Alma Alpmagazin Herbst 2024

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DAS MAGAZIN FÜR HÖHERES LEBEN O VORARLBERG! ALP #3 HERBST

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER

Die dritte? Tatsächlich, schon ist es Herbst, in Ausgabe drei des Alpmagazins zumindest. Damit wäre der Herbst nun festgehalten, und wir können in Ruhe die schönen Geschichten über ihn in diesem Heft lesen. Oder sie uns für den Winter aufheben, denn der kommt bestimmt. Nämlich in gedruckter Form, als Heft vier des Alpmagazins. Ich gebe zu, ein gewisser verlegerischer Stolz befällt Chefredakteur Christian Zillner und mich, wenn wir das Alpmagazin in die Hand nehmen, und wir freuen uns über die Kulturtat, die Josef Rupp mit seinem Auftrag angestoßen hat. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl in seinem Haus als auch unsere Autorinnen und Autoren machen einen Kulturraum auf vielfältige Weise erfahrbar, den alle zu kennen meinen, aber wenige wirklich kennen. Vom Alpabtrieb weiß man, aber hat man ihn je so gesehen wie unser Fotograf Georg Alfare? Haben Sie schon einmal mit einem klugen Monarchisten gesprochen, der viel über Alpwirtschaft und bäuerliches Leben zu sagen hat? Was wissen Sie über Kuhglocken, was über Influencerinnen auf der Alp? Über Kettensägen und Klimawandel, Kochen mit Käse oder gar höherweltliche Hexereien?

All das und noch vieles andere überraschende Alpwissen haben wir wieder für Sie zusammengetragen und wünschen viel Freude beim Lesen und Entdecken.

Armin Thurnher

Herausgeber und Medieninhaber: Rupp AG, Krüzastraße 8, 6912 Hörbranz, T: +43 (0)5573 8080, E: cheese@rupp.at, www.rupp.at; Konzept, Redaktion und Produktion: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H., Bereich Corporate Publishing, Chefredaktion: Christian Zillner, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien. T: +43 (0)1 53660-0. E: magazine@falter.at; Artdirektion/Grafik: GREAT (www.great.design)

2 ALP #3
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Fotos: Georg Alfare (Cover und oben); Irena Rosc, Nina Bröll, Samuel Trümpy, privat, Petra Zündel, NHM
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Grün sind die Seiten im Magazin, auf denen wir einen Überblick über ein Thema geben, Fakten oder Zahlen bringen, oder aus der Geschichte, etwa über Hexen auf der Alp, erzählen.

3 HERBST 4 Alpabtrieb 12 Was man über Kuhglocken wissen muss 14 Der Bauer, Alt-Vizebürgermeister und Monarchist Hugo Waldner im Gespräch mit Armin Thurnher 20 Blogger auf der Alp 24 Der Weltmeister der Motorsäge 32 Älperin Tina Feuerstein im Porträt 36 Eine Schweizer Alp: Das Glarnerland 44 Hexerei auf der Alp 48 Vom Singen und Juchzen 52 Die Rückkehr der alten Rinderrassen 54 Natters Alpträume im Herbst 60 Herbstalpen im ersten Schnee 66 Familie Johler baut Rodeln 70 Klimawandel auf den Bergen 76 Die besten Käserezepte 80 Felix Gross vom Ernele kocht auf 83 Vorschau Winter
INHALT 48 60 54 66 80 70

FRÜHMORGENS WIRD ABGEFAHREN

Im Herbst muss das Vieh von der Alp. So beginnt der große Treck für Rinder und Hirten: der Alpabtrieb ins Tal

4 ALP #3
Alpabtrieb, Je nach Region treiben die Hirten von Anfang September bis Mitte Oktober das Vieh in die Täler und machen die Alphütten winterfest
FOTOS VON GEORG ALFARE
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6 ALP #3 Unterwegs tragen die meisten Kühe einen Kopfschmuck aus Alpblumen, Kräutern und Tannengrün. Der Alpabtrieb hier erfolgte von der Unteren Hirschbergalp
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8 ALP #3
Die Älpler und Helfer haben alle Mühe, das Vieh auf dem richtigen Weg zu halten
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10 ALP #3
Ankunft der Älpler und Helfer im Dorf Hirschau im Bregenzerwald. Die jungen Hirten nennt man hier „Pfister“
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GLOCKEN GLÖCKELN GLÜCK

Auf der Alp erklingt alljährlich das Gebimmel der Kuhglocken über die Bergweiden. Zweckgegenstand und Musikinstrument, sind Kuhglocken ein Kulturgut der Alpen

Pfeifen, Rauschen, Tosen, Sausen, Krachen, Plätschern – und der Nachhall im Echo steiler Bergwände. So klingt es in der Natur der Alpen. Urheber der Geräusche sind Gewitter, Winde, Wasserfälle, Bäche oder die stets umsichtigen Murmeltiere. Zwischen diesen wilden Klängen verheißt das beruhigende Bimmeln der Kuhglocken Geborgenheit und Halt. Wo es klingelt, da sind Kühe, und wo Kühe sind, da sind Menschen nicht weit.

Den Sound der Berge kann man sich ohne das Klingeln der Kühe nur schwer vorstellen. Bereits 1915 ließ der Komponist Richard Strauss in seiner berühmten Alpensinfonie (Op. 64) die Glocken auf blumigen Wiesen erklingen. Kurioserweise soll es sich dabei nicht um Kuhglocken aus seiner bayrischen Heimat GarmischPartenkirchen, sondern um Schweizer Exemplare handeln. Angeblich experimentierte Strauss im Juni 1883 im Schweizer Lötschental mit den dort üblichen Kuhglocken.

Vielleicht nur eine Legende, aber zweifellos eine schöne Anekdote, verrät sie doch, dass sich der Klang der Glocken oder Schellen von Region zu Region unterscheidet. Wer Musik und Berge liebt, sollte sich die imposante Vertonung einer

Bergbesteigung unbedingt einmal in Ruhe anhören. Davor gibt’s hier einige Fakten und Geschichten über Kuhglocken.

WAS UNTERSCHEIDET

EINE GLOCKE

VON EINER SCHELLE?

Grundsätzlich wird zwischen Glocken und Schellen unterschieden. Glocken sind rund und kegelförmig, Schellen nicht. Schellen gibt es als nach unten hin verjüngte, bauchige Froschmaulschellen und in flacher Quaderform. Glocken werden aus Bronze oder Messing in einer Form gegossen, Schellen aus Blech geschmiedet und verschweißt. Glocken sind aufwendiger in der Herstellung und häufig mit Mustern oder Heiligenbildern verziert. Da sie außerdem teurer und weniger robust sind, geht der Trend in Richtung Schellen. Kracht die Glocke um den Hals einer Kuh etwa beim Fressen gegen einen Stein oder fällt die Glocke auf den Boden, kann sie Risse bekommen, ihr Klang verstummt. Die Reparatur ist heikel. Bei Schellen geht es schneller: Beulen statt Risse und Aushämmern statt Schweißen. Welche der beiden schöner tönt, ist freilich Geschmacksache.

VON JOSHUA KÖB

Der Gewohnheit halber wird im weiteren Verlauf oft von Glocken die Rede sein, wenn eigentlich Schellen gemeint sind. In manchen Gegenden der Schweiz nennt man Glocken übrigens „Schellen“, und Schellen „Treicheln“ oder „Trycheln“. Bevor die Verwirrung komplett ist, noch ein kleiner Exkurs: Die Kuhschelle (Pulsatilla) aus der Familie der Hahnenfußgewächse (Ranunculaceae) bezeichnet eine Pflanzgattung, deren Arten wie etwa die weiße Alpen-Kuhschelle (Pulsatilla alpina) oder ihre gelbe Unterart, die sogenannte Schwefel-Anemone, auch in den heimischen Alpenregionen weit verbreitet wachsen. Ihren Namen hat die kleine Blume mit der glockenförmigen Blüte vom lateinischen „pulsare“, das so viel wie läuten oder klopfen heißt. Die Blütenstände der Alpen-Kuhschelle werden im Bregenzerwald übrigens „Strububuobo“ genannt.

ALP #3 12

Glocken und Schellen gibt es in verschiedenen Größen und mit verschiedenen Schnallen und Riemen aus Leder oder Kunststoff – je nach Größe, Alter und Rang der tragenden Kuh.

Kleine Schellchen hängen an Kälbern, bunt geschmückte und verzierte Glocken an den Hälsen von Parade-Kühen.

Die Schellen sind zwischen zwei und

dreißig Zentimeter lang, die passenden Schwengel oder Klöppel messen dreieinhalb bis fünfundzwanzig Zentimeter. Für solche Kaliber braucht man fünfzehn Zentimeter breite Halteriemen. Bis zu sechs Kilogramm können die Klangkörper wiegen.

So schwer sind allerdings die wenigsten. In der Regel trägt eine ausgewachsene Alpkuh zwischen einem und zwei Kilogramm Metall um den Hals. Je nach Form und Größe unterscheiden sich die Glocken und Schellen in ihrem Klang. Die flachen Schellen erzeugen einen dumpfen, flachen Ton, die froschmaulförmigen klingen voller und runder. Den hellsten und höchsten Ton geben die gegossenen Glocken. Für die Schellen wiederum gilt: Je enger die Öffnung, desto heller der Klang. Ist das Blech weicher, wird der Ton dunkler. Form und Material des Klöppels tragen ebenfalls zur Nuancierung bei.

Die Schellen einer Herde lassen sich auch aufeinander abstimmen. Dann erklingt das Gebimmel einer weidenden Herde in Harmonie statt wildem Durcheinander.

Einst hatte so manche Herde auf der Alp ihren eigenen Klang. Die Schellen wurden mit einem Stimmhammer von Schellenrichtern in Einklang gebracht. Ein schönes Geläut war durchaus

Grund, stolz auf seine Herde zu sein.

WARUM DER

SCHELLEN-URSLI

WÜTEND WURDE

Kuhglocken erfüllen mehrere Zwecke –seit über zweitausend Jahren. Am wichtigsten war und ist sicher die Signalwirkung. Das Läuten erleichtert den Hirten die Suche nach den Tieren, vor allem in der Dämmerung oder bei Nebel. Außerdem dienen die Glocken den Kühen innerhalb der Herde zur Orientierung. Kurz gesagt: Die Leitkuh gibt den Ton an. Dank der Töne bleibt das Vieh im weitläufigen Gelände einer Alp zusammen, verlaufene oder versehentlich zurückgelassene Tiere schließen leichter wieder zur Herde auf. Manche Glocken geben auch optisch etwas her. So können sie in Kombination mit besonderen Riemen Tiere schmücken oder Auskunft über ihre Besitzer geben. Früher kamen kultische und abergläubische Zwecke hinzu. So sollte das Läuten der Glocken böse Geister fernhalten. Eine ähnliche Funktion spielen die Schellen im Brauchtum mancher Regionen, wenn Kinder den Winter „ausschellen“ oder durch den Lärm des Kuhglockenläutens den Frühling verkünden. Letzterer Brauch wird im Engadin bis heute am ersten März unter dem rätoromanischen Namen „Chalandamarz“ praktiziert. Eine ähnliche Verwendung von Kuhglocken findet man im Baskenland. In der Pyrenäenregion ziehen an den Tagen nach dem letzten Jänner-Sonntag die „Joaldunak“, in Fell gekleidete Männer mit spitzen Hüten, Peitschen und Kuhglocken, durch die Dörfer, um die bösen Geister zu vertreiben und den Frühling einzuläuten. Auf dem alten Brauch gründet auch die Kindergeschichte vom Schellen-Ursli, dem wohl zweitbekanntesten Schweizer Kinderhelden nach Heidi. Als der Bergbub bei der Schellenausgabe an die Kinder die kleinste erhält und gehänselt wird, marschiert er auf eigene Faust hoch zum Maiensäß der Familie, wo eine große, prächtige Schelle hängt. Für seinen Mut

belohnt, darf er am Ende mit der größten aller Schellen den Umzug im Dorf anführen.

WERDEN GPS-SENDER

DIE GLOCKEN AUF DER ALP ABLÖSEN?

Im Sommer 2015 legte eine viel diskutierte Studie der ETH Zürich nahe, dass der ununterbrochene Glockenlärm die Tiere störe, wenn nicht gar schädige. Laut Studie verringert sich die Fress- und Liegezeit durch die Beschallung. Sind die beglockten Tiere also weniger beglückt?

Nicht nur in der Schweiz traten daraufhin Tierschützer mit Verbotsforderungen auf den Plan, auch der deutsche Tierschutzverband fordert ein Verstummen der Musik. Bei den traditionsbewussten Eidgenossen stieß der Aufschrei der Aktivisten größtenteils auf taube Ohren. In Österreich wiederum ließ man sich kaum von der Debatte berühren. Hierzulande blicken Kuhglockengegner mehr auf sich als auf die Tiere. Der Streit der Leute um das Läuten dreht sich meist um Nachtruhe oder Lärmbelästigung. Auf der Alp ist das mangels fehlender Anrainer, Gott sei Dank, kein allzu großes Thema.

Wie und ob das Wohl der Tiere tatsächlich durch die Glocken beeinträchtigt wird, muss erst durch weitere wissenschaftliche Beobachtungen erarbeitet werden. Aus Sicht der Bauern sind die metallenen Klangkörper freilich unersetzlich. Mancherorts werden zwar die ersten GPS-Sender getestet, diese sind aber bisher höchstens Ergänzungen zu den Schellen. Bis die vielen Funklöcher in den Alpen gestopft und die Sender entsprechend kostengünstig sind, wird es noch einige Jahre dauern. In der Zwischenzeit wollen die Bauern ihre Tiere nicht verlieren – auch nicht an Raubtiere.

HERBST 13
KÖNNEN
SCHELLENKLÄNGE
AUFEINANDER ABGESTIMMT WERDEN

HUGO WALDNER

Josef Rupp sagte mir: Mit dem musst du reden. Ein hochangesehener Bauer, ein von vielen respektierter Ratgeber, ein interessanter und kluger Kopf, außerdem Monarchist. Ich bin hingefahren und habe Hugo Waldner im Großdorfer Gasthaus Falken getroffen. Nach kurzem Abtasten, wer und was für einer ich wohl sei (vom „gefürchteten ,Falter‘“, das gefiel ihm), kam die Lust zum Reden. Selbstsicher gibt der siebzig Jahre alte langjährige Vizebürgermeister von Egg seine Statements ab, immer bedacht und trotzdem mit Freude an der Formulierung und Lust am Erzählen. Ein Gespräch über Monarchismus, über Waldners ewiges Duell mit studierten Juristen und natürlich über den Sinn der Alpwirtschaft.

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ARMIN THURNHER IM GESPRÄCH MIT
Hugo Waldner sinniert in der Sonne Foto: Irena Rosc

ARMIN THURNHER

Herr Waldner, sind Sie politisch noch aktiv?

HUGO WALDER

Nein. Aber auf dem Laufenden.

AT Wie würden Sie Ihre politische Rolle selber beschreiben?

HW Ich würde sagen: Revolutionär, aktiv in Ruhe.

AT Worin besteht das Revolutionäre?

HW Da müsste ich ausholen.

AT Wir haben Zeit.

HW Ich war Zeit meines Lebens politisch interessiert, war Mitbegründer der Vorarlberger Jungbauernschaft, war Mitbegründer des Maschinenrings, Mitbegründer des Heimatpflegevereins, des Betriebshelferrings. Da war ich immer am Anfang dabei. Ich war immer konservativ, und konservativ ist ja fortschrittlich. Bei der Jungbauernschaft war ich deshalb, weil die jungen Bauern im Dorf nicht mehr genug Gesprächspartner hatten. Da habe ich gesagt, wir müssen wieder übers Dorf hinaus etwas organisieren. Daraufhin hat sich der Bauernbund aufgeregt, das sei eine Konkurrenz. Und heute gibt es keinen einzige Funktionär im Bauernbund, der nicht bei der Jungbauernschaft war. Keinen einzigen. Alle waren dabei. Alle.

AT Was war Ihre Rolle dabei?

HW Zuerst hatten wir die Idee, dann kam die Gründung, und alles andere hat sich von selbst ergeben.

AT Was war die Idee? Gegen …

HW Wir haben uns gegen niemand gerichtet. Die jungen Bauern sollten eine Gemeinschaft finden, weil die Anzahl der Bauern in jedem Dorf zurückging. Sie hatten beim Frühschoppen keinen Tisch mehr. Sie konnten sich nicht mehr untereinander artikulieren und unterhalten, da haben wir gesagt, wir müssen eine größere Organisation machen, damit man im Bregenzerwald und dann in Vorarlberg zusammenkommt. Der Bauernbund hat befürchtet, dass wir ihm Konkurrenz machen. Haben wir auch gemacht, aber im positiven Sinn. Und beim Maschinenring auch.

AT Was hatten sie zu befürchten?

HW Wir waren nicht mit allem einverstanden. Aber gefürchtete Konkurrenten existieren meistens gar nicht, sind eine Fata Morgana. Die meiste Angst ist unbegründet. Ehrlich gesagt war es mir wurscht, wir sind einfach unseren Weg gegangen. Und der Weg war richtig.

AT Von welcher Zeit reden wir da? Ging es schon um Ökologie?

HW Anfang der 1970er-Jahre noch nicht. Wenn ich heute sage, ich bin revolutionär, dann rede ich schon von der Art der industriellen Bewirtschaftung. Die tut nicht gut, der Landwirtschaft nicht, den Tieren nicht, der Kultur nicht.

AT Das Argument ist immer, man braucht gewisse Größen, und dann wird es gleich industriell …

HW Gewisse Größen braucht es sicher, aber nach den Ausgaben müssen sich die Einnahmen richten(lacht). Wenn man zuerst große Ausgaben hat, muss man auch große Einnahmen haben.

AT Wie kann man jemandem bäuerliche Lebensweise in der Gegenwart vermitteln? Man kommt ja nicht vom Hof und von den Tieren weg und kann nicht sechs Wochen Urlaub machen, was einem überall als Norm dargestellt wird.

HW Die entscheidende Frage ist, ob man es glaubt. Man muss nicht alles tun, was einem als Norm vorgestellt wird. Die Frage ist natürlich, ob man die Kraft dazu hat, zu glauben, dass man es nicht muss.

AT Woher kriegt man die?

HW Von einem ordentlichen Selbstbewusstsein (lacht anhaltend).

AT Das scheint mir im Wald nicht so schlecht entwickelt zu sein.

HW Ja, unter den Wäldern ist es schon existent. Die Frage ist, wie man es einsetzt. Man kann es natürlich so einsetzen, dass man glaubt, man muss auch mit der Zeit mit. Ich will ein Beispiel erzählen: Einer, der auch zu den selbstbewussten Konservativen zählt, war einmal beim Tiermarkt und traf auf einen Turbobauern. Welcher von ihnen hat recht? Welcher ist der Zeit voraus, welcher ist hinterher? Das kommt drauf an, in welche Richtung der Zug fährt. Wenn du den Zug nach Wien nimmst und in den letzten Waggon einsteigst, bist du der Letzte. Wenn am Arlberg eine Lawine heruntergeht, bist du der Erste. Vor einigen Jahren war eine Maturaklasse vom Gymnasium Egg zu einem Interview bei mir. Sie sagten, ich sei bekannt als Konservativer. Ich sagte, mein Gott, was heißt konservativ? Ich sagte, der Letzte von heute ist der Erste von morgen, es handelt sich um Mitternacht um zwei Sekunden.

» Ich sagte, mein Gott, was heißt konservativ? Ich sagte, der Letzte von heute ist der Erste von morgen, es handelt sich um Mitternacht um zwei Sekunden. «

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AT Was ist konservativ an Ihnen?

HW Ich erachte mich als fortschrittlich. Im Jargon bin ich konservativ.

AT Was macht dieses Konservative aus?

HW Der Umgang mit der Natur und dem Vieh, auch teilweise mit der Religion, obwohl ich auch da nicht mit allem einverstanden bin, was die konservative Religion tut. Die ganze Lebenseinstellung, auch zur Gesellschaft. Ich bin kein Reaktionär. Manche Politiker glauben, sie seien konservativ, aber sie sind reaktionär.

AT Orientieren Sie sich an Büchern oder ist es eine hausgemachte Weltanschauung?

HW Ich lese unheimlich viel. Ich habe unser altes Elternhaus renoviert und habe dafür den Althausrenovierungspreis des Landes Vorarlberg bekommen. Nach sechs Jahren ist aufgrund eines Kurzschlusses – die Mäuse haben das Stromkabel angenagt – das Haus abgebrannt. Bevor wir renoviert hatten, haben wir einen Zubau aus Ziegeln gemacht, darin waren die Bücher und Zeitschriften. Als mir ein Freund geholfen hat, die auszuräumen, ein sehr interessierter Zeitgenosse, sagte er zu mir, „wenn man deine Bücher sieht, weiß man nicht, bist du komplett links oder komplett rechts.“ Ich habe Stalin und Lenin genauso gelesen wie William S. Schlamm, wenn Ihnen das ein Begriff ist.

AT Ein Intellektueller des Kalten Kriegs.

HW Genau! Mit dem war ich sehr gut bekannt! Ihn habe ich eingeladen ins Haus Hubertus, zu einem Vortrag, er war sozusagen mein Gast.

AT Man sagt, Sie seien Monarchist.

HW Ich bin Monarchist!

AT Warum?

HW Aus der Lebenshaltung heraus. In der Monarchie schaut die regierende Familie darauf, dass auch die nächste Generation leben kann. In der Demokratie schauen sie nur bis zur nächsten Wahl und alles andere ist ihnen wurscht, oder? Im Krieg gab es die Zerstörungen weniger beim Vormarsch, sondern beim Rückzug. Beim Rückzug hat man alles vernichtet. In der Demokratie ist es auch so. Wenn eine Partei fürchtet, dass die andere ans Ruder kommt, dann macht sie noch kaputt, was kaputtzumachen ist, und die Leidtragenden sind die Zivilbevölkerung. Deshalb bin ich Monarchist.

» In der Monarchie schaut die regierende Familie darauf, dass auch die nächste Generation leben kann. In der Demokratie schauen sie nur bis zur nächsten Wahl und alles andere ist ihnen wurscht, oder? «

AT Ist das nicht eine idealisierte Sichtweise der Monarchie?

HW Welche Sichtweise wäre nicht idealisiert?

AT Gewiss. Aber die Habsburger muss man doch kritisch sehen. Sie haben die Monarchie verspielt, weil sie sie den Generalen ausgeliefert haben und auf die preußische Karte setzten.

HW Wer keine Fehler macht, lebt nicht!

AT Äußert sich ihr Monarchismus parteipolitisch?

HW Nein. Einer der großen Verehrer von Kaiser Karl war Victor Adler, und der war alles andere als ein Monarchist. Der war der Sozialist schlechthin. Wenn es heut noch solche gäbe! Das Interessante der Monarchien ist auch, dass es keine Parteien braucht, dass sie offen für alles sind …

AT Sie gehen vom idealen Herrscher aus …

HW Was ist schon ideal auf der Welt? Die guten haben sich nicht immer durchgesetzt, wie Josef II. Mir hat einmal jemand gesagt, die zwei intelligentesten Habsburger waren Otto und Josef II. Aber ich sage so: Wo Schatten ist, muss auch Licht sein, sonst gäb’ es keinen Schatten. So sehe ich das mit der Monarchie auch.

AT Mich wundert, wie man Monarchist im Bregenzerwald sein kann. Man hört doch immer, das seien Urdemokraten.

HW Mein Gott und Vater, Urdemokraten! Das ist ein Klischee. Die Landammänner waren doch komplette Monarchisten. Wissen Sie, unter meinen Vorfahren sind sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits einige Landammänner. Der Gründer des Klosters Bezau war Johannes Waldner von Blankenstein. Blankenstein, das ist der Berg, nach dem er benannt ist. Das waren absolute Herrscher.

AT Und was ist mit Franz Michael Felder? Und mit der Bezegg, das wird doch als Demokratieerzählung kolportiert?

HW Es gibt keine Staatsform, die so viele Möglichkeiten zur Diktatur bietet wie die Demokratie, wenn man sie ausnützt. Die Landammänner hatten wenigstens eine Verantwortung. Ich habe einmal über die Sozialversicherung der Bauern gesagt: Wenn einer da Direktor ist, und es passt einem nicht, kann man sich bei dem vor die Tür stellen, man kann

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ALP #3

klopfen und schimpfen. Wenn sie allen gehört, kannst du gar nichts machen, bist du hilflos. Wenn das ein Republikaner auszunützen vermag, wird es Diktatur.

