von Technologie. Eine Transparenz von Substanz und allgemeiner Leere aus der Online-Welt. Der unausweichliche Zugang zu digitalen Inhalten und seine vielfältigen Auswirkungen auf die Menschheit ist derzeit ein zentrales Thema auf dem kollektiven Radar zahlreicher Bands. Eines der bekanntesten Vertreter dürfte MGMT’s „Little Dark Age“ sein. Doch zurück zu Wolf Parade, die seit dem letzten Jahr ohne Multiinstrumentalisten Dante DeCaro auskommen müssen und nun wieder zu ihrem ursprünglichen Trio zurückgekehrt sind. „Under Glass“ eröffnet das Album mit einem Leitbild: Wir sind immer noch „free in our minds“, aber „nobody knows what they want anymore“. Es ist ein scharfes, poliertes Lied mit typischen Wolf-Parade-Akkorden und Dan Boeckner’s paranoidem Gesang. Das Album ist etwas experimenteller als die vorherigen, insbesondere in Bezug auf den liberalen Einsatz der Synthesizer. Wolf Parade klingen lebhaft, leidenschaftlich und engagiert in diesen zehn Songs. Während Thompson’s Schlagzeug die Songs mit einem ausgesprochen menschlichen Puls umgibt, verleihen die Synthesizer ein Gefühl, das Vergangenheit und Gegenwart verschmilzt, während Keyboard-Sounds den Geist des klassischen Synth-Pop hervorrufen. An anderer Stelle knüpft der elektronische Glanz von „Wandering Son“ an den Post-Punk der späten 70er und frühen 80er Jahre an, der an Bands wie The Cars und The Tubes erinnert. Mit der Reduzierung zum ursprünglichen Trio ist Wolf Parade symbolisch und klanglich zu einer Vorlage zurückgekehrt, die sich so organisch anfühlt wie bei ihrem Debüt vor fünfzehn Jahren. „Thin Mind“ spricht die Sorgen eines Zeitalters an, das mit Langeweile und Kommerzialisierung behaftet ist und hat dabei mit nur wenigen musikalischen Änderungen an der gewohnten Formel sorgfältig ausgearbeitete zehn neue Songs entstehen lassen. 7/10

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GENRE: ROCK


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as neue Album von Nicolas Godin ist ein Konzept, das sich von architektonischen Referenzpunkten inspirieren lässt und sich gut genug anfühlt, um Godin’s eigenen anspruchsvollen Stil widerzuspiegeln. Als Minimalist und Perfektionist ist es kein allzu großer Schritt, die Ähnlichkeiten zwischen der wörtlichen Architektur, auf die er sich musikalisch bezieht, und dem Handwerk und der Struktur seiner eigenen Musik in Einklang zu bringen. 2015 gab Godin sein Solo-Debüt mit dem von Bach inspirierten „Contrepoint“ und stellte sich der technischen Herausforderung, das Werk des

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klassischen Komponisten auf zeitgemäße Weise neu zu interpretieren. Wenn dieses Projekt eine stilistisch kühne Abkehr von dem war, was wir erwartet haben, kehrt er nun mit „Concrete And Glass“ hierher zurück. Das Album greift einige der besten Qualitäten von Air auf, gleichzeitig geht der Franzose aber einen eigenen Weg. „Concrete And Glass“ ist ausgereift, luxuriös, funky und sehr französisch. Es beginnt mit dem Albumtiteltrack, ein Track, der sich in den 1990ern mit


seinem Synth-Spiel, dem verzerrten Gesang und dem fast unheimlichen Break wie zu Hause fühlen dürfte. „We Forgot Love“ zeigt die soulige Kadhja Bonet, deren zauberhafte Stimme über einem geschickten, stimmungsvollen Arrangement harmoniert und Hot Chip Sänger Alexis Taylor begrüßt uns mit einem mitreißenden Cameo-Auftritt im süßen „Catch Yourself Falling“. Wenngleich insbesondere letztgenannter Gast gut funktioniert, wird ansonsten das Gefühl der Klar-

heit durch die Zusammenarbeit mit den zahlreichen Gästen getrübt, was die eindeutige Definition, zu der Godin so inspiriert zu sein scheint, oft aus dem Gleichgewicht bringt. Mit dem jazzigen Finale „Cité Radieuse“ erinnert uns Godin dann nochmals an die aufregende letzte Veröffentlichung „Contrepoint“ und hinterlässt trotz ein paar Schwächen mit „Concrete And Glass“ ein gutes Beispiel für seinen unverwechselbaren geschmeidigen Stil. 7/10

GENRE: AMBIENT - DOWNTEMPO

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er Einstieg in das fünfte Album „When We Stay Alive“ beginnt langsam und atmosphärisch, gewinnt aber an Schwung und zieht uns mit seiner rhythmischen Intensität in unseren Bann. Das folgende „TATA“ lädt die Stimmung komplett auf und kanalisiert gleichzeitig Grausamkeit und Verspieltheit. Der nächste Song „Fold Up“ ist eindringlich und dissonant, aber es ist schwer zu sagen, ob der Song selbst schwach ist oder nicht – verglichen mit der Schönheit und dem Wunder aller anderen Stücke auf dem Album. Während die Zusammenarbeit von 2018 mit dem Berliner Orchesterkollektiv „Music For The Long Emergency“ chaotisch und fragil war, ist „When We Stay Alive“ von Poliça lebhaft menschlich. Die Hälfte wurde geschrieben und aufgenommen, nachdem die Sängerin Channy Leaneagh während dem Schnee räumen von ihrem Dach gerutscht ist und fast unfähig war, sich zu bewegen. Dieser Unfall hinterließ bei ihr Wirbelsäulenverletzungen und einen langen Weg, sich geistig und körperlich zu erholen. Vielleicht ist es ironischerweise diese Erfahrung, die die Songs des Projekts mit einer Solidität und Stärke versehen und den Unterschied zu Ihren früheren Alben machen. Es ist klar, dass es sich hierbei nicht um ein tragisches Ereignis handelt, sondern vielmehr darum, es zu akzeptieren und voranzukommen. “Snow falls on the tip of my tongue / Tasting blood of the violence to come” heißt es in „Driving“ und ist eine gruselige Erinnerung an die Tortur von Channy. In „Be Again“ spüren wir die Verletzlichkeit und emotionale Rauheit eines lebensverändernden Moments. Es ist, als würde man die Notlage eines Menschen von der Sicht eines Psychotherapiestuhls aus beobachten. Ihre schwankenden Gesänge werden von einem klopfenden, bis zum Boden reichenden Beat in die Ecke gedrängt: “My hands belong to me / My thighs belong to me / My heart belongs to me / My thoughts belong to me”. Es sind nicht nur diese Songs, die dem Heilungsprozess Kraft geben, sondern auch Songs, die vor dem Sturz geschrieben wurden, wie „Steady“ und das fesselnde „Forget Me Now“ – ein Track, der sich durch Schmerzen, Hoffnungen und Atemzüge nach vorne bewegt. Alles in allem ist „When We Stay Alive“ der Klang eines Individuums und einer Band, die einen neuen Zweck und eine neue Art zu leben entdeckt hat – auch wenn diese innerhalb der Grenzen der Vertrautheit liegen. 8/10

GENRE: AMBIENT - ELECTRONIC

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eit der Entstehung seines Projekts Destroyer vor vielen Jahren hat Dan Bejar die Welt auf abstrakte und gebrochen klingende Art und Weise reflektiert: “Sing the least poetic thing you can think of,” sagte er kürzlich über seine bevorzugte Methode des Songschreibens, “and try to make it sound beautiful.” Während Dan Bejar diese Gesten einst mit wildem, knalligem Folk-Rock begleitete, hat er in den letzten zehn Jahren die milderen Töne von Sophisti-Pop, Soft-Rock und Adult Contemporary herausgearbeitet: Genres, die so wenig jugendlich sind, dass selbst das Sprechen ihrer Namen eine gewisse ernüchternde Wirkung ausübt. Es ist Musik, die sich wie im Mittelalter anfühlt, und Bejar hat seine 40er Jahre mit gedämpften Hörnern und üppigen Synthesizern gemeistert, um Visionen zu begleiten, die so fragmentiert und alptraumhaft sind wie nie zuvor. Auf dem Album „Kaputt“ von 2011, einem Karrierehöhepunkt, der als wahrscheinlicher kommerzieller Durchbruch galt, wirkten diese Texturen möglicherweise wie eine Linkskurve. Inzwischen ist er genau dort, wo wir Bejar erwarten zu finden – in luxuriöser Umgebung, mit skeptischen Blick auf die Ausgänge. „Crimson Tide“, mit dem das Album eröffnet, hat sowohl den eleganten Charme von „Kaputt“ als auch die grobe Knalligkeit, die „ken“ so aufregend gemacht hat. Der Bass ist laut, die Synthesizer sind verschwommen und verwaschen, die phasengesteuerten Gitarren scheinen aus dem Inneren eines intergalaktischen Tunnels herauszustrahlen. Es ist der Destroyer, den wir kennen, aber es fühlt sich auf die bestmöglichste Weise an. Diese unheimlich senkende Verrücktheit durchdringt das gesamte Album, vom verführerischen, bezaubernden

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„Kinda Dark“, bis zum Autechre-beeinflussten Ambient-Experiment von „University Hill“. „Foolssong“ greift dagegen alle klanglichen Merkmale von „Kaputt“ auf, vom elegant pulsierenden Sounddesign bis zu den sehnsuchtsvoll hochgezogenen Augenbrauen des Gesangs – aber wir sehen auch ein klagendes, exotisches Gefühl der Verzweiflung. Im Gegensatz zu „Your Blues“ bietet „Have We Met“ echte E-Bässe und Gitarren, und die Synths sind flotter und voller, dazu fühlen sich die Drums härter und funkiger als auf jedem früheren Destroyer-Album an. Bei „Cue Synthesizer“ geraten sie in ein dreckiges Stottern, betreten hip-hop-artiges Terrain und kontrastieren geschickt Bejar’s entspannte Darstellung. „It Just Doesn’t Happen“ passt perfekt zu „ken“, zwischen dem boomenden Gothic-Rock von „Rome“ und dem geräumigen Synth-Pop in „Sometimes in the World“. Es sind die Songs, die er schon einmal in der Vergangenheit gemacht hat, aber sie fühlen sich jetzt ein bisschen verdrehter an, ein bisschen verrückter eben. Seine Texte sind vielschichtig und unterhaltsam, sowohl düster als auch witzig – die daraus resultierende Musik auf „Have We Met“ ebenso irritierend und seltsam wie beruhigend und vertraut. 8/10

GENRE: ROCK


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Squarepusher Be Up A Hello

Während Tom Jenkins mit seinen frühen Arbeiten in den 90er Jahren Drum’n’Bass an seine Grenzen stießen, experimentierte Jenkins mit Elektro, dementem Funk, Live-Jazz und Musik, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz komponiert wurde. Squarepusher’s 15. Studioalbum „Be Up A Hello“ ist sowohl eine scharfe Kehrseite der jüngsten Aktivitäten als auch eine Rückkehr zu einigen der Grundlagen seines verrückten Genies. Nachdem Jenkins Anfang 2018 bei einem Besuch in Norwegen auf Eis ausgerutscht war, saß er mit eingegipsten Arm fest. Da das Basteln mit Drum Machines und Synthesizern mit einem steifen Arm um einiges einfacher ist, als beispielsweise Bass zu spielen, suchte er nach einem kreativen Ventil. Was als Trost in grauen Zeiten begann, entwickelte sich schließlich zu einem voll ausgearbeiteten Album. Das Ergebnis ist, wie man sich vielleicht vorstellen kann, eine Aufzeichnung, die viele seiner älteren Arbeiten in Erinnerung rufen wird. Es klingt allerdings sehr viel schlüpfriger, und während „Be Up A Hello“ dieser Ära zuzwinkern mag, ist es insgesamt ein anderer Dämon. Es klingt immer noch nach überladenen Maschinen, die versuchen sich gegenseitig zu fressen, aber sie sind poliert, klingen frisch und haben verdammt gute Laune. „Be Up A Hello“ beginnt mit dem archetypischen Squarepusher. „Oberlove“, der erste Track, hätte von jedem der Alben Mitte der 90er Jahre aufgenommen werden können. Wo sich „Oberlove“ und auch andere Tracks von früheren Veröffentlichungen unterscheiden, ist das Fehlen von Jazzkonzepten, die auf die Breakbeats von Jenkins zurückzuführen sind. Das heißt nicht, dass es auf der Platte keine Einblicke in den Jazz gibt, aber sie liegen dieses Mal gut im Maschinendschungel verborgen. Andererseits ist „Nervelevers“, die zweite Single der Platte, ziemlich geradlinig. Es ist klar, dass viel Aufwand in die Herstellung der Texturen und unterschiedlichen Sounds gesteckt

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wurde und ehe der unerbittliche Acid-Bass von „Nervelevers“ und dem nächsten Track „Speedcrank“ zu ihrem Höhepunkt kommen, haben wir ganz nebenbei mehr Ambient-Boden betreten, als jemals auf einer Veröffentlichung von Jenkins zuvor. Letzt genannter würde in einem epischen Science-Fiction-Soundtrack nicht fehlen. Die Verwendung der gleichen Ausrüstung für subtilere, wärmere und Roboter-freundlichere Klänge funktioniert hier perfekt und trennt Squarepusher mit Sicherheit von allen seinen und Aphex Twin-Nachahmern. Die Tatsache, dass er etwas erschaffen kann, auf das Vangelis oder Oneohtrix Point Never stolz sein würden, ist ein Beweis dafür, wie vertraut er mit seiner Hardware ist. Gleiches gilt für den letzten Titel „80 Ondula“. Jenkins erzeugt Spannung, wie es ansonsten nur die besten Soundtrack-Komponisten können. Nach mehreren Aufzeichnungen voller berauschender Kompositionen und hochkarätiger Musik ist „Be Up A Hello“ erfrischend direkt und vergoldet seine vergangene Ära mit bekannten Ideen, die ihn hier zu neuen und fremden Orten aufbrechen. 7/10

GENRE: ELECTRONIC


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ackenzie Scott’s viertes Album als TORRES blickt auf unglückliche Erinnerungen an die unfairen Erwartungen ihres letzten Labels 4AD zurück, die immer noch an Frauen gestellt werden, die eigenwillige und verzerrte Popmusik machen. Nachdem Scott von ihrem Drei-Alben-Deal mit dem renommierten 4AD wegen „nicht kommerziellen Erfolgs“ abgesetzt worden war, twitterte sie bissig: “I wish them all the best. Also, fuck the music industry. Xo, Mackenzie”. Es ist deprimierend ironisch. Das letzte Album „Three Futures“, dass von 4AD herausgebracht wurde, war ihre bislang kompromissloseste (und beste) Aufzeichnung. Es ist eine schwierige und spezifische Arbeit, die, obwohl sie einige von Scott’s unmittelbarsten Melodien enthält, keinen einfachen Einstieg bot. Der finale Track war ein langgestrecktes Ambient-Stück über körperliche Autonomie. Jetzt kommt „Silver Tongue“ über Merge und wurde von Scott selbst produziert. „Silver Tongue“ zeigt uns die Orte, an denen sich die innere Welt mit der äußeren verwickelt, an denen unerwartete Dinge aufblühen, an denen natürliche Wege beschritten werden müssen und zu denen wir unsere eigenen finden müssen. „Silver Tongue“ ist eine aufregende Reise durch eine sich entwickelnde Beziehung mit einem konstanten Gefühl, dorthin zu fahren. Dies wird am besten durch den eindringlichen Refrain von „Last Forest“ veranschaulicht: “Something jogs the memory/ That I’ve loved you repeatedly.” Diese plötzliche Klarheit und ihre erfinderischen Wiederholungen zeichnen „Silver Tongue“ so aus, dass sich das gesamte Album wie eine fortwährende, zarte Offenbarung anfühlt. Die Wahrheit ist: Scott hat sich einfach zu einer authentischen und mutigen Songwriterin entwickelt. Auf Tracks wie „Good Scare“ und „Records of Your Tenderness“ verschmilzt Scott auf hervorragende Weise lebhafte Beats mit hypnotischer Gitarre und emotionalem Gesang, um etwas Außerirdisches zu schaffen. Die früheren Alben von TORRES haben sich

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viel mit Beziehungen befasst, aber hier untersucht sie das Thema – und ihre eigenen Ängste – mit chirurgischer Präzision. „Silver Tongue“ steckt voller eifriger Details und seltsamer kleiner Einblicke in die dunkle Seite von Verlangen und Unsicherheit. „Good Scare“ benutzt eine Flut von pochenden Trommeln der 80er Jahre, um Scott’s Wünschen filmisches Drama zu verleihen und fängt damit die desorientierten Vertrauensschwankungen ein, die mit der möglichen Gegenbewegung eines Liebesinteresses einhergehen: “When you said you couldn’t swing it / You gave me a good scare for a minute there.” „Silver Tongue“ ist ein auf allen Ebenen vielschichtiges Album und eine gekonnte Weiterentwicklung einer der multidimensionalsten Figuren des Indie Rocks. Manchmal in diesem Album scheinen die geflochtenen Gitarren und gleitenden Rhythmen die Absicht zu haben, uns zum Stolpern zu bringen, uns irgendwo in der Mitte herumzudrehen, aber die Absicht ist nie, uns zu verlieren. So ist „Silver Tongue“ letztlich ihr emotionalstes und befriedigendstes Album geworden. 8/10

GENRE: INDIE ROCK


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it dem neuen Album „Mystic Familiar“ läutet Dan Deacon seine Rückkehr zum majestätisch arrangierten Synth-Pop ein, nachdem er sich mehrere Jahre lang auf Filmmusik und seine langfristige Beschäftigung mit der zeitgenössischen klassischen Welt konzentriert hatte. Er setzt sich weiterhin mit existentialistischen lyrischen Themen auseinander und reflektiert seine persönlichen Erfahrungen, ohne dabei konkrete Beispiele zu nennen. Stattdessen konzentriert er sich auf intensive Gefühle und kanalisiert sie durch seine Musik. Dan Deacon präsentiert uns auf „Mystic Familiar“ ein Album voller skurriler Texte, intensiver Rhythmen und strahlender, sonniger Synths. Lebhafte Pop-Strukturen werden fein säuberlich in experimentelles Sounddesign eingearbeitet. Auch Deacon’s Singstimme kommt Wayne Coyne näher als je zuvor und behält ein ähnliches Gefühl des entschlossenen Optimismus bei, auch wenn er sich einer beängstigenden, bedrückenden Welt voller Dunkelheit und Negativität

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gegenübersieht. Die Texte sind ermutigend und kraftvoll, ohne sich auf Selbsthilfe-Klischees zu stützen, und behalten die surrealistische Ausrichtung von Deacon’s früheren Werken bei, ohne zu karikaturistisch zu wirken. Er kann auch lustig sein, aber auch etwas anstrengend. Glücklicherweise hat er mit dem fünften Studioalbum beschlossen, die Dinge etwas langsamer anzugehen und dabei sein bisher bestes und vielleicht schlüssigstes Album zu erstellen. Klanglich knüpft „Mystic Familiar“ an das an, wo Deacon vor fast fünf Jahren mit dem allseits beliebten Album „When I was Done Dying“ aufhörte. Angefangen mit dem kaleidoskopischen „Become a Mountain“, einer Single, die den Titelcharakter und den Erzähler des Albums vorstellt. Hier gibt er den Ton für die Platte mit einem Titel an, der sich mit der Idee von Carpe Diem befasst. Die existenziellen und meditativ geprägten Texte des Tracks werden mit Deacon’s durchdringenden technologischen Themen akzentuiert. Und dieser neu entdeckte Fokus wird nirgendwo deutlicher zum Ausdruck gebracht, als in den folgenden Songs


„Sat By A Tree“ und „Fell Into the Ocean“. Die Tracks ermöglichen es uns, die von Dan Deacon geschaffene Technicolor-Welt wirklich schätzen zu lernen. „Mystic Familiar“ ist letztlich ein Universum voller Roboter, Ballons und Laserstrahlen. Viele, viele Laserstrahlen. Es ist ebenso schön, verrückt und verstörend. Wie die reale Welt- nur eben besser.und meditativ geprägten Texte des Tracks werden mit Deacon’s durchdringenden technologischen Themen akzentuiert. Und dieser neu entdeckte Fokus wird nirgendwo deutlicher zum Ausdruck gebracht, als in den folgenden Songs „Sat By A Tree“ und „Fell Into the Ocean“. Die Tracks ermöglichen es uns, die von Dan Deacon geschaffene Technicolor-Welt wirklich schätzen zu lernen. „Mystic Familiar“ ist letztlich ein Universum voller Roboter, Ballons und Laserstrahlen. Viele, viele Laserstrahlen. Es ist ebenso schön, verrückt und verstörend. Wie die reale Welt- nur eben besser. 8/10

GENRE: INDIE POP - INDIE ROCK

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hnlich wie Mitski singt auch Williams auf Ihrem Debüt „I Was Born Swimming“ in weiten, selbstbewussten Zügen, wobei ihre Höhen von temperierten Instrumenten betont werden und sich in stark knorrigen Gitarren verfestigen, die auf unruhigen Wellen treiben. Auf der ersten Single „Red Shoulder“ explodiert Williams’ Gitarre zu einem sumpfigen Alt-Country-Riff, das in einer Flut an langsam gefilterter Eleganz zu einer Ebene verschmilzt. Im weiteren Verlauf ist das Debüt zart düster und doch so abwechslungsreich, dass man sich jeder Langeweile entziehen kann. Während der Großteil der Platte ein langsamer, stimmgeführter Tanz ist, unterbricht sie die fast gleichmäßige Melancholie und wirft uns durch eine dissonante Linse. „Slapback“ wird zum klanglichen Gegensatz dazu und spielt mit einer stürmischeren Komposition, die ihre lebhafte Lyrik betont. Dabei beginnt das Stück mit einem beinahe ängstlich klingendem Stampfen und wirkt zunächst schüchtern, aber mutig und kraftvoll, da Williams’ raue, engelsgleiche Stimme auf ihrem Höhepunkt von ihrer finsteren Akustikgitarre unterbrochen wird. Am bedeutendsten ist das wunderschön mürrische „Streetlight Blues“. Es ist eine Erinnerung an den bleibenden Sinn, der dieser Platte entnommen wurde, und strotzt vor Gefühlen der Zufriedenheit in Isolation. Der Track zeigt, wie Williams sich schwereren Riffs hingibt und die Tiefe ihrer selbstgefälligen Texte widerspiegelt: „All my friends are at the party / but I’ve got other plans / My body is buzzing as I start to dance“. Die gebürtige Bostonerin Ella O’Connor Williams kreiert als Squirrel Flower eine Welt aus launischem, manchmal himmlischem Indie Rock, der von einer ebenso luftigen und geschmeidigen wie kraftvollen Stimme verankert wird. Insgesamt also ein sehr gelungenes Debüt von Ella O’Connor Williams als Squirrel Flower. 7/10

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GENRE: INDIE ROCK


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Quinlan’s Debüt-Solo-Veröffentlichung unter eigenem Namen erzielt etwas ganz Besonderes. Im Gegensatz zu einem Großteil der Diskographie von Hop Along wird hier meistens in Dur-Tonarten gearbeitet. Die von Quinlan zusammen mit Hop Along-Bandkollege Joe Reinhart gestaltete Klanglandschaft ist lebendig, hell und verwendet Synthesizer, Digital-Drums, Harfen, Streicher und Keyboards. Momente der Verzweiflung werden durch enge, optimistische Motive, die auf der Platte verstreut sind, wunderbar ausbalanciert. Beweise wie die Tatsache, dass Hop Along selbst als Solo-Projekt konzipiert wurde, sind Queen Ansleis und Quinlan’s regelmäßige Solo-Auftritte im Laufe der Jahre zu Schlüsselelementen dieser Wahrnehmung geworden. Es war jedoch ihr überragender und unvergleichlicher Gesang in Hop Along´s Platten, der diese Sichtweise noch weiter verstärkte, was zweifellos unfair gegenüber ihren Bandkollegen ist. All dies bedeutet, dass ihre Entscheidung, ihren tatsächlichen Namen einer Veröffentlichung zuzuweisen, Fragen aufwirft, inwieweit sich eine Differenzierung ergeben würde und ob dieser jüngste Vorstoß gerechtfertigt ist. Wie sich herausstellt, befindet sich „Likewise“ in der Nähe des Hop Along-Archivs und behält die gottgegebene Stimme bei, obwohl es in ihren Songs eine größere Auswahl an Klängen und Freiheiten gibt, die wir noch nicht von Quinlan gewohnt sind. Sie ist eine bemerkenswerte und intime Geschichtenerzählerin, die uns in ihre wilden, unvorhersehbaren Erzählungen hineinzieht und selbst die gewöhnlichsten Details beleuchtet. Ähnlich wie die Botschaft des Albums, dass nach außen schaut, um andere zu verstehen, hat sie keine Angst, sich dem Neuen zu nähern. Das Ergebnis entfernt sich vom Gitarren-geführten Indie-Rock von Hop Along, auch durch die Zusammenarbeit mit Bandkollegen Joe Reinhart, um von der Akustik zum völlig Unerwarteten zu springen. „Likewise“ zeigt diese Gegenüberstellung von Anfang an, angefangen beim vergleichsweise abgespeckten „Piltdown Man“ bis hin zum flotten „Your Reply“. Alles wird mühelos von Frances’ unverwechselbarem und packendem Gesang zusammengeführt. „Rare Thing“ ist ein honigsüßes und weiches Rock-Stück, das für eine leichthändige Rock-Combo, Synthesizer und eine Harfe von Mary Lattimore arrangiert wurde. Und so ist „Likewise“ der endgültige Beweis dafür, dass Quinlan mit oder ohne eine Band – allein durch Ihre Stimme – sich niemals in der großen Menge verlieren wird. 7/10

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GENRE: INDIE ROCK


Frances Quinlan Likewise

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Talking Heads: 77 u Beginn ihrer Karriere waren die Talking Heads ein Produkt aus nervöser Energie, distanzierten Emotionen und gedämpftem Minimalismus. Als sie ungefähr 12 Jahre später ihr letztes Album veröffentlichten, hatte die Band alles aufgenommen, von Art Funk über polyrhythmische Worldbeat-Erkundungen bis hin zu einfachem, melodischem Gitarren-Pop. Zwischen ihrem ersten Album im Jahr 1977 und ihrem letzten im Jahr 1988, wurden die Talking Heads zu einer der am meist gefeierten Bands der 80er Jahre und erzielten mehrere Pop-Hits. Während einige ihrer Songs zu selbstbewusst, zu experimentell, zu klug und zu intellektuell wirken können, repräsentieren die Talking Heads im besten Fall alles Gute der Punks an Kunstschulen. Und sie waren buchstäblich Punks der Kunstschule. Der Gitarrist / Sänger David Byrne, der Schlagzeuger Chris Frantz und die Bassistin Tina Weymouth trafen sich Anfang der 70er Jahre an der Rhode Island School of Design.

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Sie beschlossen 1974 nach New York zu ziehen, um sich auf das Musizieren zu konzentrieren. Im nächsten Jahr gewann die Band eine Spot-Eröffnung für die Ramones im wegweisenden New Yorker Punk-Club CBGB. 1976 wurde der Keyboarder Jerry Harrison, ein ehemaliges Mitglied von Jonathan Richman’s Modern Lovers, in die Besetzung aufgenommen. Bis 1977 hatte die Band bei Sire Records unterschrieben und ihr erstes Album „Talking Heads: 77“ veröffentlicht. Die Platte erhielt eine beachtliche Anerkennung für ihren reduzierten Rock & Roll, insbesondere Byrne’s dämlichen und zugleich übermäßig intellektuellen Texte, aber auch für die unangenehmen, ruckeligen Gesänge. Der erste Track des Debütalbums mit dem Titel „UhOh, Love Comes to Town“ war ein Popsong, der die exotischen Wurzeln der Gruppe in der Bubblegum-, Motown- und Karibikmusik der späten 60er Jahre betonte. Aber das „Uh-Oh“ hat das Spiel der Gruppe mit seinen nervösen, unzusammenhängenden Texten und der angespannten Stimme von David Byrne frühzeitig verraten. Alle Vorwände der Normalität wurden dann letztlich durch den zweiten Track aufgegeben. Die gestaffelten Rhythmen und plötzlichen Tempowechsel, die seltsamen Gitarrenstimmungen und rhythmischen Muster, das ausbleiben stimmiger Reime, nicht-lineare Texte, die wie seltsame Bemerkungen von der Couch


eines Psychiaters klangen und diese Stimme, die weit über der Reichweite eines normalen Menschen schwebte, deren Falsett-Sprünge und erwürgte Schreie einem Verrückten ähnelten, der verzweifelt versuchte, normal zu klingen. Ihr Debüt präsentierte uns den klassischen „Psycho Killer“, der einen unglaublich albernen Byrne zeigte, wie er taumelnd über eine dröhnende Basslinie stolpert: „I can’t seem to face up to the facts / I‘m tense and nervous and I can’t relax / I can’t ’cos my bed’s on fire / Don’t touch me, I’m a real live wire.” Aber auch so feine, eckige Stücke wie das Meisterwerk des untertriebenen Sarkasmus „Don’t Worry About The Goverment“ oder „The Book I Read“ waren wild und wunderbar vielfältig. Die größte Überraschung an diesem Album ist jedoch nicht der optimistische Auftakt – es ist das Jahr der Veröffentlichung. Obwohl die Heads selten als Einflussfaktor für Bands genannt werden, wäre es unmöglich, sich diese Platte anzuhören, ohne an The Smiths oder New Order zu denken. Aber die Heads waren schon Jahre zuvor da, bevor sich diese Bands das erste Mal bemerkbar machten. Die Talking Heads waren mit dieser Platte Ihrer Zeit voraus und schafften es dennoch, seltsam vertraut zu klingen. Und das machte „Talking Heads: 77“ zu einem wegweisenden und zu einem der besten Alben in diesem Jahrzehnt.

More Songs About Buildings and Food Für ihr nächstes Album „More Songs About Buildings and Food“ von 1978, arbeitete die Band mit dem Produzenten Brian Eno zusammen und nahm eine Reihe sorgfältig konstruierter, künstlerischer Popsongs auf, die sich durch umfangreiches Experimentieren mit kombinierten akustischen und elektronischen Instrumenten, sowie durch überraschend glaubwürdige Berührungen mit dem Genre Funk auszeichneten. Der Titel des zweiten Albums der Talking Heads machte

zudem gar kein Geheimnis aus der Tatsache, dass es sich um Songs handelte, die nicht auf der ersten LP verwendet wurden und mit hastig neu geschriebenem Material gemischt wurden. Anhänger der ersten Stunde erschien der Sound der Band konventioneller, doch der Grund dafür war einfach, denn man war schon einmal auf die merkwürdigen Songstrukturen, Stakkato-Rhythmen, die angespannten Gesänge und impressionistischen Texte gestoßen. Byrne’s quietschende Stimme wurde entweder geliebt oder gehasst, es gab wirklich keinen Mittelweg. Ein weiterer Grund war, dass der neue Co-Produzent Brian Eno eine musikalische Einheit schuf, die das Album zusammenbrachte, insbesondere in Bezug auf die Rhythmussektion, die Sequenzierung, das Tempo und das Mischen. Während es bei den Talking Heads hauptsächlich um die Stimme und die Texte von David Byrne ging, konzentrierte sich Eno auf das Bass&Drums-Team um Tina Weymouth und Chris Frantz. Alle Lieder waren tanzbar und es gab nur kurze Pausen zwischen ihnen. „Thank You For Sending Me An Angel“ als eröffnendes Stück ist kurz und bündig, abgesehen von den verrückten Gesängen von Byrne.

Der kommerzielle Anker des Albums war bei weitem der einzige Coversong, eine eigenständige Version von Al Green’s „Take Me to the River“ mit einem Sound, der noch in den späten 1970er Jahren einen Hit der 80er Jahre ausmachte. Die intelligente Rhythmussektion und die feine Produktionstechnik brachten der Gruppe einen weltweiten Top-40-Crossover-Hit. Das Album endet mit der angenehmen Beschallung von „The Big Country“, eine feine Mischung aus Akustik und Elektronik. „More Songs About Buildings and Food“ ist so ziemlich das beste Album für Einsteiger, um die Talking Heads kennen zu lernen.

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Fear Of Music Auf ihrem nächsten Album, dem von Eno produzierten „Fear of Music“, begannen die Talking Heads, sich stark auf ihre Rhythmus-Sektion zu verlassen und ließen Polyrhythmen im afrikanischen Stil erblühen. Talking Heads‘ „Fear Of Music“ könnte Radiohead’s „OK Computer“ sein, ebenfalls ein drittes Album, auf dem sie sich von einer großen Post-Nirvana-Gitarrenband zu etwas unendlich Fremdem und Reicherem hinwandten. „Fear Of Music“ der Talking Heads erschien 1979 und startete mit dem afrikanischen Rhythmus-Experiment „I Zimbra“. Zusammen mit den darin unsinnigen Texten des Dichters Hugo Ball, fühlten sich die ersten Minuten nach Aufbruch an. Obwohl sich „Fear of Music“ musikalisch von seinen Vorgängern unterscheidet, lag es hauptsächlich an der Verwendung der Moll-Klaviatur, die der Musik einen bedrohlicheren Klang verlieh. Zuvor waren David Byrne’s unkonventionelle Beobachtungen durch einen überaus humorvollen Tonfall unterlagert worden. Auf „Fear of Music“ war er immer noch komisch, aber nicht mehr so ​​lustig. Gleichzeitig ist die Musik noch zwingender geworden. Zudem ist bemerkenswert, dass die Talking Heads bei ihrem dritten Studioalbum die Bass-unterstützte Intensität der Disco Musik verwendeten. “We like some disco,” so schrieb es Sänger David Byrne in die Fußzeile zu „Once in a Lifetime: The Best of the Talking Heads“. “Some of it was radical, camp, silly, and disposable.” Die Verwendung afrikanischer Polyrhythmen, die Einbeziehung von Funk und Disco und die kontinuierliche Erforschung der aufkeimenden Punkszene durch die Band sind wichtig, wenn wir diese als historisch verachtete Genres erkennen. Punk war Arbeiterklasse; es war hässlich und laut. Funk und Disco waren Genres, die von schwarzen, lateinamerikanischen und schwulen Zuhörern bevorzugt wurden. Sie waren Ausdruck von Freude und Sinnlichkeit. Als berühmtestes Lied des Albums (und erste Single) malt „Life During Wartime“ das Bild einer dystopischen, vom Krieg zerrissenen Gesellschaft und eines einsamen Protagonisten, der versucht, mit Erdnussbutter zu überleben, Waffenbotschaften weiterzugeben und Erinnerungen an Musik, Partys und den Mann, der er einst war, in sich weiterleben zu lassen. Die Strophe “This ain’t no party, this ain’t no disco, this ain’t no fooling around,” ist eine der berühmtesten der Band, und die militanten Funk-Percussion-Linien des Songs

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machen es zu einer Einöde, zu der es sich verdammt gut tanzen lässt. „Fear of Music“ ist ein Album voller Warnungen: In fast jedem Song bricht Byrne in die Songs ein, um die schlechten Nachrichten zu überbringen. “Don’t look so disappointed. It isn’t what you hoped for, is it?”, singt er in dem Bowie-artigen „Memories Can’t Wait.” “This is the verdict they reach: never listen to the electric guitar,” fordert er in „Electric Guitar“, es ist „a crime against the state.” Selbst die gütigsten Untertanen sind voller Sorge: „Air“, singt er, „can hurt you too,“ Nicht einmal seine eigenen Gedanken sind sicher. Byrne spricht zu den Menschen, die Musik weiterhin als Bedrohung für die moralische Haltung gesunder Köpfe ansehen. “Is this a crime against the state? No!” Aber es ist nicht alles Finsternis. „Mind“ und „Paper“ sind starke Brücken zwischen „More Songs About Buildings And Foot“ und „Fear of Music“ und darüber hinaus, driftende, luftige Stücke, in denen Byrne die Noten dehnt und zerdrückt, wie es ihm gerade so passt. Was „Fear of Music“ zu einem so perfekten dritten Album machte, ist, dass es sowohl auf das zurückgreift was war, als auch die Grundlage für das legte, was kommen würde. Sogar ein leicht zu übersehender Song wie „Heaven“ mit seinem gefühlvollen, straßenmüden Näseln bot dem sieben Jahre später folgenden „True Stories“ einen fruchtbaren Nährboden.


Remain In Light Doch erstmal wurde dieser Ansatz mit „Remain In Light“ aus den 1980er Jahren veredelt, dass erneut von Eno produziert wurde. Die Talking Heads fügte mehrere Ideen hinzu, darunter eine Hornsektion, so dass sie ihre dichte Mischung aus afrikanischen Percussions, Funkbass und Keyboards, Pop und Elektronik ergründen konnten. Der musikalische Übergang, der mit „Fear of Music“ hier und da sichtbar war, wurde auf dem vierten Album „Remain in Light“ der Talking Heads verwirklicht. „I Zimbra“ und „Life During Wartime“ aus dem früheren Album dienten als Blaupausen für eine CD, auf der die Gruppe afrikanische Polyrhythmen auf einer Reihe treibender Groove-Tracks erkundete, über die David Byrne seine typisch unverbundenen Texte rezitierte und sang. „Remain in Light“ hatte mehr Worte als alle vorherigen Heads-Platten, aber sie zählten bei der Musik weniger als je zuvor. Die Single „Once in a Lifetime“ des Albums floppte gar bei der Veröffentlichung, reifte jedoch im Laufe der Jahre aufgrund eines auffälligen Videos und einer Live-Version, die der zweiten Single dazugegeben wurde, zu einem Kassenschlager. Obwohl die Talking Heads zu diesem Zeitpunkt keine New-Wave-Band im eigentlichen Sinn waren, agierten sie weiter in New Yorks größerer Punkszene, die darauf abzielte, den Kunstgriff des Rocks der späten 70er-Jahre abzulehnen. Punk suchte eine Musik, die gefühlt und nicht nur aufgeführt wurde. Und doch waren die Talking Heads auffällig künstlich. David Byrne machte seine Herangehensweise an Songwriting und Performance so unnatürlich wie möglich. Er schrieb unsinnige Texte über Parkplätze und Feuer. Sein Gesang war durch Brüche und unnatürliche Modulationen getrübt, die die Melodien immer wieder mit Bravour vereitelten. Auf der Bühne erweckten seine Bewegungen den Eindruck von Nervosität, aber wie

eine vorgetragene Nervosität: Als er tanzte, schien er sich über das Tanzen lustig zu machen. Kurz gesagt, er hat falsch gehandelt. Aber seine Fälschung war so beständig, die Logik dahinter so widersprüchlich, dass sie zu einer überzeugenden öffentlichen Identität wurde. In der Aufführung und in den Akten gab es keinen Teil von Byrne, der nicht er selbst war. Infolgedessen wirkte sein Kunstgriff ehrlicher als Pink Floyd’s depressives Selbstmitleid. Die zentrale Erkenntnis der Talking Heads – was sie nicht nur seltsam, sondern auch aufregend und relevant machte – war, dass sich ihre Arthouse-Affinität aufrichtiger anfühlte als die der amerikanischen Kultur. „Remain in Light“ veränderte die Musik zu Beginn des neuen Jahrzehnts. Es brachte die verschiedenen Kulturen zusammen und legte den Grundstein dafür, wie verschiedene Genres miteinander verschmelzen können. Es ist ein Fußabdruck, der bis heute deutlich sichtbar ist. „Remain in Light“ ist ein Art-Rock-Meisterwerk, eine aufregende Synthese aus Kunstfertigkeit und dem zu dieser Zeit unbekannten, von Byrne und Eno eingebauten, Element: Afrobeat.

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Speaking In Tongues Ein Jahr später schien die Zukunft der Band jedoch alles andere als gesichert. Was könnten sie einem solchen Album folgen lassen? Wohin als nächstes? Die Bassistin Tina Weymouth sagte damals: “We spent so many years trying to be original that we don’t know how to be original any more.” Die Talking Heads machten also das, was jede hochkreative Band, die kurz vor der Trennung stand, tun sollte: Das Quartett machte eine Pause, um sich mit Nebenprojekten abzulenken. David Byrne drehte „The Catherine Wheel“, einen Soundtrack für ein Ballett. Weymouth und Ehemann / Schlagzeuger Chris Frantz haben ihr erstes Album als Tom Tom Club veröffentlicht. Und der Gitarrist / Keyboarder Jerry Harrison veröffentlichte sein erstes Soloalbum, „The Red And The Black“, das Jerry Harrison überzeugte, wenn auch sonst niemanden. Als sie sich neu formierten, waren die schwindelerregenden Eifersüchteleien in dieser bekanntermaßen gestörten Band nicht verschwunden, aber sie waren ausreichend genug zurückgegangen. Die neue

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kongeniale Atmosphäre ermöglichte es ihnen, ihr fünftes Album „Speaking In Tongues“ zu veröffentlichen. Und darauf zu finden ist der bahnbrechende Track „Burning Down The House“, mit dem damals viele zum ersten Mal mit den Talking Heads in Berührung kamen. Es war die erste Single und trotz der Ehrfurcht, mit der die Heads jetzt von den Institutionen der amerikanischen Popkultur gesehen werden, ist es erwähnenswert, dass „Burning Down the House“ ihre einzige Top-Ten-Platzierung in den US Billboard Hot 100 bleibt und auf Platz neun steht. In Kanada und Neuseeland erreichte sie ähnliche Chartpositionen. Paradoxerweise hat es der Song in die Charts in Großbritannien überhaupt nicht geschafft, obwohl der britische Musikmarkt den Talking Heads historisch viel sympathischer gegenüberstand („Once in a Lifetime“ und auch „Remain In Light“ waren dort bescheidene Erfolge). Kurz nach der Veröffentlichung wurde es zu ihrem kommerziell erfolgreichsten Album und leistete wohl einen großen Beitrag dazu, dass ihr folgendes Studioalbum „Little Creatures“ zum meistverkauften ihrer Alben wurde. Wie ist das fünfte Studioalbum der Talking Heads nach dreißig Jahren zu verstehen – als Sprungbrett für ihren schrittweisen Erfolg oder als das erste Anzeichen, dass eine einst so großartige Band vor drei Jahren ihren kreativen Höhepunkt erreicht hatte? Man kann alternativ auch „beides“ sagen. Die neun Songs von „Speaking in Tongues“ zeigen die gleiche Präzision und das gleiche Flair in bemerkenswerter Qualität. Oberflächlich gesehen ist „Girlfriend Is Better“ eine messerscharfe, unkomplizierte Nummer, die durch Byrne’s lebhaftes Prahlen und durch die Art von schnellen, zickzackenden Synths, die auf Rap- und Funk-Platten so häufig zu hören sind, gestützt wird.


Die Komplexität aller Songs hindert sie jedoch nicht daran, großartige Tanzstücke zu sein. Sie alle sind in einem geschickten, aber elastischen Rhythmus verwurzelt. Es war zugleich das erste selbstproduzierte Album der Band und glänzt durch eine erfrischende Leichtigkeit. Die Beats in „Speaking In Tongue“ sind hypnotisch, die Synthesizer dunkel, Byrne’s Stimme schwankt zwischen Paranoia und Hochgefühl und so war „Speaking In Tongue“ nach den beiden letzten Alben, die sie stilistisch in eine Ecke drängten, wie ein offenes Fenster, durch das die Talking Heads 1983 hindurchflogen.

Little Creatures Nachdem die Talking Heads die letzten zehn Jahre damit verbracht haben, von einem Genre zum nächsten zu springen, unternahmen sie einen Schritt, der sowohl unerwartet als auch am meisten erwartet wurde. Es war ein ehrgeiziges Unterfangen, sich von einer der zackigsten, hyperaktivsten Gruppen im New Wave in eine Richtung zu entwickeln, die durch „Little Creatures“ das am schnellsten zugänglichste Album der Talking Heads entstehen ließ. „Little Creatures“ lehnte das Muster der letzten Heads-Alben ab, in denen Instrumental-Tracks aus Riffs und Rhythmen herausgearbeitet wurden. Danach improvisierte David Byrne die Melodien und Texte. Die Songs auf „Little Creatures“, von denen die meisten nur Byrne (die Band nur mit Arrangements) zugeschrieben wurden, hörten sich an, als wären sie als Songs geschrieben worden. Vielleicht war die Band deswegen gestrafft worden, weil zusätzliche Musiker nur für bestimmte Effekte eingesetzt wurden, anstatt als Ensemble mitzuspielen. Byrne, der

ausnahmsweise einmal in seiner natürlichen Bandbreite sang, wurde häufig mit Background-Sängern verstärkt. Das Gesamtergebnis: Ohrwurm. „Little Creatures“ ist ein Pop-Album, und ein gelungenes, von einer Band, die wusste, was sie da tat. Das eröffnende Stück „And She Was“ handelt von Levitation, das auf dem Debütalbum der Band nicht fehl am Platz gewesen wäre. Nach Jahren intensiver Studioexperimente mit Echos und Verzögerungen ist es erstaunlich zu hören, wie Chris Frantz’ steifes, von abprallenden Polyrhythmen befreites Trommeln und Byrnes abgeschnittenes, klingelndes Gitarrenriff den hellen Refrain auf eine Reinheit poliert, von der wir dachten, sie hätten diese Eigenschaften schon lange verworfen. Es gibt keine gebirgigen überschneidenden Spuren auf dem Album und wenn die Heads über das Basisquartett hinaus Instrumente hinzufügen – Steel Guitar in „Creatures of Love“, Chorharmonien und Cajun-Akkordeon in „Road to Nowhere“ – dann sind es Saxophon- und Percussions, die auf subtile Weise glänzen und verhindern, dass die Songs zu Genre-Grenzüberschreitungen mutierten. Die Passform mag keine natürliche gewesen sein, aber es gibt nur wenige Alben aus dieser Zeit, die vom Kurs abweichen, aber dennoch so fröhlich wirken wie „Little Creatures“, das am 10. Juni 1985 veröffentlicht wurde. Entsprechend ist es so weit ​​ von den von Brian Eno produzierten Meisterwerken „Fear of Music“ und „Remain in Light“ entfernt, wie es nur geht, aber dies ist immer noch ein verdammt gutes Pop-Album. Es scheint, als hätte sich Frontmann David Byrne tatsächlich in ein Studio gesetzt, einige Riffs geschrieben, einige Texte zusammengestellt, die sich reimten, und sie dann der Band vorgestellt. Es war wohl auch das erste Album, das gemischte Gefühle hervor rief und „ Little Creatures“ zu keinem perfekten Album machten. Wer aber die Talking Heads mag und kein Problem damit hat, dass David Byrne hier ausnahmsweise ein ganz normaler Typ ist, für den gibt es auch bei diesem Album viele glanzvolle Momente zu erleben.

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True Stories Das siebte Studioalbum „True Stories“ der Talking Heads erschien am 15. September 1986 auf Sire Records, ungefähr zur gleichen Zeit wie der gleichnamige Film von Sänger David Byrne. Das Album enthält nicht die Darstellungen der Schauspieler aus dem Film. Stattdessen handelt es sich um ein Studioalbum der Talking Heads, das Aufnahmen der Songs aus dem Film enthält. Während die bestimmungsgemäße Originalbesetzung des Films zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht wurde, erschienen einige der Filmaufführungen auf einzelnen Veröffentlichungen mehrerer Songs des Albums. Später in diesem Jahr veröffentlichte Byrne das Album „Sounds from True Stories“, das Hintergrundmusik aus dem Soundtrack enthielt. 2018 wurde schließlich ein vollständiges Film-Soundtrack-Album veröffentlicht, das Tracks aus den beiden veröffentlichten Alben (obwohl nur die drei Auftritte der Talking Heads aus dem ersten True Stories-Album, die tatsächlich im Film zu hören waren, enthalten waren) und die Darsteller-Auftritte aus dem Film. Die Single „Wild Wild Life“ wurde zum großen Hit des Albums, konnte aber nicht die Tatsache überdecken, dass der Soundtrack der Talking Heads zum Regiedebüt von David Byrne nicht gerade zeitgemäß klang. Vielmehr wurden sowohl der Film als auch seine Songs als eigenwillig skurrile Runderneuerungen von anderem, besserem Material abgetan; und es ist bekannt, dass das Quartett um die Zeit der Sessions auseinanderzusplittern begann. Byrne selbst sagte,

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dass er die ganze Idee, „True Stories“ mit seinem eigenen Gesang zu veröffentlichen, bedauerte, eine Entscheidung, die auf Geheiß der Geldgeber des Films getroffen wurde. Dennoch und unabhängig davon betrachtet, ist es die lockerste und am wenigsten komplexe Aufzeichnung, die sie je gemacht haben. Byrne klang nie aufgeregter – oder weniger distanziert. Auf dem ausgelassenen „Love for Sale“ erklärt er: “I was born in a house with the television always on/Guess I grew up too fast/And I forgot my name,” Byrne springt anmutig vom knurrenden Mann aus dem Sumpf in den Versen zu einem artigen, glamourösen Refrain, während die Rhythmussektion von Chris Frantz und Tina Weymouth die Wut der Gitarre mit ihrem charakteristischen groovenden Funk versöhnt. Es ist unmöglich, dieses Album in ein oder zwei Genres einzuteilen. Die ersten sechs Tracks haben die Angewohnheit, von einem Genre zu einem völlig anderen zu wechseln. Die ersten beiden Songs wirbeln nur so vor Aufregung auf dem Plattenteller. Dann gehen sie in einen sehr entspannenden Reggae-Song über, der sich paradiesisches anfühlt. „Hey Now“ fängt mit einem sehr faulen, sprudelnden Gitarrenriff an und wird dabei von einer sehr kraftvollen Marimba unterstützt. Es bietet einen großen Kontrast mit dem entspannten Gefühl im Vergleich zu dem berauschenden Gefühl, das wir zuvor erleben durften. Die Talking Heads


beschäftigen sich weiterhin mit ihren amerikanischen musikalischen Wurzeln und verfolgen hier wieder eine vernünftigere und erfolgreichere Mission als ihr mit einem Tropenhelm ausgestatteter Ausflug nach Afrika auf „Remain in Light“. Im Großen und Ganzen greifen die Talking Heads auf „True Stories“ auf bewährte Rezepte zurück und auch wenn dieses Album ein bedauerliches Kapitel in der Bandgeschichte bleiben mag, ist es sicherlich kein peinliches. Man kann gelegentlich richtig viel Spaß haben und völlig stressfrei und befriedigt am Ende dieser Platte zurückgelassen werden.

Naked Das achte und letzte Album „Naked“ der Talking Heads erschien im April 1988 und war eine Art Reaktion auf Paul Simon’s „Graceland“, das 1986 mit World Music das Mainstream-Publikum eroberte. Songs der Talking Heads aus den frühen 1980er Jahren, insbesondere in „Speaking in Tongues“, brachten bereits ähnliches hervor, aber nach der darauf folgenden massiven Welttournee begann sich die Gruppe musikalisch wieder zu verschlanken. Sie wussten auch, dass das Ende nahe bevorstand, als sie 1987 in einem Pariser Studio mit der Arbeit an „Naked“ begannen. Nach zwei Alben mit reduziertem Americana im Talking Heads-Stil erweiterte die Band erneut ihr Spektrum, was zweifellos von Simon’s Erfolg getrieben wurde. „Naked“ war groß, explosiv und voller polyrhythmischer Bewegungen und Schwankungen, die „Graceland“ zu einem weltweiten Hit machten. Zu den Aufnahmen gehörten sogar Dutzende von Begleitmusikern, die die Platte mit verschiedenen Hörnern, Percussions und Keyboards versorgten. Abwechselnd seriös und verspielt macht sich Frontmann David Byrne erneut Sorgen um die Regierung, die Umwelt und die Notlage des Arbeiters. Es kommt „Remain in Light“ im Geiste am nächsten – wohl zu nahe: Die erste Seite ist eine Sammlung von quirligen, synkopierten, fast tanzbaren Melodien; die zweite Hälfte ein düsteres, dunkelphilosophisches Nachdenken über

Identität und die menschliche Natur. In diesem Sinne findet „Naked“ in „Graceland“ neue Inspiration. „The Democratic Circus“ ist der New-Wave-Sound der 1980er-Jahre, bevor er später in rauere, riffgetriebene Abschnitte aufbricht. In „The Facts of Life“ werden maschinenähnliche Synth-Effekte von Jerry Harrison verwendet, die ungefähr eine Minute lang etwas kühl wirken, aber nach sechseinhalb Minuten ziemlich banal werden. „Mommy Daddy You and I“ enthält einige Blues-geprägte Strophen über einem tiefen SynthBass und ein schnelles Akkordeon von James Fearnley während der Verse. „Big Daddy“ ist ein schöner Fusion-Song mit einem reinen Soul-Intro und Blues-Elementen, angeführt von der Mundharmonika Don Brooks’. „Naked“ ist eines der am besten klingenden Alben der Talking Heads, ein volles Bankett an Sounds, die von Co-Produzent Steve Lillywhite und Gästen wie dem ehemaligen Smiths-Gitarristen Johnny Marr und Lillywhite’s Ehefrau, der britischen Singer-Songwriterin Kirsty MacColl ergänzt wurden. Die Band löste sich kurz nach ihrer Veröffentlichung auf, obwohl sie die Neuigkeiten erst drei Jahre später offiziell verkündeten. Es war damals eine ziemliche Heldentat, ein so ehrgeiziges Album wie „Naked“ zu machen, und die Heads – vier Musiker, die die Grenzen endgültig satt hatten, die sie sich einander auferlegten – taten dies mit Stil und Vitalität. Danach verfolgte Byrne einige Soloprojekte, ebenso wie Harrison, Frantz und Weymouth setzten ihr Nebenprojekt Tom Tom Club fort. 1991 gab die Band bekannt, dass sie sich getrennt hatten. Kurz darauf startete Harrison’s Produktion mit erfolgreichen Alben von Live und Crash Test Dummies. 1996 wurde die ursprüngliche Besetzung minus Byrne für das Album „No Talking Just Head“ wiedervereinigt. Byrne verklagte Frantz, Weymouth und Harrison, weil sie versucht hatten, als Talking Heads aufzunehmen und aufzutreten, also ging das Trio an den Heads vorbei. 1999 arbeiteten alle vier zusammen, um eine Ausgabe von Stop Making Sense zum 15-jährigen Jubiläum zu promoten, und sie traten auch bei der Feier 2002 für ihre Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame auf. In den 2010er Jahren veröffentlichte Byrne eine Reihe von Einzel- und Kooperationsprojekten. Tom Tom Club tourte weiter, während Harrison Alben für No Doubt, Von Bondies und Hockey produzierte. -----

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"The last record was very intense, and had a very deeply therapeutic subject matter,” erzählte Kesha kürzlich dem NME. “And now I just wanna beeline for happiness. My fans have stood by me through so much, and now I want to give them a record that they’re just going to fucking love.” Vielleicht ist „High Road“ deshalb klanglich so inkonsistent. Kesha tut nur, was sich zur Zeit gut anfühlt. Möchten wir, dass der erste Track „Tonight“ als Pianopop eröffnet wird, der von Gaga aus der „Joanna“ -Ära inspiriert ist und das Erodieren vor dem Einstieg in das Massenmarkt-Chartfutter beschleunigt? Sicher! Möchten wir den voguistischen Alt-Country-Innovator Sturgill Simpson und – tief durchatmen – den aktuellen Beach Boy Brian Wilson gewinnen, um die von Bedauern durchtränkte Akustik-Nummer „Resentment“ herauszusuchen? Warum nicht! Möchten wir aggressive Retro-Videospiel-Soundeffekte mit einem funkfreundlichen Refrain auf „Birthday Suit“ kombinieren? Ähm … ja, wir haben es verstanden. Die Sache ist jedoch: Nur das zu tun, was wir wollen, ist ideologisch ein großartiges Thema, das sich musikalisch jedoch nicht wirklich summiert. „Rainbow“ war klanglich und thematisch konsequent. Es gab Zugeständnisse an den Mainstream – Kesha hatte immer ein ausgeprägtes kaufmännisches Gespür, auch nachdem sie das scherzhafte „$“ in ihrem Namen fallen ließ – aber im Großen und Ganzen mischte es verletzte Entschlossenheit mit einer abgehärteten Country-Ästhetik. „High Road“ ist dennoch unverkennbar das Werk derselben Glitter-Pop-Künstlerin, die 2009 die Charts aufwirbelte, aber mit einem neuen Gefühl der Selbsterkenntnis: “Woke up this morning feeling myself / Hungover as hell like 2012,” erklärt sie im reflektierenden „My Own Dance“. Höhepunkte sind das protzige Hüpfen von „Raising Hell“ mit Big Freedia und die plappernden Samples, mit denen „Honey“ sich wie ein wilder, spontaner Bar-Singalong anfühlt. Und diejenigen, die es bis zum Schlusslied schaffen, werden mit einem mitreißenden Juwel belohnt: „Chasing Thunder“, eine Destillation der ernsthaften, kratzigen Stimme, die Kesha einst zu einem Star aufstiegen ließ. 5/10

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GENRE: DANCE POP


Kesha

High Road

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ALA.NI ACCA

Die menschliche Stimme wird oft als Instrument beschrieben. ALA.NI greift diese Idee auf und stopft Feuerwerkskörper in die Kehle, während sie ein Album präsentiert, das komplett a cappella erstellt wurde: Sie ahmt jede gebogene Saite nach und bläst einzig mit ihrer Stimme die Songs vorwärts, wie sanft schwingendes Schilf in einer leichten Sommerbrise. Die Genauigkeit, mit der diese Klänge wiedergegeben werden, ist unglaublich. ALA.NI ist entweder eine Hexe, eine Göttin oder eine sehr talentierte Sängerin und Arrangeurin – es liegt nahe, dass sie eine kleine Prise von allem ist. Die Kreativität von ALA.NI stößt auf dem zweiten Album „ACCA“ nur selten an ihre Grenzen. Die gebürtige Londonerin lebt heute in Paris und obwohl es auch vom Namen „Le Diplomate“ zu erwarten wäre, ist es ein kleiner Schock, Iggy Pop’s vertraute französische Aussprache zu hören. Eine noch größere Überraschung ist jedoch, wie sexy seine kratzige Stimme klingt, wenn diese in der Sprache der Liebe spricht Mit der gleichen Methode wie auf ihrem Debütalbum „You & I“ aus dem Jahr 2017, hat ALA.NI ihre Nachfolge-Platte wieder komplett selbst auf einem iPad produziert und a capella eingesungen. Mit „Hide“, bei dem sich der Stil massiv verändert, wird die Lo-Fi-Electronic für kurze Zeit zu einer einsamen Kabarettnummer, wie es bereits auf ihrem ersten Album zu hören war. Die zweite Hälfte beginnt mit einem kurzen, wiedergegebenen Spoken-Word-Track „All the Things“, bevor Stanfield zu „Van P“ wechselt, der unglaublich cool ist und zu den herausragenden Tracks auf dem Album gehört. Ein polierter Alt-Pop-Stil, der

sich beinahe einer völlig anderen Songwriterin zuordnen ließe, ist definitiv die Richtung, die ALA.NI verfolgen sollte. Zugleich charakterisiert der Track den Rest der zweiten Hälfte. ALA.NI kann mit dem zweiten Album „ACCA“ auf jeden Fall den gewaltigen Eindruck, den sie mit ihrem Debüt hinterlassen hat, bestätigen. Ihre einzigartige Einstellung zum musikalischen Handwerk ließ sie einen spärlichen Sound entwickeln, der aus Sampling-Stimmen, beat boxing, Streichern und Blechbläsern besteht, um komplizierte, wenn nicht sogar leicht bizarre Songs mit delikaten Arrangements zu kreieren. 7/10

GENRE: EXPERIMENTAL

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n einem Statement zu Green Day’s „Father Of All…“ beklagt Frontmann Billie Joe Armstrong den aktuellen Stand des Rock’n’Roll und bewirbt ihr 13. Album als “inspired… A NEW sound for us. Dirty and messy… I want our attitude to be on the level as these young hip hop acts. The baddest rock band on the planet that gives a s**t.” Es ist schwer zu sagen, ob Armstrong das ironisch gemeint hat. Glamouröser, hymnischer und dreckiger Vater von Allem… mag sein, aber „inspired“ und „baddest“ ist das neue Album von Green Day definitiv nicht. Sie erfüllen jedoch das Versprechen eines „new sound“. Man fragt sich, ob dies tatsächlich das bahnbrechende Pop-Punk-Trio der 90er Jahre ist, aus dem 2004 die politisch aufgeladene Rockoper „American Idiot“ hervorging? Armstrong’s markanter Gesang wurde durch Falsett und Verzerrungen ersetzt. Beim vorletzten Titel „Take the Money and Crawl“ hört es sich so an, als würde er aus einem High-School-Schließfach heraus singen. Das Eröffnungslied klingt wie eine Demo eines neuen Muse Songs, während das folgende „Fire, Ready, Aim“ mit beinahe identischer Tonart wie ein missglückter Versuch aussieht, als merkwürdiger Hives-Verschnitt neu durchzustarten. Während ihrer langen und fruchtbaren Zeit als Band haben Green Day weit mehr erreicht, als die meisten nicht einmal im Stande währen es zu erträumen. Aber während sie immer noch unbestreitbar eine der großartigsten Rock-Acts ihrer Generation sind – was immer wieder durch ihre riesigen Live-Shows und Festival-Headlines bewiesen wird – haben ihre neueren Platten einfach keinen Schwung mehr. Es mag wohl das typische Sättigungsgefühl sein, mit dem sich wiederum viele große Bands wie Green Day herumschlagen. Zumindest muss man dem Trio zu Gute halten, dass im weiteren Verlauf eine gewisse Experimentierfreudigkeit nicht abgesprochen werden kann. Von den effektreichen Gesängen des Titeltracks zum rauen Country-Rock-Twang von „Stab You In The Heart“ über die mittelschnelle Nostalgiewelle von „I Was A Teenage Teenager“, ist dies ein Album, dass sich irgendeiner sichtbaren Formel entziehen kann. Diese Tracks sind dementsprechend eine

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Abkehr von fast allem, was Green Day in den letzten 10 Jahren herausgebracht haben. In der Regel handelt es sich dabei um viel mehr Pop-artige Arrangements, oft mit mehreren Gesangsebenen, Harmonien und Streichern. Sie waren nicht immer in der Lage, eine Story zu erstellen, die so kugelsicher ist wie „American Idiot“ oder einen Schalldurchbruch auslöst, der den Mainstream wie einst „Dookie“ erschütterte. „Father Of All…“ wird niemanden diesbezüglich umhauen. Aber dafür liegt der Fokus darauf, das „Album“ zu einem zusammenhängenden Statement zu formen und nicht nur zu einer Anreihung von Singles, die scheinbar keine Beziehung zueinander haben. Natürlich könnte man Green Day nun auch Altertümlichkeit unterstellen. Letztlich wird das neue Album von Green Day nicht die Welt verändern, keine Revolution auslösen und in der Diskographie eine eher untergeordnete Rolle einnehmen. Trotzdem macht „Father Of All…“ gelegentlich ein bisschen Spaß und kann durchaus so manche Green Day Playlist um einen weiteren Song bereichern. 5/10

GENRE: POP PUNK


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Beatrice Dillon Workaround

Die Tracks auf dem Debütalbum von Beatrice Dillon fühlen sich gleichzeitig luftlos, zuckend und rhythmisch an. „Workaround“ ist äußerst charmant und einzigartig. Beatrice Dillon hat ein herausragendes Rhythmusgefühl und zeigte das bereits in der Vergangenheit in diversen Produktionen und DJ-Sets, die für ihren geduldigen und flüssigen Griff nach Raum, Textur und teuflischen, synkopierten britischen Clubstilen geschätzt werden. Insbesondere die beiden Nummern „Square Fifths“ und „Workaround 8“ klingen wie ein YouTube-Glitch, ein CD-Aussetzen und ein Motor, der sich langsam auseinander dreht, während er mit konstanten 150 BPM dem Album ein leichtes Schaudern verpasst. Die ansteckende Wirkung von Beatrice Dillon’s neuen Songs beruht auf einer längeren Zeit des Bastelns mit vorhandenen Klängen. Es ist ein Debüt, das nicht nur an einer unkonventionellen Agenda festhält, sondern auch eine Hingabe zeigt, das Genre Techno in einen anderen Bereich zu verlegen. Beatrice Dillon hat lange damit experimentiert, ihr elektronisches Spektrum zu erweitern, aber „Workaround“ ist ein Album, das ihre Wurzeln berücksichtigt. Dillon lässt sich nicht nur auf Kultnamen wie Throbbing Gristle, Shinichi Atobe und sogar auf Teile von Aphex Twin ein, sondern bietet auch eine faszinierend einfache Art der Einflussnahme, bei der ihr ganz persönlicher Stempel mittig platziert wurde. Es ist daher eine echte Schande, dass es in der zweiten Hälfte des Albums mehrere Tracks gibt, die sich im Vergleich der zuvor genannten leicht anfühlen. „Workaround 9“ klickt gut, aber ohne Wiedererkennungswert, während das Zwischenspiel „Pause“ wie eine kaputte Türklingel anmutet. Man hat das Gefühl, dass das starke theoretische Fundament des Albums es daran hindert, Größe zu erreichen, aber gleichzeitig ist es beinahe unmöglich, Dillon’s Engagement für ihre Ideen nicht zu bewundern und lässt uns zudem darüber nachdenken, wie sie die Idee von Techno und Clubkultur in Zukunft weiter transformieren wird. 7/10

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GENRE: ELECTRONIC - TECHNO


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La Roux

Supervision

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Sechs Jahre nach dem letzten La Roux-Album „Trouble in Paradise“ – das wiederum vier Jahre nach dem Debüt im Jahr 2009 erschien – kehrt Elly Jackson mit „Supervision“ zurück, einer Aufzeichnung, die in den begleitenden Pressemitteilungen als die Platte bezeichnet wird, die sie „immer machen wollte”. Nach dem Triumph von „Trouble in Paradise“ zurückzukehren ist eine nicht beneidenswerte Aufgabe. Dieses Album wird von vielen als das beste Pop-Album 2014 angesehen. Die üppigen Texturen und das langsame Tempo – ganz zu schweigen von den kühlen kalifornischen Tönen des Albumcovers – waren so beeindruckend wie ein Gemälde von David Hockney. „Supervision“ hingegen ist hell, aber seltsam leblos. Jackson klingt brüchig, als wäre sie frustriert, wenn sie versucht, eine einzelne, unpolierte Idee in mehrere Tracks zu zerlegen. Am Ende hat sie ein Album, das sie mit dem Autopiloten hätte machen können. Tatsächlich ist „Supervision“ in Elly Jacksons Brixton-Küche geschrieben und aufgenommen worden. Unzufrieden mit der Behandlung der großen Labels, die das Jahr 2014 mit „Trouble In Paradise“ umgab, fühlt sich diese neue DIY-Methodik wie ein Gegenpol zu ihrem glänzenden Vorgänger an, ein Versuch, ihre Kunst und ihre Identität fest zurückzugewinnen. Es ist eine Verknüpfung von Einflüssen – größtenteils 80er-Jahre-Pop, mit einer Vorliebe für Prince und Nile Rodgers – aber ein Versäumnis, darüber hinauszugehen. Dies führt dazu, dass sich „Supervision“ etwas eingeschränkt anfühlt, da sich ihre handgemachte Methodik oft frustrierend unentwickelt anhört. In den besten Momenten („International Woman Of Leisure“, „21st Century“) erinnert „Supervision“ an klassische TOTP2-Darbietungen, während „Automatic Driver“ und „Otherside“ mehr danach klingen, als hätte sie gerade auf einem alten Keyboard die voreingestellte Play-Taste gedrückt. In der Mitte wirkt alles weitestgehend harmlos und hörbar. Was in Ordnung ist, aber wir erwarten mehr von La Roux. So ist „Supervision“ ist im Grunde genommen eine frustrierende Erfahrung. 5/10

GENRE: SYNTH POP - ELECTRONIC

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It felt like I’d retired or was in prison“, sagte Isobel Campbell über die letzten Jahre, in denen sie auf die Rechte an ihrem Album warten musste, da ihre Plattenfirma schloss und erst kürzlich ein neuer Vertrag mit Cooking Vinyl zu Stande kam. „But if you’re lucky to live long enough, there are always going to be peaks and troughs.“ So lange die Wartezeit auf „There is No Other…“ andauerte, so gelungen ist diese Platte nun mit ihrem schimmernden Indie Folk und den zittrigen Synths geworden. Auf ihrem ersten Soloalbum seit 14 Jahren schwelgt die frühere Sängerin von Belle And Sebastian in einer sanften psychedelischen Fantasie Kaliforniens, die mit Gospel-Gesang und einem Tom Petty-Cover unterlegt ist. Campbell’s akustisch gebettetes, funkelndes „There Is No Other…“ sagt nicht, wo sie sich gerade befindet, sondern es werden verspätete Erklärungen darüber veröffentlicht, die nach der Auflösung der Partnerschaft mit Lanegan im Jahr 2013 zutage traten. „The Heart of it All“ trällert im schicken Folkgewand vor sich hin, während „Rainbow“ von Bossa Nova stammt. Insgesamt ist der Effekt von Nick Drake mit Bobbie Gentry verschmolzen. Ausnahmen sind eine elektronisch-artige Version von Tom Petty’s „Runnin ‚Down a Dream“ und Momente, in denen Aretha Franklin in voller Länge auf „Hey World“ heult. Ansonsten ist die Atmosphäre wehmütig, mit Campbell’s enger, intimer Stimme, die mit Hammond-Orgel, Streichern, Vibraphon und der einen oder anderen Oboe verwoben ist. So geschmackvoll das auch ist, die Songs verweilen nicht. Viele basieren auf wiederholt angepassten kurzen Melodien oder Gitarrenlinien. In „Ant Life“ und „Rainbow“ deutet die sehr abgeschnittene Phrasierung der akustischen Gitarre darauf hin, dass es sich eher um einen Loop als um ein Echtzeitspiel handelt. Letztendlich ist „There Is No Other“ meist ein sanftes Meisterwerk, aber gelegentlich zu absichtlich, um bereits jetzt wieder nach Hause zu zurückzukehren. 7/10

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GENRE: INDIE POP


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m Jahr 2007 wurde Gil Scott-Heron aus dem Gefängnis entlassen. Bevor das Jahr zu Ende ging, war der legendäre Dichter und Musiker mit Richard Russell von XL Recordings im Studio, um seinen kraftvollen und ebenso bahnbrechenden Langspieler „I’m New Here“ aufzunehmen. Neun Jahre und 364 Tage später veröffentlicht der Jazz-Schlagzeuger, Bandleader und Beatmaker Makaya McCraven mit „We Are New Again“ eine Neuinterpretation von Scott-Heron’s majestätischen Songs. McCraven hält Gil’s gesprochene Worte intakt und baut neue Kompositionen auf, um diese beeindruckenden Zeilen gebührend zu würdigen. McCraven hat eine exzellente Sammlung von Musikern zusammengetragen, darunter den Harfenist Brandee Younger, den Tortoise-Gitarrist Jeff Parker und den Bassist Junius Paul. Mit frechen Beats, introspektiven Streichern und einem sinnierenden Klavier wirft er ein neues Licht auf Scott-Heron’s fragile und manchmal kraftvolle Ausdrucksformen.

Als „I’m New Here“ im Jahr 2010 veröffentlicht wurde, war es das erste Album von Scott-Heron seit fast 15 Jahren. Das von Richard Russell produzierte und über XL Recordings veröffentlichte Set klang eher wie eine Kollaboration, ein stark elektronischer Schritt weg von dem Jazz geprägten, karibisch angehauchten, funkigen R&B, den Scott-Heron und Brian Jackson in den 70er Jahren ablieferten. Russell wandte sich an den Schlagzeuger, Komponisten und Konzeptualisten Makaya McCraven, um das Album zum zehnjährigen Jubiläum zu überarbeiten. Im Gegensatz zu der brüchigen Electronic und den gezackten Beats von Russell reduziert McCraven seinen Mix auf den Gesang von Scott-Heron. Er baut die Musik mit seiner typischen Postproduktionsmethode wieder auf, bei der er Live-Musiker einsetzte, um aus den Fragmenten anderer musikalischer Erscheinungsbilder etwas Neues zu erschaffen. Ein Beispiel finden wir im eröffnenden Stück, als Scott-Heron sein Gedicht „Broken Home“ liest. McCraven verwendete eine Vintage-Aufnahme seiner Mutter, die Flöte spielt, während sein Vater an der Kalimba zu hören ist und kombiniert es mit einem neuen Rhythmus und Younger’s wunderschöner Harfe. Im weiteren Verlauf führt der modale Post-Bop in „New York Is Killing Me“ Kontrabass, McCraven’s hüpfende Latin-Drums, Piano und Percussion-Ebenen ein und umrahmt Scott-Heron’s ikonischen, bluesigen Gesang auf dramatische, aber schwüle und bebende Weise. Auch auf Tracks wie dem optimistischen „I’ll Care Of You“ und dem großartigen Cover von Robert Johnson’s „Me and the Devil“ spielt McCraven mit der Struktur des Originals und gibt jedem Track einen neuen Blickwinkel. Was aber wirklich fasziniert, ist die Tatsache, dass Makaya McCraven die Trauer, Freude und das Vermächtnis von Gil Scott-Heron wohlwollend und klangvoll anerkennt und sicherstellt, dass diese lebenswichtigen Ausdrücke im Mittelpunkt des Albums bestehen bleiben. 9/10

GENRE: JAZZ

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ach ihrer raffinierten Live-Orchesterproduktion „Peaceful Ghosts“ aus dem Jahr 2016 kehren Nada Surf mit ihrem neuen Studioalbum, dem weitläufigen und spirituell poetischen Album „Never Not Together“, zurück. Der Titel des Albums ist angeblich eine Umschreibung von etwas, was Justin Vernon von Bon Iver sagte, als er im Podcast Song Exploder auftrat: „…holy math says we’re never not together.“ Es erscheint in der Mitte des Albums auf dem Track „Something I Should Do“ während eines erweiterten Abschnitts mit gesprochenem Wort von Leadsänger Matthew Caws. Das intensive Hören von Caws (wenn auch manchmal unangenehm), das über einen schäbigen instrumentalen Vamp schwatzt, erinnert zweifellos an die Single „Popular“ der Gruppe aus dem Jahr 1996. Es gibt viele gute Momente auf „Never Not Together“ – der unvergleichliche Titeltrack beispielsweise und „Something I Should Do“ (letzteres mit einem zischenden, Cars-ähnlichen Synth), das sehnsuchtsvolle „Just Wait“, der stattliche Rhythmus in „Ride in the Unknown“ und doch kommt der ganz besondere Moment erst mit dem sechsten Track „Looking for You“ – ein wahres Prachtexemplar: Nach der Hälfte des Songs, das mit dem Singen der Kinder beginnt, geht die Band in eine majestätische Akkordfolge über, die plötzlich ausbricht. Ein gewaltiger, ruhmreicher Refrain, der klug genug ist, die nächsten drei Minuten zu fahren, ihn mit einem Gitarrensolo und einem ungewöhnlichen Abschnitt zu garnieren, bevor er mit einem nicht schlüssigen Akkord endet, als würde er pausieren, bevor er für immer weitergeht. „Mathilda“ ist ebenso ein besonderer Moment, eine zärtliche und zum Nachdenken anregende Geschichte von Mobbing und Homophobie, geht meisterhaft vom Besonderen zum Genialen über und endet mit einigen wunderschön gearbeiteten und ziemlich tiefen Einsichten in die möglicherweise zeitlose Natur männlicher Unsicherheit. Klanglich gibt es hier nicht viel Neues (es scheint mehr Synthesizer als sonst zu geben und einige Streicher und ein Kammerchor tauchen bei „Looking for You“ auf), aber es ist zweifelhaft, dass langjährige Fans nach einer Neuerfindung suchen und den Sound der Band eben genauso haben möchten. Die Eröffnung zu „Something I Should Do“ klingt gar so herrlich wie das Jahr 1996, als Nada Surf Ihre Karriere einst begannen. „Never Not Together“ ist ein willkommenes Juwel für die späte Karriere einer ganz besonderen Band. 8/10

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GENRE: INDIE POP


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Das vierte Album „All Or Nothing“ von Shopping – bestehend aus Mitgliedern von Trash Kit, Sacred Paws, Current Affairs und Wet Dog – ist eine weitere beeindruckende Ansammlung spiralförmigen und energiegeladenem Dance-Punk. Die raueren Kanten von „The Official Body“ aus dem Jahr 2018 wurden jedoch mit einer saubereren Produktion des US-amerikanischen Produzenten Davey Warsop geglättet und mit einer neu entdeckten Anerkennung für den klassischen 80er-Jahre-Synthie-Pop aufgewertet. Ihre Tracks sind kräftig, dreist, politisch und zeigen einen angespannten Minimalismus, der bereits auf dem letzten Album

perfektioniert wurde. Bei „All Or Nothing“ wird der kinetische Post-Punk und das radikale Potenzial von Dance genutzt, um Bewegung zur Pflicht zu machen. Die gleichmäßig atemlose Qualität des Albums widerspricht dem halsbrecherischen Tempo seines kreativen Prozesses. „All or Nothing“ wurde während eines zehntägigen Zeitfensters zwischen London und Glasgow aufgenommen und bringt den Sound von Shopping in einen elektrischeren und elastischeren Luftraum. Zugleich erinnert beispielsweise „Initiative“ an die späteren Erase Errata. Das Album verbindet die unerschütterliche Energie von Shopping mit einer

Shopping

All Or Nothing

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summenden elektronischen Note, die ihren bewährten Sound aber nie dominiert. Ein Track, der dies besonders gut macht ist „Follow Me“, eine paranoide Klage mit Kraftwerk-artigen Synths-Interventionen, die die ängstlichen Rhythmen perfide ergänzen. Shopping sprechen mit großen Worten, spielen lautstark und zeigen, was Menschen bewegt. Es ist ein Album, das es kaum erwarten kann, veröffentlicht zu werden, sich in einer versammelten Menge zu verbreiten – und endlich zu sehen, wie die Bewegung der Masse beginnt. 7/10

GENRE: POST PUNK

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Auf „U kin B the Sun“, Ford’s erstem Album seit sechs Jahren, gibt sie tief berührende und inspirierende Aussagen: „It’s all yours, go get what you want. It’s your life,“ singt sie im eröffnenden Stück „Azad“ und behauptet „Don’t you waste no time believing that you can’t“, im kurz darauf folgenden „Money Can’t Buy.“ Und damit wir es auch alle glauben, wiederholt sie es erneut ausgiebig im Titelsong: „You can be the sun.“ Frazey Ford schreibt nicht irgendwelche Texte, sie hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie sich dafür sehr viel Zeit nimmt und hat ein Jahrzehnt mit dem von Bluegrass beeinflussten „Be Good Tanyas“ verbracht, bevor sie 2010 ihr Solo-Debüt gab. Es dauerte weitere vier Jahre, bis 2014 das grandiose zweite Album folgte (aufgenommen mit den legendären Hi Records-Studiomusikern) und nun wieder sechs Jahre, bis dieses, von Prince-beeiflusste, neue Album „U Kin B the Sun“ erschien. Hier stimmt die Aussage, dass Qualität manchmal

Frazey Ford

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Zeit benötigt. Frazey Ford’s Kompositionen verfolgen charmanter Weise ein ähnliches Tempo und fließen in einer leicht lakonischen und anmutig schimmernden Stimmung dahin. Ford kombiniert ihre strahlende Ausgelassenheit auf sanften und funkigen Grooves, die Phil Cook (Megafaun) mit dem Keyboard, Bassist Darren Parris, Schlagzeuger Leon Power und Gitarrist Craig McCaul erbauen. Es ist eine leichte klangliche Abweichung zu den Wurzeln Ford’s vorherigen zwei Platten und ihrer Arbeit mit den Be Good Tanyas – aber eine willkommene. „Golden“ zum Beispiel hat dank Parris’ fröhlicher Basslinie eine ansteckend selbstbewusste Stimmung, und um das Ganze abzurunden, überzieht Cook den Song mit seinen funkelnden und glitzernden Tasten. Die Verspieltheit dieser fließenden Instrumentierungen ist gemacht für Tanz und die Liebe. Viele Titel dieses dritten Albums spiegeln eine ähnliche


zurückhaltende, aber durchdringende Stimmung wider, wie zum Beispiel „Purple and Brown“ und „Motherfucker“. Ford singt dabei mit solch zurückhaltender und schwüler Leidenschaft und ähnlich wie bei Laura Nyro spürt man, wie sie förmlich darin verschmilzt. Das ist auch der Fall bei “The Kids Are Having None of It”, wo ihre Texte als Reflexion der Tagespolitik gesehen werden können, wenn sie singt: “All you deal is fear, the easy way to steal/The likes of you should never hold the wheel… The kids are having none of it.” Alle Refrains auf „U Kin B The Sun“ schwingen sanft, harmonieren perfekt und bleiben sparsam im Erscheinungsbild. Die Ausnahme ist der abschließende Titeltrack, der beinahe über sechs Minuten andauert. Dieser kommt auf halbem Weg zum Stillstand und fügt sich dann wieder in einen dichten, traumartigen Klangstrudel ein, der reich an hallenden,

mehrspurigen Gesängen ist, die positiv ekstatisch klingen. Die Stimmung in diesen Minuten ist berauschend und ansteckend, das perfekte Ende eines Albums, das sich für eine langsam brennende, bescheidene Art von Power entscheidet: es ist ein zurückhaltendes Vergnügen, aber dennoch ein Vergnügen. 8/10

GENRE: FOLK - FUNK - SOUL

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s war eine schwierige Zeit für HMLTD. Drei Jahre, in denen sie unter fehlender Wahrnehmung der Öffentlichkeit gegründet wurden, eine kurze Zeit in Amerika waren, in der ihre Support-Slots mit Nine-Inch-Nails abgesagt wurden und einem Label, dass die Band aus London vor Veröffentlichung Ihres Debüts wieder fallen ließ. Kein Wunder, dass HMLTD bisher noch kein Album geschafft haben. Aber „West Of Eden“ ist endlich da, und verdammt, endlich werden HMLTD den Ruhm erlangen, den sie so verdient haben. Sie eröffnen mit einer laufenden Basslinie, über die ein grimmiges Knurren verkündet: “Three years ago I said/ The west is dying right beneath my nose/ And I’ll be so glad when it finally goes/ I hate to say I told you so/ THE WEST IS DEAD.” Vor ein paar Jahren waren die ausgelassenen Auftritte der größte Spaß, den man haben konnte, wenn man zu viel für warmes Dosenbier bezahlte. Nachdem sie zu Lucky Number umgezogen sind, haben sie endlich ihr Debüt veröffentlicht und einige der Songs aus diesen hektischen Shows finden sich hier wieder – „To the Door“, „Satan, Luella & I“ und „Where’s Joanna?“ – aber es gibt genügend Beweise dafür, dass sie in der Zwischenzeit auch gelernt haben, wie man konventionell strukturierte Popsongs schreibt: „Mikey’s Song“ würde sicherlich auch einen Platz im Radio finden. Dieser ist eine atemberaubende Ballade der Obsession, dessen funkelnden Synthesizer auf einer Schallplatte von Gary Numan oder Depeche Mode genauso gut Platz finden würden. Am aufregendsten sind sie jedoch, wenn sie Ideen an die Wand werfen und dabei zusehen, wie sie einander verkleben, sich verändern und Neues entstehen lassen: Spaghetti Western, Glam Rock, Goth und Electronic kollidieren und kämpfen fortan um unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Mit einem Titel, der John Steinbeck’s „East Of Eden“ untergräbt und Anspielungen auf die biblische Geschichte von Kain und Able enthält, deuten HMLTD auf einen philosophischen Diskurs hin, der in unseren turbulenten Zeiten relevant zu sein scheint. Sänger Spychalski beschreibt den Westen als “superpower masked by the façade of luxury and equality… a dying corpse stained by its own sins against humanity”. Dieses Ouroboros-ähnliche Bild untermauert „West Of Eden“, das vielleicht nur in einem Schmelztiegel aus Aufruhr und Chaos geschmiedet werden konnte. Die Versuche der letzten Jahre stärken das Rückgrat eines Konzeptalbums, das mit kultureller Nachhaltigkeit, Moral und existenziellem Gewicht als esoterischer Prophet des Untergangs nun endlich in Flammen aufgehen kann. 9/10

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GENRE: GLAM ROCK, GOTHIC


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Stone Temple Pilots Perdida

Während es für manche von uns einfach im Leben voran geht, müssen andere wiederum für alles kämpfen, oder im Fall der Stone Temple Pilots, vieles über sich ergehen lassen. Während der turbulenten Karriere der Band haben es die Stone Temple Pilots irgendwie geschafft, durchzuhalten, die Hürden der Sucht und Urheberrechtsstreitigkeiten und später den Tod der Frontmänner Scott Weiland und Chester Bennington zu überwinden. Auf „Perdida“, ihrem neuen akustischen Album, beweisen die Stone Temple Pilots warum sie während ihrer gesamten Karriere so ausdauernd und durchhaltend waren. Und doch muss der Blick auf das Musikalische gerichtet werden, dass im Falle des neuen Albums ein bisschen fade daherkommt. Ja, da ist eine Flöte. Ja, es gibt auch akustische Gitarren- und Streicherarrangements. Was jedoch in der Formel fehlt, ist ein ansprechender, schneidender Text und ein wenig die Aufregung. Aber der Blick beinhaltet natürlich auch die Sicht über die letzten Jahre der Stone Temple Pilots und ist damit einer entsprechenden Erwartungshaltung nicht abgeneigt. Es muss letztlich mit diesem Album einiges verarbeitet werden. Es bleibt kein Platz für den gewohnt großen Rock-Sound, vielmehr erleben wir ein introspektives Set, verwittert, müde und überraschend schön. Es strahlt ein melancholisches, sehnsüchtiges Gefühl aus – sowohl musikalisch als auch textlich – ohne jedoch düster zu klingen. Es handelt sich um eine Platte, die sich scharf auf den Rückblick konzentriert und an gute und schlechte Zeiten erinnert. Es ist ein Album aus verlorener Liebe, alten Freunden, begangenen Fehlern, verpassten Gelegenheiten und unerfüllten Versprechungen. Alles in langsamen bis mittelschnellen Tempi und oft mit spanischem Flair. Dieser Geschmack von Spanien ist auf dem Titelsong am süßesten – und das ist etwas, über das wir uns nicht wundern würden – wenn die Stone Temple Pilots damit den nächsten Eurovision Song Contest gewinnen würden. Letztlich bleibt „Perdida“ aber ein Album, dass durch die Akustik – auch wenn mit breitem Spektrum von Instrumenten wie Keyboard, Marxophon und natürlich Flöte – zu allgemein gehalten ist. 6/10

GENRE: AKUSTIK - ROCK

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The Lone Bellow Half Moon Light

Hymnen lindern unsere Wunden, es sind natürliche Heilmittel und Vorboten von Wärme und Licht. Unabhängig von religiösen Zugehörigkeiten besteht die Hoffnung, der Trost und das Verständnis, durch die Schönheit einer Hymne erlangt zu werden. The Lone Bellow haben auf ihrem neuen Album „Half Moon Light“ mit dem Titel „The Eastern Gate“, eine klassische Hymne von 1905, geschrieben von Isaiah G. Martin, neu aufgenommen. Die Hymne taucht als „Intro“, „Interlude“ und „Finale“ auf und jedes Stück verbindet den Hörer mit einer Reise in, durch und schließlich aus einer unvorstellbaren Tragödie heraus. Tod, Trauma und Trauer sind Themenstränge, die durch die imposante Leistung der Gruppe aufgearbeitet werden – von „Wash It Clean“, in dem der Musiker und Songwriter Brian Elmquist versucht, eine zarte Beziehung mit seinem Vater, der im letzten Jahr gestorben ist, in Einklang zu bringen. „Just Enough to Get By ” glänzt dagegen mit einer herausragenden Gesangsleistung der Sängerin und Songwriterin Kanene Donehey Pipkin. “You know, people, they will believe / Only what you let them see / So, tell them what they want to hear / How much better that you feel,” zieht Pipkin ihre Stimme über das Klavier. Der in knorrigen Blues-Rock gebackene Song wurde über Pipkin’s Mutter geschrieben, die mit 19 Jahren vergewaltigt und dann weggeschickt wurde, um das daraus entstandene Baby zu bekommen. 40 Jahre später kehrte das Baby – mittlerweile eine 40-jährige Frau – in Pipkin’s Leben zurück und Pipkin sah sich einer tiefen und komplizierten Situation ausgesetzt, die nach der Wahrheit suchte. Pipkin’s Gesangsperformance ist ebenso wie die Texte

selbst voller Wut, Schmerz, Frustration und Traurigkeit. Das angesprochene „Wash It Clean“ von Elmquist ist eine liebenswerte Hommage an seinen Vater, der letztes Jahr plötzlich verstorben ist. Er schildert die angespannte Beziehung, die erst zwei Monate vor dem Tod Entspannung finden konnte. „Enemies“ bleibt im akustischen Folk-Modus mit funkelnden Piano-Noten, bevor es zu einem leisen Ruf und einer stillen Antwort zwischen den Sängern wird. Wie bei ihren vorherigen Platten steht der Gesang im Mittelpunkt und wird oft von einer zurückhaltenden, aber wichtigen Instrumentierung begleitet, sei es ein einfache Linie am Schlagzeug oder eine akustische Gitarre. Diese Variation wechselt zwischen optimistischeren Songs und langsameren Takten und verhindert, dass sich das Album aus musikalischer Sicht abgestanden anfühlt. The Lone Bellow gelten als eine der beständigsten Bands der letzten 20 Jahre. Bei „Half Moon Light“ wagt sich das Trio neben Produzent Dessner (dem Mann hinter „Then Came the Morning“ von 2015) an die Außenseite ihrer üblichen Spieluhr, um reichhaltigere, poppigere und mutigere Texturen zu liefern. Doch es geht niemals auf Kosten ihres lyrischen Bisses. Es ist ein erneuter Beweis Ihrer Qualitäten und eine wahre Freude, diese zu erforschen, seien es die Harmonien, die Geschichten, die Gefühle, oder die wunderschönen Schichten aus Klang und Produktion. 7/10

GENRE: COUNTRY - FOLK

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Tame Impala The Slow Rush

Obwohl er live mit einer fünfköpfigen Band auftritt, werden Tame Impala’s Platten von Parker komplett solo geschrieben, gespielt, gesungen und produziert. Der psychedelische Gitarrenantrieb seines Debüts „Innerspeaker“ aus dem Jahr 2010, stellte den australischen Multiinstrumentalisten als Retter des Rocks dar. Es ist ein Status, den der langhaarige, bärtige 34-Jährige in einigen Bereichen immer noch innehat, obwohl die Musik die er macht, kaum noch Rock-Elemente beinhaltet. Mit jeder Veröffentlichung hat Parker die digitale Technologie und die Klangpalette von R&B, Hip Hop, Elektro und Techno im Dienste seiner Stoner-Grooves weiterentwickelt und anerkannt, dass sich die Essenz der psychedelischen Erfahrung längst von Rock-Arenen zu Tanzclubs verlagert hat. Nur wenige Künstler in jüngster Zeit haben trotz solch großer Veränderungen einen so starken musikalischen Stempel entwickelt wie Kevin Parker. Über 10 Jahre und jetzt vier Alben hat das widerstrebende Genie eine oft kopierte, selten erreichte Nische geschaffen, die ein jahrzehntealtes Genre aktualisiert und es mit genügend modernen Schnörkeln verbindet, um einen ganz eigenen Raum einzunehmen. Und so hören wir auch auf dem neuen Album „The Slow Rush“ vielschichtige Psychopop-Symphonien – die Art, die gleichermaßen für dunstige Sommerabende, nächtliche Kopfhörermomente und zunehmend für die Tanzfläche entwickelt wurde. Beim Opener „One More Year“ gibt es direkt diese weichen dunstigen Gesänge, die in Sonnenlicht getupft wurden und abgehackten Trommeln und einer anmutenden R&B-Basslinie folgen. „The Slow Rush“ ist der Sound einer Band, die sich weiterentwickelt, neue Dinge ausprobiert und gleichzeitig ihren Kern verfeinert. Es ist keine Neuerfindung, aber es tritt auch nicht auf der Stelle. Verträumt und abschweifend schlängeln sich Parker’s Songs und treiben, als würden sie nirgendwo hingehen, bevor sie

plötzlich zu Ende sind. Es kann schwierig sein, sich damit auseinanderzusetzen, aber eine solche offensichtliche Eigensinnigkeit hat einen Sinn. Meditative Texte setzen sich mit dem unerbittlichen Lauf der Zeit auseinander und verleihen einen wahnsinnig glückseligen emotionalen Schwung. Auf einem langen, seltsamen und tief bewegenden Stück mit dem Titel „Posthumous Forgiveness“ ruft Parker seinen verstorbenen Vater an. “I wanna tell you about the time… I had Mick Jagger on the phone,” singt er, als wollte er unbedingt eine Verbindung zum Jenseits herstellen. „The Slow Rush“ ist eine Platte, die mit einem gewissen Gewicht an Erwartung einhergeht, aber eine leere Leinwand dafür, wie sie klingen könnte. Diesmal ist es nur eine teilweise Neuerfindung, aber es schweben hier genug Edelsteine im Raum herum, die Kevin Parker als den Mann zeigen, der mit einem einzigartigen Zeitgefühl gesegnet wurde. 7/10

GENRE: ELECTRONIC - ROCK

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Moses Boyd Dark Matter

In den letzten Jahren wurde der Jazz grundlegend überarbeitet. Eine neue Generation von Musikern ist aufgebrochen, die uns regelmäßig mit innovativer und zukunftsorientierter Musik beliefern. Eines der ersten Anzeichen für diesen Aufschwung war, als Moses Boyd – zusammen mit seinem Schlagzeugkollegen Binker Golding – 2015 einen MOBO für den besten Jazz-Act gewann. Ihr Debütalbum „Dem Ones“ war genau das, was die Szene brauchte, und zeigte ihre erstaunliches Talent, aber vor allem ihre Fähigkeit, die Klänge, die sie in der Schule, auf der Straße und im Club gehört haben, in einen sofort wirkenden Jazzklassiker zu integrieren. Um diese Zeit begann Boyd auch, seine eigene Musik zu veröffentlichen. Dazu zählen unter anderem „Rye Lane Shuffle“ und „Displaced Diaspora“, die seinen Sound steigerten und voluminöser machten. Sein jüngstes Projekt „Dark Matter“ ist ein weiterer Schritt, der sich eher wie eine wahrere Einschätzung dessen anfühlt, worum es bei Boyd geht: Er hat seinen Sound mit elektronischen Motiven erweitert und drückt seine Liebe zu feuchten Basslines und zappeligen Synthesizern aus, die alle von einer Jazz-Sensibilität der Musik untermauert werden. Das Album beginnt mit „Stranger Than Fiction“. Nach einem Intro aus hauchdünnen Synthesizern mit scharfen Hörnern ist alles da: ein verschachteltes Spiel am Schlagzeug, kehlige Basslines und schmutzige Prahlerei kratziger Hörner – das alles in einem sehr ansprechenden Verhältnis zueinander.

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Wie bei früheren Veröffentlichungen wurde auch sein Debüt-Soloalbum über Boyd’s eigenes Label Exodus realisiert. „Dark Matter“ zeigt auf wundervolle Weise den Crossover und die Schattierungen, die Boyd durch aufgenommene Rhythmusmuster in das Album hineingedrückt hat. Er kreiert einen Teppich aus Störgeräuschen, Afrobeat und Klängen des Londoner Undergrounds, kombiniert mit seiner jahrelangen Ausbildung im Jazz. Boyd ist ein erfahrener Produzent, der kunstvoll warme akustische Töne mit stürmischen elektronischen Samples verbindet. Manchmal wirkt es zwar ein wenig überproduziert, wenn seine geschmackvollen Melodien aus Schichten von Handclaps, Synths und welligen Bässen überlagert werden, wie bei „Nommos Descent“ beispielsweise. Dies ist letztlich eine Platte, die versucht, die komplizierte Energie der Jazzimprovisation in eine orchestrierte Studioproduktion zu bringen. Der Versuch ist gelungen und hat Moses Boyd vom Jazzmusiker zu einem Produzenten aufsteigen lassen, der es versteht, auch Jazz zu spielen. 8/10

GENRE: EXPERIMENTAL - JAZZ


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Beach Bunny Honeymoon

Das Fuzz-Pop-Quartett von Beach Bunny landete einen Streaming-Hit mit dem düsteren „Prom Queen“ im Jahr 2018. Mehr noch als bei den früheren, eher akustischen Veröffentlichungen von Sängerinnen Lili Trifilio, zeigte sie uns mit Beach Bunny ihr Händchen für ansteckende Pop-Hooks, die mit einer kollaborativen Energie gespielt wurden, was dazu beitrug, ihre ängstlichen Beobachtungen über den bloßen Folk-Konfessionalismus hinaus voranzutreiben. Der Erfolg von „Prom Queen“ half der Gruppe auch dabei, einen Vertrag mit dem New Yorker Label Mom + Pop Records abzuschließen, die nun das Debüt „Honeymoon“ in voller Länge veröffentlichen. Frontfrau Lili Trifilio beschreibt „Honemoon“ als eine Ode an die Spontaneität und zugleich ist eine gewisse Fülle in dem Album, durch die die Gruppe aus Chicago in einen Zustand aufgestauter Verzückung gerät. Die Band streift sorglose und sporadisch entspannte Momente, die von rauer Vitalität erfüllt sind – eine sensible Chemie, die Beach Bunny absolut beherrschen. Trifilio zitiert Marina Diamandis als Inspiration für ihr Songwriting, obwohl Beach Bunny’s Sound häufiger den sonnenverwöhnten Garage Rock von Best Coast oder den angezündeten Power-Pop von Charly Bliss wiedergibt. Während „Prom Queen“ oft vor Kummer schwelgte und sich dem Gedanken widersetzte, weiterzumachen, kommen die lohnendsten Momente in „Honeymoon“, wenn Trifilio die Unsicherheiten gegen eine neu gewonnene Selbstsicherheit eintauscht: “If you’re gonna love me, make sure that you do it right“. Es ist natürlich viel sicherer, in der eigenen Blase zu leben – undurchlässig, unberührt von äußeren Elementen, die die Parameter der Einsamkeit zu durchbrechen drohen. In diesem Raum können wir uns vor Unsicherheit schützen. Aber wir sind alleine. Auf „Honeymoon“ lädt Trifilio endlich jemanden in ihre Blase ein, in ihren Traum. Mit einer unaufhörlichen, lebhaften Energie, die über eine offene Erzählung treibt, zeigt Trifilio ihr meisterhaftes Songwriting mit einer liebenswerten Zärtlichkeit. 7/10

GENRE: INDIE POP

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Katie Gately Loom

Auf ihrem zweiten Album setzt sich die Musikerin aus Los Angeles mit dem Tod ihrer Mutter auseinander und stellt ihre spielerisch experimentelle Herangehensweise an Sampling und Sounddesign in den Dienst einer aussagekräftigeren Vision. Angesichts ihrer bemerkenswerten Remixe für Björk und Zola Jesus ist es verlockend, Katie Gately als eine von vielen der heimlich einflussreichen Künstlerinnen in der populären modernen Musik zu betrachten – zusätzlich zur Produktionsarbeit für serpentwithfeet. Wie bei allen bedeutenden Künstlern ändern sich die Ansätze je nach Anlass. Gately’s Mutter starb im Jahr 2018 und „Loom“ spiegelt den verworrenen Trauerprozess wider, ein Prozess, bei dem Menschen untypisch handeln, um in den Gedankengang der Trauer zu verfallen. Es ist

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der Klang des Lebens, der sich vorwärts bewegt, und all der Schmerz, den er mit sich bringt. Es ist ein verstreutes Archiv des Verlustes in einem zerbrochenen Leben, voller Erinnerungen, die verlegt oder falsch beschriftet wurden und in einem mühsamen Versuch der Stückarbeit wieder zusammengefügt wurden.Es ist dabei eine erstaunlich große und laute Platte. Bei „Allay“ wickeln sich mehrspurige Holly Herndon-artige Gesänge um eine befehlende Zeile von Gately. “I am living in a womb made of dirt and dust,” singt sie, als Felsbrocken um sie herum zu bersten scheinen, die Art von Percussions, die in Trailern für Marvel-Filme verwendet werden. Das 10-minütige Herzstück „Bracer“ ist noch massiver. Majestätische Trommelwirbel, als ob sie die Ankunft einer satanischen Prinzessin


ankündigen würden, verwandeln sich langsam in einen eindringlichen Beat, der in etwas Dancehall-angrenzendes hineingestoßen wird. Die letzten 80 Sekunden sind ein koronaler Massenausstoß von weißglühendem Schall. Dieser Albtraum ist durchweg fachmännisch arrangiert, obwohl sich der Maximalismus in der zweiten Hälfte wie ein Mittel anfühlt, um schwaches Songwriting zu übermalen. Auch ist es leicht, Vergleiche zwischen Gately und Zeitgenossen wie Zola Jesus und Holly Herndon zu ziehen, aber auf „Loom“ klingt ihre Stimme viel mehr nach Kate Bush oder PJ Harvey. Sie ist keine ausgebildete Sängerin, aber ihr Gesang hat eine dunkle, schillernde Qualität und lässt das Album dadurch in seiner Theatralik allumfassend erscheinen. Gately hat ihre Kämpfe mit Depressionen und

Angstzuständen oft zum Ausdruck gebracht, aber auf „Loom“ klingt sie nun sehr selbstsicher und selbstbewusst. Ihre Mutter ist überall auf dem Album, doch Gately selbst ist hier die Hauptfigur und die Reise, die sie unternimmt, ist fesselnd. 7/10

GENRE: AMBIENT - EXPERIMENTAL

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Tennis

Swimmer

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Das erste Album der Band, „Cape Dory“ aus dem Jahr 2011, war eine Sammlung von Indie-Pop-Songs, die die Zeit der verheirateten Mitglieder Alaina Moore und Patrick Riley an der Ostküste detailliert darlegten. Die Musik war in Ordnung, aber die Werbung des Albums beschäftigte sich weniger mit den Songs als vielmehr mit der Erzählung hinter der Komposition der Platte, eine Geschichte, die nur die tausendjährigen Stereotypen von Privilegien und Wohlstand zu bestätigen schien. Man durfte damals berechtigterweise davon ausgehen, dass es sich hierbei nur um eine Spielerei handelte. Beinahe 10 Jahre später ist aus dieser einstigen Spielerei ein ernstzunehmendes Projekt geworden – fünf Studioalben umfassend groß. Auch das fünfte Album „Swimmer“ ist eine schöne Sammlung verträumter Popmusik, die all das einfängt, weswegen man Tennis vor zehn Jahren lieben gelernt hat. Das bedeutet aber auch: Tennis weichen nicht von der bewährten Formel ab. Die Albumeröffnung „I´ll Haunt You“ hat alle Markenzeichen von Tennis – ansteckende Rhythmen, klavierzentrierte Kompositionen, verschachtelte Melodien und Moore’s sanfte Stimme, die wunderbar mit den Melodien harmoniert. Obwohl der Titel bedrohlich klingt, ist die Untersuchung der Beziehung zwischen Moore und Riley größtenteils optimistisch. “As the sun slips over my shoulder, all my need is pulling me closer,” singt Moore über eine langsame Zwei-Noten-Klaviersequenz. Das Outro des Songs deutet auf eine tiefere Verbindung und vielleicht Abhängigkeit hin. “I’m holding you so long I will haunt you when I’m gone“. Die Stakkato-Beats und pochenden Klavierakkorde von „Need Your Love“ machen den Song zu einem herausragenden Track.

Es beschreibt eine giftige Beziehung, obwohl Moore’s weiche und zugängliche Stimme jedem wütenden Ton trotzt. “Baby, you’ve got more poison than sugar,”wiederholt Moore an einer Stelle. Die verschiedenen Tempoverschiebungen des Songs spiegeln seine thematische Komplexität wider, wobei der schnelle musikalische Fluss und die stimmliche Trittfrequenz des ersten Chors zu einem langsamen und trottenden Chorus werden. Der größte Teil von „Swimmer“ besteht aus Mid-Tempo-Balladen, wobei die Trommeln und Synths die Songs verankern, während Riley’s Gitarre meistens nur am Rande agiert. Riley’s Basslinien in „Runner“ und „How to Forgive“ knallen dann aber wirklich und verleihen dem verträumten Pop etwas mehr Profil. Letztlich gibt es auf „Swimmer“ aus musikalischer und textlicher Sicht nichts neues zu entdecken. Trotzdem machen die neuen Songs Spaß und wirken durch die ordentlichen Geschichten über die Liebe einmal mehr sehr authentisch und bewegend. 6/10

GENRE: DREAM POP

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Nathaniel Rateliff And It’s Still Alright

Nathaniel Rateliff schreibt wieder über seine eigene Verwundbarkeit, anstatt anderen Leuten Geschichten zu erzählen. Alle Erzählungen werden wieder in einem schwärmerischen Gebrüll vorgetragen, das ihm hilft, sich an die Spitze des riesigen Singer-Songwriter-Haufens zu setzen. Rateliff war zuvor erfolgreicher Frontmann der Americana / Soul-Band The Night Sweats. Fans feiern die Gruppe für ihre energiegeladenen LiveShows. Er hat nun eine Pause von der Band eingelegt und eine nüchternere Solo-Veröffentlichung herausgebracht, die vom Tod seines Freundes und Musikerkollegen Richard Swift, dem Ende seiner Ehe und anderen negativen Lebenserfahrungen inspiriert ist. Rateliff nahm das Material in Swift’s Atelierhaus in Oregon auf. Der Titel des 10-Track-Albums „And It’s Still Alright“ deutet darauf hin, dass es Freude nach Schmerzen gibt, aber der Inhalt des Albums weist auch darauf hin, dass das Gegenteil der Fall ist. Anstatt in der Hoffnungslosigkeit zu verweilen, ist ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar und als Ergebnis ist diese Veröffentlichung völlig von Anfang bis zum Ende nachvollziehbar. Musikalisch, und es ist immer noch in Ordnung, überschreitet er nie das Tempo und spielt mit Elementen aus Folk, Country und sogar ein wenig Jazz, was zum Teil der Gitarrenarbeit der Backing-Band Luke Mossman von Night Sweats und der Arbeit des Multiinstrumentalisten Eric Swanson zu verdanken ist. Es ist eine spätabendliche Höraufnahme, die in der Umgebung der menschlichen Psyche bei Kerzenschein spielt und eine ruhige

Atmosphäre ausstrahlt. Dies gilt insbesondere für Tracks wie „Expecting to Lose“ und „You Need Me“. Die Zeilen werden mit einer beschwingten Melodie geliefert, der es Rateliff ermöglichen, Sätze wie: „Are you telling me now In the middle of the shit fuck you“ mit der gleichen Lässigkeit auszudrücken, die er den „doo doo doos“ in anderen Versen mit gibt. Das letzte Lied des Albums – und es ist das längste – das sechsminütige „Rush On“ schreitet langsam voran. Rateliff singt mit einer großen Stimme, die sich in den ersten vier Minuten vor Emotionen beinahe überschlägt und schmerzt, bis sich das Lied in eine instrumentale Trauererklärung verwandelt. Die letzten zwei Minuten des Tracks, und damit auch der Platte, drücken Angst und Elend aus. Es hat etwas brutal Ehrliches, das Album auf diese Weise zu beenden. Zugleich ist „And It’s Still Alright“ eine würdige Fortsetzung zu Nathaniel’s „Falling Faster Than You Can Run“ aus dem Jahr 2013. 7/10

GENRE: COUNTRY - FOLK

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Tami Neilson ist eine in Kanada geborene neuseeländische Sängerin – zur Hälfte Patsy Cline und zur Hälfte Wanda Jackson – mit einer gesunden Portion Soul. Einfach gesagt, sie ist eine Naturgewalt. Während „SASSAFRASS!“ aus dem Jahr 2018 ein leidenschaftlicher feministischer Ruf zu den Waffen war, ist Neilson auf „CHICKABOOM!“ mehr daran interessiert,“popping firecrackers that, when stripped back to nothing but a guitar, percussion and two voices, would still go boom!“, auszuliefern. Sie bringt auch ihre musikalisch geprägte Familien- und persönlichen Geschichten zum Ausdruck und arbeitet dafür mit dem Gitarristen / Sänger-Bruder Jay zusammen, der für die Sessions von Toronto nach Neuseeland geflogen ist. Wie der Vorgänger, zeigt Neilson auch hier Hinweise auf Country und Rockabilly, verschmolzen mit Soul. Im Wesentlichen ist es ein Retro-Groove der späten 50er oder 60er Jahre, komplimentiert durch Ihre freche und stolzierende Persönlichkeit. Die köstlich heftigen Texte des ersten Songs und die durchschlagende Gitarre und das Schlagzeug bringen uns in Ihre Welt und begeistern sofort für die neun folgenden Songs, die an die spitze Einfachheit und Präzision der klassischen Sun Record Company erinnert. Der Rhythmus der Lokomotive von „Ten Tonne Truck“ erinnert zum Beispiel an die Tennessee Two, die Johnny Cash während seiner Zeit bei Sun Records unterstützt haben. Das flatternde Klimpern von „16 Miles of Chain“ bringt uns dazu, unser bestes Paar blaue Wildlederschuhe anzuziehen. „You Were Mine“ ist ein überzeugender und herausragender Track, da Neilson mit ihrem explosiven Gesang wie eine Kreuzung aus Jay Hawkins und die frühe Mavis Staples klingt. „Any Fool with a Heart“ ist ein sanftes Country-Lied im 50er-Jahre-Stil mit „ooh, ooh“ Hintergrundgesängen und schönen Harmonien zwischen Neilson und Davidson. Neilson wuchs in ganz Nordamerika mit der kanadischen Neilson Family Band auf und arbeitete mit Legenden wie Johnny Cash, Tanya Tucker und Kitty Wells zusammen. Mit ihren Eltern Betty und Ron (ihr verstorbener Vater war ein angesehener Songwriter) und ihren beiden Brüdern Todd (Schlagzeug) und Jay (Bass) war sie jahrelang unterwegs. Es ist klar, dass sie all diese Erfahrungen und noch einige mehr aufgenommen hat. Jay ist seitdem selbst ein gefeierter Produzent und Songwriter, und diese Zusammenarbeit schließt in gewisser Weise den Kreis der Familienmusikgeschichte. Dies ist Tami’s fünftes Soloalbum und damit jetzt nicht mehr aufzuhalten. 7/10

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GENRE: COUNTRY - ROCKABILLY


Tami Neilson

CHICKABOOM! 107


Bambara Stray

Nachdem Bambara ihr vielbeachtetes Album „Shadow on Everything“ aus dem Jahr 2018 ausgiebig auf den Bühnen dieser Welt präsentierten, saßen sie sieben Monate lang im Keller von Frontmann Reid Bateh und verweilten in ihrer dunklen, musikalischen Landschaft, während sie versuchten, weiter in die Dunkelheit vorzudringen. Das Ergebnis ist das neue Album „Stray“, ein Album, das in einen dichten Nebel aus Zigarettenrauch und Trauer gehüllt ist. Im Zentrum des Ganzen steht Bateh’s unvergessliche Stimme. Bateh’s dunkle Poesie hat einen ähnlichen Bariton wie Nick Cave und erinnert von der Theatralik an Leonard Cohen. Voller Lust, Tragödie und Trauer zaubert Bateh’s reichhaltiger Stil Bilder, die von grotesk zu dunkel humorvoll wechseln. Das eröffnende Stück „Miracle“ lässt uns schnell in Bambara’s mattschwarze musikalische Vision eintauchen. Erbaut auf einem Fundament aus rumpelndem Bass und untermauert von Saitenschichten, ist es ein äußerst atmosphärisches Stück. Wie die brennende Spitze einer Zigarette, die durch den nächtlichen Nebel glüht, taucht Bateh’s Gesang auf, als er eine weitere Geschichte aus der dunklen seelenlosen Nacht erzählt. Wenn es ein einheitliches Thema gibt, das die Songs auf dem Album verbindet, dann ist es die Beziehung des Protagonisten zum Tod und wie sie ihn einnehmen oder vor ihm fliehen. Bambara bewegen sich mühelos vom schwindelerregenden Noir des Openers zum zwielichtigen Death-Surf in Songs wie „Heat Lightning“ und „Ben & Lily“.

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Der Ausflug mit zehn Songs ist weiter entwickelt als die vorherigen Platten der Gruppe und die Songs scheinen mehr Biss zu haben. Bateh kommt eindeutig als Autor brillanter Miniatur-Straßendramen zur Geltung und auch sein Tempo und seine Darstellung sind schärfer und charismatischer als je zuvor. Selbst wenn er wie ein gesteinigter Wanderer klingt, ist die Art und Weise, wie er schmutzige Stadtszenen und verabscheuungswürdige Hinterzimmer-Possen beschreibt, so überzeugend, dass sie die Erzählungen eher antreiben als entgleisen lassen. Er unterbricht viele der Verse mit einem üppigen „Huh!“ und klingt dabei, als würde er Dämonen durch berstende Fensterscheiben nach draussen befördern. Dennoch bewahrt sich Bateh zu jeder Zeit ein cooles Gefühl der Gelassenheit. Die Produktion verleiht allen Songs einen dunstigen, ätherischen Glanz, aber sie lässt alle lodernden Gitarrenriffs und pochenden Trommeln mitschwingen, anstatt sie auszuwaschen. In der Dunkelheit weiter umherstreunend, bleibt „Stray“ eine unwiderstehliche und großartige Leistung einer abenteuerlustigen Gruppe, die mit jedem Album besser wird. 8/10

GENRE: ALTERNATIVE ROCK


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Boniface Boniface

Nach dem Klavier-geführten „Waking Up in Suburbia“ ist das Debütalbum von Micah Visser eine Explosion von maximalistischen Neon-Pop-Rock, einer Kaskade aus großen Trommeln, hauchdünnen Synthesizern und treibender Gitarre. Visser kennt sich mit seinen Rhythmen aus, zudem hören wir luftdichte und drahtige Arrangements. Jede Note wird für die maximale Wirkung gespielt. Es wäre unfair, Boniface als reine Pastiche der 80er Jahre zu bezeichnen – während das Album offensichtlich und mit viel Leidenschaft den Synthesizern und Hauptakkorden des Pop der 80er Jahre gewidmet ist, ist es ebenso den lauten Refrains und der aufgeschlossenen Lyrik des Indie-Rocks, Mitte der 2000er Jahre, nicht abgeneigt. Boniface schrieb und nahm einen Großteil der Songs im eigenen zu Hause auf. Boniface reiste nach London, um mit dem Charli XCX-Produzenten Neil Comber zusammenzuarbeiten. Einen Vertrag gab es mit Transgressive Records, der Heimat der House-Pop-Pionierin SOPHIE. Comber verbindet die Introspektive mit einer hochglanzpolierten Produktion. Ähnlich wie seine Labelkollegin gleitet Boniface mühelos zwischen Euphorie und Verwundbarkeit hin und her und präsentiert oft beides gleichzeitig in einem Song. Das Disco-fähige „Ghosts“ ist brillant selbstbewusst und repräsentativ für das Gefühl sozialer Isolation, während das klimatische „Wake Me Back Up“ für große Festivalbühnen bestimmt ist.

Der lyrikgetriebene Track „Waking Up in Suburbia“ fügt Violine und Synth-Bass hinzu, bevor er halb flüstert: „But I know you like the back of my hand/It’s not like I’m trying to kiss you/But it’s not like we never have.“ Das gesamte Album spielt sich wie eine Sammlung privater, von Herzen kommender Botschaften ab, obwohl wirbelnde Synthesizer und treibende Trommeln sich auf den zweiten Song „I Will Not Return as a Tourist“ einlassen. Boniface schließt mit dem theatralischen, kathartischen „Making Peace with Suburbia“, das das Album mit mehr Klavier und Streichern belegt. Dazwischen geht Visser durch den treibenden Dance-Rock des New Order-evozierenden „Dear Megan“, verführt uns im hymnischen Tanzstück „Oh My God“ und wird wehmütig in „Your List“. Visser’s ernsthafte und zitternde Gesangsdarbietung verleiht emotional rohen, arglosen Texten Authentizität und macht „Boniface“ zu einem beeindruckenden und bemerkenswert positiven Debüt, dass uns zu einer ungefilterten Reise der Selbstfindung einlädt. 8/10

GENRE: INDIE POP

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Kvelertak Splid

Musikalisch setzt „Splid“ den Weg fort, auf dem die Band schon eine Weile ist und bewegt sich vom geradezu geschwärzten D-Beat-Wahnsinn ihres selbstbetitelten Debüts aus dem Jahr 2010 und über die größeren, reicheren Refrains von „Meir“ von 2013 und „Nattesferd“ aus dem Jahr 2016 hinaus. Die Band hatte „Nattesferd“ selbst aufgenommen, aber für „Splid“ sind sie zu Converge-Gitarrist Kurt Ballou zurückgekehrt, dem Mann, der ihre ersten beiden Alben produziert hat. Der Klang, großartig, aber immer noch knusprig, bringt genau die perfekte Kombination mit und lässt den Kern aus Elementen von Punk und Black Metal weiter wachsen. Kvelertak’s viertes Studioalbum markiert auch ein bedeutendes neues Kapitel in ihrer Geschichte. Die norwegischen Rocker haben nicht nur den neuen Sänger Ivar Nikolaisen (der Erlend Hjelvik ersetzte) installiert, sondern mit Rise Records auch ein neues Label gefunden. Es ist sofort klar, dass der verspielte Gesang von Nikolaisen gut zum aggressiven Sound der Band passt. Seine Schreie und Kreischen verleihen dem Material einen willkommenen Hauch von Manie und verstärken die Mischung aus hektischen und bluesigen Abschnitten auf „Splid“. Der erste Track „Rogaland“ beginnt mit einem Rhythmus, der zu sanften Verzerrungen führt. Während im weiteren Verlauf der Rhythmus plötzlich eskaliert, platzt der Song schließlich zu einer bombastischen Kollision von Instrumenten auf und reitet weg, um zwischen Heavy Rock und Punk-artigem Adrenalin zu gedeihen. „Crack of Doom“ mit Troy Sanders von

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Mastodon überträgt die frenetische Rock’n’Roll-Freude des vorherigen Songs. Sanders’ Stimme bringt eine herzhafte Struktur in die Mischung und passt gut zu Nikolaisen’s Gesang. Auf dem gleichen Track hören wir Håvard Takle Ohr’s Schlagzeug und Marvin Nygaard’s Bassarbeit neben dem geschmackvollen Gitarrenspiel von Vidar Landa, Bjarte Lund Rolland und Maciek Ofsad. Es war schon immer schwierig, Kvelertak zu klassifizieren, und ihre jüngsten Bemühungen machen es nicht wirklich einfacher. Sie haben sich als eine Band etabliert, die musikalisch sehr versiert ist, aber vor allem sind sie eine Band, die verdammt viel Spaß macht. „Splid“ setzt diese Tradition fort und enthüllt gleichzeitig noch mehr der progressiven Tendenzen, mit denen bereits auf „Nattesferd“ experimentiert wurde und doch blickt auch „Splid“ niemals zurück. 7/10

GENRE: HARDCORE - METAL


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eit der Veröffentlichung ihres konfessionellen Debütalbums „Clean“ im Jahr 2018 hat sich Sophie Allison von der Indie-Pop-Künstlerin zum vollwertigen Rockstar entwickelt. Unter ihrem Projektnamen Soccer Mommy tourte sie nonstop, spielte größere Shows und erreichte genug finanzielle Unabhängigkeit, um aus dem Haus ihrer Eltern in eines mit ihrer Schwester zu ziehen. Im Moment laufen die Dinge gut. Aber Allison, bekannt dafür, komplexe Emotionen in verdauliche Texte zu verwandeln, erfüllt ihr neues Album „Color Theory“ sowohl mit Bedrängnis als auch mit freudigen Klängen, die kontemplative Gedanken maskieren. Das Projekt ist in drei Farben unterteilt. Es beginnt mit Blau, was für Melancholie steht. Das führt zu Gelb, für geistige und körperliche Erkrankungen, bevor es mit Grau umwickelt wird, was die Angst vor Verlust bedeutet. Während diese Abschnitte gut sichtbar unterteilt sind, überschneiden sich die Themen dagegen häufig und verflechten sich ineinander.Die glitzernden Gitarren und der zurückhaltende Studio-Glanz des neuen Albums sind glatter als bei „Clean“ und werden von ihrer Touring-Band aufgepeppt. Sie bringen ihren Sound näher an Taylor Swift und an bekannte Alt-Rock-Legenden der 90er Jahre wie Built to Spill und Sebadoh. Allison’s Fortschritt als Songwriterin zeigt sich deutlicher in dem dunkleren, gewichtigeren Thema des Albums: Sie greift weiterhin auf persönliche Erfahrungen zurück und meidet weitgehend Songs über ihr Liebesleben, statt ihre Probleme mit psychischer Gesundheit und Verlassenheit zu konfrontieren. „Color Theory“ geht selten über die zugegebenermaßen reichhaltige Vorlage hinaus, die im eröffnenden Stück „Bloodstream“ festgelegt wurde. Hier bietet Allison offene und poetische Überlegungen zu ihrer Geschichte der Depression und Selbstverletzung an, während Rhythmusgitarren hinter ihr her dröhnen. Ihre viszeralen Texte – “Now a river runs red from my knuckles into the sink” – werden teilweise durch eine täuschend fröhliche Akkordfolge verdeckt, so wie sie einst

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“covered up the wounds with my long sleeves.” Allison schrieb die meisten Songs zum neuen Album während Ihres Lebens auf Tournee. “I like to write all the time, especially when I’m bored in the car.” 2019 reisten sie und ihre Band in die Alex the Great Studios in Nashville, wo Yo La Tengo in den Neunzigern arbeiteten, um dort aufzunehmen. Allison wollte, dass sich „Color Theory“ wie “a dusty old cassette tape that has become messed up over time“, anhört. An anderer Stelle hat sie Feldaufnahmen aus Fabriken aufgespürt, um eine grobkörnige, aufgelöste Stimmung zu erzielen. Songs wie „Grey Light“ ließen sich von den aufgewühlten Qualitäten von Tori Amos’ „To Venus and Back“ inspirieren. Trotz Allison’s Ängsten und Befürchtungen schließt sich der Kreis durch dieses düstere „Grey Light“, dass sie als das perfekte Ende ansieht. “I am looking back to youth at the beginning of the record, and on Gray Light, I’m looking forward to growing old,” sagt sie. Am Ende von „Color Theory“ hat Allison ihre eigene Form der Akzeptanz gefunden – unter Berücksichtigung der Ängste, die sie die ganze Zeit hatte. 7/10

GENRE: INDIE ROCK

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Best Coast

Always Tomorrow Als sich der Albumzyklus zu „California Nights“ im Jahr 2015 beendete, war die Sängerin und Gitarristin Bethany Cosentino deprimiert und konnte weder schreiben noch eine bessere Zukunft sehen. Sie schaffte es dann schließlich doch, „Everything Has Changed“ auf Papier zu bringen, und zum Glück tat sie das tatsächlich. Indem sie das Leben, von dem sie wusste, dass sie es wollte, in einem Lied beschrieb, machte sie sich frei, verfolgte neue Ziele und würde diesem Song in Kürze 10 weitere Lieder der Genesung folgen lassen. In den fünf Jahren seit dem letzten Album von Best Coast hat Frontfrau Beth Cosentino auch eine Art Verjüngung erfahren. Einige Jahre nachdem sie Ihre Wake-and-Bake-Routine startete, die ihre Angst nur noch verschlimmerte, hörte sie auf zu trinken. Sie wurde weiser und akzeptierte die launische Natur des Lebens. Herausgekommen ist nun also mit „Always Tomorrow“ ein Album, dass aus dieser Sicht bemerkenswert stark, aber musikalisch eher schwach daherkommt. Best Coast haben sich im Vorfeld selbst Verweise auf The Go-Go’s, The B-52’s, Fleetwood Mac, The Bangles und The Talking Heads erlaubt. Das ist aus zweierlei Gründen ein Problem. Das erste und dringlichste ist, dass es sich bei diesen Bands nicht um Bands handelt, die man leicht umstoßen kann – jede von ihnen hat eine eigene Fangemeinde und die Verwendung ihres Namens, zur Werbung für die eigene Platte, deutet auf eine Qualitätsgarantie hin. Aber nicht einmal David Byrne verweist auf die Talking Heads, wenn er seine neuen Alben veröffentlicht – er weiß es besser.

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Zweitens klingt der Rest des Albums, abgesehen vom eröffnenden „Different Light“ – der ein bisschen an The B-52 erinnert – wie Weezer, The Lemonheads und Juliana Hatfield. Es kann daher nur Enttäuschung folgen, wenn man aufgrund der Versprechungen Größe erwartet und am Ende nur generischen Indie-Pop erhält. Doch es ist nicht alles schlecht. Wir erleben in den Songs eine unwiderstehlich optimistische Hommage an das eigene Ich, die Reflexion und die Freuden des Alltags. Mit der Reife kann das Alltägliche ziemlich erfüllend werden, Texte über Bettlaken, Pflanzen und dem Hund können Geschichten über hohe und dysfunktionale Beziehungen ersetzen. Dabei zeigt „For The First Time“ die musikalische und persönliche Reife der Band. Ähnlich überzeugend ist das Album-Herzstück „Rollercoaster“. Hier kehren Cosentino und Bruno in die 60er-Jahre zurück und flirten noch einmal mit dem Titeltrack zu „California Nights“. Letztlich bietet „Always Tomorrow“ eine Handvoll druckvoller, vielversprechender Ansätze, betritt aber zu oft alten Boden und lassen die Ideen damit abgestanden klingen. 5/10

GENRE: INDIE ROCK


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Nach eigener Aussage nahm Dan Snaith in den letzten Monaten an jedem Tag neue Songs auf und konnte manchmal nicht schlafen, weil sein Gehirn ständig von Ideen überflutet wurde. Einen ersten Beweis dafür lieferte Caribou Ende des letzten Jahres mit der Single „You And I“, über die Snaith erzählt: „The song was one of the first tracks on the album that I started, and one of the last tracks I finished; it existed in some form or other throughout the whole arc of making the record. It also captures a lot of what the record, and the title of the album, are about – the track changes suddenly and unpredictably, and it is about a change in my life that happened out of the blue“. Wie bei früheren Caribou-Alben entstand auch „Suddenly“ aus Hunderten von Ideenentwürfen (diesmal über 900). “I record music every day, and I love it – as much or more than I have always done. I feel very lucky – the thrill has never, ever left me“. Wir erinnern uns an den Dance-Pop in „Swim“, dem Album von Caribou aus dem Jahr 2010 und den sanfteren, bittersüßen Purpurtönen von „Our Love“ fünf Jahre später. Letzteres war so etwas wie ein Trennungsalbum, und neue Anstrengungen fließen plötzlich aus diesen Themen hervor und erweitern sie – sowohl der Titel, wie auch der Inhalt handeln um plötzliche Veränderungen im Leben, insbesondere innerhalb einer Familie, wobei mehrere Songs eindeutig darauf hinweisen, dass jemand „weg“ ist. Instrumentell gesehen bietet „Suddenly“ keine große Abweichung zu den vorherigen Bemühungen, zeigt jedoch ein etwas zufälligeres, manchmal sogar ein wenig flüchtiges, weniger einheitliches äußeres Erscheinungsbild als Reflexion dieser Themen des plötzlichen Wandels. Caribou geht weiter in die Deep-House-Einflüsse von „Our Love“ ein, allerdings oft mit reduzierten Arrangements und manchmal treibender als die üppigen tropischen Töne dieses Albums. Ein Aspekt, der übrig bleibt, ist der süße Falsett-Gesang, obwohl er diesen, wie üblich, hauptsächlich als Untermalung verwendet. Trotzdem macht dieses Detail das neue Album ziemlich spektakulär. Dies ist nämlich die erste Caribou-Veröffentlichung, bei der er auf jedem Track singt, und seine Gesänge sind höher gemischt als in der Vergangenheit. Seine hypnotisierende Stimme hebt Songs hervor, die sonst als banal erscheinen könnten. Letztlich ist „Suddenly“ eine weitere sehr solide Platte von Caribou, die Züge der letzten Veröffentlichungen beinhaltet und zugleich eine schwankende und unvorhersehbarere äußere Erscheinung abgibt, die ihre ganz eigenen persönlicheren und familiäreren Themen in sich trägt. 8/10

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GENRE: ELECTRONIC


Caribou Suddenly

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Agnes Obel Myopia

Agnes Obel ist seit fast einem Jahrzehnt eine der unabhängigsten und originellsten Künstlerinnen der zeitgenössischen Musik. Jetzt ist sie mit ihrem vierten Album „Myopia“ zurückgekehrt. Nach den gleichen Prinzipien wie bei ihren vorherigen Alben, die sie als Ein-Frauen-Projekt in ihrem eigenen Berliner Heimstudio abgeschlossen hat, begab Obel sich in eine selbst auferlegte kreative Isolation, wobei alles Äußere entfernt wurde – Einflüsse und Ablenkung beim Schreiben, Aufnehmen und Mischen. “The albums I’ve worked on have all required that I build a bubble of some kind in which everything becomes about the album. For me the production is intertwined with the lyrics and story behind the songs“. Genau das macht ihre Musik so überzeugend und differenziert sie zu fast jedem anderen. “Paradoxically, for me I need to create my own myopia to make music.” Obel experimentierte mit Techniken zur Aufnahmeverarbeitung, zum Verziehen und Absenken von Gesang, Streichern, Klavier, Celesta und einem Luthéal-Klavier. Sie fand Wege, diese Elemente zu einer Einheit zu verschmelzen und sie so zu verdrehen, dass wir uns in dem von ihr heraufbeschworenen Klang wie zu Hause fühlen.

“I wanted to depict that sense of being trapped within a state of mind with very little peripheral vision, where what is left to be seen only gets increasingly intensified,” sagt sie. Dieses aufwendig gestaltete Album fängt dieses Gefühl in voller Tiefe ein. Das gesamte Album bewohnt einen trostlosen Ort der Einsamkeit im Zwielicht und zwingt seinen Hörer in eine Art Selbstbeobachtung. Es ist ein Album, das man alleine erleben kann. Mit Ausnahme von „Drosera“ und seiner Triton-Dissonanz und unheimlichen Flöten, die an die Partitur eines Horrorfilms erinnern, ist es ein Trost, in das kontemplative und isolierende Gebiet von „Myopia“ gezogen zu werden. „Island of Doom“ packt die Trauer an, während hochfliegende Stimmen über das gedämpfte Lo-Fi-Klavier strömen. Ihre gleitenden Gesänge sind hoch und niedrig gestimmt, um als weiteres Instrument in den musikalischen Minimalismus zu verschmelzen. In diesen exquisit produzierten Tracks, die oft die typischen Akkordfolgen der Popmusik meiden, experimentiert Obel auch mit der Veränderung der Tonhöhe von Violine, Cello, Filzklavier, Celesta und Mellotron. Postklassische Instrumentalminiaturen wie „Roscian“, „Drosera“ und „Parliament Of Owls“ haben filmische Akzente, die an Yann Tiersen erinnern, während der Titeltrack einer der Songs ist, die mit seinen hochfliegenden Stimmbögen und gleitenden Streichern am meisten beeindrucken. Zusammengenommen tragen sie alle zu dem Gefühl der Intrige bei, die sich durch ihre Musik zieht. Es ist die Suche nach Licht inmitten der undurchlässigen Dunkelheit. „Myopia“ ist elegant, königlich und doch so tief in seiner eisigen Einsamkeit versunken, aber zugleich bemerkenswert schön und leichtfüßig. 9/10

GENRE: BALLADE - KLASSIK

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Lanterns on the Lake Spook The Herd

Wenn eine Band endlich ihr Potenzial zur Gänze ausschöpft, ist es eine herrliche Sache dabei sein zu dürfen. Newcastle’s Lanterns on the Lake haben das bisher nicht geschafft und wurden fälschlicherweise als eine zuckerarme und fettarme Version von Siouxsie & The Banshees dargestellt, die Alben unterschiedlicher Qualität für ein weinerliches Publikum veröffentlichen. Es ist eine Erzählung, die wie ein Albatros seit Jahren um diese Band kreist und man möchte wirklich hoffen, dass sie mit „Spook The Herd“ – ihrem vierten und besten Album – endlich die Anerkennung erhalten, die sie immer verdient haben. Weil dieses Album schwerliegender, gemeiner, schlanker und schlimmer ist als jedes ihrer vorherigen Alben – eine echte Destillation dessen, was sie tun. Sie haben sich bisher dafür entschieden, Songs in ihren Häusern und anderen improvisierten Atelierräumen aufzunehmen, selbst nachdem sie auf einem Label unterschrieben haben, das Geld für andere Zwecke zur Verfügung stellen würde. Für ihr viertes Album haben sich Lanterns on the Lake dann doch außerhalb ihrer Komfortzone begeben, um mit Ingenieur Joss Worthington in einem Studio in Yorkshire zu arbeiten. “We are a pretty insular band in how we work, and trusting other people enough to allow them to get involved is not always easy for us“, sagte Wilde über ihre Entscheidung, sich einem Produzenten zu öffnen. Sie optimieren ihren Sound, anstatt eine signifikante Veränderung in der Präsentation zu markieren und tauchen mit einer weiteren soliden Reihe von Songs auf, die sich durch reiche, verträumte, akustisch-elektronische Texturen und die brütende Lyrik von Sängerin Hazel Wilde auszeichnen.

„Spook The Herd“ kommt fünf Jahre nach „Beings“ und spiegelt die zunehmenden politischen Spannungen und akkumulierenden existenziellen Bedrohungen aus dieser Zeit wider. Neben atmosphärischen Synths und losen, hallenden Trommeln beginnt das warnende „Baddies“ mit der Zeile: „Don’t look now/Here come the baddies/On a wave of hate.“ Ein relativ lebhafter Track für die typisch sanften, gewundenen Indie-Rocker, der Momente später im Song mit aufgewühlten Streichern und flüchtigen Gitarren spielt. In ähnlicher Weise verschmelzen hypnotische Klanglandschaften und schwelende Spannungen in Songs wie „This Is Not a Drill“ und „Blue Screen Beams“. Das reflektiertere „Secrets & Medicine“ setzt auf ein träges Klavier und Gitarre, die Wilde begleiten, und fügt schließlich glitzernde Elektronik hinzu, um einen Klang zu erzielen, der gleichzeitig verschwommen und spartanisch daherkommt. Im Rest des Albums beschwören Lanterns On The Lake den Geist von Mazzy Star und kombinieren schwere Instrumente mit intensiven psychedelischen Schnörkeln. Dies ist ein spektakuläres, reichhaltiges und üppiges Album, das aus einer Vielzahl von Klängen besteht, die viele Hörer für immer in ihre Gedanken und Herzen eingraviert haben werden. Vergleiche mit älteren Bands hängen jetzt weniger davon ab, wie Lanterns On The Lake klingen, als vielmehr davon, wie sie sich anfühlen. „Spook the Herd“ beweist zudem einmal mehr, dass Lanterns on the Lake einer der beständigsten Künstler in diesem Geschäft sind. 8/10

GENRE: ROCK

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Peggy Sue Vices

Das neue Album des Londoner Duos Peggy Sue – und ihre erste Veröffentlichung seit 2014 – ist eine Arbeit, die bittersüße Liebes- und Beziehungsgeschichten mit einer täuschend zuckerhaltigen Klanglandschaft und unwiderstehlichen Harmonien erzählt. Die 10-Track-Story basiert auf dezentem 60er-Pop, Surf-Gitarren und auf 90er-Acts, die diesem reduzierten Sound ihren eigenen Touch verleihen, wie Blur und The Breeders. Peggy Sue beginnen auf „Vices“ mit den sanften Instrumentierungen und noch leiseren Gesängen von „I Wanna Be Your Girl“ und ziehen uns damit sofort an, bevor ein Hauch von Mystik auf „In Dreams“ folgt – ein früher Höhepunkt dieses Albums. Als nächstes kommt der Titeltrack „Vices“, der ähnlich wie sein Vorgänger klingt – ein unglaublich ahnungsvolles Wiegenlied, das sich als gedrückter Gesang abspielt und die Fantasie anregt. Als nächstes hören wir die erste Single „Motorcade“, eine der stärksten Angebote in Bezug auf die Produktion des Albums. Der Track wurde nach einer Trennung geschrieben und füllt dieses sehr menschliche Gefühl perfekt aus. „Motorcade“ beginnt langsam und beruhigend und baut sowohl Geschwindigkeit als auch Klang auf, was zu einem plötzlichen Energieschub führt. Kenner werden feststellen und sich darüber freuen, dass Peggy Sue die Rückkehr vor „Choir of Echoes“ auf „Vices“ anstreben, auch, weil das Duo selbst erkannte, dass die Art und Weise, wie sie Musik gemacht hatten, nicht unbedingt gut für sie war und versuchten, Peggy Sue wieder positive Gefühle zu vermitteln. Und mit diesem Schritt zurück – und auch wenn Peggy Sue die schwindelerregenden Höhen der stadiongroßen Auftritte von Mumford and Sons nie ganz erreicht haben – so sind auch auf dem neuen Album die kunstvoll gewebten Erzählungen es mehr als doppelt wert gehört zu werden 7/10

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GENRE: INDIE ROCK


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Banoffee

Look At Us Now Dad

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Das ist ein Album des Überlebens. Inspiriert von ihrer eigenen Vergangenheit und der ihrer Familie (insbesondere ihres Vaters), erzählt Banoffee eine offene Geschichte über das Schmieden einer neuen Identität unter den damit verbundenen Schmerzen. Allein der Titel vermittelt ein Bild von klar werdenden Gewitterwolken und einer besseren Zukunft. Und während viele der Songs autobiografisch sind, ist jeder so geschaffen, dass er sich eigenständig und unabhängig anfühlt. Was für eine Person erlösend ist, ist für eine andere dringend benötigte Bestätigung. Das von SOPHIE und Yves Rothman produzierte „Count On You“ ist ein klassisches Beispiel für das Sprichwort „Geteilter Schmerz ist halber Schmerz“. Obwohl Banoffee’s Prüfungen ihre sind, ist der reinigende Ruf, “Make a cocktail from the tears you cry/raise a glass and drink”, einer, den jeder an dem einen oder anderen Punkt bereits erlebt hat. Verständnis für andere finden, die vor denselben Prüfungen stehen wie Sie. Nach einem beschissenen Arbeitstag oder überwältigendem Kummer geht es um die Beziehungen, die wir knüpfen und die uns stärker machen, wenn wir wissen, dass wir nicht allein sind. Ein flüchtiges Hören des Debütalbums der in Melbourne geborenen Banoffee könnte einen glauben lassen, dass es sich um eine polierte Pop-Sammlung handelt, die nach Mainstream-Erfolg strebt. Tauchen wir aber ein bisschen tiefer ein und blicken hinter die schimmernden Synthesizer, bissigen Beats und eingängigen Hooks, sehen wir das Trauma, das die Entstehung des Albums beschattet hat. „Look At Us Now Dad“ wurde geschrieben, als sie nach einem Nervenzusammenbruch nach Los Angeles gezogen war. Es ist Banoffee’s Art, ihre eigene Erzählung durch diesen erlösenden Pop zurückzugewinnen. Kein Track fasst dies besser zusammen als das lebhafte, aber leicht ironische „This Is For Me“. Aber es ist ein Song, der auch die Spannung zwischen den raffinierten Melodien des Albums und Banoffee’s Gefühlen beleuchtet. Das Album ist sowohl ein Mittelfinger für diejenigen, die sie niedergeschlagen haben, als auch ein Mantra für die Genesung. „This Is For Me“ legt dies offen. “Every song’s about you,” wiederholt sie mit subtilem Gesang, bevor sie erklärt: “this is for me“. 7/10

GENRE: DANCE POP

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Allie X

Cape God Auf den ersten Blick scheint das zweite Album „Cape God“ von Allie X (auch bekannt als Alexandra Hughes) wie eines dieser großen, glänzenden alternativen Pop-Alben zu sein, wie wir es auch von Charli XCX und Marina kennen. Doch nach einigen Durchläufen wird klar, dass „Cape God“ einen experimentellen Vorteil hat, der es zu einem wunderbar verrückten Album werden lässt. Popmusik ist schwer zu perfektionieren, vielleicht mehr als jedes andere Genre. Wir leben in einer Zeit, in der der „Billie Eilish-Effekt“ dazu beiträgt, dass experimentelle und einzigartige Musik die Grenzen und das Verständnis des Pop, wie wir ihn kennen, erweitert und so kreiert auch Allie X auf elegante Weise die neuen und alten Stile der Alexandra Ashley Hughes zu etwas aufregend Neuem. In Titeln wie „Life of the Party“ und „Learning in Public“ untersucht Allie X ihre Rolle in den verschiedenen Formen ihrer Existenz: die Frau, das Idol, die Künstlerin, die Unterhalterin. „Cape God“ scheint sich um die These zu drehen, dass Identität für niemanden ein einzigartiges Konzept ist, besonders aber nicht für Allie X. Wenn wir den albernen Titel überwinden können, ist „Super Duper Party People“ möglicherweise die beste Arbeit von Allie X. Die Erzählerin gibt uns eine halluzinogene Tour durch einen Rave an Texten mit Drogen- und Sexreferenzen, die alle auf einen hypnotisierenden Synth-Bass-Loop gesetzt sind. Es ist eine Hymne, die jeder Außenseiter feiern sollte. Es sind viele Ideen, die hier auf uns niederprasseln und gelegentlich kann es schlicht zu einer Überdosis kommen. Zum Glück, muss man sagen, gibt es Songs wie das launische „Regulars“, das verführerische „Rings A Bell“ und „Love Me Wrong“, ein trauriges Lana Del Rey-artiges Duett mit Troye Sivan. Diese Songs haben Raum zum Atmen, ohne dass eine Million konkurrierender Ideen um Aufmerksamkeit wetteifern. Das Debüt von Allie X war ein lustiger, wenn auch simpler Ausflug, aber „Cape God“ ist ein Album, das zweifellos von einer Frau gemacht wurde, die wirklich ihren eigenen Weg gefunden hat. 7/10

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GENRE: POP


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Spinning Coin Hyacinth

Ihr Debütalbum versprach viel und „Hyacinth“ kann die einhergehenden Erwartungen zum zweiten Album erfüllen. Spinning Coin arbeiten hart daran, ihren Sound auf interessante Weise zu erweitern, und das Endergebnis ihrer Bemühungen ist ein Album, das herausfordernd, spannend und fast trotzig, sicherlich aufregend und sehr einzigartig erscheint. Spinning Coin ist seit 2017 eine feste Größe in Glasgow’s reichhaltiger Indie-Art-Pop-Szene. Rachel Taylor, die zu einem festen Bestandteil von Spinning Coin wurde, hat der Band mit ihrem Songwriting eine neue Stimme verliehen – aber auch geografisch. Taylor musste Glasgow verlassen und zog nach Berlin, gefolgt von ihrem Bandkollegen Sean Armstrong. Da die Band jetzt zwischen Glasgow und Berlin aufgeteilt ist, kann man sich leicht vorstellen, dass sie die deutsche Hauptstadt durchqueren und sich inspirieren lassen. So wurde ihr zweites Album an einem vertrauten, aber jenseitigen Ort geschrieben, wie in „Feel You More Than World Right Now“ wundervoll gezeigt wird. Spinning Coin haben ihren abgenutzten Sound wieder zu etwas Neuem und vage psychedelischem verschmolzen. Der Songwriter Sean Armstrong ist mit einem Notizbuch voller Melodien und Phrasen gesegnet, die sich sofort in den Scheitel eingraben und fast jeden Song zu einem Klassiker machen. Armstrong und der zweite Gitarrist Jack Mellin kreieren eine Mischung aus atmosphärischen und schlängelnden Linien, die durch Real Estate bis zum Ursprung der Smiths zurückreichen. „Ghosting“ ist eindringlicher Post-Punk mit klirrenden Moll-Key-Gitarren und summenden Synthesizern, „It’s Alright“ schroffer 90er-Rock mit interessanten Gitarrenakkorden und kraftvollem Gesang von Mellin. Sie klingen letztlich wie eine Gruppe mit dem brennenden Wunsch, Musik zu machen und während hier der Radius von Spinning Coin erweitert wird, besteht auch die Tendenz, sich an eine vertraute Formel zu halten. Zum Glück bringen sie beides sehr gut zusammen. 7/10

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GENRE: ROCK


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Real Estate

The Main Thing Das fünfte Album „The Main Thing“ von Real Estate setzt die stilistische Entwicklung der Band Schritt für Schritt fort und untermauert ihre immer sonnigen Melodien mit unbequemen Themen wie Angst vor zukünftigen Generationen und apokalyptischer Angst. Das würde man nie von der ersten Single „Paper Cup“ erwarten, einem der stärksten Real Estate-Songs, die die Band bisher aufgenommen hat. Mit der Gesangsbegleitung von Sylvan Esso’s Amelia Meath schlendert Real Estate-Bandleader Martin Courtney durch eine Melodie, die so faul ist wie ein Mittagsschläfchen, mit

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sanft unzufriedenen Texten, die einen Protagonisten darstellen, der in einem Trott feststeckt, sich aber letztendlich keine Sorgen darüber macht. Die Produktion ist scharf und sauber, voller perfekt platzierter Hooks, wie die makellosen Gesänge die durch den Chor gleiten, oder eines der einfallsreichen, aber nicht überspielten Gitarrensolos von Lynch. Es ist eine einfache Wahl für eine Single und einer der ansteckendsten Momente auf diesem Album. Die größte Stärke von Real Estate war immer, wie gut sie als Einheit funktionieren. Sie sind in der Lage, eine Reihe von scheinbar einfachen


Teilen zu übernehmen und bescheidene, aber komplexe, nuancierte und strukturierte Arrangements zu erstellen. Die Vermischung von Gitarren und Keyboards bei „Also A But“ und die nuancierten, entspannten Arrangements bei „Shallow Sun“ liefern einen wirksamen Beweis. Der texturierte Songwriting-Ansatz der Band ist nach wie vor stark, da die Dream-Pop-Unterströmung, die für einige ihrer stärksten Arbeiten steht, nach wie vor präsent ist. An anderer Stelle scheinen der schwellende Bass und die rollenden Rhythmen des Eröffnungs-Tracks „Friday“ den britischen Trip-HopHelden Zero 7 zugehört zu haben. “If there is a point to this / Something that I must have missed,” singt Courtney, die im Widerspruch zum beruhigenden Ambiente des Tracks stehen. Er räumt ein, dass er vielleicht nicht alle Antworten hat, aber zumindest seine Familie (“I’m just glad that you exist”). Interessanterweise bilden die wichtigsten Real Estate-Songs die Schwachstellen des

Albums. „November“ erinnert mit seinem kinetischen Puls und den klirrenden Riffs an den Song „Days“ aus dem selbstbetitelten Debüt von 2009 – klingt aber müde – während „Falling Down“ in den trägen Downbeats von „In Mind“ aus dem Jahr 2017 schwimmt. Beides hinterlässt keine bleibende Wirkung. Dagegen ist „Gone“ ein weiterer beeindruckender Höhepunkt. “You hold the phone / Your hands are shaking / The number’s wrong / But it seems right,” gurrt Courtney über einen trägen Schlag, der von dissonanten Akkorden gezogen wird. Verträumt, aber real, dunstig, aber rein und aufschlussreich, ermöglicht dieses Projekt neue Ambitionen, während sie den zurückhaltenden Charme und das Talent, das sie seit Beginn auszeichnet, auch weiterhin fest im Griff haben. 7/10

GENRE: INDIE ROCK

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Spinning Coin - Hyacinth

1min
pages 130-131

Allie X - Cape Good

1min
pages 128-129

Banoffee - Look At Us Now Dad

1min
pages 126-127

Peggy Sue - Vices

1min
pages 124-125

Lanterns on the Lake - Spook The Herd

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pages 122-123

Caribou - Suddenly

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Best Coast - Always Tomorrow

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Agnes Obel - Myopia

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Soccer Mommy - Color Theory

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Boniface - Boniface

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Kvelertak - Splid

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Bambara - Stray

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Nathaniel Rateliff - And It’s Still Alright

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Beach Bunny - Honeymoon

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Moses Boyd - Dark Matter

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Tame Impala - The Slow Rush

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Shopping - All Or Nothing

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Frazey Ford - U Kin B The Sun

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HMLTD - West Of Eden

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The Lone Bellow - Half Moon Light

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Nada Surf - Never Not Together

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Gil Scott-Heron - We’re New Again

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Isobel Campell - There Is No Other

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Beatrice Dillon - Workaround

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True Stories (1986

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Speaking In Tongues (1983

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Fear of Music (1979

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Talking Heads: 77 (1977

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Frances Quinlan - Likewise

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TORRES - Silver Tongue

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Dan Deacon - Mystic Familiar

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Destroyer - Have Me Met

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Bombay Bicycle Club - Everything Else Has Gone Wrong

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Pinegrove - Marigold

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