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Zurück in die Schule

Seit der Pandemie schwänzen mehr Kinder. Pflegefachfrau Tanja Dobler hilft

Familien und Kindern, die nicht mehr zur Schule gehen wollen. Und setzt dabei auch auf Hund Sacharjas.

Sacharjas, der weisse Malteserhund mit gelocktem Fell, trippelt aufgeregt im Büro herum, schiebt mit der Nase einen Ball vor sich her. Tanja Dobler (38) beobachtet ihren «besten Helfer» dabei. In der Raummitte steht ein Töggelikasten. An den Wänden hängen pinke und türkise Postkarten mit Sprüchen wie «Pubertät ist, wenn Eltern plötzlich schwierig werden». Hier ist die «Einsatzzentrale» von Doblers psychiatrischer Spitex «ToDo», die vorab im Zürcher Oberland, Tösstal und Winterthur aktiv ist.

Seit der Pandemie erhält Dobler, diplomierte Pflegefachfrau mit Schwerpunkt Psychiatrie, sehr viele Anfragen von verzweifelten Eltern. Grund: Kinder möchten nicht mehr in den Unterricht gehen. Als die Schulen für mehrere Wochen zublieben, hätten die Kinder gemerkt, dass sie sich gewissen Problemen nicht stellen müssen, wenn sie sich nicht physisch im Unterricht aufhalten. «Die Gründe fürs Fernbleiben sind divers, die Liste schier endlos lang», sagt Dobler. «Die Kinder begehren gegen Regeln auf, sind überfordert, werden von der Klasse oder einzelnen Schülern gemobbt, sind überfordert von fremden oder eigenen Ansprüchen, leiden an sozialen Phobien und Ängsten. So unterschiedlich fühlen sich Kids und Teens, die morgens – oft mit Kopfoder Bauchschmerzen – nicht zur Schule gehen wollen oder sich unentschuldigt draussen herumtreiben.»

Alle Formen der Abwesenheit vom Unterricht werden unter dem Oberbegriff Schulabsentismus zusammengefasst. Dazu gehören Schulangst oder -verweigerung sowie weitere sogenannt schuldistanzierte Verhaltensweisen: Nichterscheinen, Zuspätkommen oder vorzeitiges Verlassen einzelner Unterrichtsstunden.

Holzschutzengel und Murmeln helfen

«Die Ursachen für Schulabsentismus sind komplex, jeder Fall muss individuell betrachtet werden», sagt Tanja Dobler. Eine gängige Methode, die Kinder wieder an die Schule heranzuführen, ist sogenanntes Expo-Training. Dabei «übt» sie den Schulweg.

Oft helfen Hunde wie Sacharjas da- bei, sie lenken von der Angst ab. Auch beliebt: die hölzernen Schutzengel, die sie Jüngeren mitgibt. «Es sollen Begleiter sein, die den Kids durch den Tag helfen, sie spüren lassen, dass sie nicht alleine sind.»

Auch Murmeln im Hosensack helfen: «Werden Kinder im Unterricht nervös, können sie damit spielen. Das lenkt ab.»

Wichtig sei es, dass man eine klare Abgrenzung zum Schulschwänzen mache. «Wenn ein Kind mal einen Nachmittag die Schule schwänzt, weil es lieber mit Freundinnen shoppen gehen will, dann ist das nicht weiter schlimm. Das gehört sogar irgendwie dazu», sagt Tanja Dobler. Wenn sich der Unwille, zur Schule zu gehen, aber über einen längeren Zeitraum zeigt, sollten die Eltern handeln. «Spätestens nach zwei Wochen muss das Problem angesprochen werden.»

In der Oberstufe schwänzt die Hälfte Aktuelle Zahlen zu schulischen Absenzen in der Schweiz gibts keine. Vor gut zehn Jahren stellte Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm in einer Studie fest, dass jedes zweite Kind in der Oberstufe der Schule hin und wieder unentschuldigt fernblieb. Die Pisa-Studie von 2015 zeigte, dass zehn Prozent der Befragten in den zwei Wochen vor der Befragung mindestens einmal geschwänzt hatten.

Eigentlich hatte Tanja Dobler nicht vor, sich auf Jugendliche zu spezialisieren. Nach der Ausbildung arbeitete die Zürcherin in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich mit Kindern und Jugendlichen, kündigte dann aber. «Ich war frustriert. Viele Kinder landeten nach kurzer Zeit wieder bei uns, weil draussen das Betreuungsnetzwerk nicht funktionierte.» Oft fehlte das Bindeglied zwischen Klinik,

Schule und Familie. 2019 machte sich Dobler als freischaffende Pflegefachfrau selbständig. Seit Anfang Jahr führt sie ihre psychiatrische Spitex als Firma mit sechs Angestellten. «Ich bin eine Macherin und habe das Gefühl, dass ich so am meisten bewirken kann. Bei Schulabsentismus braucht es eine enge Zusammenarbeit von Eltern, Schule und weiteren Institutionen, beispielsweise uns, mit dem Ziel, das Kind so rasch als möglich wieder in die Schule zurückführen.»

Mit Druck kommt man nicht weiter Sollten die Eltern befürchten, dass sich ein Problem mit Schulabsentismus abzeichnen könnte, solle man die Kinder nach einer Woche mal fragen, ob alles okay sei. «Am besten beiläufig, beim Kochen oder bei einem Spaziergang.» Wichtig sei es auch, dass man nicht vorwurfsvoll frage, warum das Kind nicht mehr in die Schule gehen wolle. «Mit Druck kommt man bei diesem Problem nicht weiter. Man darf auch das Kind nicht in die Schule zerren, im Glauben, dass, wenn es dann mal da sei, es dann schon gut komme.» Das sei oft der erste Impuls der Eltern. Viel wichtiger sei es, dass man Hilfe anbietet, etwa Gespräche mit einer Psychologin. So kommen dann Unterstützungsangebote wie die der psychiatrischen Spitex «ToDo» von Tanja Dobler ins Spiel. Wir analysieren die Situation und stellen einen Aktionsplan zusammen, um das Kind möglichst schnell wieder zu befähigen, in die Schule zu gehen. Wir kommen so näher an die Kids ran, gehen auch zu Hause vorbei und schauen, wie die Situation dort ist.» Zudem bietet «ToDo» Elterncoaching an, damit diese ihr Kind bestmöglich unterstützen können.

Es sei wichtig, dass unsere Gesellschaft anerkenne, dass die Kinder zunehmend unter Druck geraten. «Wir haben eine nie da gewesene Pandemie hinter uns, es herrscht Krieg in Europa, Angst um einen Mangel an Strom, und der Leistungsdruck steigt und steigt.» Deswegen sei es für die Eltern wichtig, hinzuhören und mit dem Nachwuchs stets im Dialog zu sein. «Wir reden viel zu oft über unsere Kinder statt mit ihnen.» MM

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