AT Außer man schafft vernünftige Organisationsformen, transparente Repräsentanz und so weiter.

HW Was hat Platon gesagt? Mit wie vielen Leuten funktioniert die Demokratie? Mit 5.000. Das Ureigenste der Monarchie ist, dass man auf längere Sicht Politik macht. In der Demokratie macht man Politik auf kurze Sicht.

AT Es gibt ja Bewegungen, die sich an Zukunftserwartungen orientieren …

HW Kommen die an die Macht? Ich glaube nicht. Es müssen Philosophen zu Herrschern und Herrscher zu Philosophen werden.

AT In den Philosophenkönigen liegt aber auch eine Gefahr, wie wir wissen.

HW Ja, ich bin der Meinung, ein Monarch braucht kein Philosoph zu sein, aber er sollte Philosophen um sich haben, die ihn beraten.

AT Man sagt, Sie seien ein einflussreicher Mann im Bregenzwerwald.

HW Das war einmal.

AT Lassen wir es dahingestellt. Wie sind Sie dazu geworden? Ökonomische Macht haben Sie keine, soviel ich weiß.

HW Ich will Ihnen etwas erzählen. Ich hatte mit einem Rechtsanwalt, der bei uns gejagt hat, viele Gespräche, gute Gespräche. Er ist das Musterbeispiel eines Mächtigen. Ihm habe ich gesagt: Du hattest zeitlebens Geld und Lobby, das hatte ich nicht. Deswegen musste ich viel denken.

AT Denken können auch andere, deswegen haben sie noch keinen Einfluss.

HW Dann muss man die fragen, die mich für einflussreich halten. Gut, bei meiner ersten Gemeinderatswahl in Egg hatten wir keine Parteien. Da gab es Zettel mit 24 Zeilen, da konnte man 24 Namen eintragen. Das war 1975 und im Sprengel Großdorf habe ich den ersten Platz erreicht. Insgesamt kam ich auf die sechste Stelle, obwohl ich nie eine Funktion hatte. Aber der Grund für meinen Einfluss lag wohl in meiner Rolle als Ombudsmann.

AT Als informeller, nehme ich an?

HW Genau. Was mir zeitlebens am meisten getaugt hat, war der Kampf mit Juristen. Jus ist das, was ich am liebsten mache.

AT Studiert haben Sie es nicht?

HW Gott sei Dank nicht. Ich habe nur die Volksschule absolviert. Alles andere habe ich mir selbst erarbeitet

AT Gab es einen Lehrer oder einen Pfarrer, der Sie unterstützt oder angeleitet hat?

HW Ja, das war der alte Pfarrer von Großdorf, der bis zum 92. Lebensjahr im Dienst war. Der war unheimlich weise, von dem habe ich sehr viel gelernt. Dann der Priester und Autor Franz Michel Willam, der Enkel von Franz Michael Felder, von dem habe ich sehr viel gelernt. Und dann der alte Pfarrer von Damüls, Reinhold Simma, der ein Radikaler war, den alle sehr gefürchtet haben, sodass man ihn in Damüls beließ, damit er keine größere Pfarre bekommt. Als Bundepräsident Franz Jonas da war, fuhr man mit ihm über die Furka nach Damüls, wo es ja eine sehr schöne Kirche gibt, mit berühmten Fresken und Statuen, die man anschrauben musste, damit sie nicht gestohlen werden. Man sagte zu Simma, er solle sich beim Bundespräsidenten zurückhalten. Simma aber wusste, dass Jonas Atheist ist, und sagte zu ihm vor der Tür: „Sie wissen, dass dort drinnen ein Haus Gottes ist, da haben Sie sich ordentlich zu benehmen!“ Und dann erzählte er ihm, dass man eine Heiligenfigur gestohlen habe, und sagte: „Wissen Sie, Herr Bundespräsident, früher hat man die Lumpen eingesperrt und die Heiligen laufen lassen, jetzt lässt man die Lumpen laufen und die Heiligen muss man einsperren.“ Als es in den 1970er-Jahren Schulreformen gab, die ihm nicht passten, fuhr er nach Wien zu Unterrichtsminister Sinowatz, um sich zu beschweren. Er hatte einen Termin und saß im Vorzimmer, da kam einer vorbei, der ihn fragte: „Sind Sie nicht der Pfarrer von Damüls?“ – „Woher kennen Sie mich?“ – „Ich war im Tross von Bundespräsident Jonas und kann mich noch an die Heiligen und die Lumpen erinnern. Kommen Sie gleich mit.“ Da musste er nicht mehr warten, der Pfarrer.

AT Wir waren bei den Juristen.

HW Ja, die Juristen. Ich erzähle Ihnen einen interessanten Fall, schon ziemlich lange her. Einer hat nur die Sonderschule absolviert und den Führerschein gemacht, hatte einen kleinen Unfall, und sofort hat man ihm den Führerscheinentzug angedroht. Dann hat er mich gebeten, mit ihm zur Bezirkshauptmannschaft zu gehen, allein hat er sich nicht getraut, er war noch recht jung. Dort hieß es: „Sie haben noch nicht lange den Führerschein, keine Fahrpraxis, also müssen wir Ihnen den Schein entziehen.“ Darauf habe ich gesagt: „Herr Doktor, gehen Sie davon aus, dass der junge Mann mehr Fahrpraxis bekommt, wenn Sie ihn nicht mehr fahren lassen? Und zweitens“, habe ich gesagt, „es stimmt, er hat nicht viel Fahrpraxis. Aber setzen wir einmal den Fall, es gibt einen Unfall, und einer ist tot. Der ihn totgefahren hat, hat seit vierzig Jahren den Führerschein. Bei einem anderen Unfall hat der Fahrer den Führerschein erst vierzig Tage. Welches von beiden Opfern ist toter?“ Darauf war er hilflos. Als wir angefangen haben, hat er gesagt: „Herr Waldner, das können Sie nicht wissen, weil Sie nicht Jus studiert haben.“ Darauf habe ich gesagt: „Herr Doktor, ich gehe davon aus, dass wir beide ein bisschen Intelligenz brauchen könnten.

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Aber wissen Sie, was uns beide unterscheidet?“ „Nein“, sagte er, „weiß ich nicht.“ Ich sagte: „Ich bin auf meine eigenen Kosten dumm geblieben! Meine Dummheit hat niemanden etwas gekostet!“ Wir waren uns einig (lacht). Mit den Juristen zu diskutieren, das ist schon was. Im Landesverwaltungsgericht bin ich von vier Fällen dreimal gegen die Bezirkshauptmannschaft durchgekommen. Der Bezirkshauptmann sagte mir einmal: „Sie kommen immer mit Ihrem Hausverstand daher und setzen das zu Ihrer Verteidigung ein!“

AT Das macht Ihnen Spaß.

HW Ja, das macht mir wirklich Spaß.

AT Sie schreiben auch gern Leserbriefe.

HW Ja, wenn es mir wichtig erscheint.

AT Sammeln sie die?

HW Leider nein. Ich lege sie ab, aber ich weiß nicht wo. Ich bekomme auf jeden Leserbrief mindestens zwanzig Reaktionen, meistens telefonisch. Positive. Wenn sie negativ sind, erkläre ich ihnen schon, warum.

AT Sie schreiben nur an die „Vorarlberger Nachrichten“. Ist das nicht ein Problem, dass es nur ein Blatt im Land gibt?

HW Ja, zumal ich nicht einmal Internet habe. Damit könnte man sich ja behelfen.

AT Gegen die „VN“ sagt niemand etwas.

HW Ja, die Feigheit ist insgesamt ein Problem. Die Seuche unserer Zeit, wie Papst Franziskus einmal sagte. Ich sage, man soll sich ein Beispiel nehmen an der Bibel. Jesus sagt, es nützt doch nichts, wenn man hinter zugezogenen Vorhängen und geschlossenen Türen diskutiert. Jesus sagt seinen Aposteln: Geht hinaus in alle Welt und sagt es allen Völkern! Als sie sich hinter verschlossenen Türen geängstigt haben, hat er sie hinausgejagt! Regelrecht hinausgejagt. Da hatte ich auch schon mit meiner Schwester Diskussionen, wenn sie sich bei mir über etwas beklagt hat. „Du musst nicht mich anrufen“, sage ich ihr, „sondern dort, wo es hingehört!“

AT Habe Sie denn ein Art Stellvertreterfunktion? Müssen Sie die Meinung für andere sagen, die sich mutig hinter Ihrem Rücken scharen?

HW (Lacht) Ja. Sehr oft. Mich ärgern Leute nicht, die anderer Meinung sind. Da kann man streiten. Mich ärgern Leute, die keine Meinung haben oder sich nicht trauen, sie zu sagen. Über eine andere Meinung kann man diskutieren. Wenn er besser ist, muss man es zur Kenntnis nehmen. Wenn man selber besser ist, hat man gesiegt. Das ist auch das Thema mit den Juristen. Der Altlandtagsabgeordnete und Altbürgermeister Franz Greber sagte zu mir einmal, er habe große Probleme mit den Juristen. Darauf sagte ich: „Wenn du

dich mit den Juristen anlegst, als Bauer, und du siegst, ist es ein Triumph. Wenn du nicht siegst, bist du immer noch der Bauer. Du musst ja nicht siegen. Der Anwalt hat die Aufgabe zu siegen, der Bauer nicht. Er kann, aber er muss nicht.“

AT Wie war das mit Rupp? Sie haben eine große Rolle gespielt und waren sehr hilfreich, sowohl beim Zustandekommen des gemeinsamen Käselagers mit der Alma, als auch bei der Fusion …

HW Die Sache Rupp hat eine noch ältere Vorgeschichte. Es beginnt mit Josef Rupps Mutter, Gertrud Rupp. Als Haiden Landwirtschaftsminister war, gab es Differenzen, und die Gegner waren froh, wenn man dem Rupp Schwierigkeiten gemacht hat, also die Gegner waren froh, wenn der rote Haiden dem Rupp Schwierigkeiten gemacht hat. Damals habe ich schon Leserbriefe geschrieben und bin für die Firma Rupp eingetreten. Das hat mir Gertrud Rupp sehr hoch angerechnet.

AT Was für Schwierigkeiten konnte der Landwirtschaftsminister machen?

HW Es ging um den Export. Man suchte nach Möglichkeiten, der Firma zu schaden. Mir haben einfach die Konzepte von Josef Rupp gefallen. Man hat gesehen, dass die Konzepte der Genossenschaft nicht funktionieren. Man hat einfach jährlich Geld verbraten und hat nur geschimpft, statt etwas zu tun. Das hat mich bewegt. Genossenschaften hatten schon ihre Bedeutung, zu Zeiten Franz Michael Felders war es völlig richtig, dass diese Genossenschaften entstanden sind, aber sie haben ausgedient. Da müssen immer 18 Leute etwas dazu sagen, und das in einer Zeit, wo man sich rasch entscheiden muss, das geht nicht.

AT Ein Gegenbeispiel wäre der Schweizer Lebensmittelhandel: Die beiden größten Lebensmittelhändler sind dort Genossenschaften.

HW Die schaffen es mit einer klaren Struktur, die man bei der Alma nicht hatte. Die Schweizer haben eine andere Mentalität. Sie haben auch zu Landwirtschaft und Lebensmitteln eine andere Beziehung als wir Österreicher. Mir sagte man, das sei geschichtlich damit begründet, dass man in der Donaumonarchie immer Lebensmittel aus den Kornkammern im Osten bekam. Man musste sie hertransportieren zu uns, aber man hatte sie. In der Schweiz hatte man das nicht, deshalb hat sie eine ganz andere Beziehung zu Lebensmitteln und zur Landwirtschaft. Das glaube ich auch.

18 ALP #3

AT Wie war das im Bregenzerwald?

HW Der Bregenzerwald war arm, aber man hat sich immer zu helfen gewusst. Ich weiß es von meinen Vorfahren, die hatten immer Beziehungen in die Welt hinaus. Die Wälder waren immer weltoffene Leute.

AT Reden wir noch einmal von Rupp, von Ihrer Rolle und den Gegnern.

HW Mir hat er gefallen, deswegen habe ich mich mit einigen Kollegen für seine Ideen, für seine Firma und für seine Person verwendet. Da hat man logischerweise seine Feinde bekommen, wer keine Feinde hat, ist tot! Ich habe eine Aussendung der Landwirtschaftskammer archiviert, dass das Rupp-Konzept niemals aufgehen werde. Die Agrarpolitiker waren größtenteils gegen das Rupp-Konzept und ein großer Teil der Bauern auch. Wir haben uns durchgesetzt, weil wir uns nicht gefürchtet haben. Ich habe nicht studiert, aber ich habe die Bibel gelesen, und in der Bibel steht 386 Mal „Fürchte dich nicht!“, und mit dieser Überzeugung sitze ich hier.

AT Haben sich die anderen vor Ihnen gefürchtet?

HW Das weiß ich nicht. Jedenfalls haben wir mit oder ohne Furcht durchgesetzt, was wir wollten (lacht).

AT Die Grundidee von Josef Rupp war die Erhaltung der Alpwirtschaft.

HW Josef Rupp ist persönlich ein großer Freund der Alpen, das ist, was ich an ihm so respektiere. Deswegen habe ich ihm sein Konzept auch geglaubt. Am interessantesten fand ich, dass er auch in Anwesenheit von Nichtbauern die Alpwirtschaft und die Landwirtschaft hervorgehoben hat. Es ist keine Leistung, jemand nach dem Mund zu reden, wenn nur Bauern dasitzen. Aber wenn fünfzig Andersgläubige dasitzen und ein Bauer, dann über die Landwirtschaft zu reden, das ist eine Leistung. Das ist das, was mich an Josef Rupp begeistert hat. Dass er vor Wirtschaftstreibenden und Kulturleuten gesagt hat, wie wichtig die Alpwirtschaft für unser Land ist. Da merkt man, ob es jemand ernst ist.

AT Ich habe ihn auch den Älplern schon Dinge sagen hören, die sie nicht so gern hören wollten, etwa, dass hundert Prozent Effizienz nicht so gut sind wie 80 oder 90 Prozent.

HW Mir hat es gefallen. Das zu sagen, was man nicht so gern hört, das ist doch das Interessante an einem Menschen. Dass man dort etwas sagt, wo man es nicht erwartet, und etwas sagt, was man nicht erwartet. Das ist das Interessante. Allen nach dem Maul zu reden ist keine Leistung.

AT Warum brauchen wir die Alpwirtschaft?

HW Die Frage müssen Sie nicht stellen, weil Sie es selber wissen!

AT Ich würde es halt gern von Ihnen hören.

HW Wie soll ich es sagen? Ich komme nicht viel in der Welt herum, aber ich lese viel. Ich lese, dass in Italien, Spanien und Frankreich ganze Talschaften ausgestorben sind, weil man sich um die Bergbauern und um die Alpwirtschaft nicht gekümmert hat. Deswegen glaube ich, dass die Alpwirtschaft ein Kulturbeitrag ist. Deswegen brauchen wir sie. Wir brauchen sie nicht wegen der paar Käselaibe. Man braucht sie auch nicht für die Folklore, um im Herbst heimzuziehen. Aber man braucht sie als Kultureinrichtung, das möchte ich ausdrücklich betonen. Die Alpen müssten eigentlich aus dem Kulturbudget gefördert werden, nicht aus dem Landwirtschaftsbudget. Bringen diese ausgestorbenen Täler noch einen Erholungswert? Ich weiß es nicht. Wenn die Alpwirtschaft weg ist, ist das Vieh weg, ist das ganze Leben weg. Mir hat der Universitätsprofessor Franz Fliri geschrieben, ehe der letzte Mensch geht, geht der letzte Hirsch.

» Deswegen glaube ich, dass die Alpwirtschaft ein Kulturbeitrag ist. Deswegen brauchen wir sie. Wir brauchen sie nicht wegen der paar Käselaibe. Man braucht sie auch nicht für die Folklore, um im Herbst heimzuziehen. Aber man braucht sie als Kultureinrichtung, das möchte ich ausdrücklich betonen. «

AT Waren Sie auf der Alp?

HW Selbstverständlich. Wir sind an verschiedenen Alpen beteiligt. Wir hatten Fremdpersonal. Ein paar Jahre sind wir selbst auf die Alp, auch die Kinder sind auf die Alp.

AT Welche Bücher über den Wald sollte man lesen? Franz Michael Felder?

HW Was mich an ihm immer fasziniert hat: Er hatte keine besondere Beziehung zu den Schoppernauern, woran größtenteils der Pfarrer Rüscher schuld war, der später nach Egg kam. Aber er sagte, wenn er von der Alp gezogen ist, „dann sah ich wieder meine Leute, und von jedem fiel mir etwas Gutes ein“. Das ist schon sehr charakteristisch: Von jedem fiel mir etwas Gutes ein. Für die Alpwirtschaft als solche kann man keine besonderen Richtlinien aufstellen. Zum Beispiel bin ich beim Vorsäßdorf Eggatsberg oft auf einen Hügel hinauf und habe ins Tal auf die Siedlung geschaut. Die Firstrichtungen waren durcheinander, aber obwohl es keine Bebauungsvorschrift gab, war alles so harmonisch. Darüber habe ich schon oft studiert: Wie haben die das gemacht ohne Vorschrift?

19 HERBST

VON TOBIAS SCHMITZBERGER

UND JULIA SCHMIDBAUR

HOCH LEBEN UND BLOGGEN

Auf der Alp gibt es kein Internet?

Auf jeden Fall aber gibt es Alpblogger, von denen wir hier einige vorstellen

ALP #3 20
Trickytine lebt in Stuttgart, ist Foodbloggerin und bloggte über die Vorarlberger Alp Hutla Foto: trickytine

Berge und Internet, passt das zusammen? Der Empfang auf der Alp ist meist schlecht, Internet gibt es kaum. Und überhaupt, was soll man hier damit? Kühe hüten geht auch ohne Google Maps, eine erfahrene Sennerin braucht keine InternetAnleitung zum Melken. Außerdem: Dass es kein Netz gibt, ist angenehm, vor allem auch für den Besuch aus dem Tal. Endlich unerreichbar sein, endlich ungestörte Entspannung in der Natur!

Man kann das aber auch anders sehen. Alp und Internet können ganz gut zusammen. Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Beziehungen zu den Bergen: Die einen machen Sport, andere arbeiten auf der Alp, wieder anderen schmecken Käsespätzle besonders, wenn sie mit Alpkäse zubereitet werden. Ihre Erfahrungen teilen die Alpfans im Internet. Auf Blogs, auf Instagram und Facebook. Dabei sind die Alpblogs so vielfältig wie die Menschen, die sie verfassen. Und sie zeigen, was man in den Bergen alles findet.

CHRISTINE GARCIA URBINA: TRICKYTINE

trickytine.com

Facebook: 4.792

Instagram: 20.157 Abonnenten

Eigentlich hatte Christine Garcia Urbina mit Bergen nichts am Hut. Sie war Vertriebsassistentin in einer Softwarefirma. Die 43-Jährige ist Stuttgarterin. Im Mai 2014 begann sie zu bloggen. Sie kocht und bäckt gern, zudem las sie andere Blogs. „Irgendwann suchte ich neben der Arbeit einen kreativen Spielplatz. Ich wollte andere Menschen erreichen, ihnen von mir erzählen und sie inspirieren.“ So begann sie, ihre selbst gemachten Gerichte samt Rezepten auf trickytine.com online zu stellen. Hinzu kamen persönliche Reiseberichte. Das Freizeitprojekt wuchs rasant. 2015 gewann Garcia Urbina einen deutschen Blogger-Award in der Kategorie „Bester Foodblog“. Unternehmen und Agenturen wurden auf sie aufmerksam und schlossen Kooperationen mit Trickytine ab.

Die Bloggerin begann mit ihrem Hobby Geld zu verdienen. Zuerst reduzierte sie einige Stunden in der Softwarefirma, im Sommer 2017 kündigte sie schließlich ganz. Heute lebt sie von der Bloggerei. „Ich habe mir meinen eigenen Beruf geschaffen“, sagt sie heute. 2017 bekam sie eine besondere Anfrage.

Die AMA (Agrarmarkt Austria, ein Partner von Rupp) wollte wissen, ob sie sich am Projekt #sennermeetsblogger beteiligen wolle. Sie wollte. #sennermeetsblogger sollte Senner und Blogger zusammenbringen:

Die Blogger erhielten neue Ideen für ihre Websites, die Senner und Firmen Werbung für ihre Produkte. Christine verbrachte drei Tage bei einer Sennerfamilie auf der Alp Hutla bei Sonntag/Buchboden im Großen Walsertal und begleitete sie bei der Käseproduktion. Darüber schrieb sie auf Trickytine und ließ sich spezielle Rezepte mit den verschiedenen Bergkäsesorten einfallen. Sie nahm aber weit mehr als neue Rezepte mit.

„Die Alp war ein Aha-Moment. Weit und breit gab es kein WLAN. Als digitaler Mensch erschreckte mich das zuerst“, erzählt sie. Gleichzeitig war es lehrreich. „Wenn ich reise, poste ich alles sofort. Ich will meine Community schnell teilhaben lassen.“ Auf der Alp geht das nicht. „Der Zwang, die Menschen sofort mitzunehmen, war weg.“ Diese Entschleunigung merke man an den Beiträgen über ihre Alperfahrung, meint sie selbst. Sie seien anders: Weniger rasant als das, was sie sonst postet.

„Morgens checke ich meist erst meinen Instagram-Feed, lese E-Mails und bereite tagsüber meine Posts für den Blog auf. Abends poste ich vor dem Einschlafen noch auf Facebook oder Twitter“, sagt Garcia Urbina. „Das ist eben Teil meines Jobs, ich arbeite im Internet.“ Nun versucht sie, Handy-Auszeiten zu nehmen. „Die muss ich einplanen.“ Auch deshalb sei der Alpaufenthalt für sie lehrreich gewesen. „Hin und wieder muss ich mich erden und raus aus der digitalen Welt.“ Es brauche die richtige Mischung aus realem und digitalem Leben, meint sie.

CHRISTIAN PALFRADER:

DIE KONSUMKINDER

konsumkinder.at Facebook: 41 Instagram: 133 Abonnenten

Christian Palfrader fragt sich, ob er der Richtige für diesen Text sei. „Ich sitze auf keiner Tiroler Alp, um hier als naturverbundener Technik-Blogger die Welt zu ergötzen“, schreibt er auf unsere Anfrage. Den Bergen entkommt er auf seinem Blog trotzdem nicht, auch wenn sein Schwerpunkt ein anderer ist.

Seit 2005 betreibt er „Die Konsumkinder“. Der Inhalt ist schwer zu beschreiben. „Ich mache den Blog zum Spaß“, sagt der 43-jährige Grafiker aus der Nähe von Innsbruck. Das Bloggen sei eine „private und öffentliche Denkhilfe“. Er beschreibt Technikartikel vom MacBook bis zur Smartwatch, und wie man sie nutzt. Aber er schreibt auch über Persönliches: Zum Beispiel, ob man sich das Freizeitticket Tirol kaufen sollte. Damit kann man für ein Jahr Schwimmbäder, Bergbahnen und Museen in Innsbrucks Umgebung nutzen. Auf seinem Blog hat Palfrader penibel nachgerechnet, ob sich das 488 Euro teure Ticket für ihn lohnt. Die Antwort: Ja. Ohne Freizeitticket würde er 2018 nämlich 609,90 Euro brauchen, wenn er seine Sportvorsätze einhält: unter anderem 36 Mal schwimmen und fünf Mal auf den Berg wandern gehen. „In dem Fall war das Schreiben eine Selbstanalyse. Die schreibe ich dann so, dass andere etwas davon haben“, sagt er.

Auch wäre der Ötztaler Moped Marathon (ÖMM) ohne Bergwelt nur halb so spannend. Mit einem Moped fahren Teilnehmer wie Palfrader die Strecke des Ötztaler Radmarathons ab: insgesamt 238 Kilometer Strecke und 5.500 Höhenmeter. Gemeinsam mit einem Freund nimmt er heuer zum dritten Mal daran teil. „Die Berge“, sagt Palfrader, „sind schon ein Alleinstellungsmerkmal meines Blogs. Das ergibt sich aus meinem Wohnort.“ Sie bilden die Kulisse des ÖMM ebenso wie die einer Wanderung, die der zweifache Familienvater mit seinem Freizeitticket unternimmt. „Man nimmt das Gewohnte ja immer als selbstverständlich wahr. Wenn man sich umschaut und schreibt, erkennt man erst, wie lässig die eigene Umgebung ist. Die Berge auch. Die stehen so schön in der Gegend herum.“ Sie stehen so schön herum, dass sie automatisch bei den Konsumkindern hineinragen.

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Christian Palfrader. Sein Blog: Die Konsumkinder Foto: pivat

CHRISTIAN UND SABRINA WURZER: WUSA ON THE MOUNTAIN

Zwölf Stunden Kletterei liegen hinter Sabrina und Christian Wurzer, als sie glücklich im Zelt einschlafen – mit Pommes und Chicken Wings im Magen. Die haben sie sich nach einer Überschreitung des 4.810 Meter hohen Mont Blanc verdient. Für Christian war es die schönste Tour, an die er sich erinnert. Er sitzt gerade mit seiner Partnerin Sabrina in ihrem Reihenhaus im Salzburger Bischofshofen. „Am Mont Blanc benutzte Sabrina zum ersten Mal Steigeisen. Sie hatte keine Erfahrung damit. Es war bewegend, sie so zu sehen.“ Danach waren sie auf demselben Level. Jetzt sollten weitere anspruchsvolle Touren folgen. Die meisten davon kann man auf ihrem Blog „WUSA on the mountain“ nachlesen.

Sabrina, 32, und Christian, 40, haben sich über das Bergsteigen kennengelernt. Und über das Internet. Sabrina ist gebürtige Düsseldorferin. „Naiv, wie ich war, fragte ich über eine Facebook-Gruppe, wer mit mir auf den Großglockner geht“, erzählt sie. Christian, ein Ur-Pongauer, meldete sich. „Zum Jahreswechsel 2013/14 standen wir mit zwei Freunden auf dem Großglockner.“ Heute lebt das Paar gemeinsam in Bischofshofen. Von der Terrasse ihres

Hauses schauen sie jeden Tag auf den Hochkönig.

Auf WUSA (WU ist der Spitzname von Christian Wurzer, SA steht für Sabrina) posten die beiden über ihre Bergtouren und Trailrunning, den Langstreckenlauf durch Wald und Wiese. „Wir bloggen nicht für die breite Masse“, sagt Sabrina. „Eigentlich sind wir keine Blogger. Wir sind Bergsteiger, die bloggen.“ Der Blog sei Hobby, kein Geschäft. Vor allem für Menschen mit sportlichen Ambitionen. „Unsere fachliche Qualifikation macht uns glaubwürdig. Es gibt in der Bloggerwelt viele, die geschminkt auf den Berg gehen und schöne Selfies machen“, sagt Sabrina. Davon hebt WUSA sich ab. Während des Gesprächs springt plötzlich ein Hund auf Christians Schoß: Luke Skywalker. Er hat ein schwarzes Fell und eine weiße Pfote. „Manchmal nehmen wir Luke mit auf unsere Touren. Er war schon auf einem 3.000er, da saß er hinten im Rucksack“, sagt Sabrina. Christian ergänzt: „WUSA hat so eine neue Zielgruppe erreicht: Menschen, die mit Hunden auf den Berg wollen. Man will nicht glauben, wie viele es davon gibt.“ Die Wurzers sträuben sich gegen den Begriff Influencer. Zwar erzählen sie Geschichten aus ihrem Bergsteigerleben, aber: „Nicht wir sind super, der Berg ist super. Wir sind Bergsteiger.“

wusaonthemountain.at

Facebook: 2.201

Instagram: 4.335 Abonnenten

Foto: privat

berghasen.com

Facebook: 12.593

Instagram: 44.600 Abonnenten

SUSANNE KRAFT UND VERONIKA JOHN: BERGHASEN

Seit drei Jahren schreiben die beiden Sportwissenschaftlerinnen Geschichten aus den Bergen auf ihrem Blog berghasen. com. „Wir lernten uns an der Uni in Salzburg kennen und waren öfter gemeinsam am Berg unterwegs. Freunde fragten uns immer wieder, ob wir Empfehlungen für Bergtouren haben und wie man richtig trainiert. So begannen wir zu bloggen“, erinnert sich Susanne. Dass berghasen.com der größte Bergsport-Blog Österreichs werden sollte, ahnten die beiden damals nicht. Von „Wie man eine Bergtour mit lachenden Kniescheiben beendet“ bis zu „Bergsteigen: gesunde Gelenke ein Leben lang“ reichen die Geschichten. „Im Sommer schreibe ich vor allem übers Klettern. Vroni macht auch Wettkämpfe und gibt Tipps, etwa wie man sich auf seinen ersten Trail-Run vorbereitet“, erklärt Susanne.

„Ohne soziale Medien würde es die Berghasen so nicht geben.“ Mit Instagram erreichen sie die 20- bis 35-Jährigen, auf Facebook Menschen um die vierzig. Es liege wieder im Trend, in die Berge zu gehen. „Menschen die in der Stadt wohnen, fahren am Wochenende gern in die Berge. Die holen wir mit unserem Blog ab“, sagt die gebürtige Münchnerin Veronika. „Wir bekommen das Feedback, unsere Leser hätten den Bergsport durch unseren Blog für sich entdeckt.“

Sportbegeisterte können jedes Jahr im Februar mit den Bloggerinnen auf Skitour gehen. Die entsprechende Facebook-Veranstaltung ist bereits erstellt. „Wir machen ein Mädels-Camp und sind drei Tage auf einer Alphütte im Pinzgau. Das zweite Camp führt uns in meine Heimatberge, das Tennengebirge“, sagt Susanne.

ALP #3 22
Foto: Wusaonthemountain

LINDA MEIXNER

Linda Meixner hat die Berge vor der Haustür. Sie lebt und arbeitet in Gargellen, dem höchstgelegenen Ort im Montafon. „Bei uns kann man vor der Haustür eigentlich nur aufwärts oder abwärts gehen. Ich bin jeden Tag in den Bergen“, erzählt sie. Dabei begleiten die 29-Jährige mittlerweile über 70.000 Follower auf Instagram. Sie ist zur Influencerin geworden. „Ich habe auf meinem Instagram-Account einfach getan, was ich gern tue: in die Berge gehen und fotografieren. Ich muss selbst erst realisieren, dass ich jetzt Influencerin bin. Ich habe das wirklich nicht geplant. Erst letzten Winter zeichnete sich ab, dass das zu meinem Job werden würde.“ Mit dem Handy bringt sie Interessierten die Berge nach Hause ins Wohnzimmer. Sie geht auch via Liveschaltung mit ihren Followern wandern. Bis zu einem bestimmten Punkt könne sie ihnen so

alpgefuehl.com

Facebook: 33.862

Instagram: 15.700 Abonnenten

schöne Momente nahebringen. „Um einen Sonnenaufgang in den Bergen wirklich zu erleben und zu spüren, muss man aber selber hinausgehen und das Handy ausmachen“, meint Linda.

Mittlerweile kann die 29-Jährige von ihrem Instagram-Account leben und hält auch Vorträge darüber, wie man zum Influencer wird. Sie beschreibt ihren Beruf mit viel Ironie. „Ich nehme das Wort gern auf die Schippe: Influencer verdienen viel Geld und machen viel Urlaub. Das Publikum lacht dann immer“, sagt sie. „Aber die Realität ist, dass harte Arbeit dahintersteckt. Es ist ein anstrengender Job.“ An einem Punkt habe sie sich selbst gefragt, warum sie in diesem Bereich arbeite. Dann setzte sie sich ein Ziel. „Wenn ich es schaffe, ein Prozent meiner Follower zu inspirieren, sich mehr in der Natur zu bewegen, öfters die Berge zu besuchen und mit den kleineren Dingen im Leben zufriedener zu sein, dann hab ich mein Ziel erreicht und das Warum gefunden.“

KATHARINA KREPOLD: ALPGEFÜHL

Katharina Krepold arbeitet seit acht Jahren jeden Sommer auf der Alp. Seit zwei Jahren bloggt sie darüber. „Mein Bruder fing damit an, auf der Alp zu arbeiten. Als ich ihn einmal besucht habe, packte mich sofort das Alpfieber“, erinnert sie sich. Die Bilder und Geschichten von ihrem Leben als Älplerin kamen bei ihren Freunden so gut an, dass die Lindauerin den Blog Alpgefühl erstellte. „Ich wollte Menschen das Leben auf der Alp näherbringen. Auf Alpgefühl schreibe ich über Erfahrungen, die nicht nur an der Oberfläche kratzen. Ich schreibe über schöne Momente, aber auch darüber, wie es sich anfühlt, ausgelaugt und übermüdet zu sein.“ In den Bergen rücke Unwichtiges beiseite. In den letzten Jahren arbeitete die 28-Jährige auf einer Alp in Graubünden in den Schweizer Bergen. Das Team für den Sommer stellt sie selbst zusammen. „Die meisten haben ein falsches Bild von meiner Arbeit. Oben erwartet einen keine Alpromantik, sondern harte körperliche Arbeit. Man kommt an seine Grenzen.“

Sie arbeitet dort hundert Tage am Stück, sieben Tage die Woche. „Wir stehen zwischen drei und vier Uhr in der Früh auf

lindameixner.com

Instagram: 70.100 Abonnenten

und holen die Kühe von der Nachtweide.“ Nachdem die Tiere gemolken und zurück auf der Weide sind, gibt es Frühstück. Danach werden vier Stunden lang das Jungvieh und die Zäune kontrolliert. „Wir sind auf der Alp eine Gemeinschaft, man hilft sich gegenseitig. Bis acht Uhr abends arbeiten wir im Stall. Es ist ein Vollzeitjob.“

Auf Instagram lässt die Lindauerin ihre Follower direkt am Alpalltag teilnehmen, etwa mit einem Video vom Melken. „Mit Instagram kann ich die Menschen näher an die Thematik heranholen. Bilder wecken immer Emotionen“, sagt sie. Das Leben auf der Alp beschreibt sie als schönes Gefühl von Freiheit und Verantwortung: „Ich habe auf der Alp gelernt, dass man mit weniger mehr vom Leben hat. Nach hundert Tagen treiben wir das Vieh zurück ins Dorf. Dazu ziehe ich mir ein schönes Dirndl an und schmücke die Kühe. Im Dorf warten sie schon und klatschen für einen. Das ist jedes Jahr ein besonderer Moment.“

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Foto: Bjoern Schneider
Foto: Anna Meixner
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MTLEW E I STER MIT E
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IRMGARD KRAMER
VON NINA BRÖLL DER K E T EGÄSNET
VON
FOTOS
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Forstarbeit ist eine der härtesten und gefährlichsten Tätigkeiten überhaupt. Benjamin Greber hat es darin zur internationalen Spitze gebracht

Der Bauer und Forstwirt

Benjamin Greber trainiert an freien Sonntagen hinter seinem Bauernhof in Andelsbuch mit der Kettensäge für die Weltmeisterschaft der Forstarbeiter. Sie findet alle zwei Jahre in einem anderen Land statt

Jungvieh und Kälbern. Wenn er nicht im Stall oder auf dem Feld arbeitet, zieht es ihn bei jedem Wetter in den Wald. Dort hantiert er mit der Motorsäge, Seilwinden und schwerem Gerät und klettert in steilen Hängen über unwegsames Gelände. Forstarbeit ist eine der härtesten und gefährlichsten Tätigkeiten überhaupt, aber Greber macht das nichts aus. Er liebt die Natur, die Freiheit, den Geruch von frisch geschlagenem Holz und die Arbeit, nach der er kein Fitnesscenter mehr braucht.

Beim Holzmachen riecht es nach Harz, Moos, Erde und Fichtennadeln. Im Wald findet er Ruhe und Gelassenheit. Reich wird er damit nicht, aber er ist zufrieden. Seine Großmutter „Grebars Kathrina“ gilt als Begründerin einer der heute größten Attraktionen im Bregenzerwald: der „Goaßusstellung“ in Andelsbuch. 1966 hatten ihre Söhne Christian und Wolfgang im Anschluss an die Braunvieh-Ausstellung eine kleine Schau mit Ziegen veranstaltet, die mit Kathrinas Unterstützung und den Jahren immer größer wurde – auch Noriker-Pferde kamen dazu. Mittlerweile ist es einer der größten Märkte der Region und zieht jedes Jahr am 26. Oktober Tausende Menschen an. Wir sitzen an hölzernen Tischen auf hölzernen Stühlen, schlafen in hölzernen Betten, arbeiten mit Holzwerkzeug und musizieren auf Geigen, Klavieren und Gitarren. Holz schützt vor Kälte und Hitze und wärmt. Es trägt als Papier oder Boot und dient als Verpackung. Gibt es ein anderes Material, das uns so vertraut ist? Kein Handwerk der letzten Jahrtausende ist ohne Holz ausgekommen.

Holz spielt auch im Leben von Benjamin Greber eine große Rolle. Er hat ein eigenes kleines Forstunternehmen und betreibt mit seinem Vater Wolfgang eine Landwirtschaft mit siebenundzwanzig Milchkühen,

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Auch Kühe hat Benjamin Greber zu versorgen – ganz ohne Kettensäge

Nach der Volks- und Hauptschule absolvierte Benjamin Greber die Landwirtschaftsschule in Hohenems und eine Forstlehre. Im Anschluss daran ließ er sich am Schwarzenberg zum Sennmeister ausbilden. Seinen Zivildienst leistete er auf zwei Höfen, wo er für Bauern einsprang, die einen Unfall gehabt hatten.

Danach war er zehn Jahre lang bei der Firma Rupp für den Einkauf von Naturkäse zuständig. Er fuhr achtzig Alpen ab, probierte und klassifizierte Käse, klopfte ihn auf Löcher oder Risse ab, testete den Geschmack, die Konsistenz, die Farbe, die Lochung, den Teig und den Geruch und vergab Noten von eins bis drei. Für die Sennmeister war sein Besuch stets ein

aufregender Moment: Drei Monate lang Käse machen und trotz aller Bemühungen nie mit Sicherheit wissen, wie die Qualität schlussendlich sein wird.

Die Milch der eigenen Kühe liefert Greber an die Sennereigenossenschaft im Dorf. Ein Teil seiner Tiere grast im Sommer auf einer Gemeinschaftsalpe. Die Liebe zur Forstarbeit entdeckte er 1998, als ihn ein Lehrer zu einem Wettbewerb motivierte. Mit Holzfällern, die schon Wettkampferfahrung hatten, durfte er mittrainieren, wurde Schülermeister, Landesmeister und qualifizierte sich 2002 als bester Österreicher für die erste Junioren-Weltmeisterschaft der Forstarbeiter in Schottland.

Die Idee zu diesem Wettbewerb war in den 1960er-Jahren in Ungarn und dem früheren Jugoslawien entstanden. Der Wettkampf dauert drei Tage. Den Mittelpunkt bildet das Geschick mit der Motorsäge. Dabei wird Baumfällen zur Kunst. Vor allem Schnelligkeit, Präzision, Kraft und Sicherheit sind gefragt. Hundertdreißig Waldarbeiter, seit Kurzem auch Waldarbeiterinnen, die besten aus dreißig Ländern, treten gegeneinander an.

Am Anfang der Wettbewerbe steht der Kettenwechsel. Benjamin Greber schafft das – man traut seinen Augen kaum – in weniger als zwölf Sekunden. Bei der kleinsten Verletzung gibt es Abzug. Dann folgt der Kombinationsschnitt.

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Üben fürs Mastenfällen. In weniger als drei Minuten einen zwanzig Meter hohen Stamm schneiden
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Arbeit an der Kette. Benjamin Greber schafft einen Kettenwechsel in weniger als zwölf Sekunden

Von zwei Stämmen muss unter Zeitdruck je eine Scheibe abgeschnitten werden. Um die Schwierigkeit zu erhöhen, wird die Säge erst von unten, dann von oben angesetzt. Je sauberer die Schnittfläche, desto mehr Punkte gibt es. Zusätzlich kommt es darauf an, den Schnitt rechtwinklig zu führen. Die Schiedsrichter messen den Winkel an vier verschiedenen Stellen, er darf bei jeder Messung höchstens um ein Grad abweichen. Auch die Schnittfläche wird unter die Lupe genommen.

Die dritte Disziplin ist der Präzisionsschnitt. Von zwei Stämmen muss je eine Scheibe sauber abgeschnitten werden. Eine Riesenaufgabe, denn unter den Stämmen liegt ein Brett, das nicht angesägt werden darf. Eine Schicht aus Sägespänen lässt nur erahnen, wo das Brett anfängt. Beim „Entasten auf Zeit“ müssen dreißig Äste vom Hauptstamm möglichst schnell heruntergesägt werden, für jeden Stummel, der länger als fünf Millimeter stehenbleibt, und für jeden Einschnitt in den Stamm gibt es Strafpunkte.

Das sieht so spektakulär, atemberaubend und ästhetisch aus, dass Holzarbeiter immer wieder in Fernsehshows eingeladen werden, um ihr Können zu zeigen. Die fünfte und letzte Wettkampfstation ist die schwierigste, die „Mastenfällung“. Man muss einen zwanzig Meter langen und eine Tonne schweren Stamm in weniger als drei Minuten punktgenau zu Fall bringen.

Benjamin Greber wurde Juniorenweltmeister. Doch noch heute beeindruckt ihn bei jedem Wettbewerb am stärksten das Zusammentreffen von Menschen aus unterschiedlichen Nationen. Er schließt Freundschaften und fühlt sich trotz der Konkurrenz als Teil einer großen Familie, die sich alle zwei Jahre wieder trifft. 2008 nimmt er an der Weltmeisterschaft in Deutschland teil, kann aber keine Spitzenplatzierung erreichen. Doch 2010 wird er in Kroatien Dritter und Weltmeister mit der österreichischen Mannschaft – ein unvergesslicher Sieg, denn ihn zu teilen macht noch mehr Spaß. Im Laufe der Jahre reist er nach Weißrussland, in die Schweiz, nach Polen und Norwegen. Der Aufwand ist enorm, das Niveau und die Konkurrenz sind hoch. Nur wer das ganze Jahr über konsequent trainiert, hat eine Chance.

In Österreich sind 48 Prozent der Gesamtfläche von Wald bedeckt und es wächst mehr, als geerntet wird
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Für seine Frau Carina ist das nicht immer einfach. Ihr Vater Ignaz, auch ein Forstarbeiter, hatte einen schweren Unfall, der ihr selbst nach Jahrzehnten noch tief in den Knochen sitzt. Sie und Benjamin wissen um die große Gefahr. Verletzungen mit einer Kettensäge sind schwer zu behandeln. Immer wieder kommen Waldarbeiter ums Leben. Und dennoch – wenn er unruhig wird, spürt auch sie, dass er wieder ins Holz muss, um seinen Frieden zu finden. Er respektiert Bäume wie Tiere. Sie bringen ihm Nutzen. Seinen hauseigenen Fichtenwald hat er gefällt, um einen großen Stall daraus zu bauen, in dem er sich täglich aufhält. Anstelle der gefällten gedeihen nun junge Fichten – ein Kreislauf. In Österreich sind 48 Prozent der Gesamtfläche von Wald bedeckt und es wächst mehr, als geerntet wird.

Einen gerade gewachsenen Baum zu fällen ist keine große Kunst. Doch wenn die Bäume nach einem Sturm wie Mikadostäbe kreuz und quer in steilem Gelände

hängen, fängt es an kritisch zu werden. Fichten und Tannen mag Greber am liebsten. Buchen sind gefährlicher zu fällen, weil sie härter und schwerer sind und eindrucksvoll brechen können. Momentan macht ihm das Sterben der Eschen und Ulmen Sorgen, aber vielleicht passiert das Unmögliche und die Bäume entwickeln Abwehrkräfte, um entgegen aller Prognosen doch noch zu überleben.

Ist ein Wettkampf geschlagen, reist er zurück nach Hause und freut sich mit seiner Familie über den Erfolg. Am nächsten Tag muss er wieder in den Stall. Seine Kühe allerdings interessieren sich nicht für Pokale.

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Den Stall hat Benjamin Greber aus Fichten des hauseigenen Walds gebaut

DAS ZWEITE, GANZ ANDERE LEBEN

Zwei Berufe bestimmen das Leben von Tina Feuerstein: Im Sommer ist sie Sennerin auf der Alp Schwarzenberger Platte im Lecknertal und im Winter Rinderzüchterin in Hittisau

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TEXT VON BABETTE KARNER FOTOS VON ROBIN STROTMER
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Tina Feuerstein, die Sennerin auf der Alp Schwarzenberger Platte, beim Käsemachen

Es war ein goldener, nicht enden wollender Herbst, aber heute regnet es in Strömen. Ende Oktober sind Vieh und Alpvolk längst wieder ins Tal gezogen, die Hütten aufgeräumt und wintersicher gemacht. So treffe ich Christine Feuerstein, Besitzerin und Sennerin der Alp Schwarzenberger Platte, die „alle immer schon Tina nennen“, wie sie sich lachend vorstellt, nicht in den Bergen, sondern auf ihrem Hof in Hittisau. Die große, schlichte Wohnküche mit dem langen Familientisch und dem Kachelofen in AM

Dass sie Alpsennerin werden würde, war nicht Teil der Lebensplanung der fröhlichen Mittvierzigerin mit den kurzen, schwarzgrauen Haaren und dem resoluten Blick aus dunklen, runden Augen. Aber als ihr Onkel Mitte der 1990er-Jahre schwer erkrankte und starb, bestimmte

Tina Feuersteins Vater Gottlieb Bechter, dass sie nicht nur dessen Hof, sondern auch die Schwarzenberger Plattenalp hoch über dem Lecknertal übernehmen sollte. Einfach so? „Er hat das beschlossen, also war da so“, erwidert Tina mit gleichmütigem Kopfnicken. „Es ist, wie es ist“, sagt sie dann. Mehrmals wird dieser kurze Satz im Lauf unseres Gesprächs fallen –nicht als resignierter Seufzer, sondern als lebenspraktischer Befund.

Tina war damals erst Anfang zwanzig und ein einwöchiger Sennkurs alles, was sie auf ihre neue Tätigkeit vorbereiten sollte. In der ersten Woche stand ihr noch ein alter, erfahrener Bauer auf der Alp zur Seite, „doch dann war ich ganz allein“. Weinend sei sie am Abend des ersten Tags vor der Hütte gesessen, „weil ich nicht wusste, ob ich alles richtig gemacht habe. Ich bin sehr gewissenhaft, und tausend Liter Milch sind viel Geld, da darf man nichts falsch machen.“

MIT DER GANZEN FAMILIE

AUF DER ALP

der Ecke ist ein stimmiger Ort für ein herbstliches Alpgespräch, in dem der Sommer nur Erinnerung und Ausblick ist. Seit knapp sechs Wochen ist die Familie mit den drei Kindern Florian, Jana und Alena, zwischen zwölf und 15 Jahren, wieder im Tal: „Samstags vor Schulbeginn ziehen wir wieder herunter. Es ist immer der Beginn unseres zweiten, ganz anderen Lebens.“ Das zweite Leben, das ist der große Hof mit Kühen, Geißen, Hühnern und Hasen am östlichen Ortsausgang von Hittisau.

Aufgewachsen ist Tina Feuerstein mit drei älteren Schwestern und zwei jüngeren Brüdern auf einem Hof im Dorfzentrum von Hittisau. Nachdem die Schwester, die sonst im Stall mithalf, weggeheiratet hatte, war es Tina, die schon als 13-Jährige morgens vor der Schule die Kühe melken musste. Nicht ungern, wie sie sagt: „Ich mochte die Arbeit am Bauernhof immer schon.“ Der Hof ihrer Eltern Rosmarie und Gottlieb Bechter war ein geselliger Ort, immer kam jemand auf einen Schwatz vorbei: „Die Einsamkeit war am Anfang meines Alplebens ein Schock.“ Denn 18 Jahre lang hat Tina die Alp im Sommer nicht gemeinsam mit ihrer Familie, sondern mit Saisonarbeitern aus Rumänien, Brasilien oder der Ukraine bewirtschaftet. Monatelang mit fremden Menschen auf engstem Raum zu leben sei bisweilen recht anstrengend gewesen, gesteht sie.

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ERSTEN TAG WEINEND VOR DER ALPHÜTTE
Sennen verlangt auch viel Körperkraft – die Sennerin hat sich daran gewöhnt

Doch seit zwei Jahren ist alles anders: Ehemann Manfred hat seinen Bürojob aufgegeben und verbringt die Zeit von Mai bis September mit Tina und den Kindern auf der Alp. Es sei eine Familienentscheidung gewesen, es so zu versuchen: „Jeder muss mit anpacken, auch die Kinder.

KÄSEN, MÄHEN, HEUEN, KOCHEN UND DIE TIERE FÜTTERN

Der Tag und die Arbeit beginnen auf der Alp kurz nach vier Uhr früh. Bis zehn Uhr kommen erst die 53 Kühe auf die Weide, dann verarbeitet Tina die Milch vom Vortag. „Käsen, mähen, heuen, kochen, die Tiere füttern, den Stall ausmisten, kaputte Zäune flicken und täglich zu den Kühe schauen: Auf der Alp gibt es keine freie Minute.“ Die härteste Zeit sind die Schulmonate Mai und Juni, denn „da muss ich morgens zusätzlich zwanzig Minuten Zeit freischaufeln, um die Kinder zum Schulbus an die Mautstelle Lecknertal zu

bringen.“ Noch immer sind es nur wenige Frauen, die den harten Sennjob machen, und kaum eine verarbeitet so wie Tina Feuerstein in einem Sommer täglich tausend Liter Milch zu insgesamt mehr als 8.000 Kilogramm Käse.

Im Herbst, wenn der Käse verkauft und die Alp winterfest gemacht ist, gehören die langen, dunklen Tage Tina Feuersteins anderer Leidenschaft: der Rinderzucht. 21 Stück Vieh stehen in ihrem Stall, zur Hälfte Holsteiner, zur Hälfte Braunvieh. Der große Star am Hof sei die BraunviehKuh Lupine gewesen – „Lupi“, wie sie die Familie noch heute zärtlich nennt. 2012 hat die Kuh auf Ausstellungen in Österreich und der Schweiz zahlreiche Preise errungen: „Lupi war phänomenal. Freiwillig ist sie in den Hänger marschiert, wenn es zu Ausstellungen ging, und hat sich dort souverän präsentiert.“ Dabei wäre aus Lupine beinah nichts geworden: Tina Feuersteins Bruder hatte das Rind schon an einen Bauern verkauft. Über Um-

wege fand es Tina auf einer Alp in Zürs am Arlberg wieder und kaufte es zurück. Das Alpleben aber lässt Tina Feuerstein auch bei der Zucht nicht los. Sie hat nicht nur die Milchleistung der Kühe im Auge, sondern achtet vor allem auf „hohe Euter und ein gutes Gestell“. „Meine Tiere müssen alpgängig sein, um auch an steileren Stellen Futter finden zu können. Denn sie werden einen großen Teil ihres Lebens in den Bergen verbringen – so wie wir.“

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Der See nahe der Alp Schwarzenberger Platte im Lecknertal, wo Tina Feuerstein im Sommer arbeitet Ein Kalb im Stall von Tina Feuerstein
36 ALP #3
Ein Blick in das winterliche Klöntal. Es gehört zum Schweizer Kanton Glarus

BERGE HEISSEN NICHT

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TEXT VON URS MANNHART FOTOS VON SAMUEL TRÜMPY

In der Deutschschweiz, Luftlinie rund 35 Kilometer von der Liechtensteiner Grenze, liegt der Kanton Glarus. Der Schweizer Schriftsteller Urs Mannhart hat eine Glarner Alp besucht.

Die herausgehobenen Passagen sind Aussagen Corinna Sauters’ aus Freiburg im Breisgau, die im Glarnerland auf einer Alp gearbeitet hat

Es steht ein Hof im Glarnerland, hoch oben auf 1.280 Metern über Meer, und doch erdrückt von umstehenden Felsen. Es steht ein Hof im Glarnerland, am Rand einer Hochebene, die nur als Ebene bezeichnen kann, wer sie mit der Nordwand des Tödi vergleicht, und Jahr für Jahr rutscht diese schiefe Ebene drei, vier Millimeter ins Tal hinab. Nur der Hof bleibt, wo er ist. Der Hof: Heimat und Boden von Hannes. Ein Nebel hockt vor der Scheune, es nieselt vor den Türen, die Natur schläft ihren gerechten Schlaf. Hannes aber steht bereits im Stall, steht im traditionellen Melkerchutteli und den viel zu großen Gummistiefeln zwischen den Kuhreihen, legt die Unterarme auf die oben offene Stalltür und blickt hinaus in die graue Schraffur, die gleich hinter dem Misthaufen beginnt. Kurz nach sechs ist es, die Kühe Piccola und Lara hängen an der Melkmaschine, wiegend takten die Zitzenbecher, sprudelnd jagt Milch durch Kunststoff in den Chromstahl. An die Tür gelehnt gönnt sich

38 ALP #3
circa 5 Uhr 10 mit dem Einheizen eines großen
ich alle
und hole die Kühe von der Weide.“ Corinna
„Mein Arbeitstag beginnt um
Wasserbehälters. Dann richte
Melkutensilien
Sauters, Alphelferin

Hannes einen Halbminutenschlaf. Wer derart früh aufsteht, blickt Träumen nach, die wie windbewegte Vorhänge in den Tag hineinwehen.

Die Alpen falten sich weiter auf, die Schweiz bewegt sich, die Natur befindet sich in einem fortwährenden Umbau. Drei, vier Millimeter im Jahr, das macht einen Zentimeter in drei Jahren, zehn in dreißig. Die Gleise der hinauf ins Dorf führenden Standseilbahn müssen deswegen regelmäßig verkürzt werden. Hannes’ Hof aber bleibt, wo er ist.

Der Bauch der Waldi wölbt sich mehr und mehr, Annette gibt noch immer schlechte Milch, und Flecki hat es wieder einmal geschafft, ihre Brust über Nacht genau dort hinzulegen, wo sie zuvor einen Fladen platziert hat. Beim Frühstück dreht Hannes, als die Prognosen verlesen werden, das Radio lauter. Das Glarnerland hat stets sein eigenes Wetter, doch im Radio wird das Glarnerland vergessen, die lokalen Bedingungen muss sich Hannes aus allen

anderen Vorhersagen zusammenreimen, und er schneidet sich nochmals eine Scheibe Ruchbrot ab.

„,Es ist mir gleich‘, bemerkte Peter, und das war bei ihm so viel wie eine Zusage“, schreibt Johanna Spyri, Autorin der „Heidi“-Bücher. Das thematisiert, was bis heute gilt: Landwirte betreiben einen Hof, kein Kommunikationsbüro. Reden ist Quecksilber, im Schweigen aber hörst du das Rauschen des Bachs, der sich durch die goldene Matte schlängelt, und der gurgelt die Wahrheit.

Hier oben muss man sich nur mit sich selbst beschäftigen und hat die wunderschöne Aufgabe, sich den Lebensraum mit Tieren und der Natur zu teilen. Schon früh am Morgen beim Sonnenaufgang genieße ich die Stille und den Blick über die Berge und zu den Kühen, die eine seelentiefe Ruhe ausstrahlen.

Am Radio geht Griechenland das Geld aus, Frau Merkel verlangt neue Sparpakete. Hannes hofft, die Griechen würden den Bettel hinschmeißen, auf den Euro pfeifen und den Brüssel-Bürokraten zeigen, dass sie allein besser zu geschäften verstehen als unter dem Joch einer Obrigkeit. Hannes war lange genug in der Politik. Er war während acht Jahren Präsident einer Gemeinde, die es heute aufgrund einer Fusion nicht mehr gibt. Die Gelder, die mit der Fusion hätten eingespart werden sollen, gibt es auch nicht mehr.

Mein liebstes Alpgeräusch ist der Bach. Und das Läuten der Glöckchen der Kälber im Stall. Beim Zäunen sagt auch gern einmal eine Eule Guten Tag, worüber ich mich auch sehr freue.

Kurz nach halb sieben lässt Waldi, die größte Kuh im Stall, die Zunge raushängen und hechelt wie ein Hund;

39 HERBST

nun ist klar, sie wird heute kalbern. Das Melken der anderen Kühe unterbrechend, holen wir Stroh, bereiten hinter Waldi in einem großen Halbrund ein Bett vor. Bald legt sich Waldi hin, ihr Atem geht noch schneller. Wenige Minuten später lugen bereits die Klauen des Kalbs hervor – im Stall herrscht eine mächtige, vorfreudige Aufregung. Zunge, Schnauze, Augen –alles rutscht heraus, und ich sehe, wie das Kalb, kaum ist der ganze Kopf draußen, bereits die Augen öffnet – ein Moment privatreligiöser Andacht! Hannes zieht das Kalb ganz heraus, wir trocknen es mit Stroh, geben es Waldi zum Lecken – selten hat mich der Anblick von Tieren derart berührt. Als Hannes nochmals seinen ganzen Arm in die Kuh hineinstreckt, fragt Sophie, ob er die Nachgeburt herausholen wolle. Hannes sagt trocken: „Da kommt vorher noch etwas anderes.“ Tatsächlich holen wir noch ein Kalb aus der Kuh. Zwillinge sind es, gesund und groß. Der Umgang mit dem wortkargen Bergler: Erwarte kein Lob, denn wenn du alles richtig machst, machst du es – so sieht es der Bauer – schlicht so, wie man es machen muss. Das verlangt weder Lob noch Kommentar. So lehren es Erfahrene den Nachrückenden in der Alparbeit. Schöne Ausnahmen bestätigen die triste Regel. So wie Hannes, ihm kommen Komplimente mühelos über die Lippen. Wenn er flucht, trifft es meist die Politik.

Bei Sonnenschein wirkt meine Alp wunderschön und romantisch. Regnet es aus Eimern, kracht der Regen nur so auf das Wellblechdach. So ruhig und intakt die Natur hier sein mag, reißt mich doch manchmal ein Flugzeug aus der Idylle.

Wie den Griechen geht auch den Landwirten langsam das Geld aus, aber davon erzählt das Radio nicht. Alte Fahrzeuge und Maschinen müssten ersetzt, der 25-jährige Stall müsste in den nächsten Jahren wahrscheinlich renoviert werden. Aufgrund des besseren Milchpreises sollte der Hof vielleicht auf die Bio-Schiene umsteigen. Aber Hannes ist 57, kennt seine Arbeiten, kennt sein Land, und wenn er sieht, wie viel Erde an den biologischen Karotten klebt, die im Dorfladen auf die Waage gelegt werden, schüttelt er nur den Kopf. Außerdem ist er bescheiden; er wird noch lange mit den etwas in die Jahre gekommenen Maschinen zufrieden sein. Wie auch seine Frau Barbara noch lange mit dem etwas in die Jahre gekommenen Herd zufrieden sein wird.

Manchmal gibt es Tage auf der Alp, da will einfach nichts gelingen. Jeder Gang, jede Arbeit fällt mir dann schwer, trotzdem muss alles getan werden. In solchen Momenten wünsche ich mir oft, es würde mich jemand umarmen, für einen klitzekleinen Moment nur. Das würde genügen. Trotzdem schafft man es, sich aufzumuntern und zusammenzureißen. Ich schaffe das am besten durch die Tiere. Ich freue mich, wenn genau an einem solchen Tag eine Kuh zum Beispiel den Kopf an mir reibt.

Die Alpen falten sich weiter auf, die Ebene rutscht talwärts. Nur der Hof Hannes’ rutscht nicht, nichts bewegt sich, von den drei Kindern will keines den Hof übernehmen. Viele Landwirte im Dorf haben den Melkschemel an den Nagel gehängt. Die Mutterkuh-Haltung spart Arbeit, befreit vom Kummer um den miesen Milchpreis, schont den Rücken. Hannes aber fährt jeden zweiten Tag die gekühlte Milch zur Bergstation der Standseilbahn. Am Kiosk gibt es Kaffee, Kollegialität und Wärme, wenn im Winter ein kalter Wind pfeift.

Im Juni, wenn das Diktat der Halme beginnt, wenn die Alpweiden schneefrei sind und die Zäune neu errichtet werden müssen, fällt derart viel Arbeit an, dass Hannes und Barbara helfende Hände nötig haben. Wer aber arbeitet von 6 bis 19 Uhr an dreißig Tagen im Monat für Kost, Logis und (umgerechnet) 2.300 Euro? Wer ist bescheiden genug? Wer schätzt Mahlzeiten auch dann, wenn sie größtenteils aus Brot, Milch und Käse bestehen? Die Polen stören sich nicht. Die Slowaken. Die Rumänen. Die Tschechen. Die Portugiesen stören sich nicht. Trotzdem kommt es vor, dass einer vorzeitig abreist.

Mein Arbeitstag beginnt um circa 5 Uhr 10 mit dem Einheizen eines großen Wasserbehälters. Dann richte ich alle Melkutensilien, hole die Kühe von der Weide. Das dauert je nach Motivation der Kühe bis um 6. Für das Melken brauche ich eine Stunde. Dann muss ich die Milch auf die Seilbahn laden, denn diese muss pünktlich im Dorf unten sein. Um 7 Uhr 30 kann ich die Kühe wieder auf die Weide treiben. Mit dem Ausmisten bin ich gegen 8 Uhr 30 fertig, dann muss ich das Melkgeschirr putzen. Geht alles zügig, kann ich gegen 9 Uhr frühstücken. Nach dieser für mich sehr wichtigen Mahlzeit gibt es eine Pause, dann gehe ich Rinder zählen, was bis zu zwei Stunden beanspruchen kann. Nach dem Mittagessen wird Holz gehackt, gezäunt, Unkraut bekämpft, gesenst – und um 16 Uhr beginnen wieder alle Arbeiten von vorn. Um 20 Uhr bin ich fertig. Dann geht’s ins Bett.

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„Manchmal gibt es Tage auf der Alp, da will einfach nichts gelingen. Jeder Gang, jede Arbeit fällt mir dann schwer.“ Corinna Sauters

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„Die Felshörner am Falkniß flammten zum Himmel auf, das weite Schneefeld glühte, und rosenrote Wolken zogen darüber hin. Das Gras rings auf der Alp war golden, von allen Felsen flimmerte und leuchtete es nieder, und unten schwamm weithin das ganze Tal in Duft und Gold“, schreibt Johanna Spyri. Aber die Schönheit der Natur hilft dem Polen wenig, der an Heimweh leidet.

Wenn ich nicht auf der Alp arbeite, bin ich Erzieherin und studiere berufsbegleitend Management von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen in Freiburg im Breisgau.

„Berge heißen nicht“, sagt Geißenpeter einmal zu der neugierigen Heidi, als sie unbedingt wissen will, welche Namen die umstehenden Gipfel tragen. Hannes ist mit allen Glarner Gipfeln per Du, kennt auch die Helikopter der Rettungsflugwacht, kurz Rega, mit Namen. Vor allem aber kennt er sein Land: Im Umkreis von sechs, sieben Kilometern kennt er jeden Baum,

jede Kuppe, jeden Strauch und jeden Stein. Wer die Klinge des Handmähers nicht dauernd in Hindernisse schieben will, ist angewiesen auf derartiges Wissen.

Ich finde Hygiene sehr wichtig. Hier oben fällt sie schwerer und verlangt mehr Arbeit. Es braucht ein Feuer, um heißes Wasser zu bekommen. Dieses muss ich erst einmal in einen Eimer füllen und am Seil hochziehen, ehe ich duschen kann. Das Klo ist ohne Wasser.

„Das ist unser Bergwind, der hilft nach, wo die Küche zurückbleibt“, sagt AlpÖhi, schreibt Johanna Spyri, aber das hilft dem Rumänen nicht viel, der es nicht gewohnt ist, Ruchbrot und Tilsiter, Ruchbrot und Tilsiter und wieder Ruchbrot und Tilsiter zu essen. Im Diktat der Halme stehen: Himmelwärts strebendes Kraut mähen, die grüne Landschaftsdecke besonnt knusprig werden lassen und im prallvoll gefüllten Ladewagen den Gewittern vorauseilen.

Ich gehe sehr liebevoll mit den Tieren um, versuche immer, erst meine Stimme zu gebrauchen, ehe ich zum Stock greife. Das erste Mal, als ich eine Kuh geschlagen habe, daran erinnere ich mich noch sehr genau, war mir sehr unwohl. Heute denke ich, dass es dazugehört, Tierattribute anzunehmen und deren Sprache zu sprechen. Daher versuche ich nach wie vor, auf den Stock zu verzichten, mache jedoch in manchen Situationen Gebrauch von ihm. Oft genügt ein Klaps.

Das Abendessen ungeduscht einnehmen. Glücklich sein mit Bier, Brot und kaltem Fleisch, übergossen mit Maggi. Hunger ist ein zähmbares Tier.

Meine Lieblingskuh ist die Waldi. Eine der Leitkühe der Herde, siebenjährig. Wenn ich sie rufe, habe ich immer das Gefühl, dass sie mich wahrnimmt. Außerdem ist sie sehr zutraulich; einmal schlief sie mit

42 ALP #3
Hier weht die Schweizer Fahne. Doch viele Arbeiter auf den Alpen kommen mittlerweile auch aus dem Ausland

ihrem Kopf auf meinem Schoß ein. Sie hat viel Fell auf der Stirn, was wie eine Frisur ausschaut, hat einen klaren weißen Strich über der Wirbelsäule und ist ansonsten dunkel. Sie ist eine sehr große und starke Kuh, ihre Zutraulichkeit mir gegenüber ist wahnsinnig liebevoll.

Zwischen drei und vier Uhr nachts subtil bevollmondet wach liegen, um 5.30 Uhr den Wecker ohrfeigen, weitere Erfahrungen sammeln in der kaffeelosen Frühaufsteherei.

Holzroste vorbereiten auf der Heubühne. Heustaub schlucken. Beißende und tränende Augen aushalten. Und den Fehler machen, trotzdem in den Augen zu reiben. Nach einer minimalistischen Mittagspause das erste Heu einholen. Mit Rechen und Gabel. Abends an der Küchentischkante Finger und Handflächen dehnen, hoffend, die dortige Muskulatur werde sich erholen. In einer Pause einen Schmetterling bewundern, der lange auf dem Handrücken herumtappt und herumrüsselt.

Sich freuen über einen arbeitsfreien Sonntag. Arbeitsfrei, das heißt hier: bloß morgens und abends je zweieinhalb Stunden in den Stall.

Mit einem alten Holzpfahl in der Hand im verbuschten Gras nach jenem Erdloch suchen, in welchem der Pfahl im Vorjahr gesteckt haben mag. Ihn dort hineinschlagen mit dem überdimensionierten Hammer. Mit dicken Arbeitshandschuhen in den Stacheldraht fassen und sich trotzdem verletzen. Zusehen müssen, wie es ins gemähte Gras regnet. Und wie das einem aufs Gemüt schlägt. Enttäuschte Heuhoffnungen.

Obwohl ich oft Handschuhe trage, habe ich tiefe Schrunden an Fingern und Handflächen. Gegen Ende des Sommers stellen sich oft Rücken- und Gelenkschmerzen ein, ich werde träger.

Abends im Zimmer auf der Bettkante sitzen, im Ohr das stetige Brummen der Heubodenlüftung und das entfernte Gebimmel einiger Kuhglocken, die Latzhose nass vom Regen.

Später das erlösende Gefühl, Hände und Unterarme schlafen legen, diese Werkzeuge endlich zur Ruhe legen zu können.

Wenn ich Besuch bekomme, zeigt sich oft, wie schnell man sich selbst gewöhnt an das einfache Leben. Manche Freunde lernen mich hier noch mal auf eine andere Weise kennen, völlig ohne die Mauern der Stadt, sozusagen. Manche, die letzten Sommer gesehen haben, was ich hier mache, schütteln den Kopf und können meine Motivation für einen zweiten Alpsommer nicht verstehen. Ein Sommer genügt ja, um die Erfahrung zu haben, sagen sie. Andere, eigentlich die meisten, freuen sich an meiner Freude. Ich finde: Jeder, der eine Alp macht, wird sie lieben.

Geht der Arbeitstag erfolgreich über die Bühne, sitzt Hannes auf der Holzbank vor dem Haus, bietet dem Polen ein Glarner Bier an und schaut hinab ins Tal, hinüber zu den benachbarten Gipfeln. Die wohl auch in Bewegung sind, die wohl ebenfalls aufstreben und ihre schiefen Hochebenen talwärts drängen.

Nach dem Alpsommer werde ich sicher oft in die Natur gehen. Meine Begeisterung für sie ist auf der Alp noch gewachsen. Außerdem gehe ich sicher gelassener mit vielen Dingen um. Durch den Sommer auf der Alp habe ich gelernt, das Frühstück zu lieben. Zuvor habe ich nie gefrühstückt. Außerdem habe ich ein tiefes Zutrauen, alles schaffen und Probleme meistern zu können.

Ein kleiner Ruck geht quer durchs Gelände – bewegt sich der Hof nun doch? Nein. Wenn die schwere Heubodenbelüftung ihre Arbeit aufnimmt, überträgt sich die Erschütterung über die Mauern.

Es gibt auch trostlose Tage, bei Regen und Kälte in der Hütte bei einem rauchenden Ofen. Man muss es lieben hier, sonst gefällt es einem nicht.

43 HERBST

TANZ MIT DEM TEUFEL

Die Geschichte der Alphexen erzählt von Georg Sutterlüty

Es war wie verhext. Der schon viele Alpsommer auf „Rüschers Gunten“ im Hinteren Bregenzerwald arbeitende Senner konnte machen, was er wollte: Es sollte ihm keine Alpbutter gelingen. Täglich rührte er in seinem Butterfass, doch das abgeschöpfte Milchfett wollte nicht zu Butter werden. Sonderbar. Der erfahrene Senner war ratlos. Lag es an der Milch? Oder hatte der Rahm eine zu hohe Temperatur? Schließlich machte er aus der Not eine Tugend, schöpfte den Rahm nicht mehr ab und versennte die Milch zu Hartkäse. Das Problem schien gelöst. Doch der Alpmeister war wenig erfreut. Was sollte er mit dem Hartkäse machen? Gefragt war die Butter, die brachte Geld. Er sagte zum Senner, er solle weiterhin versuchen, Sauren Käse und Butter herzustellen. Der Senner probierte weiter, aber es blieb dabei: Der Rahm verklumpte nicht. Dann entdeckte der Senner im Rührkübel einen großen Haarballen. Er wusste nun, dass hier ein böses Wesen mit magischen Kräften am Werk sein musste.

So holte er sich Rat vom Kloster in Bezau. Pater Jaköble besuchte ihn und riet ihm, ein glühend heißes Eisen in den Rührkübel zu legen, sobald er den Milchrahm rühren sollte. Dann würde die Person erscheinen, die den Zauber zu verantworten habe. Und tatsächlich: Kaum setzte der Senner den Kübel in Bewegung, betrat ein altes Weiblein die Alphütte. Sie klagte, dass das glühende Eisen fürchterlich schmerze. Der Senner sah Brennspuren an ihren Händen. Er hatte Mitleid und nahm das Eisen aus dem Kübel. Die Frau verschwand, der Spuk war vorüber. Von nun an gelang das Buttermachen auf der Alp wieder.

44 ALP #3

AUCH EIN KLIMAWANDEL

Noch einmal hat das Gute gesiegt. Die Sage „Die Hexe in Rüschers Gunten“ hatte Franz Xaver Wölfle von einem alten Bizauer erfahren und 1946 in der Zeitschrift „Montfort“ publiziert. Sie dürfte über Generationen mündlich weitergegeben worden sein. Möglicherweise entstand sie, als in Bizau wirklich Hexen angeklagt, verhört, gepeinigt und schließlich verbrannt wurden. Allerdings müssen wir das Rad der Zeit zuerst einige Jahrhunderte zurückdrehen. Die Hexenverfolgungen begannen in der frühen Neuzeit und waren ein gesamteuropäisches Phänomen. Sie gingen mit den großen, von der Reformation ausgelösten religiösen Umbrüchen einher,

aber ebenso mit demografischen und klimatischen Veränderungen in Europa. Im 16. Jahrhundert nahm die Bevölkerung auf dem Kontinent stark zu. Die wirtschaftliche Entwicklung hielt damit nicht Schritt, die Ressourcen wurden knapper. Viele Menschen flüchteten nach dem neu entdeckten Amerika, um dort ihr Glück zu versuchen. In Europa wurde versucht, die Anbauflächen zu erweitern. Der Erfolg hielt sich aber in Grenzen. Hinzu kam:

Ende des 16. Jahrhunderts verschlechterte sich das Klima, es wurde kälter und nässer – heute sprechen wir von einer „kleinen Eiszeit“. Diese Entwicklungen machten vor dem Alpenraum nicht halt. Im Gegenteil: Sie dürften hier zum Teil, vor allem was das Klima betrifft, heftiger ausgefallen sein. Es war eine Ära abseits moderner

naturwissenschaftlicher Erkenntnisse.

Die Veränderungen in der Umwelt und in der Natur – oft hatten sie globale Ausmaße – waren zu jener Zeit für die Menschen nicht vorhersehbar, geschweige denn erklärbar.

Die Menschen glaubten an das von der Kanzel gepredigte dualistische Weltbild. Auf der einen Seite stand demnach der allmächtige Gott, der das Gute will. Auf der anderen war sein listiger Gegenspieler, der Teufel, der die Menschen zum Bösen verführt. Der ganze Weltenlauf ließ sich in diesem Wechselspiel von Gut und Böse erklären. Einbußen und Schaden in der

Ernte galten entweder als ein drohender Fingerzeig Gottes oder als ein Werk des Satans, um für Unruhe und Unordnung auf der Welt zu sorgen.

In Sagen sind die Hexen schuld am Unglück auf der Alp, sei es schlechtes Wetter oder gestohlene Milch.
Europaweit brachte der Hexenwahn, Folge klimatischer und wirtschaftlicher Änderung, 60.000 Menschen den Tod

FRAUENANTEIL DER IN VORARLBERG VERURTEILTEN: NEUNZIG PROZENT

Die Hexenverfolgungen waren großteils diesem Weltbild geschuldet. Gut drei Jahrhunderte lang wurden Hexen und Hexer verfolgt, beginnend im Spätmittelalter, erreichte der Wahn von 1550 bis 1650 seinen Höhepunkt. In Europa sollten ihm über 60.000 Personen zum Opfer fallen. Für Vorarlberg gibt es konkrete Zahlen und Namen: 1493 verstarb in einem Konstanzer Verlies ein „schumachers wib von Bregentz“, das auf seinen Prozess gewartet hatte. Wenige Jahre später stand die Mutter des kaiserlichen Hofhistoriographen Jakob Mennel unter Generalverdacht, eine „Unholde“ zu sein. Sie entging einer Verurteilung nur knapp. 1539 kam es in Bludenz zur ersten Hinrichtung einer Frau, die

zuvor einen Schadenzauber und Teufelspakt gestanden hatte. Von 1528 bis 1677 standen in Vorarlberg laut den peniblen historischen Untersuchungen des Landesarchivars Manfred Tschaikner 202 Personen vor Gericht. Mindestens 150 dürften hingerichtet worden sein. Neunzig Prozent von ihnen waren Frauen, eine hohe Zahl im Vergleich zum europäischen Durchschnitt von etwa 75 Prozent. Die Mehrzahl von ihnen gehörte der Unterschicht und der unteren Mittelschicht an. Doch Rang und Name waren keine Garantie, nicht in Verruf der Hexerei zu kommen.

Der Bregenzerwald erlebte seinen Höhepunkt an Exekutionen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Vermutlich geht der Ursprung der Sage von der Hexe auf Rüschers Gunten auf diese Zeit zurück. Sie beinhaltet einige Ingredienzien und Merkmale des damaligen Hexenwahns.

Im Vordergrund steht der wirtschaftliche Schaden, den man einem bösen Wesen zuschrieb. Dieser Bedrohung begegnete man mit Gottes Hilfe durch Vermittlung eines Geistlichen. Im Hintergrund zeigt sich der Wandel der Landwirtschaft infolge des Klimawandels. Damals spielte die Milchwirtschaft noch keine so bedeutende Rolle wie heute, das günstige Klima begünstigte Acker- und den Getreidebau.

Das landwirtschaftliche Gleichgewicht drohte aber, infolge kälterer und nässerer Wetterperioden zu kippen. In der Sage zeigt sich dies sinnbildlich in der Schwierigkeit, aufgrund veränderter Bedingungen Butter zu produzieren. Das glühende Eisen wiederum zeugt von der Hoffnung in der Bevölkerung, dass die kalten Wetterperioden möglichst bald von wärmeren und stabileren abgelöst würden.

HEXENVERFOLGUNG
ZUR
FÜHRTE
45 HERBST

EINE HEXER-LEICHE WAR ERST MIT WEIHWASSER ZU BEWEGEN

Dem Satan und seiner Wirkungskraft begegnen wir in den Legenden um den Bregenzerwald bereits früher. Die Geschichten fallen noch in die Zeit der Kolonialisierung. Damals gab es alte Kulte und naturreligiöse Glaubensinhalte, die den Grundherren und Kirchen ein Dorn im Auge waren. Sie betrachteten es als eine kulturelle Mission, die alten Gebräuche zu verdrängen. Am Eingangstor des Waldes, auf dem Hirschberg in Langen, war ein bedeutender vorchristlicher Kultplatz. Als Zeichen der Christianisierung baute man hier zu Beginn des 15. Jahrhunderts ein Frauenkloster. Nach nur fünfzig Jahren brannte es nieder. Der vermutete Grund: Ein aus Lindau stammender Mann, dem nachgesagt wurde, mit dem Teufel im Bunde zu sein, war ins Kloster aufgenommen und nach seinem

HEXENGESTÄNDNIS: AUF WÖLFEN HOCH AUF DIE BERGE REITEN

Die Geschichten vom Hirschberg sind Legenden, deren Wahrheitsgehalt nicht mehr überprüft werden kann. Die späteren Hexenverfolgungen im Bregenzerwald aber sind schriftlich verbürgt. Ein Blick in die Archivakten zeigt ein sich wiederholendes, immer recht ähnliches Prozedere. Eine Person wird als Hexe oder Hexer entlarvt und in Arrest gesteckt. Sie wird von der Gerichtshoheit, den Räten, Landammännern (Vorsteher der Regierung in bestimmten Orten, Anm.) oder Landschreibern vernommen. Allerdings gesteht keine Person die ihr angelasteten Vorwürfe. Somit wird sie – frühneuzeitlich gesprochen – der Pein zugeführt, sprich gefoltert. Eine besonders beliebte Methode war das Aufhängen an einem Folterseil. Unter den höllischen Schmerzen war es einfach, Geständnisse zu erpressen. Die Leidenden gaben zu, mit dem Teufel in Pakt zu stehen, sich an einzelnen Abenden mit anderen Hexen zu treffen, ein Ess- und Trinkgelage zu veranstalten und schließlich mit dem Teufel Sex zu haben. Außerdem gestanden sie, auf Wölfen hoch auf die Berge zu reiten. Als beliebte Hexentreffpunkte galten die Winterstaude und die Kanisfluh. Außerdem gaben die vermeintlichen

Tod unweit davon begraben worden. Eine weitere Legende vom Hirschberg berichtet von einem Mann, der mit übernatürlichen Kräften gesegnet war. So wird erzählt, dass dieser immer wieder das auf dem Feld herumliegende Heu direkt in den Stadel zaubern konnte, wenn ein rasch heranziehendes Gewitter die Ernte zu zerstören drohte. Als der Mann starb, konnten nicht einmal sieben Ochsen die Leiche von der Stelle bewegen. Erst als der Tote in Weihwasser gelegt wurde, entschwand der Zauber. In den Augen der Einheimischen waren die teuflischen Kräfte entwichen.

Hexen zu, Schadenzauber zu verüben. Sie konnten das Wetter beeinflussen, für Hagel und Reif sorgen oder Nutztiere wie Rinder und Pferde verenden lassen. Und letztlich verrieten sie, wer sie das „unholde werch“ gelehrt hatte und wer sonst noch an Hexenversammlungen teilgenommen hatte.

1546 standen die Langeneggerin Anna Sutterin und Greta Förnlerin unabhängig voneinander vor der Anklagebank. Die Sutterin gab zu, dass sie beide im Hexenwerk unterrichtet wurden. Die Hexen trafen sich an Donnerstagen oder Freitagen in Bersbuch, wo ein „gespennst zu innen“ kam, das wohl der „theüffel“ gewesen sein durfte. Er lag bei ihnen wie „sonst ain man, und theter auch, wie sonst ain man aim wieb thut“. Es sah also nach einer Sexorgie aus.

Die Förnlerin stritt alles ab, auch unter Folter gestand sie vorerst kein Wort. Allerdings gelang es den Peinigern schließlich doch, ihren Willen zu brechen. Sie gab ein Geständnis. Sie musste zugeben, der Teufel habe bei der Folter eingewirkt und sie „endhoben, das es ihr nit wee thati“. Sie sagte, sie habe mit unterschiedlichen Männern geschlafen, unter anderem sei sie mit einem Gallus Hansen auf dem Heu gewesen und habe ihn verhext. Seitdem litt er an Lähmungserscheinungen.

46 ALP #3

INNOVATIVE BAUERNFAMILIE ALS HEXEN VERBRANNT

Ein außergewöhnlicher Fall in den 1550erJahren war der des Landammanns Kaspar Erath aus Bizau. Er war die Hauptfigur in einem Prozess, der gar nicht direkt ihn, sondern seine Gattin und Tochter betraf. Beiden wurde ein Hexenprozess gemacht, der sie letztlich auf den Scheiterhaufen brachte. In diesem Fall ging es nicht nur um vermeintlich religiöse und soziale Verwerfungen in der Gesellschaft, sondern allem Anschein nach auch um machtpolitischen Einfluss. Erath war ein wohlhabender und einflussreicher Mann mit politischem Gewicht im Tal, hatte aber auch viele Feinde. Ihm wurde vorgeworfen, sich auf Kosten anderer zu bereichern, ohne sie zu entschädigen. Angelastet wurde dies aber primär seiner Frau, die unter Folter zugab, die Milch ihres Nachbarn weggezaubert zu haben, aus der ihr Mann viel Käse und Schmalz erzeugt hätte. Zudem wurde Erath beschuldigt, sich nicht an die kirchlichen Gebote zu halten und an Feiertagen Feldarbeiten

zu ver-richten. Erst ein Blick hinter die Kulis-sen lässt die Ereig-nisse um die Fami-lie Erath klarer erschei-nen. Der Landammann erkannte die Zeichen der Zeit besser als andere, stellte seine Wirtschaftsweise infolge der klimatischen Veränderungen um. Er war innovativ, förderte die Milch- und Viehwirtschaft, während seine Gegnerschaft eine Intensivierung der traditionellen Landwirtschaft durch die Erweiterung von Anbauflächen propagierte. Erath stellte darüber hinaus die traditionellen gesellschaftlichen wie ökonomischen Verhältnisse in Frage und stellte sich oft gegen die Linie der Kirche. Er wagte viel und verlor neben Frau und Tochter vorerst alles. Sein Sitz im Rat des Gerichts Innerbregenzerwald wurde ihm aberkannt. Folglich landete er 1552 sogar im Gefängnis. Durch Interventionen von landesfürstlicher und städtischer Seite kam er wieder frei. Er musste lediglich eine Urfehde unterzeichnen, also schriftlich bezeugen, sich nicht zu rächen. Erath war

nicht unterzukriegen. Kaum wieder in der Öffentlichkeit, mischte er sogleich in der regionalen Politik mit: 1556 wurde er erneut zum Landammann gewählt. Im Vergleich zum Rest seiner Familie ging die Geschichte für ihn verhältnismäßig glimpflich aus: Für die europaweit 60.000 Toten des Hexenwahns gab es kein solches Comeback. ‡

LITERATURTIPP: HERMANN DENZ UND MANFRED TSCHAIKNER: ALLTAGSMAGIE, HEXENGLAUBE UND NATURHEILKUNDE IM BREGENZERWALD, INNSBRUCK 2004

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48 ALP #3 SINGEN JODELN JUZEN Foto: Adolf Bereuter VON NINI TSCHAVOLL Evelyn Fink-Mennel hat meist ihre Geige mit im Gepäck
Die Musikerin und Volksmusikexpertin Evelyn Fink-Mennel erklärt den Ursprung und die Bedeutung der Musik auf der Alp und im Tal sowie ihre Renaissance mit neuen Inhalten

Zieht in den Bergen Nebel auf, verschwindet die Landschaft auf der Alp im weißen Nichts. Es kann passieren, dass die Kühe sich verirren und den Heimweg nicht mehr finden. Dann schickt der Senn seine Hirten, um das Vieh zu suchen. Mit Stecken und in fest geschnürten Schuhen geht es los. Um untereinander Kontakt zu halten, nutzen die Hirten heute GPS und Mobiltelefon. In früheren Zeiten mussten sie sich auf ihre Stimmen verlassen. Daher hatte jeder Älpler einen charakteristischen Leibjuz („Juz“ ist vorarlbergisch für „Juchzen“), an dem man ihn erkennen konnte. Der Naze wusste so immer recht genau,

wo der Wise steckt, und konnte ihm wenn nötig zu Hilfe eilen. Kalbte im Stall eine Kuh, konnte die Rosa mit ihrem Juz den im Wald mit Holzarbeiten beschäftigten Mann nach Hause rufen.

In Westösterreich war die Alpwirtschaft eine Domäne der Männer. So ist das Juzen hier ursprünglich ihre Sache. Im Bregenzerwald beispielsweise juzten die Frauen meist in einer standardisierten Kurzform, die Männer hingegen nutzten längere und individuell ausgeprägte Tonfolgen, auch „Arien“ genannt.

In Innerösterreich bewirtschafteten vor allem Frauen die Alp (hier heißt es „Alm“)

und erfanden dabei eigentümliche „Almschreie“ zu ihrer Verständigung. Die Musikerin und Instrumentalpädagogin Evelyn Fink-Mennel erforscht seit vielen Jahren die Volksmusik im Bodenseeraum. Für sie beginnt das Singen in der ländlichen Gegend beim Zusammentreiben des Viehs: „Mit ,Hal-hal-hal!‘ treibt man die Schafe zusammen. ,Komm, Hess-hess-hess!‘ wird den Schweinen zugerufen und mit ,Bib-bib-biii!‘ lockt die Großmutter am Abend die Hühner zurück in den Stall. Diese elementare Art von Gesang war schon immer eine Art Arbeitsinstrument.“

49 HERBST
DJUHU HU

In früheren Zeiten vertrieb man sich die langen Abende oben auf der Alp mit Singen. Begleitet wurde es von einfachen Blasinstrumenten wie einer Mundharmonika, im Bregenzerwald „Fotzhobel“ genannt, oder einem mit Butterpapier umhüllten Kamm. Andere Musikinstrumente galten selbst am Anfang des 20. Jahrhunderts noch als etwas Besonderes: Eine Gitarre, eine Zither oder gar eine Ziehharmonika konnten sich nur wenige leisten. Musikanten waren gern gesehene Gäste. Sie wurden in der bäuerlichen Gesellschaft besonders geschätzt. „Meist lernte man ein Instrument durch Abschauen, denn Musikschulunterricht nach heutigem Vorbild gab es im Bregenzerwald bis in die 1970er-Jahre hinein nicht“, erzählt Evelyn Fink-Mennel. „Das mündliche Tradieren der Texte und Melodien führte zu Veränderungen. Deshalb gibt es heute von ein und demselben Lied oft viele Variationen – so entstand immer wieder neues Liedgut.“ Lieder von Freiheit und Glück, aber auch vom harten, entbehrungsreichen oder

gefährlichen Alpleben sind in ihrer inhaltlichen Vielschichtigkeit auch in Vorarlberg überliefert. In Folge der romantisierenden Alpenbegeisterung im frühen 19. Jahrhundert und durch die „Heimatbewegung“ um 1900 dominieren heute romantischverklärende Texte. Vielleicht waren es aber gerade Lieder von Glück und Freiheit in den Bergen, die Älpler als Gegenentwurf zum harten Alltag sangen – als Ventil mit psychohygienischer Funktion.

Die therapeutische Funktion würde erklären, warum fast jeder Bereich des Lebens besungen wurde. In Wildschützenliedern ist von offiziellen und inoffiziellen Machtverhältnissen im Dorf die Rede, Totenlieder bieten Trauerhilfe. Von Intimem oder gar Unaussprechlichem erzählen verklausuliert Liebes- und erotische Lieder. Auch Tabuthemen wie eine ungewollte Schwangerschaft oder Konflikte mit Dienstherrn, Ehepartner oder der hohen Geistlichkeit wurden in Liedern verarbeitet.

In Vorarlberg wurden Volkslieder noch bis ins 20. Jahrhundert auch in bajuwarischer

oder hochdeutscher Sprache gesungen. Das zeigt, dass sie ihren Ursprung andernorts haben. In einer Gegend, in der einst viele Menschen zur Saisonarbeit ins Ausland gehen mussten, in die aber auch Gastarbeiter kamen, wurde mehr Liedgut importiert als eigenständig produziert. Erst als Vorarlberg 1861 ein eigenständiges Land wurde, wenn auch verwaltungstechnisch noch bis 1918 bei Tirol, kam es zu eigenen Dialektliedern. So entstand um 1890 das heute allseits bekannte Lied „Uf da Berga isch mi Leaba“. Auf einer Liste über die musikalischen Identitätssymbole Vorarlbergs rangiert es auf den vorderen Plätzen. Geschrieben wurde es allerdings als „Preiskomposition“ für einen Wettbewerb in Wien. Den Text verfasste der in Wien ansässige, gebürtige Thüringer Ludwig Seeger (vulgo Seeger an der Lutz), der Fitnesstrainer von Kaiserin Sisi. Die Vertonung stammt vom Feldkircher Kirchenmusiker Wunibald Briem. Der Klerus hatte über Jahrhunderte hinweg versucht, das als unsittlich geltende

Foto: privat

50 ALP #3
Für Evelyn Fink-Mennel gehört gemeinsames Musizieren zum Schönsten überhaupt

Tanzen zu reglementieren. Daran erinnern auch die bis ins 19. und 20. Jahrhundert in den Dörfern des Bregenzerwaldes errichteten Tanzhäuser. Sie stehen direkt gegenüber der Kirche und sind nach drei Seiten offen, um sie durch Gemeinde und Kirche leichter kontrollieren zu können. Tanzfeste und Partys fernab der dörflichen und kirchlichen Kontrolle fanden oben in den Alphütten statt. Es wurde musiziert und heimlich zu „Winkeltänzen“, also inoffiziellen Tanzabenden, geladen.

„Generell mussten sich die Menschen damals selbst um ihre Musikkultur kümmern. Das Zusammensitzen und Musizieren ist im Bregenzerwald deshalb von großer Bedeutung und noch heute sehr ausgeprägt“, sagt Fink-Mennel. „Die alte Generation hat noch immer sehr viel Liedgut im Kopf. Das erkläre ich mir damit, dass es die Konsumkultur in der aktuellen Ausprägung nicht gab. Durch die verfügbaren Medien wie Radio, CDs oder YouTube bleiben Inhalte heute kürzer im Gedächtnis. Früher konnten Tischrunden

spontan zu singen anfangen, ohne Schwierigkeiten mit dem Text oder der Melodie zu haben. Heute muss darum oft gerungen werden.“

Viele alte Lieder werden heute nicht mehr oder mit anderen Texten gesungen. „Volksmusik spiegelt immer ihre Zeit. Der bekannte Wienerlied-Sänger Roland Neuwirth hat dazu gesagt: ,Macht Texte mit aktuellen Wörtern und Geschichten. Aber bleibt bei der Musik der volksmusikalischen Überlieferung treu‘. Heute gibt es in Wien eine junge und boomende Wienerlied-Szene.“

Dieses neue Interesse an der Volkskultur sieht die Volksmusikexpertin Fink-Mennel als typische Zeiterscheinung. Als Folge der Orientierungslosigkeit durch ein Überangebot gewinnen die alten kulturellen Wurzeln wieder ihren Reiz. Entsprechende Angebote, etwa Jodelkurse, und Orte wie beispielsweise oben am Berg finden ein auch junges Publikum.

Von welchem Berg aus sie selbst am liebsten ins Tal jodelt? „Von der Niedere,

dem Andelsbucher Hausberg“, sagt die gebürtige Andelsbucherin. „An sichtigen Tagen reicht der Blick bis weit in den Bodenseeraum und ins Schwäbische. Drehe ich mich um 180 Grad, so kann ich einen fulminaten Berggipfelblick genießen und

In einer musikalischen Familie mit der Volksmusik aufgewachsen, erinnert sie sich gern an den Gesang von Mutter und Großmutter, die bajuwarisches Liedgut in der Familie pflegten. www.evelynfinkmennel.at

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privat
Hausmusik Fink mit Mutter Wilma an der Zither, Evelyn mit der Geige und Isabella (Violoncello, nicht im Bild)
Foto:
Die Entwicklung der heimischen Rinder ist nicht unumstritten. Während die einen auf » standortangepasste « Züchtung setzen, hätten andere lieber die alten Rassen wieder
VON JOSHUA KÖB

KÖNNEN ES ALTE RINDERRASSEN BESSER?

Rein in den Anhänger, hoch auf die Alp, raus aus dem Anhänger. So pragmatisch sehen die meisten Alpaufzüge aus. Keine Zeit für Romantik und mehrtägige Fußmärsche. Gründe gibt es viele: Straßenverkehr, Asphalt, Personalmangel oder verbaute Weideplätze. Aber wären die Tiere überhaupt noch in der Lage, lange Wege zu gehen, oder sind sie nach über hundert Jahren Zucht zu fett, ihre Knie zu schwach für beschwerliche Wanderungen über Stock und Stein? Wir haben uns erkundigt, wie es um die Gesundheit der heimischen Rinder steht und ob alte Rassen neue Chancen bieten.

WAS GRÖSSENWACHSTUM

BEI KÜHEN BRINGT

Zucht bedeutet systematische Selektion und Optimierung gewünschter phänotypischer Ausprägungen, seien dies nun Hörner,

Farben, Muster, Schenkel oder Euter. So richtig gezüchtet wird erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach Schweizer Vorbild wurde 1893 in Dornbirn die erste Viehzuchtgenossenschaft Österreichs gegründet.

Im Laufe der Zeit wuchsen Tiere und Euter. Kurz: mehr Fleisch, mehr Milch. „Die Kühe sind größer und schwerer geworden, weil sie auch mehr leisten“, sagt Thomas Jutz, Geschäftsführer beim Vorarlberg Rinderzuchtverband und Bereichsleiter für Tierzucht in der Landwirtschaftskammer. Größe sei jedoch bei keiner der aktuellen Rassen ein Zuchtziel.

Zwischen 600 und 700 Kilogramm wiegen die Tiere bei den Leistungsschauen. Übergroße Tiere werden mittlerweile bewusst in die hinteren Reihen beordert. Nun zur Milch: Braunvieh liefert heute im Schnitt 7.279 Kilogramm pro Jahr. Mehr als doppelt so viel wie noch vor sechzig Jahren. Ein unglaublicher Zuchterfolg.

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GIBT ES WIRKLICH TURBOKÜHE –UND SIND DIE ALTEN BESSER?

Bei diesen Zahlen stellen sich Fragen: Verlor man beim Züchten die Balance zwischen hoher Leistung und Tierwohl? Gibt es einen gangbaren Weg zurück zu älteren Rinderrassen? Und ist das überhaupt sinnvoll?

Dass hohe Milchleistung die Gesundheit der Tiere als Tribut fordere, ist für Thomas Jutz eine unbewiesene Aussage. Wie es der Kuh gehe, sei letztlich immer von den Menschen abhängig. „Hohe Milchleistungen stellen hohe Anforderungen an das Management: Fütterung, Haltung, Kuhkomfort, Melktechnik, Hygiene.“ Kriterium für die Eutergesundheit ist die Zellzahl. Bei der im Vorjahr durchgeführten Kontrolle von 22.000 Kühen zeigte sich, dass die Werte bei Betrieben mit unterdurchschnittlicher Milchleistung sogar oft höher sind – was schlechter ist. Fitness und Gesundheit sind seit Einführung der Zuchtwertschätzung im Jahr 1995 ausgewiesene Zuchtziele in Österreich. Mit Erfolg, wie Roswitha Eder von der Zentralen Arbeitsgemeinschaft österreichischer Rinderzüchter ZAR betont: „Es ist gelungen, die genetischen Trends umzukehren und eine deutliche Verbesserung in Richtung langlebigere, fittere und gesündere Kühe zu schaffen.“ Wie es scheint, geht’s den Kühen besser als je zuvor. Also kein Grund zur Sorge und schon gar nicht Sehnsucht nach der guten alten Zeit? Für Reinhard Bär ist die Situation alles andere als in Ordnung. Der Bauer aus Andelsbuch im Bregenzerwald hat die moderne Landwirtschaft in letzter Zeit wiederholt scharf kritisiert. „Turbokühe“ nennt er die Milchleistungsrassen.

Die Zugabe von Kraftfutter sei gerade auf den Alpen inzwischen so hoch, dass die Kühe die Nebenweiden verschmähen würden, welche dadurch verbuschen. Er selbst hält ausschließlich die alte Rasse Original Braunvieh. „Das braucht nur Heu, Wasser und Gras. Auf der Alp sind diese Tiere besser. Sie sind leichter und weniger gestresst, weil sie weniger Milch geben müssen.“ Da Bär auf Kraftfutter verzichtet, besuchen seine Tiere auch die Nebenweiden. Und gehen dahin, wo die besten Kräuter wachsen. „Es war früher vielleicht nicht alles gut, aber auch nicht alles ganz falsch“, meint er. Zurück zu den Wurzeln könne man dennoch nicht, das lasse die moderne Landwirtschaft nicht zu.

Laut Thomas Jutz klingt alt und selten zwar gut, sei aber zu Recht im Zuge des Fortschritts verdrängt worden. „Wir fahren nicht mehr mit der Kutsche und schreiben keine Briefe mehr. In der Landwirtschaft wird nicht mehr von Hand gemäht und gemolken. Eine Rasse, die unter früheren Umständen dem Landwirt ein ausreichendes Einkommen gesichert hat, kann das heute nicht mehr leisten.“

Früher gaben Rinder nicht nur Milch und Fleisch, sie dienten auch als Arbeitstiere. Heute sind nur noch Nahrungsmittel gefragt. Und da sich die Bauern wohl oder übel dem Diktat des Welthandels beugen müssen, haben sich die ertragreichen Rassen durchgesetzt.

DER VIELFALT ZULIEBE WERDEN

ALTE RASSEN WIEDER GEPFLEGT

„Die alten und seltenen Rassen sind die Basis und der Rückhalt für züchterische Fortschritte“, meint Roswitha Eder vom ZAR. Insgesamt sind neun Rinderrassen als gefährdet gelistet, sechs davon als hoch gefährdet. Für jede Rasse existiert eine eigene Gendatenbank und Zuchtorganisation.

„Wenn wir heute von ‚alt‘ reden, dann meinen wir jene Rassen, die im Generhaltungsprogramm Österreichs zusammengefasst sind“, erklärt Thomas Jutz. Gemeint ist die Österreichische Nationalvereinigung für Genreserven ÖNGENE, die sich seit 1983 etwa mit speziellen Anpaarungsprogrammen um Erhalt und Weiterzucht von Nutztierrassen kümmert. Nach der Jahrtausendwende stieg das Interesse an alten Rassen merklich.

Hilfreich dabei sind die im ÖPUL, dem Österreichischen Programm für eine umweltgerechte Landwirtschaft, beschlossenen Förderungen. Beim ZAR freut man sich, dass die Maßnahmen gefruchtet haben: „Der Weg zurück in die Vielfalt ist dadurch bereits gelungen. Teilweise vom Aussterben bedrohte Bestände wie TuxZillertaler, Ennstaler Bergschecken oder Pustertaler Sprintzen wurden erfolgreich stabilisiert und aufgebaut.“

RINDERZUCHT FÜR HUNDERT

TAGE AUF DER ALP?

In Vorarlberg zählt das bereits erwähnte Original Braunvieh, OBV, oder auch Montafoner Braunvieh, zu den stark bedrohten Rassen. Die braunen Kühe sind mit einer durchschnittlichen Widerristhöhe von 128 Zentimetern und knapp 550 Kilogramm Lebendgewicht kleiner und leichter als die weit verbreiteten Leistungsrassen Braunvieh, Fleckvieh und Holstein. Der Ertrag ist mit rund 5.000 Kilogramm Milch pro Jahr entsprechend geringer. Dafür eignen sich die gebirgstauglichen Rinder für klassische Zweifachnutzung, also für Milch und Fleisch. Seit 1995 wird das klimarobuste und genügsame OBV wieder systematisch gezüchtet. Während man bei der ersten österreichweiten Erhebung 1983 noch rund 1.000 Exemplare zählte, schrumpfte die Zahl bis 1997 auf vierzig. Seither erholte es sich wieder auf 1.219 ÖPUL-geförderte Tiere im Jahr 2017. Da nicht alle Betriebe Anträge stellen, beläuft sich die Zahl der im Herdenbuch eingetragenen Tiere auf 2.914. Nach anfänglichen Steigerungen sei inzwischen „eine gewisse Sättigung erreicht“, stellt Thomas Jutz fest.

Dennoch hat sich auf den Weiden einiges getan. Wo vor fünfzig Jahren nur Braunvieh alter Zuchtrichtung graste, sehe man heute wieder Vielfalt. Auch der Landtagsabgeordnete und Bergbauer Josef Türtscher setzt seit über zwanzig Jahren auf die kleineren Tiere. Auslöser war der Umstieg von Milch- auf Fleischproduktion. Dank niedriger Milchleistung und geringem Gewicht sind die Kühe besonders alptauglich. „In meinem Betrieb mit viel Steilflächen und Mutterkuhhaltung ist es die beste Rasse“, sagt er. „Eine Portion Regionalpatriotismus ist auch dabei.“

Sind kleine und leichte Rassen eine Zukunftslösung für den Alpbetrieb? Für Thomas Jutz stellt sich diese Frage nicht, vielmehr werde es um eine standortangepasste Produktion gehen. „Unsere Rinder sind nur etwa hundert Tage auf der Alp. Es ist nicht rentabel, speziell Kühe für diese hundert Tage zu züchten.“ Reinhard Bär wäre gewiss anderer Meinung.

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Natters Alpträume

NÄHERN

54 ALP #3 Der Zitterklapfen. Klapfen bedeutet Felskopf. Ein zitternder Kopf also. Dem Vernehmen nach soll sich das Zittern auf Bäume beziehen Foto: Andrea Schaller

Es ist Herbst geworden. Das ist schön. Es ist auch gut, weil der schönste Sommer nur ein schöner Sommer ist, wenn er sein Ende findet. Wir sind ja nicht in der Sahara und nicht auf Hawaii. Wir sind im Bregenzerwald, dessen Reiz und Anziehungskraft nicht zuletzt im Wechsel der Jahreszeiten besteht.

Im Wechsel der Jahreszeiten, das sagt sich so leicht und schnell, und doch enthält es wesentliche Elemente unserer Kultur und Tradition, mithin unseres Lebens. Es ist weit mehr als ein nur so dahergesagter Stehsatz, sondern durchaus ernst und ehrlich gemeint, wenn von den Älplern Jahr für Jahr betont wird, wie ungeduldig sie im Frühsommer dem Alpaufzug entgegenfiebern und wie gern sie dann im Herbst wieder ins Tal, in die Dörfer zurückkehren!

Der Herbst sei die schönste Jahreszeit, sagen manche, und bringen gute Argumente ins Spiel: die Farben, das Licht, die Ernte. Ich möchte fast darauf wetten, dass in auffallender Häufigkeit nicht junge Menschen dieses Herbstlied singen, sondern solche, die selbst im Herbst des Lebens angekommen sind, wie es so schön heißt, solche wie ich also, ältere, reifere meinetwegen.

Natürlich, der Frühling, der oft besungene, ist vielleicht stärker, lebendiger; allein: Was wäre er ohne den Herbst. Aber lassen wir das, es ist ein Kreis und zum Glück müßig, lange darüber zu streiten. Wir haben ja alles und alles hat seinen Platz.

Es ist spät im Herbst, da wandere ich eines Nachmittags steil durch den Wald, einem tief eingeschnittenen kleinen Tal folgend zum Bodenvorsäß hinauf. Droben die Hütten sind zu, nur das Gasthaus hat noch offen, heute und morgen noch, dann ist Winterpause.

Obwohl: Hütten sind das keine, es sind recht stattliche Häuser. Auch wenn sie schon winterfest gemacht worden sind, merkt man, dass die Besitzer mit Sorgfalt, ja mit Liebe am Werk waren. Das Praktische und Notwendige wird überall ergänzt durch gepflegte kleine Gärten, vor jedem Haus lädt ein Sitzplatz im Grünen zur Rast ein, zur Feierabendgeselligkeit oder zum stillen Blick auf die hohen Berge rundum.

Der Philosoph
Peter Natter begibt sich auf eine Alp, um dort zu träumen. Diesmal: das Boden-Vorsäß unter dem Zitterklapfen

Eine schmucke Kapelle erhebt sich mitten in der kleinen Siedlung. Sie ist nicht zuletzt ein beredtes Zeugnis der dramatischen Ereignisse am Ende des Zweiten Weltkriegs, die sich bis hierher erstreckt und ihre Narben hinterlassen haben.

So festigt sich beim Wanderer, beim Betrachter und wohl auch bei den Bewohnern stets das Bewusstsein einer Wirklichkeit, die in und hinter aller Idylle und Erhabenheit unwiderruflich ihr Recht fordert. Denn all das: Berge, Wald, Wiesen und Menschenwerk, Natur und Kultur, all das ist eine Kulisse, vor der gespielt wird. Uralt ist das Spiel, so alt, dass es kaum mehr als Spiel erkannt wird. Wenn es kein Spiel mehr ist, was dann?

Realität, Leben, würde ich sagen. Der Unterschied besteht im Raum. Der ist nun kein Spielraum mehr, er ist jener Ort geworden, an dem Aufgaben zu erledigen sind. Aufgaben statt Rollenspielen.

Um diesen Unterschied könnte es tatsächlich gehen, auch im Alp- und Älplerleben. Meine bescheidene Erfahrung eines vierzig Jahre zurückliegenden Pfistersommers und noch mehr diese heute still und verlassen daliegende Ansammlung von zehn, zwölf Häusern mit ihrer klaren und leicht lesbaren Ausrichtung erzählen davon. Ausrichtung ist übrigens auch wörtlich, d. h. geografisch und materiell zu nehmen. Die Erbauer haben gewusst, was sie zu tun haben, noch mehr: Was zu tun ist. Nicht blindwütige Selbstverwirklichung lautet die Vorgabe, sondern die Erfüllung eines Plans, einer Vorgabe, die für sich selbst spricht.

Licht, Wind und Wetter bestimmen den Bauplan der Häuser wie auch den Arbeitsplan ihrer Bewohner. Obwohl die Saison vorbei ist, die Arbeit, das Werk vielmehr, getan, vermittelt alles rundum eine durchaus lebendige Vorstellung davon, wie es zu- und worum es überhaupt geht hier heroben. Genau auf die richtige Vorstellung aber kommt es an, sage ich mir.

Die Kapelle und ihr zentraler Platz legen ebenfalls Zeugnis dafür ab: Es geht um mehr. Arbeit und Arbeiterinnen unterstehen und unterstellen sich einem höheren Zweck. Ohne diese Einsicht wären die steil aufragenden Berge hinten im Tal und die

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Wolken, die wohl immer wieder an ihren Hängen kleben, die Nebelschwaden und die schweren Gewitter, eher schwer zu ertragen einen ganzen Sommer lang, denke ich, von der Schufterei gar nicht zu reden, denn die Älplerei, das kann man gar nicht oft genug betonen, ist zuerst einmal echte, harte Arbeit: Knochenarbeit, deswegen aber noch lange nicht oder schon lange nicht mehr Männersache.

Doch eben nicht nur Arbeit; weil dieses Tun nicht nur Arbeit ist, sondern ein Dienst derer, die sich die Erde dienstbar gemacht haben. Damit geht allemal Verantwortung einher, lange vor jedem ökonomischen Kalkül. Verantwortung als Teil und als Ausdruck einer höheren Erkenntnis, man könnte auch von Weisheit sprechen.

Auf die richtige Vorstellung kommt es also an, denn Vorstellungen leiten unsere Wahrnehmung und manipulieren unsere Erkenntnis. Allzu schnell setzen sich Vorstellungen an die Stelle der Wahrheit, setzen sich Meinungen an die Stelle der

Realität. Es geht nicht um Wünsche, es geht um Vorgefundenes, Vorhandenes. Um „Zuhandenes“ geht es auch, aber das ist eine andere Geschichte, die vom Philosophen Martin Heidegger beschrieben wurde.

Gerade die Vorstellung, die man sich gemeinhin und oft ohne vertiefte Anschauung vom Alpleben macht, übt großen Einfluss auf den Status aus, den dieses im sozialen und gesellschaftspolitischen, im touristischen und ökonomischen Ganzen einzunehmen vermag. In der Herbstsonne zu sitzen mit nichts als Stille und satten Farben rundum, das fördert eine idyllische Vorstellung von dem, was sich hier den Sommer über abspielt.

Eine idyllische Vorstellung aber ist oft eine verkürzte, das meint auch: eine verfälschte Vorstellung. Anders gesagt: ein Vorurteil, das es seinerseits erschwert, zu einer korrekten, angemessenen Ein- und Wertschätzung der Alparbeit und ihrer Produkte zu gelangen.

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Foto: Petra Zündel
Das Vorsäß Boden unter dem Zitterklapfen mit Vieh

Kleiner alpphilosophischer Exkurs gefällig? Gern: Drei Vorstellungen nennt der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813–1855, alles andere als ein Älpler zwar, ein Städter durch und durch, aber geerdet wie nur einer, zudem einer der denkerischen Ahnen Martin Heideggers) als Voraussetzung für Erkenntnis, Wissen, Einsicht, Weisheit.

Erstens, dass der Mensch eine wirkliche Vorstellung von der Gefahr haben muss, die in der (Auffassung der) Zeit liegt; zweitens, dass der Mensch eine wirkliche Vorstellung von sich selbst haben muss; und drittens eine wirkliche Vorstellung von Gott. Es ist übrigens nicht so, dass der Philosoph auf die Alp wandert, um ihr seine Philosophie oder sonst einen Willen oder einen Zweck aufzudrücken; es ist genau umgekehrt. Statt Vorstellung kann man wohl auch Ahnung sagen. Mehr als eine Ahnung ist schwer zu haben, kaum zu erlangen, wovon auch immer. Nicht von ungefähr lautet einer der schwerwiegendsten Vorwürfe, die einen treffen können, keine Ahnung zu haben. Während Informationen, Daten (selbst in größten Mengen) und selbst Wissen relativ leicht zu bekommen sind, verlangt die Ahnung mehr, geht es bei der Ahnung um mehr. Wieder: um mehr als nur ein Spiel!

Lassen wir einmal die Zeit beiseite, vielleicht weil sie am besten und am ehesten für sich selbst sprechen kann und das auch tut, sobald sie zu Wort kommt. Wie aber kommt man zu einer wirklichen Vorstellung von sich selbst? Wie kommt man dorthin, wo man sich nichts (mehr) vormacht, sich nicht selbst anlügt? Da ich meine Blicke über die steilen Hänge schweifen und auf den sattgrünen Wiesen und sauberen Hütten, auf dieser aufgeräumten kleinen Welt ruhen lasse, ahne ich, dass mit Vorstellung auch Erfahrung gemeint sein könnte. Unversehens sind wir damit von einem scheinbar gänzlich abstrakten Phänomen wie der Vorstellung bei etwas Handfestem, Sinnlichem, Erdigem gelandet. Davon weiß das Älplerleben seinerseits bestens zu erzählen.

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Die Hütten am Vorsäß Boden über Au im Bregenzerwald Foto: Cornelia Kriegner
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Die Kapelle am Vorsäß Boden. Sie brannte im Zweiten Weltkrieg ab und wurde 1951 wieder aufgebaut Fotos: Andrea Schaller

Gerade an diesem ruhigen Herbsttag, inmitten der majestätischen Bergkulisse und der verlassenen Häuser, wird mir klar, was die Denker gemeint haben: Ein geglücktes Leben geht aus der Arbeit hervor, wie sie exemplarisch auf der Alp geleistet wird. Ein geglücktes Leben, das sei auch dazu gesagt, ist nicht ein glückliches oder gar ein spaßiges Leben. Es ist eines, in dem am Ende der große Plan aufgeht, der nicht mein Plan war, in dem ich jedoch meine und genau meine Rolle spiele, d. h. meine Aufgabe erfülle, mein Werk als Handwerk vollbringe. So wie auf der Alp jeder Handgriff zugeteilt ist und sitzen muss.

Die oben geforderte wirkliche Vorstellung von Gott aber, diesen Trost kann die Philosophie immerhin bieten, ergibt sich dann geradezu automatisch. Und wenn es die Philosophie nicht schafft, dann hilft eine kleine Einkehr in der Boden-VorsäßKapelle umso sicherer. Nicht umsonst und nicht von ungefähr haben die Bauern sie nach dem Weltkriegsende und dem das Vorsäß zerstörenden Brand unverzüglich

wieder aufgebaut. Sie wissen, was sie wollen, und sie haben eine Ahnung von ihrer Aufgabe.

Der Nachmittag neigt sich, es wird kühl und langsam Zeit, ins Tal zurückzuwandern. Zuerst aber steige ich noch ein gutes Stück talein- und -aufwärts, dem Zitterklapfen zu. Es ist doch interessant, denke ich mir, dass sich das Vorsäß, je weiter ich mich von ihm entferne, je tiefer es unter mir liegt, umso mehr als Einheit, als Ganzes zeigt und desto mehr seinen Platz in dem riesigen, allen menschlichen Zugriff relativierenden Ensemble behauptet, in das es eingebettet ist.

Das liegt nicht nur an den herbstlich bunten Wäldern, mit denen die Siedlung verschmilzt, nicht nur am Blick, der jetzt weit über sie hinausgeht, nach Norden zu, über scheinbar endlos sich auftürmende Bergketten und Täler hinweg. Je weiter ich mich entferne, desto näher rücken mir natürlich nicht ihre Häuser, aber dafür ihr Wesen, ihr Charakter, ihre Seele. Ja, die

Seele, jetzt ist es gesagt! Wenn von romantischen Sonnenauf- und -untergängen, murmelnden Bächlein, jodelnden Sennerinnen, grünen Wiesen, idyllischem Landleben und so weiter gesungen werden darf, dann gewiss mit noch größerem Recht von den wahren Aufgaben der Menschen, von der Seele und von der Arbeit, kurz: von der Alpwirtschaft. Das schreibe ich gleich hinein in mein Notizheft, und dann bin ich gerüstet, gewappnet für den Abstieg ins Tal.

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Der raue Boden der Berge über der Alp Foto: Petra Zündel
60 ALP #3
Die Sterisalp oberhalb von Blons im Großen Walsertal im Herbst vom ersten Schnee gekühlt FOTOS VON GEORG ALFARE
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62 ALP #3
Die Alp Parpfienz im Brandnertal hat ihre Sauerkäseproduktion für diesen Herbst eingestellt
63 HERBST Die Elsalp über dem Muttersberg bei Bludenz nach dem Alpabtrieb im Herbst
64 ALP #3 Die Obere Sporenalp im Lechquellengebirge oberhalb von Lech am Arlberg sinkt in den Winter
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Die kurze Geschichte der Entwicklung der Rodel und des Rodelsports. Der Autor stammt aus einer Familie, die im Bregenzerwald Rodeln herstellt

EIN FAMILIENBETRIEB IM BREGENZERWALD

TEXT VON REINHARD JOHLER

FOTOS VON NINA BRÖLL

ALP #3 66
Stefan Fischer, Schwager des Autors, beim Polstern einer Rodel mit Jutegurten Gebrüder Johler OG nennt sich der Handwerksbetrieb in Alberschwende im Bregenzerwald
VON RODELN

Ich unterrichte seit vielen Jahren an der Universität Tübingen Empirische Kulturwissenschaft. Meine Forschungsthemen sind Migration, Diversität und kulturelle Vielfalt in Europa. Mein Bruder Edmund ist Geschäftsführer einer Leuchtenproduktion im deutschen Tettnang, Schwager Stefan Fischer war bis zu seiner Pensionierung in der Gemeindeverwaltung von Wolfurt tätig. Und mein Bruder Werner arbeitet in der Nähe von Zürich in einem globalen Unternehmen als Vice President Engineering. Wir haben verschiedene Berufe und leben an unterschiedlichen Orten.

Dennoch teilen wir seit Langem ganz nebenbei eine wichtige familiäre Gemeinsamkeit: Jedes Jahr finden wir uns als Gebrüder Johler OG in Alberschwende zusammen und produzieren – im Dialekt: „mir machad“ – Rodeln: 1908 von unserem Großvater, dem Wagnermeister Christian Johler, begonnen, 1954 von seinem Sohn und unserem Vater Arthur fortgeführt, sind wir seit 1982 nun die dritte Generation, die diese Tradition im Bregenzerwald mit viel Stolz auf unser Handwerk fortführt. Hoffentlich geht es auch in der nächsten Generation weiter. Wie aber ist es dazu gekommen?

AUS ADELIGEN SCHLITTENFAHRTEN WURDE EIN RODELVERGNÜGEN

Große Schlittenfahrten waren über Jahrhunderte hinweg das Vorrecht des europäischen Adels. In den bedeutenden Residenzen, wie etwa in Wien, wurden jeden Winter repräsentative Vergnügungsfahrten mit kunstvoll gestalteten und von Pferden gezogenen Schlitten durchgeführt. Als der Adel im ausgehenden 18. Jahrhundert diese Schlittenfahrten aufgab, wurden sie im städtischen Bürgertum gerade im Fasching auch in Vorarlberg populär und haben das Rodeln als Freizeitvergnügen ein wenig vorweggenommen. Für die Rodel aber war noch eine zweite Entwicklung besonders wichtig. Die bäuerliche Besiedlung des Alpenraums hat die Menschen über die Jahrhunderte hinweg vor ein großes Problem gestellt: Holz, Heu, Milch und vieles andere mussten mühsam und oft über weite Strecken bewegt werden. Dies ist im Winter leichter gefallen. Denn die lokalen Handwerker haben für den Transport im Schnee schwere Horner und einfache Rodeln hergestellt.

Die moderne Rodel bedurfte dieser beiden Vorbilder. Entstanden ist sie aber mit dem um 1890 schnell populär werdenden Wintertourismus.

Gäste aus den Großstädten, zunächst vornehmlich aus England, suchten in den Alpen Urtümlichkeit und Echtheit – und eine bis dahin nicht bekannte körperliche Bewegungsform, den Sport. Zu den neuen Sportarten gehörte auch das Rodeln. Es begann am 12. März 1883 auf der Strecke zwischen Davos und Klosters als „Wettschlitteln“. Mehrere Sportarten sollten sich daraus entwickeln: 1884 errichtete eine Gruppe angelsächsischer Winterurlauber in Davos einen ersten Schlitteneiskanal, der bäuchlings – also mit einem Skeleton – durchfahren wurde. Und 1888 wurde im selben Ort zum ersten Mal Bob gefahren. Das eigentliche Rodelrennen von Davos wurde schnell zu einer touristischen Attraktion. Viele Rennen folgten, wobei anfänglich nur Schweizer Schlitten – die sogenannten „Davoser Schlitten“ – zur Teilnahme zugelassen waren. In Österreich rodelte man vor allem in Tirol, in der Steiermark, aber auch in Vorarlberg. Dabei wurde ab der Jahrhundertwende die Rodeltechnik weiter verbessert. Einer der

Rodelpioniere, der Grazer Adolf Rziha, gab sogar mehrere Bücher zum Rodelsport heraus, darunter im Jahre 1908 die Anleitung „Wie lerne ich Rodeln?“.

Die Rodeln veränderten durch diese Wettbewerbe schnell ihr Aussehen. Hatten die „Davoser Schlitten“ bereits gebogene Kufen und Holzlatten für die Sitzfläche, so war für die neue „Halltaler Rodel“ aus Tirol eine noch stärkere Biegung der Kufen und eine Jutebespannung der Sitzfläche charakteristisch. Diese technischen Fortschritte trieben vor allen die Wagner voran. Sie hatten über Jahrhunderte hinweg Fahrzeuge und Transportmittel erdacht und gebaut. Mit dem Vormarsch zuerst der Eisenbahn, dann des Automobils nach dem Ersten Weltkrieg geriet ihr Handwerk jedoch in eine nachhaltige Krise, die viele Wagner mit der Produktion von Ski oder Rodeln zu bewältigen suchten. So waren die großen österreichischen Skiproduzenten der Nachkriegszeit ursprünglich Wagner gewesen. Sie entwickelten in der Folge immer neue, schnellere und schönere Rodel-Modelle. In dieser Situation hatte auch unser Großvater Christian Johler mit der Rodel- und Skiproduktion in Alberschwende begonnen.

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Werner Johler, ein Bruder des Autors, bei der Herstellung einer Rodel
ALP #3 68
Reinhard Johler in der Werkstatt der Gebrüder Johler OG, in der er mit seinen Familienmitgliedern Rodeln aus heimischem Holz baut

WAGNEREI: EIN LEBENDES HANDWERK IN ALBERSCHWENDE

Christian Johler hat im liechtensteinischen Balzers das Wagnerhandwerk erlernt und dort auch die „Davoser Schlitten“ gesehen. Es hat ihm ganz erheblich dabei geholfen, in Alberschwende in seinem Beruf Fuß zu fassen. Denn die Eröffnung der Bregenzerwaldbahn 1902 hat den Personen- und Güterverkehr von der Schwarzachtobelstraße weg verlagert und die dort ansässigen Wagner ebenso wie Schmiede und Sattler in ihrer Existenz bedroht. Die 1908 in Alberschwende begonnene Herstellung von Schlitten sollte das Problem für eine Weile lösen und machte aus der Gemeinde schnell ein Zentrum der Rodelproduktion in Vorarlberg. Dies war zur Jahrhundertwende so und ist, wie man im Werkraum Bregenzerwald in Andelsbuch sehr gut sehen kann, in der Gegenwart nicht anders. Neben den Gebrüdern Johler stellt auch handwerkholz Anton Bereuter Rodeln her, auch wenn sie dort anders produziert werden.

Die goldene Zeit der Rodelproduktion in Alberschwende begann für uns mit der Firmenübernahme durch unseren Vater

Arthur in den späten 1950er-Jahren. Der Wintertourismus kam rasant in Gang und machte die Rodel zum populären Sportgerät. In der Wagnerei sind in diesen Jahren ab dem frühen Herbst und dem ganzen Winter unzählige Rodeln hergestellt und im ganzen Bodenseeraum, aber auch in Südtirol und dem Trentino verkauft worden. Ab den 1970er-Jahren bekam die Holzrodel durch die Plastikschlitten unterschiedlichster Art eine erhebliche Konkurrenz, auf die wir nach dem frühen Tod unseres Vaters als Gebrüder Johler in einer bis heute funktionierenden Betriebsform zu reagieren suchten. Wir haben uns damals bewusst entschieden, die Wagnerei als Familienbetrieb fortzuführen. Unsere Rodelproduktion setzt daher auf Tradition und auf Erfahrung. Und natürlich ist uns Nachhaltigkeit ebenso wichtig wie das Festhalten an regionalen Wirtschaftskreisläufen: Das für die Rodelherstellung notwendige Eschenholz stammt nur aus heimischen Wäldern. Es wird zur richtigen Zeit gefällt und während mehrerer Monate luftgetrocknet. Ebenso umweltverträglich sind das als Feuchtigkeitsschutz eingesetzte Leinöl oder die für die Polsterung verwendeten

Jutegurten. Das und noch mehr die gemeinsame Arbeit ist es, was unsere Rodeln so besonders macht.

DIE RODEL ALS KULTURELLES

ERBE IM BREGENZERWALD

Natürlich gehen wir in der Produktion mit der Zeit und erweitern unser Angebot. Die Gegenwart verlangt uns durch die Klimaerwärmung und das grassierende Eschentriebsterben auch einiges ab. Dennoch steht unsere kleine Firma wie andere in Alberschwende auch in einer langen Entwicklung, die aus einem notwendigen Transport- und teuren Vergnügungsmittel ein Sportgerät für alle Wintersportbegeisterten gemacht hat. Ich meine daher, dass die Rodel im Bregenzerwald zum „kulturellen Erbe“ des Tales gehört. Ein Umstand, der uns stolz macht.

Zur Rodelherstellung in Alberschwende: johler-rodel.at handwerkholz.at werkraum.at

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Stolze Handwerker: Reinhard Johler, Universitätsprofessor; Edmund Johler, Geschäftsführer eines deutschen Unternehmens; Werner Johler, Topmanager in einem Weltkonzern, und Stefan Fischer, Pensionist

AUF HEISSEN HÖHEN

Im Gebirge zeigt sich der Klimawandel bereits deutlich. Die Vegetationszonen wandern nach oben, die Alpwirtschaft wird beeinträchtigt. Ein Rückblick auf den endlosen Sommer 2018, der Frühling und Herbst einfach verschwinden ließ

ALP #370
Foto: trickytine

RANUNCULUS GLACIALIS GLETSCHER-HAHNENFUSS

SAXIFRAGA OPPOSITIFOLIA GEGENBLÄTTRIGER

STEINBRECH

In den Alpen gibt es keine Eisbären. Dafür Gletscher – noch. Eisbären und Gletscher gelten als Symbole für all jene, deren Existenz durch die vom Klimawandel verursachten steigenden Temperaturen bedroht ist. Die Gletscher ziehen sich immer mehr zurück, den Eisbären schmilzt die Lebensgrundlage unter den Pfoten weg. Trotz dieser recht anschaulichen Symbole für den Klimawandel bleibt er eine abstrakte Vorstellung – und von Menschen gemacht soll er auch noch sein?

Zu weit weg, zu komplex – und was kann der Einzelne schon dagegen unternehmen?

Doch seit dem „Endless Summer“ 2018, der vom April bis in den November reichte, Hitze, Dürre, Stürme, Waldbrände und sintflutartige Regenfälle in Gegenden brachte, in denen man von so etwas nicht einmal geträumt hatte, ist die Vorstellung vom Klimawandel auch in Mitteleuropa deutlicher geworden. Am stärksten sind die Auswirkungen in den Bergen zu spüren: Dort, wo die verbliebenen Gletscher immer schneller schmelzen, wo auftauende Permafrostböden Felsstürze und Gerölllawinen auslösen und wo sich Baum- und Pflanzengrenzen nach oben verschieben und die Tiere mitwandern.

Wenn vom Klimawandel berichtet wird, erscheinen recht schnell Fatalismus und apokalyptische Szenarien in der Erzählung. Nicht nur die Popkultur, auch Politiker und Journalisten malen den Klimawandel meist als Teufel an die Felswand. Schwere Zeit für Optimisten. Aber ist es auf der Alp wirklich schon fünf vor zwölf? Oder gibt es Grund zur Hoffnung? Und profitieren manche gar von den ansteigenden Temperaturen?

KÜRZERE WINTER UND WENIGER SCHNEE IN DEN BERGEN

Die Bergregionen verändern sich. Das war zwar immer schon der Fall, doch nie zuvor in einem so rasanten Tempo. Die Winter sind kürzer, die Vegetation setzt früher ein und wächst in immer neue Höhen. Es taut im Gebirge. In Zahlen drückt sich dieser Effekt durch einen sukzessiven Anstieg der Temperaturen aus: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kletterten sie im Alpenraum um etwas mehr als zwei Grad Celsius nach oben. „Mit dem Anstieg ändern sich die Klimazonen“, erklärt Klaus Haslinger von der Abteilung Klimaforschung bei der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, ZAMG, in Wien. So steigt die Zone des borealen Nadelwalds, einer der Vegetationszonen, in die Höhe, während sich die Laubwaldzone darunter ausbreitet. „Zukunftsszenarien gehen im Alpenraum von einem weiteren Temperaturanstieg bis 2050 von rund eineinhalb Grad aus“, sagt Haslinger. Welche Folgen das für den Niederschlag hat, könne man aus heutiger Sicht schlecht prognostizieren. Andere wagen sich weiter vor: Sie gehen von einem erhöhten Niederschlag im Winter aus. Dieser fällt dann allerdings nicht in Form von Schnee, sondern als Regen auf die Bergregionen. Ob dies wirklich eintreffen wird, gilt, wie gesagt, als unsicher. Offensichtlich ist seit einigen Jahren hingegen das sich ändernde Schneeklima. Die heimischen Hoteliers und Seilbahnbetreiber kommen angesichts des ausbleibenden Schnees regelrecht ins Schwitzen. Viele Skigebiete versuchen, den fehlenden natürlichen Schnee durch exzessive Beschneiung auszugleichen. Doch auf lange Sicht

hilft alles nichts. In Zukunft werden wir mit weniger Schnee und kürzeren Skisaisonen leben müssen. Der Natur würde eine Eindämmung des Wintertourismus freilich am wenigsten schaden.

MEHR UND MEHR HEISSE SOMMER IN DER HÖHE

2018 war der Sommer nicht nur schier endlos lang, sondern auch besonders heiß. Der viertwärmste in Österreich, seit es Temperaturaufzeichnungen gibt. Verglichen mit den Daten der ZAMGGebirgsmessstationen in der Periode 1961 bis 1990, lag die Temperatur um 2,7 Grad über dem Durchschnitt. Dass es noch heißer geht, wissen wir aus dem Jahr 2003. Im wärmsten Hochgebirgssommer der Messgeschichte lagen die Temperaturen 4,2 Grad über dem Durchschnitt. Am zweitund drittwärmsten waren die Sommer der Jahre 2015 und 2017. „Eine deutliche Zunahme der Temperatur im Sommer ist über alle Höhenlagen hinweg feststellbar“, sagt Klaus Haslinger. „Es ist damit zu rechnen, dass die Erwärmung im Zuge des globalen Klimawandels langfristig weiter zunehmen wird.“ Die heißen Sommer der letzten Jahre sind zwar noch nicht Normalität, werden aber immer häufiger, meint der Experte. Für tieferliegende Regionen könnten sich dadurch Änderungen in den Ökosystemen ergeben. „Heißere Sommer würden in vergletscherten Gebieten zu früheren und stärkeren Abflussspitzen führen. In nicht vergletscherten, eher niedrigeren Gebirgszügen könnte häufiger Niedrigwasser auftreten, was sich auch auf Flussökosysteme auswirken kann.“ Die Aussichten sind vage, aber beunruhigend.

ALP #3 72
Fotos: Mit freundlicher Genehmigung des NHM/Naturhistorisches Museum
Wien

VERONICA BELLIDIOIDES MASSLIEB-EHRENPREIS

GLOBULARIA NUDICAULIS NACKTSTÄNGELIGE KUGELBLUME

WETTERBESTÄNDIGEN PFLANZEN UND TIEREN WIRD ES ZU WARM

Bis heute bilden die Alpen einen Rückzugsraum für Tiere und Pflanzen. Rund 4.500 Pflanzenarten, davon knapp 400 endemische – ausschließlich an bestimmten Orten wachsend –, und rund 30.000 Tierarten kommen in unseren Bergen vor. Von den Pflanzen wächst rund ein Sechstel ausschließlich in großen Höhenlagen. Manche der in den kargen, steinigen Höhen oberhalb der Baumgrenze heimischen Tiere und Pflanzen sind Relikte vergangener Eiszeiten. Sie wird es als Erste treffen, wenn die Temperaturen weiter steigen. Möglicherweise droht den Steinböcken und Gämsen irgendwann das Schicksal der Eisbären. Wie viele Pflanzenarten verlagern auch die großen Huftiere und Vogelarten wie Alpendohlen, Alpenmauerläufer oder Steinhühner ihre Lebensräume langsam in die Höhe. Den Murmeltieren wird irgendwann der Boden unter den Pfoten zu knapp werden. Wo nur noch Fels und Stein übrig bleiben, finden sie nicht mehr genügend Erde für ihre weitverzweigten Tunnelanlagen.

Noch aber gibt es vielerorts genügend Spielraum für die Alpenbewohner. Außerdem sind die meisten Pflanzen- und Tierarten im Hochgebirge dem häufigen Temperaturwechsel angepasst. Rasch eintretende Kälte oder Hitze können sie gut ertragen. Dennoch werden ihnen die häufiger auftretenden und länger anhaltenden Wärmeperioden in Zukunft immer mehr zu schaffen machen.

MIT DER ERWÄRMUNG ZIEHEN DIE PFLANZEN ZUM GIPFEL

Harald Pauli ist Vizedirektor des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung an der Universität für Bodenkultur in Wien. Er leitet das im Jahr 2000 initiierte, weltweite Monitoring-Programm GLORIA (Global Observation Research Initiative in Alpine Environments). Im Zuge dessen beschäftigt er sich unter anderem mit den Veränderungen von Flora und Fauna in den Gebirgsregionen. Werden die Sommer über Wochen und Monate deutlich wärmer, verlängert sich die Wachstumsperiode vieler Pflanzen infolge der früheren Schneeschmelze. Die derzeitigen alpinen Habitate entsprechen dann zunehmend jenen in tieferen Lagen. „Es ist ‚nur noch‘ eine Frage der Zeit, bis die höherwüchsigen Gehölze alpine Habitate besiedeln“, warnt Pauli. Als Erste trifft es kleine Alpenblumen. Sie erhalten durch die Ausbreitung größerer Gewächse zu wenig Sonnenlicht. Andere, wie der in extremen Hochlagen heimische Gletscher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis), kommen mit der Anpassung nicht nach. Ihr langsamer, auf die Kälte spezialisierter Stoffwechsel lässt der Blume bei längeren Wärmeperioden förmlich die Luft ausgehen: „Die beschleunigte Veratmung der über die Photosynthese aufgebauten Kohlenstoffreserven führt letztlich zum Absterben der Pflanze“, sagt Pauli. Derzeit trifft man den Gletscher-Hahnenfuß noch auf den meisten Alpengipfeln an. Neben den über 3.000 österreichischen Quadranten, das sind jeweils 25 Quadratkilometer große Messgebiete, hat die Wissenschaft in den Alpen eigene kleine

Dauerbeobachtungsflächen in unterschiedlichen Höhenstufen angelegt. Alle fünf bis zehn Jahre wird kartiert. Durch die dort gesammelten Daten erhalten Forschende detaillierte Erkenntnisse über die Auswirkungen des Klimawandels. Zum Beispiel über die sogenannte „Thermophilisierung“ der alpinen Vegetation. Sie besagt, dass sich in den Höhenlagen mehr und mehr wärmeliebende und auf trockene Böden spezialisierte Arten ausbreiten, während die Kältespezialisten unter ihnen zurückgehen. Den Artenreichtum auf den Gipfeln der Berge beschrieb erst kürzlich eine groß angelegte Studie von fünfzig Forschenden aus elf Ländern. Damit wurde die langfristige Entwicklung der Artenvielfalt auf 302 europäischen Berggipfeln verglichen. Demnach nimmt die Zahl der Arten auf den Gipfeln noch schneller zu, als sich die Vegetationszonen nach oben verlagern. „Das erfolgte im letzten Jahrzehnt zwischen 2007 und 2016 fünfmal so schnell wie im Jahrzehnt 1957 bis 1967“, hält Harald Pauli fest. Pro Jahr steigen 0,6 Arten in neue Höhen empor, das heißt, binnen zehn Jahren kolonisieren sechs neue Arten einen Gipfel. Am allerhöchsten hinaus schafft es der Gegenblättrige Steinbrech (Saxifraga oppositifolia). Er ist schon auf stolze 3.500 Meter geklettert.

GEWINNER UND VERLIERER DES KLIMAWANDELS AM BERG

Viele Arten erweitern ihr Areal nicht nur nach oben, sie weichen oft auch an ihre unteren Verbreitungsränder zurück. Zu diesem Resultat kam eine in diesem Jahr erschienene Studie der Universität Wien.

HERBST73

ASTRAGALUS EXCAPUS

BODEN-TRAGANT

„Die Folge ist, dass trotz eines allgemeinen Trends nach oben eine Reihe von Arten heute ein kleineres Areal besetzt als früher und seltener geworden ist. Diese ‚Verlierer‘ findet man vor allem unter den Arten der höheren Lagen“, erklärt der an der Studie beteiligte Botaniker Stefan Dullinger vom Department für Naturschutzbiologie, Vegetations- und Landschaftsökologie. Damit stehen die ersten Gewinner und Verlierer des Klimawandels fest. „Die Profiteure sind momentan tendenziell eher unter den montanen bis subalpinen Arten zu finden, die Verlierer unter den alpinen“, sagt Dullinger. Die montane Stufe reicht von circa 1.000 bis 1.800 Meter. Es folgen die subalpine Zwischenstufe von 1.800 bis 2.000 Meter, die alpine Stufe von 2.000 bis 3.000 Meter und die schneebedeckte „nivale“ Stufe ab einer Höhe von 3.000 Metern.

So richtig Freude an der Ausbreitung haben etwa die Alpen-Kratzdistel (Cirsium spinosissimum) oder die Nacktstängelige Kugelblume (Globularia nudicaulis). Beide haben ihren Verbreitungsraum erheblich erweitert, auch ihre Anzahl hat zugenommen. Die Kratzdistel siedelt im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um bis zu 163 Meter weiter unten. Erblickte man bei Wanderungen die ersten Exemplare einst ab einer Höhe von 1.925 Metern, so findet man sie heute schon ab 1.762 Meter. Die Kugelblume wächst inzwischen fast 500 Meter weiter unten als früher. Statt auf 1.537 Meter beginnt ihre Zone nun bei 1.053 Meter. Gewinner sind auch jene Arten, für die es heute in Tälern der Alpen gerade noch warm genug ist, meint Stefan Dullinger. Das betreffe besonders die Trockenrasen-

Arten der inneralpinen Trockentäler. Hier erwähnt er den Boden-Tragant (Astragalus excapus) und den Blauen Lattich (Lactuca perennis). Zu den Verlieren zählt der Maßlieb-Ehrenpreis (Veronica bellidioides). Er musste schon um 244 Meter, von 1.858 Metern auf 2.102 Meter, nach oben ziehen. Etwas weiter unten trifft es den Westalpen-Klee (Trifolium alpinum). Bisher stieg diese Art temperaturbedingt um 190 Meter nach oben. Statt auf 1.779 Meter Höhe ist die Pflanze nun erst ab 1.969 Meter anzutreffen. Manche haben noch Spielraum, für andere wird es mit Sicherheit eng werden.

FÜR DIE ENDEMITEN

IN DEN ALPEN WIRD ES ENG

Bis jetzt ist in den Alpen zum Glück keine Pflanzenart aufgrund des Klimawandels ausgestorben. Der Grund liegt laut Stefan Dullinger in der Langlebigkeit alpiner Arten. Sie können selbst harsche Bedingungen Jahre und Jahrzehnte hindurch ertragen.

Harald Pauli sorgt sich vor allem um die fortlaufende Verringerung der alpinen Lebensräume und den daraus folgenden Rückgang der Arten. Denn dies zieht die genetische Diversität in Mitleidenschaft. Dennoch sind die Gebirge weiterhin Rückzugsorte für Arten tieferer Höhenstufen – oder eine „Art Arche Noah im Geschehen einer tiefgreifenden Umverteilung der Arten“, wie es Pauli ausdrückt. Immer enger wird es allerdings für die endemischen Gebirgslebewesen, die per definitionem nur kleine Areale besetzen. Viele der endemitenreichen Gebiete liegen in den Randbezirken der Alpen: im Nordosten im

Toten Gebirge und im Südosten in den Karawanken sowie den Julischen Alpen. Die geringe Höhe der dortigen Berggipfel setzt möglichen Rückzugsgebieten Grenzen.

WENIGER WASSER UND FUTTER

AUF DEN ALPEN

Der frühere Beginn der Vegetationsperiode in den Bergen hat gravierende Auswirkungen auf die Bewirtschaftung der Alpen. Die Bauern wagen sich früher im Jahr mit dem Vieh in die Höhe. Traditionelle Auftriebstermine an festgesetzten Tagen gibt es nicht mehr. So erinnert sich der Bergbauer Josef Türtscher: „In meiner Kinderzeit vor fünfzig Jahren sind wir rund drei Wochen später auf Maisäß und Alp als heuer und in den letzten paar Jahren.“ Die unmittelbare Folge: „Es gibt mehr Futter auf den Alpen. Wir bräuchten mehr Vieh, um die ordentliche Bewirtschaftung zu sichern!“ Das Fiese am Klimawandel ist nicht nur die kontinuierlich steigende Temperatur –darauf kann man sich einstellen –, sondern die Häufung extremer Wettereignisse. Ein Sommer wie heuer mit anhaltender Hitze und ausbleibenden Niederschlägen führt zu Wasser- und Futterknappheit. In Österreich fielen im Sommer 2018 um 20 bis 25 Prozent weniger Regen als im langfristigen Durchschnitt, in Vorarlberg sogar 37 Prozent. Auf jeder zweiten Alp mangelte es an Wasser. Mancherorts musste es in Tanks vom Tal in die Berge transportiert werden. Und das knapper werdende Gras erzwang einen vorzeitigen Abzug der Kühe von den Alpweiden.

Für viele Landwirte kann aus so einem Extremsommer recht schnell eine existenzielle Katastrophe werden. Oder wie es

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LACTUCA PERENNIS BLAUER LATTICH
Fotos: Mit freundlicher Genehmigung des NHM/Naturhistorisches Museum Wien, , Stefan Vladuck (1)

CIRSIUM SPINOSISSIMUM ALPEN-KRATZDISTEL

TRIFOLIUM ALPINUM WESTALPEN-KLEE

Josef Türtscher ausdrückt: „Weniger Heu, teurer Futterzukauf, Notverkauf von Vieh, weniger Einkommen!“ Was könnte helfen? Türtscher wünscht sich eine Verbesserung der Wassersicherheit durch die Erschließung von neuen Quellen, Versicherungsmodelle mit öffentlicher Unterstützung sowie verstärkte Forschung über hitzebeständige Pflanzen. Nutzpflanzen wohlgemerkt.

MASSNAHMEN GEGEN UND NUTZEN AUS DEM KLIMAWANDEL

Die Alpbewirtschaftung leistet vor allem eins: Sie hält weite Gebiete im Gebirge frei von Wald. Damit bremst sie auch das klimabedingte Höhersteigen der Wälder – zumindest ein wenig. Für Harald Pauli bildet die zunehmende Trockenheit die größte Gefahr für die Alpwirtschaft. Er fordert daher ganz im Gegensatz zu Josef Türtscher nicht mehr Vieh auf den Alpen, sondern eine deutliche Verringerung der Zahl der Weidetiere. Auf keinen Fall dürfe man die Alpweiden durch Düngemittel künstlich zum Wachsen bringen. „Das würde sehr rasch zu einem drastischen Rückgang der Artenvielfalt führen“, warnt der Gebirgsforscher. Um etwas gegen die „schleichenden Effekte“ des Klimawandels zu bewirken, fordert er bessere Naturschutzstrategien, Langzeitstudien und eine „wesentlich stärkere Involvierung politischer Entscheidungsträger und der Öffentlichkeit“. Wenn das Klima in den Alpen kippt, betrifft es alle. Dass Menschen dem Klimawandel auch die eine oder andere gute Seite abgewinnen können, beweisen einige Pionierprojekte ambitionierter Landwirte. In den

Tälern probieren es manche bereits mit dem Anbau mediterraner Früchte und Gemüsesorten. In Kärnten werden Zitronen geerntet, in der Steiermark Melonen, im Burgenland Oliven und in Wien wachsen Feigen. Auch wenn der Frost nicht so bald der Vergangenheit angehören wird, ist es den Versuch wert.

Dank der höheren Temperaturen erweitern sich außerdem die nutzbaren Anbauflächen in den bergigen Regionen. So gedeihen inzwischen an manchen Berghängen Obstbäume und Weinreben. Wohin der Klimawandel in den Bergen führen wird, ist offen. Noch haben wir es in der Hand, seine Folgen zumindest abzuschwächen.

DIE PFLANZENWELT DER ÖSTERREICHISCHEN ALPEN

VERLAG NHM WIEN, 2018

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TXOGITXU. QUARGEL.

Über das Kochen mit Käse, wenn es keine Kässpätzle werden sollen

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SIG.
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Foto: Vorarlberger Landesbibliothek

Sucht man in Büchern von Meistern der Küche nach der Verwendung von Käse, kann man traurig werden. Ich bin ans Kochbuchregal in meiner Bibliothek gegangen und habe die Bestände der neueren Zeit durchforstet. Ein zugegebenermaßen willkürliches Unterfangen, von keinem Algorithmus geleitet, nur von meinem Gedächtnis angeregt und meiner Hoffnung, etwas käserezeptmäßig Brauchbares jenseits von Quiche und Fondue zu finden. Alpkäsemäßig, natürlich.

