2 minute read

Bei vier von fünf Kindern handelt es sich nicht um einen Notfall

Unser Kindernotfall ist ausgelegt für 70 bis 100 Notfälle pro Tag. An den vergangenen Wochenenden kamen täglich jedoch zwischen 120 und 130 Kinder mit ihren Eltern auf unseren Notfall. Das ist bereits sehr viel und anspruchsvoll. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatten wir manchmal über 200 Patientinnen und Patienten, da kamen wir ziemlich an unsere Grenzen, und es gab immer wieder lange Wartezeiten. Der Grund für die hohen Zahlen sind mehrere Viruserkrankungen, die im Umlauf sind. Zurzeit kommen viele Kinder mit Erkältungssymptomen, ausgelöst etwa durch das Grippe­ oder RS­Virus, oder mit Magen­Darm­ Grippe. Bei schönem Wetter kommen Unfälle, beispielsweise mit Knochenbrüchen dazu.

Die Anzahl Patientinnen und Patienten auf dem Notfall hat über die vergangenen Jahre aber auch ohne die grassierenden Viruserkrankungen stetig zugenommen. 2022 hatten wir über 35 000 Kinder bei uns. Das sind etwa 30 Prozent mehr als in den Jahren zuvor. Dazu muss man sagen: Bei vier von fünf Kindern, die auf den Notfall kommen, handelt es sich nicht um einen echten medizinischen Notfall. Das liegt daran, dass Eltern einen Notfall bei ihrem Kind anders definieren als wir. So kommen Kinder zu uns, die erst seit einem Tag Fieber oder Husten haben. Eltern haben heute ein grösseres Sicherheitsbedürfnis und kommen viel schneller auf den Notfall als früher. Woran das genau liegt, weiss ich nicht. Vielleicht fehlt die Grossmutter zu Hause, die Hausmittel gegen Fieber, Husten und Schnupfen kennt und helfen kann? Vielleicht liegt es aber auch daran, dass man heute mehr Möglichkeiten hat, sich zu informieren. Das bringt einerseits mehr Wissen, andererseits kann es auch mehr Angst machen.

Ausserdem haben Eltern tagsüber manchmal keine Zeit, zum Kinderarzt zu gehen, und kommen mit den kranken Kindern deshalb nach Feierabend auf den Notfall. Das spiegelt sich auch in den Stosszeiten wider: Den grössten Ansturm haben wir am frühen Abend, wenn die Eltern mit ihrer Arbeit fertig und die Kinderarztpraxen geschlossen sind.

Ein Teil der Eltern berichtet auch, dass sie wegen des Kinderund Hausärztemangels während mehrerer Tage keinen Termin bekommen. Sie sehen den Notfall als einzigen Ausweg, obwohl es dem Kind nicht so schlecht geht. Egal, wie ernsthaft die Erkrankung ist, egal, wie viele Kinder im Wartezimmer sind: Wir weisen niemanden ab. Auch über Weihnachten und Neujahr haben wir zum Glück für alle unsere Patien­ tinnen und Patienten ein Bett gefunden und mussten niemanden in ein anderes Spital schicken. Manchmal war einfach die Wartezeit ein bisschen länger.

Auf dem Notfall werden die Kinder zuerst von Notfallpflegeexperten erstbeurteilt. Sie entscheiden dabei, wie dringend ein Kind von einem Arzt behandelt werden muss. Bei dieser sogenannten Triage unterscheiden wir fünf Gruppen: Eine Behandlung ist sofort nötig, innert zehn Minuten, innert 30 Minu­ ten, innert 60 Minuten oder innert zwei Stunden. Oft ist es für die Eltern auch schwierig zu beurteilen, wie schlecht es einem Kind wirklich geht, da sich Kinder noch nicht so gut ausdrücken können. Nicht selten kommt es vor, dass ein Kind zu Hause starke Symptome wie hohes Fieber oder Schmerzen hat. Bei uns im Wartezimmer steht ein grosses Aquarium. Wir haben auch schon beobachtet, dass ein Kind vor lauter Staunen seine Schmerzen im Bein vergessen und sich wieder völlig normal bewegt hat. Dann wissen wir: So schlimm kann es nicht sein.

Viele Eltern sehen den Notfall als einzigen Ausweg, obwohl es dem Kind gar nicht so schlecht gehe, sagt Patrick Haberstich.

Patrick Haberstich (47) arbeitet seit rund 15 Jahren als Kinderarzt und leitet seit fünf Jahren den Kindernotfall im Kantonsspital Aarau.

An einem normalen Tag warten Kinder mit Bagatellen auch einmal mehrere Stunden, bis sie behandelt werden. Trotz der vielen Eltern und kranken Kinder kippt die Stimmung unter den Wartenden jedoch nur selten. Meistens verstehen die wartenden Eltern, dass es anderen Kindern noch schlechter geht. Und wenn die Emotionen trotzdem einmal Überhand nehmen, lassen sich die Besorgten meistens mit Worten beruhigen. Wir haben zwar einen Notfallknopf, mit dem wir das Sicherheitspersonal rufen können, aber den mussten wir schon lange nicht mehr benutzen.

Die hohe Auslastung ist für uns als Team anspruchsvoll und auch anstrengend. Aber ich bin überrascht und zugleich stolz, wie gut wir diese Zeiten meistern.

Und das können Eltern tun, bevor sie mit ihrem Kind auf den Notfall gehen: www.migmag.ch/kindernotfall

This article is from: