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Besonders viele Initiativen gibt es im Bereich Stadt- und Verkehrsplanung, wie in Marburg etwa die IG Marss Foto: Kronenberg
Auch wenn sie nerven Marburg ist ein gutes Milieu für Bürgerinitiativen
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ürgerinitiativen können die Politik verändern und vergessene Themen auf die Agenda setzen. Über die Chancen und Risiken des zivilgesellschaftlichen Engagements, die Verhinderungsallianzen und die Frage, warum Marburg ein gutes Milieu für Bürgerinitiativen hat, spricht die Politikprofessorin Ursula Birsl im Interview mit dem Express.
schicht orientiert. Es sind in der Regel Menschen, die eine gewisse politische Erfahrung oder den Bildungshintergrund haben, um so eine Initiative auf den Weg zu bringen. Häufig braucht man auch finanzielle und zeitliche Ressourcen.
In den Städten geht es meistens um Stadt- und Verkehrsplanung. Da wird für oder gegen den Abriss eines Gebäudes protestiert. Da geht es um Verkehrsberuhigung, die Sanierung eines Stadtviertels. Oder es geht um die Einrichtung einer Gesamtschule.
Arme Menschen bilden also keine Bürgerinitiativen?
Haben sich die Themen in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Express: Frau Prof. Birsl, Bürgerschaft und Demokratie gehören zu Ihren Forschungsschwerpunkten. Welche Rolle spielen Bürgerinitiativen dabei?
Sehr selten. Fragen von Armut führen selten zu Bürgerinitiativen von Menschen, die arm sind. Schon eher geht es um soziale Themen, die auch Mittelschichten betreffen. Das kann – wenn man nicht gut aufpasst – zu einer Schieflage in der Interessenrepräsentation führen, durch die sozial Benachteiligte und ärmere Stadtviertel nicht hinreichend vertreten werden. Deren Interessen werden dann nicht berücksichtigt, weil sie eben nicht öffentlich geäußert werden. Und es stellt sich die Frage, wie Bürgerinitiativen legitimiert sind. Sie müssen sich nicht zur Wahl stellen. Das ist durchaus auch ein Problem.
Als die Bürgerinitiativen Ende der 1970er Jahre in der Bundesrepublik richtig aufkamen, waren sie vor allem im Umweltbereich stark. Heute sind die Themen vielfältiger. Heute organisieren sich auch Menschen mit Behinderungen in Bürgerinitiativen, um auf Defizite und Hürden in einer Stadt hinzuweisen. Auch Geflüchtete engagieren sich inzwischen in Bürgerinitiativen. Sie sind auch nicht mehr ausschließlich lokal aktiv, sondern durchaus bundesweit.
Ursula Birsl: Bürgerinitiativen entstehen meistens, um Vorhaben in einer Kommune zu verhindern oder zu kritisieren. Sie äußern Unmut an der Politik. Dabei bringen sie oft Themen auf die Agenda, die Stadtverwaltungen und Parteien nicht so auf dem Schirm haben. Was für Menschen engagieren sich dort? Das ist ganz unterschiedlich. Aber die meisten Bürgerinitiativen sind eher an der gebildeten Mittel-
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In welchen Bereichen sind besonders viele Initiativen aktiv?
Sind die Aktiven früher in Parteien gegangen, um sich Gehör zu verschaffen? Genau. Aber das ist schon seit den 70er und 80er Jahren nicht mehr so der Fall. Bürgerinitiativen grün-
den sich auch deshalb, weil die Bindekraft von Parteien nachgelassen hat. Sie füllen diese Leerstelle und treten mit ihren Interessen an die Parteien heran, die Bürgerinitiativen auch als Korrektiv für die eigene politische Arbeit brauchen. Die Umweltbewegung in Deutschland ist aus lokalen Bürgerinitiativen entstanden. Und die wurde ein zentraler Teil der Grünen. Gibt es in Marburg besonders viele Bürgerinitiativen? Wir haben in der Bewegungsforschung keinen wirklichen Überblick, weil Bürgerinitiativen ja meistens spontan entstehen und nicht auf längere Dauer geplant sind. Aber nach unserem Eindruck hat Marburg eher viele Bürgerinitiativen. Das entspricht einer Universitätsstadt und liegt an der sozialen Zusammensetzung der Stadt. Welche Initiative in Marburg ist Ihnen besonders eindrücklich im Gedächtnis geblieben? Das ist wohl die IG Marss, die Initiativgruppe Marburger Stadtbild und Stadtentwicklung, weil sie eine der ältesten in Marburg ist. Sie ist im Grunde schon in den 70er Jahren aus den Initiativen gegen die Bebauung von „Marburgs neuer Mitte“ mit Hotel, Kino, Kunsthalle und dem Einkaufszentrum