Die Entdeckungsreise beginnt mit Enttäuschungen. Ein Großmeister wie der zu früh mit 61 Jahren bei einem Radunfall verstorbene Philippe Rochat präsentiert in seinem großen Kochbuch „La cuisine sublime“ gerade ein einziges Rezept, das Käse verwendet. Es ist Frischkäse. René Redzepi, der Däne mit albanischen Wurzeln, führt in Kopenhagen das mehrere Jahre hindurch von vielen als weltbestes Restaurant bezeichnete Noma. Käsemäßig schaut es in Redzepis gleichnamigem Kochbuch nicht viel besser aus als bei Rochat. Zweimal Frischkäse, einmal Räucherkäse, zweimal Skyr (eine Art nordischer Frischkäse, geräuchert) tauchen in Rezepten auf –das war’s.

Der Kultkoch der Generation Veggie ist der israelische, in London arbeitende Yotam Ottolenghi, Autor mehrerer höchst erfolgreicher Kochbücher. Er krümelt, wenn er Käse verwendet, vorzugsweise einen Feta über ein Gericht.

Dann finde ich doch noch Gegenbeispiele. Yannick Alléno etwa, einen mehrfach mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten Franzosen, der auch als Unternehmer dem kulinarisch erfolgreichsten Entrepreneur Alain Ducasse Konkurrenz macht. In seinem 782 Seiten starken Opus magnum „Französische Küche“ bringt Alléno einige vernünftige Rezepte mit Käse, etwa die Anregung zu einem Parmesan-Mürbteig für ein Horsd’œuvre (probieren Sie es einmal mit altem Alpkäse:

PARMESAN-MÜRBTEIG

125 g Butter, 125 g Mehl, 1 Ei, 125 g Alpkäse, am besten 24 Monate gereift, gerieben; daraus einen Mürbteig formen, 2 mm dick ausrollen, Kekse ausstechen, etwa 7 Minuten lang backen. Auskühlen lassen, darauf dann einen Löffel Gemüsecreme oder etwas anderes Passendes setzen.

Sonst, geben wir der Wahrheit die Ehre, kocht Monsieur Alléno zwar gern mit Käse, aber vor allem mit französischen Weichkäsen, vom Vacherin Mont d’Or bis zum Brie.

Ähnlich sieht es in fast allen Kochbüchern der Haute Cuisine aus. Müssen sich kulinarische Feinspitze also bei Käse, Alpkäse zumal, auf die Breitenküche zurückziehen?

Dort fehlt es an Käse ja nirgends. Käse toppt den Cheeseburger, füllt Toast und Semmel, ist unerlässlicher Bestandteil der Pizza und gratiniert im Fall des Falles einfach alles. Das wollen wir nicht gering schätzen. Jedes Gratin, das auf sich hält, bekommt durch das Überbacken mit etwas geriebenem Alpkäse seine besondere Note. Auch eine Käsesauce auf Spaghetti kann etwas Köstliches sein.

Im Buch „Neue Cuisine“ des in New York tätigen Österreichers Kurt Gutenbrunner habe ich zum Beispiel die interessante

Variante eines erweiterten Kartoffelgratins gefunden, die ich gern zubereite:

KARTOFFELGRATINS

Je 450 g Erdäpfel-Kohlrabi in 1 mm dünne Scheiben schneiden, 360 ml Obers und 120 Vollmilch mit Salz, Pfeffer, einer zerdrückten Knoblauchzehe und geriebener Muskatnuss mischen, Erdäpfel und Kohlrabi darin etwa 1 Stunde einweichen, dann in eine feuerfeste, gebutterte Form füllen, mit geriebenem Alpkäse bedecken und bei 175° etwa 45 bis 50 Minuten backen. Etwas üppig, aber eine feine Beilage zu rotem Fleisch, oder mit Salat auch eine vegetarische Hauptspeise.

In der Alltagsküche muss sich Alpkäse keineswegs mit der Rolle der überbackenen Abdeckschicht begnügen. Es gibt eine Reihe von Rezepten, die dem Kochen mit Alpkäse auf anspruchsvolle Weise neue Reize abgewinnen. Schon fällt mir ein älteres Kochbuch ins Auge, mit dem mich die Gebrüder Obauer, jahrzehntelang Österreichs führende Küchenmeister, in den späten 1990er-Jahren erfreut haben: „Das neue österreichische Kochbuch“. Darin beleben sie ein altes Rezept auf lustige und feine Art wieder. Sie verfeinern den Eierstich zum Alpkäse-Eierstich.

ALPKÄSE-EIERSTICH

Man benötigt dafür 60 g Alpkäse (6 Monate), 1/8 l Milch, 1/8 l Schlagobers, 2 Eidotter, 2 Eier, eine Prise Muskatnuss, Salz und Pfeffer sowie Butter für die Form. Backrohr auf 170° vorheizen. Käse reiben. Knoblauch schälen und zerdrücken. Alle Zutaten über Dampf mit dem Schneebesen so lange rühren, bis der Käse geschmolzen ist (nicht länger). Eine feuerfeste Form (Terrinenform) mit Butter ausstreichen. Die Masse einfüllen und die Form in ein Wasserbad stellen. Im vorgeheizten Rohr 35 bis 40 Minuten garen. Die Nadelprobe machen: Mit Nadel in die Masse stechen, einige Sekunden drin lassen, dann Nadel mit den Lippen testen. Ist die Nadel warm, ist der Eierstich fertig. Ins

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Wasserbad sollten Sie übrigens stets eine Zeitung geben, auf die Sie die Form stellen, so verhindern Sie das Sprudeln des Wassers.

Eierstich schnitt meine Mutter früher in kleine Würfel und verwendete sie als Einlage in einer klaren Suppe. Die Obauers stechen Nockerln ab und servieren sie als Vorspeise mit einer Wurzelmilch, für die sie

WURZELMILCH

25 g Karotten, 10 g Sellerieknolle, 25 g Petersilienwurzel, 10 g Topinambur, 1 Schalotte mit je 1/8 l Milch, 1/8 l Schlagobers weich kochen und mit dem Stabmixer pürieren, salzen und pfeffern – fertig.

Ah, da steht es ja! Schon auf dem Cover lächeln mir ein Alpkäse und ein Speck im freundlichen Duett entgegen. Im Inneren finden sich zahlreiche gute Käserezepte, etwa für Käserösti (wie normale Rösti, aber am Schluss 100 g geriebenen Alpkäse darübergeben und noch einmal zugedeckt 10 Minuten fertig garen). Der Autor, der immer wieder kluge Tipps für die Amateurküche bereithält, ist Hans Gerlach. Zusammen mit Susanna Bingemer hat er 2007 das schöne Buch „Alpenküche, Genuss und Kultur“ herausgebracht.

Originell scheint mir darin zum Beispiel der Käseschmarren:

KÄSESCHMARREN

400 g alte Semmeln oder anderes Brot, 400 g Alpkäse (6 Monate), 200 ml Obers, Pfeffer, Muskatnuss, Schnittlauch, 3 bis 4 Esslöffel Butter. Brot in möglichst dünne Scheiben schneiden, abwechselnd mit dem geriebenen Alpkäse in eine Schüssel schichten und mit 1/2 Liter warmer Milch übergießen. Mindestens eine Stunde ziehen lassen. Dann zwei gequirlte Eier locker untermischen. Diese Masse in einer großen beschichteten Pfanne mit mittlerer Hitze zwei bis drei Minuten anbraten, dann mit zwei Gabeln in große Stücke reißen, goldbraun braten

und wenden. Noch einen EL Butter dazugeben und drei bis vier Minuten fertig braten. Mit Schnittlauch bestreut servieren.

Alpen sind ein gutes Stichwort. Der im Salzburger Golling werkende Spitzenkoch Andreas Döllerer wurde heuer von der strengen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ als „Koch des Jahres International“ ausgezeichnet. Er nennt seine Küche und sein 2016 erschienenes Kochbuch „Cuisine Alpine“. Als alpiner Koch kann er den Alpkäse nicht auslassen, wenngleich er ihn hartnäckig Bergkäse nennt. Allerdings sind seine Kaspressknödel dezidiert unalemannisch, aber deswegen nicht weniger köstlich. Auch sie basieren auf Knödelbrot.

KASPRESSKNÖDEL

1 Zwiebel fein schneiden, in 50 g Butter anschwitzen, mit 1/4 Liter Milch ablöschen. Über 250 g frisches, geschnittenes Knödelbrot geben und fünf Minuten ziehen lassen. 130 g Bierkäse, 130 g Alpkäse (6 Monate) reiben, mit 4 Eiern, 1 EL griffigem Mehl und etwas gehackter Petersilie untermischen, salzen, pfeffern und mit Muskatnuss würzen. Kleine Laibchen formen und im Butterschmalz goldbraun braten. Wird als Einlage in Rindssuppe verwendet oder pur mit Kraut und Salat gegessen.

Wer sucht, der findet also. Dabei habe ich die Standardwerke noch gar nicht durchmustert. Wie sieht es darin mit Alpkäse aus? Auch hier können wir ziemlich lange suchen und werden allzu selten fündig. Teubners wuchtige „Küchenpraxis“ lässt uns alpkäsemäßig nicht ganz im Stich; zumindest erklärt sie ein klassisches Fondue. Das sparen wir uns hier; eine Fontinasuppe mit Kalbsbriesravioli gibt’s dort auch noch. Fontina ist ja nur italienischer, drei Monate gereifter Alpkäse, benannt nach der Alpe Fontin im Aostatal.

Leanne Kitchens Übersichtswerk „Milch und Käse“ hat ein paar Gruyère-Rezepte (Gruyère oder Greyerzer ist französischer oder Schweizer Alpkäse) wie ein zweimal gebackenes Käsesoufflé. Das Fondue darf natürlich nicht fehlen. Eines der schönsten

Käsekochbücher ist „Käse. Das saisonale Kochbuch“ von Alex und Leo Guarneri, den Leitern der berühmten Käsehandlung Androuet in London. Der Koch des angeschlossenen Restaurants ist der Italiener Alessandro Grano, aber auch seine Rezepte lassen uns in Bezug auf Alpkäse-Inspirationen eher unzufrieden zurück. Gerade einmal eine Zwiebelsuppe, mit altem Comté überbacken, spendiert er uns. Der Rest des Buchs entschädigt freilich mit originellen Rezepten aller möglichen Käsesorten.

Trost erhalte ich zum Schluss an gänzlich unvermuteter Stelle. Konstantin Filippou, geborener Steirer und Wahlwiener mit griechischen Wurzeln, ist derzeit vielleicht der aufregendste Koch der Bundeshauptstadt. Er hat in seinem vor zwei Jahren erschienenen Kochbuch tatsächlich Alpkäse. Dort nennt er ihn zwar Bergkäse, meint aber Alpkäse, denn er erwähnt sogar den Vorarlberger Käsehändler, von dem er ihn bezieht. Man blättert durch sein großes Kochbuch voller spektakulärer Fotos und stößt auf die Aufnahme eines Käselaibs. Zwei Fotos davon füllen zusammen eine Doppelseite. Etwas weiter hinten kommt ein Rezept wie „Artischocke. Txogitxu. Quargel. Sig.“, eine baskisch-vorarlbergische Symbiose, die der Meister wie folgt kommentiert: „Die fein-nussige Artischocke und der süße Sig umschmeicheln das zarte Fett des Txogitxu und den fast animalisch riechenden Quargel voller Hingabe. So stelle ich mir das vereinte Europa vor.“ Schön. Txogitxu, falls Sie es wie ich nicht wussten, ist baskisches, am Knochen gereiftes Rindfleisch.

Und dann kommt es ja doch. „Bergkäse. Haselnuss. Birne.“ Es ist ein Dessert, und Filippou setzt dafür einen ein Zentimeter breiten Streifen aus Haselnusskrokant mittig auf den Teller, sprüht rechts davon Haselnussschaum auf, gießt links davon Birnensaft an und reibt 80 Gramm Alpkäse nicht allzu fein darüber. Das wollte ich Ihnen zum Schluss nicht vorenthalten, denn es zeigt, wie weit man mit einem guten Alpkäse in der Küche kommen kann. Ziemlich weit!

79 HERBST

ZIGERER ODER ALPSCHWEINE

VON MARKUS CURIN

Das Ernele in Hittisau gehört zu den erfolgreichsten Gastronomie-Konzepten Vorarlbergs: Eine urbane Ladenwirtschaft, in der offen gekocht, gegessen und geplaudert wird. Das Restaurant, benannt nach der Seniorchefin Erna, könnte in dieser Form in New York, Berlin oder Sydney stehen –aber im Bregenzerwald?

Wirklich ein Wagnis in einer ländlichen Region, deswegen überließ die Gastgeberfamilie Metzler vom Hotel „Schiff Hittisau“ auch nichts dem Zufall: Ein ungewöhnlich hoher, schöner, heller und doch gemütlicher Raum, hochwertige Produkte aus dem ganzen Land, die Einrichtung von der mehrfach ausgezeichneten Holzwerkstatt Markus Faißt und selbstverständlich großartige, täglich neue Gerichte. Ein so mutiges Konzept steigt und fällt natürlich mit dem Küchenchef, der ständig unter Beobachtung der Gäste tatsächlich im Mittelpunkt des Geschehens steht. Nun wird nicht jeder Koch als extrovertierter Rockstar geboren, der sich bei der Runde durchs Lokal im Spotlight der Anerkennung suhlt und seine Kreationen als Segen für die Menschheit empfindet. Trotz oder gerade wegen seiner zurückhaltenden Art ist Felix Gross als Küchenchef maßgeblich am großen Erfolg des Ernele beteiligt und hat innert zwei Jahren selbst hartnäckigste Kritiker bekehrt bzw. bekocht. Vor allem bleibt es ja nicht nur bei der Handlung am Herd. Felix geht von Tisch zu Tisch und präsentiert seine tagesfrischen Schätze von der Bachforelle über den Hirschrücken bis zum Gemüse aus dem Hausgarten. Das ist authentisch und

Felix Gross, Küchenchef im ’s Ernele in Hittisau im Bregenzerwald, über saisonale Produktvielfalt, Älpler-Innovationen und was ihn nach zwei Jahren mit großem Erfolg

noch am Boden hält

sympathisch, vermittelt Transparenz und schafft Vertrauen. Am meisten Spaß macht das Konzept natürlich im Herbst: „Da ist einfach alles verfügbar“, schwärmt Felix. „Im September und Oktober kann ein Koch aus dem Vollen schöpfen. Vollreifes Obst und Gemüse, Nüsse, Pilze, Wild, Käse und das Fleisch der Tiere von der Alp – der Herbst ist einfach die schönste Zeit. Was sich alles mit Kürbis, Äpfeln, Knollen oder vollreifen Tomaten anstellen lässt! Die Inspiration beginnt schon im Garten, wenn Kräuter, Salate und anderes Gemüse nur darauf warten, entdeckt zu werden.“

Diese Vielfalt an Produkten und ihr kreativer Einsatz sind für das Ernele-Konzept entscheidend. Und gerade in der Anfangsphase war es schwierig, geeignete Partner und Lieferanten in Vorarlberg zu finden. Mittlerweile kann Felix aber darüber schmunzeln: „Selbst mit entsprechenden Kontakten war es wirklich mühsam. Neben der grundlegenden Skepsis konnten gerade unsere Fleischlieferanten nicht verstehen, dass ich ausschließlich Tiere im Ganzen abnehmen wollte. Tja, und jetzt werden wir mit Anfragen überhäuft, halten aber noch immer an den Partnern fest, die uns von Anfang an unterstützt haben.“ Da ja jeder Küchenchef daran interessiert ist, seinen Gästen etwas Besonderes zu bieten, musste er selbst aus der Komfortzone raus, um sich nach besonderen Produzenten umzusehen. „Je mehr mich das Konzept begeisterte, umso intensiver beschäftigte ich mich damit, Partner wie die Fischer Regula Bösch und Claus Elmenreich oder Jodok Geser zu finden. So entstand auch dieses ganz besondere Ernele-Netzwerk.“ Die eingelegten schwarzen Nüsse von Harald Schobel, der Mais für Riebel von Richard Dietrich, Kräutermischungen von Karin Kaufmann, der Schabziger von der Alp Greußing Wildmoos – all diese Schätze werden von Felix Gross nicht nur gekonnt verarbeitet, viele Produkte können von interessierten Gästen gleich in der Ladenwirtschaft gekauft werden.

Stichwort Alp Greußing Wildmoos in Bezau: Der Schabziger von Simone und Simon Jäger, in Vorarlberg Schotterkäse oder

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einfach Zigerer genannt, ist das perfekte Beispiel dafür, wie besondere Produkt-Kooperationen zwischen Gastronomen und Sennern aussehen können. Denn das Thema Käse ist für Felix Gross alles andere als einfach, auch wenn es im Bregenzerwald allgegenwärtig ist. „Das Käsemarketing in Vorarlberg ist wirklich beeindruckend. Das Image im eigenen Land und vor allem in Deutschland ist hervorragend. Aber in der zeitgemäßen Küche sind Hart- und Weichkäse meist nur Beiwerk, weil sie allein einfach zu deftig sind. Gerade im Sommer spielt das klassische Käseangebot etwa von unserem Wagen kaum eine Rolle. Also setzt man auf Frischkäse, den es in fast allen Gasthäusern im Bregenzerwald gibt, oder es kommen die Ideen von innovativen Älplern wie Simon Jäger ins Spiel. Zigerer ist ja ein traditionelles Produkt, das man heute aber nur noch selten bekommt, schon gar nicht in dieser Qualität.“ Ähnliche Kreativität würde sich Felix auch von anderen Alpen wünschen: „Der traditionelle Käse hat immer seinen Stammplatz, genauso wie die traditionelle Jause auf der Alp. Aber neben dem Zigerer gibt’s bei Simone und Simon auch eine Sennsuppe – allein deswegen besuche ich die Alp oft. Und gerade mit solchen Produkten kann man nicht nur bei Gästen, sondern bestimmt auch bei vielen Einheimischen punkten, da die meisten von uns diese Gerichte nur von Geschichten unserer Eltern und Großeltern kennen.“

Felix Gross hat gerade im letzten Sommer die Erfahrung gemacht, dass viele Alpen erst gar nicht bewirtschaftet werden. „Was ich sehr schade finde, denn erst durch den Gästekontakt und den gemeinsamen Austausch entstehen viele schöne Projekte, wenn ich an den Zigerer oder an Alpschweine denke.“ Ohnehin steht Felix außerordentlich auf Alpprodukte: Die Butter bezog er heuer erstmals von einer Alp, nämlich der Alp Schwarzenberger Platte von Tina Feuerstein (siehe Seite 32), der Topfen stammt von einem Bauern aus Hittisau, und bei Milch, Joghurt oder Schlagobers sucht man noch nach entsprechenden Möglichkeiten. Einmal mehr wünscht sich der Ausnahmekoch mehr Offenheit von den Alpbetreibern. Grund für diese Situation könnte laut Felix schlichtweg ein Missverständnis sein: „Viele Älpler gehen davon aus, dass Gastronomen keinen Bedarf an ihren Produkten haben, da sie den bequemeren Weg über

Großhändler wählen. Aber es gibt mittlerweile einige Hotels und Restaurants, die ihren Slogan von regionaler Wertschätzung ernst nehmen und bei denen es eine große Nachfrage an Alpprodukten gibt. Die sind auch bereit, entsprechende Preise zu zahlen, was wiederum einige Tiertransporte ins Ausland vermeiden würde.“ Seiner Meinung nach muss aber auch die Gastronomie ehrlicher werden. Zu viele Betriebe kaufen, alibihalber, geringe Mengen an regionalen Produkten ein, damit sie vom Gütesiegel bis zum Regionshinweis im Menü auf der sicheren Seite sind. „So viele Bodenseezander, wie es auf Vorarlbergs Speisekarten gibt, sind wahrscheinlich im ganzen See nicht vorhanden.“ Eine ehrlichere Gastronomie, eine offenere Landwirtschaft – das wären für den 30-Jährigen die Voraussetzungen, damit die Zusammenarbeit nicht nur reibungsloser verläuft, sondern überhaupt erst entstehen kann. Seinen Beitrag leistet

der Ausnahmekoch jedenfalls – und der Erfolg gibt ihm recht. „Man ist zufriedener, wenn man sieht, dass ein Konzept aufgeht und man damit nicht nur Gäste glücklich macht, sondern auch kleinere Produzenten unterstützen kann.“

Viel Zeit zum Reflektieren gab es bisher keine. Das Ernele erfreut sich einer guten Auslastung, Medienecho, Bewertungen und Kundenecho sind allesamt enorm. „Unglaublich, wie schnell das alles ging. Damit haben wir zum Start niemals gerechnet. Als Koch ist man ja an jedem Öffnungstag in der Situation, sich beweisen zu müssen, denn anders als beim Gemüse erntet man Erfolg nicht nur im Herbst. Dank unserer Restaurantleiterin Pia und dem restlichen Team wurde all dies möglich. Die Teamarbeit erdet einen glücklicherweise, denn wenn man täglich von allen Gästen hört, wie begeistert sie sind, ist die Gefahr des Abhebens groß.“

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Felix Gross, Küchenchef im ’s Ernele in Hittisau, Bregenzerwald Foto: Nina Bröll

Gebratener

Rehrücken mit Bergkäsepolenta, Steinpilzen, Rosenkohl und gerösteten

Walnüssen

ZUTATEN

Rehrücken

Salz

Pfeffer

Wacholder

Butter

Rosmarin

Knoblauch

1 Schalotte

350 g Polenta

Weißwein

800 ml Gemüse-Hühnerfond

Sahne

würziger Bergkäse

Kräuter

Steinpilze

Walnüsse

Rosenkohlblätter

REHRÜCKEN

Rehrücken mit Salz, Pfeffer und gemahlenem Wacholder würzen. Dann in einer heißen Pfanne mit wenig Öl von beiden Seiten anbraten. Butter, Rosmarin und Knoblauch in die Pfanne geben und dann bei 140 °C etwa 5 bis 8 Minuten in den Ofen geben.

BERGKÄSEPOLENTA

Eine Schalotte in Olivenöl farblos anschwitzen. 350 g Polenta dazugeben und leicht mit anschwitzen. Anschließend mit Weißwein ablöschen und mit ca. 800 ml Gemüse-Hühnerfond und mit etwas Sahne aufgießen. Mit Salz und Pfeffer würzen und ca. 8–12 Minuten leicht köcheln lassen. Vor dem Servieren mit würzigem Bergkäse und Kräutern verfeinern.

STEINPILZE

Die Steinpilze putzen und in Scheiben schneiden. Dann in einer heißen Pfanne mit wenig Öl scharf anbraten und würzen (Salz, Pfeffer). Walnüsse grob hacken und hinzugeben. Dann ein Stück Butter hinzugeben und glacieren.

ROSENKOHL

Die Rosenkohlblätter kurz in gesalzenem und kochendem Wasser blanchieren. Dann alles auf einem Teller anrichten.

Rehrücken im Herbst: So sieht er bei Felix Gross aus 3. 2. 1. 4. ZUBEREITUNG

DIE AUTORINNNEN UND AUTOREN DER HERBSTAUSGABE VON ALP

Markus Curin, Journalist und Kulinarikexperte in Vorarlberg

Reinhard Johler, Universitätsprofessor in Tübingen

Babette Karner, Autorin in Vorarlberg

Joshua Köb, Journalist in Vorarlberg und Wien

Irmgard Kramer, Schriftstellerin in Vorarlberg und Wien

Urs Mannhart, Schriftsteller in der Schweiz

Peter Natter, Philosoph und Schriftsteller in Vorarlberg

Julia Schmidbaur, Journalistin in Wien

Tobias Schmitzberger, Journalist in Wien

Georg Sutterlüty, Historiker und Autor im Bregenzerwald

Armin Thurnher, Herausgeber der Wochenzeitschrift »Falter« in Wien

Nini Tschavoll, Fotografin und Autorin in Wien

Erscheint demnächst

83 SOMMER
O VORARLBERG, DEIN KÄSEWERK SAGT MUH DAZU!
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