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In der Sugo-Küche
Familie Pipino sieht Rot
Im September verarbeiten die Pipinos aus Zofingen immer gleich mehrere Hundert Kilogramm Tomaten zu einem Sugo für das ganze Jahr.
Text: Simon Koechlin Bilder: Anne Gabriel-Jürgens
Es saftet und spritzt. Wer nicht aufpasst, verbrüht sich oder muss mit roten Flecken auf dem T-Shirt rechnen. Es ist Sugo-Tag bei Familie Pipino in Zofingen AG. Auch drei der vier Kinder packen an. Die älteste Tochter Samirah ist nur nicht dabei, weil sie in einem Austauschsemester weilt. «Es geht los!», ruft Vater Reto und schöpft einen Massbecher voller aufgebrühter Tomaten in einen Trichter. Die 12-jährige Sofia bugsiert die Masse mit einem Stöpsel in die Entsaftungsmaschine. Ein schneckenförmiges Gewinde drückt die Tomaten dort vorwärts. Die faserigen Reste, die es vorne ausspuckt, löffelt Sofias Zwillingsschwester Deva in eine Schüssel. Und seitlich schabt der 14-jährige Giulian den dickflüssigen, roten Saft ab, der durch ein Stahlsieb läuft.
Die Kinder verrichten ihre Arbeiten routiniert. Denn den Sugo-Tag gibt es bei Pipinos jedes Jahr. Immer am ersten Samstag im September kocht die Familie Tomatensauce für ein ganzes Jahr. Es handelt sich um eine Tradition, die aus Italien stammt. Bei den Pipinos wurde sie mütterlicherseits in die Schweiz gebracht. «Ich habe schon als Kind mit meinen Eltern Sugo gemacht – und meine Eltern mit ihren», erzählt Mutter Marilena. Als sie Reto kennenlernte, half auch er bei der Sugo-
Marilena Pipino


Nonna Lucia demonstriert, wie es geht (oben), Deva kümmert sich um das Basilikum (unten).
Sie zelebrieren am ersten Samstag im September die «Tradizione Pipino»: Deva, Reto, Lucia (am Fenster), Giulian, Marilena und Sofia.


herstellung mit. Heute ist Reto, obwohl er keine italienischen Wurzeln hat, von der Sugotradition gar noch weit begeisterter als Marilena. In den vergangenen Jahren hat er die Abläufe des Einmachtags perfektioniert und passende Geräte und Utensilien gesucht. Denn total verarbeiten die Pipinos heute 300 Kilo Tomaten. Das braucht Koordination, grosse Töpfe – und eine leistungsfähige Entsaftungsmaschine. Sie stammt – natürlich – aus Italien. Reto Pipino nennt sie liebevoll «mein Baby».
Bevor der Saft fliesst, müssen die rohen Tomaten jedoch gewaschen, grob geschnitten und ihr Stirzel entfernt werden. Schon das ist aufwendig. «Vier Stunden hat das gedauert», seufzt Sofia und verdreht die Augen. Danach werden die Tomaten in Portionen von ungefähr 30 Kilogramm aufgebrüht. Damit sie nicht anbrennen, füllt Reto Pipino wenig Wasser in einen riesigen Topf. Er setzt ihn auf einen Gaskocher und rührt ab und zu durch.
Entsaften ist Teamarbeit Sind die Tomaten kochend heiss und weich, schüttet er sie in ein dünnes Tischtuch, das er in einen Wäschekorb gelegt hat. Dort tropfen sie einige Minuten ab. Das sei wichtig, sagt Pipino. Schliesslich soll es ein Sugo

werden und nicht eine wässrige Tomatensuppe. Der nächste Schritt ist Teamarbeit an der Entsaftungsmaschine. Danach muss der Sugo aufgekocht und abgefüllt werden. Das ist Marilenas Job. Sie gibt etwas Salz in den Kochtopf und bereitet die leeren Sugoflaschen vor, die sich in über einem Dutzend Kisten stapeln. In jede legt sie ein Basilikumblatt, gepflückt von Tochter Deva und Nonna Lucia. Rasch schöpft sie den kochenden Sugo in die Flasche, legt noch mal ein Blättchen drauf – und schliesst den Deckel.
Fertig – könnte man meinen. Aber noch nicht ganz. «In den wichtig. Der eine ist das Kulinarische: 305 Flaschen Sugo diverser Grössen werden sie am Ende des Tages abgefüllt haben. «Mit dem eigenen Sugo schmeckt die Pasta einfach viel besser», sagt Reto. Wobei: Ein Geheimrezept für die perfekte Pastasauce hat die Familie nicht. Der eingemachte Sugo diene als Grund lage für verschiedenste Saucen, sagt Marilena Pipino. «Man kann ihn mit Zwiebeln und Kräutern verfeinern, eine Bolognese damit machen oder mit Brustspitz einköcheln.»
Fast wichtiger ist ihr aber der soziale Aspekt. «Eigentlich geht es darum, dass wir an dem Tag zusammen etwas machen.» Reto ergänzt: «Der SugoTag ist etwas, das ich meinen Kindern mitgeben möchte für ihr Leben.»
Reto Pipino Marilena Pipino mit Tochter Deva beim Abfüllen des fertigen Sugos

Gläsern muss sich ein Vakuum bilden, sonst beginnt der Sugo zu schimmeln», sagt Marilena Pipino. Dafür hat sie ein altes Laufgitter der Kinder in einen Wärmespeicher umfunktioniert. Es ist ausgekleidet mit dicken Decken. Darin stellt sie die heissen Sugoflaschen dicht an dicht zusammen. «Die Decken speichern die Wärme – und in drei, vier Tagen sind alle Flaschen vakuumiert.»
Ein guter Sugo erfordert die richtigen Tomaten. In Italien schwört man auf die Sorte San Marzano. Sie enthalten wenig Wasser und viel Fruchtfleisch. Die 300 Kilogramm der Pipinos stammen nicht aus dem eigenen Garten, sondern aus der Früchte und Gemüsehandlung Rychard in Gretzenbach SO, die jeden Herbst für einige Wochen spezielle Sugo San Marzano anbietet. «Insgesamt verkaufen wir jeweils rund 50 Tonnen, meistens 150 bis 300 Kilo pro Familie, je nach Familiengrösse», sagt CoGeschäftsführerin Rebecca Richard. Zwar hätten viele Kunden italienische Wurzeln. «Aber es gibt auch immer mehr Schweizerinnen und Schweizer, die ihren eigenen Sugo machen wollen.» Das bestätigt auch Reto Pipino. Selbst in seinem Wohnquartier kenne er einen Schweizer, der sich vor Kurzem eine Entsaftungsmaschine angeschafft habe.
Für die Pipinos ist die Sugotradition aus mehreren Gründen
Dann übernehmen die Kinder Inzwischen ist auch Marilenas Bruder mitsamt seinen drei Buben eingetroffen. Die Kinder übernehmen das Ruder. «Wir machen das jetzt», sagt einer der Buben zu den Erwachsenen, «ihr könnt Feierabend machen.»
So ganz ohne Arbeit sind die Älteren dann zwar doch nicht. Aber der Eifer der Jungmannschaft lässt keinen Zweifel: Sind die Kinder einmal erwachsen und haben eine eigene Familie, wird es auch bei ihnen jedes Jahr einen SugoTag geben. Die «Tradizione Pipino», wie es auf den selbstgestalteten Etiketten heisst, lebt weiter. MM