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Unterwegs mit dem «Vehdokter»
Wenn die Kuh eine schwere Geburt hatte oder ein Hengst kastriert werden muss, kommt der Grosstierarzt.
Mit Daniel Weibel auf Krankenvisite im Emmental.
Text: Simon Koechlin Bilder: Beat Schweizer
Varinos Glieder werden schwer. Immer tiefer sinkt der Kopf des einjährigen Freiberger-Hengsts. Dann knickt er ein und fällt seitwärts auf die noch teilweise schneebedeckte Weide mit Weitblick übers Emmental. Daniel Weibel hält das Pferd fest am Halfter, damit es sich beim Sturz nicht den Kopf anstösst. Als es auf der Seite liegt, legt er ihm ein Tuch über die Augen – und macht sich an die Arbeit.
Zwanzig Minuten Zeit hat der 55-jährige Tierarzt nun – so lange wirkt das Betäubungsmittel, das er Varino gespritzt hat. Varino ist der erste der beiden jungen Hengste, die Weibel und seine Mitarbeiterin Yolanda Palmer hier kastrieren. Ihre Besitzer wollen nicht mit ihnen züchten. Und unkastriert müssten die beiden ihr Leben getrennt von der vierköpfigen Herde verbringen.
Zuerst wird Varinos Genitalbereich desinfiziert. Dann setzt Weibel zwei feine Schnitte in den Hodensack und zieht die beiden Hoden heraus. Einen nach dem anderen bindet er ab und schneidet sie weg. Der Fotograf verzieht das Gesicht. Aber
Weibel relativiert. Der Eingriff sei für die Pferde absolut schmerzfrei, sagt er, nachdem beide Hengste als Wallach aus der Narkose erwacht und wieder auf den Beinen sind. «Sie werden die Folgen des Eingriffs zwei, drei Wochen spüren – aber es ist für sie wie eine andere Verletzung.»
Notfalldienst für 5000 Rinder
Daniel Weibel übt einen Beruf aus, den manch ein Städter nur aus Gotthelf-Verfilmungen kennt: Er ist Grosstierarzt. Oder «Vehdokter», wie die Bauern im Emmental sagen. Seit 25 Jahren führt er eine Praxis in Lauperswil BE, Nachbargemeinde von Langnau. Rund um die Moosegg betreut er ungefähr 400 Kunden – per Stallvisite auf deren Hof. «Es sind vor allem Kleinbauern mit total vielleicht 5000 Rindern», sagt Weibel. Neben den Kühen behandelt er Pferde, Schafe, Ziegen, Schweine, Lamas und Alpakas.
Weibels Arbeitstag beginnt morgens um 7 Uhr. Bis 8 Uhr buchen Bauern und Pferdehalterinnen telefonisch einen
Problem nach der Geburt: Grosstierarzt Daniel Weibel mit der Kuh Jamira
Termin. Dann werden die Touren im Team verteilt. Weibel führt die Praxis gemeinsam mit einem Kollegen, unterstützt werden sie von zwei Tierärztinnen in Teilzeit sowie Büro- und Labormitarbeiterinnen. «Allein geht es heute nicht mehr», sagt Weibel. Denn zur Praxis gehört auch ein Notfalldienst – ein Viehdoktor muss rund um die Uhr auf Abruf sein.
Am heutigen Vormittag hat Weibel vier Termine. Bereits vor der Kastration besucht er eine Kuh, die bei der Geburt Mühe hatte. Der Bauer erzählt: Es kam nur ein Teil der Nachgeburt heraus. Bleibt der Rest drin, beginnt er zu faulen und kann Infektionen verursachen. Weibel schaut sich das Tier an. Er streift sich einen Plastikhandschuh über den rechten Arm, greift tief in die Kuh und zieht einen blutigen Klumpen heraus. Dann legt er dem Tier Antibiotika-Stäbe in den Uterus, die sich in den nächsten Tagen auflösen und Infektionen verhindern werden. «Ein, zwei Wochen solltest du ein Auge auf sie haben», rät er dem Bauern, «falls sie Fieber bekommt, ruf mich an!»
Ein Kratzen auf den Bronchien Der zweite Patient des Morgens ist das Islandpferd Primus. Seine Besitzerin befürchtet, dass es an einem Herzproblem leidet. Weibel hört sich die Krankengeschichte des Tiers an, untersucht den Nasenausfluss, hält
Primus das Stethoskop an die Brust und lauscht konzentriert. «Das Herz klingt gut», sagt er. «Die Lungen sind sauber, aber auf den Bronchien höre ich ein Kratzen.» Möglicherweise reagiere Primus allergisch auf Staub. Weibel geht zu seinem Auto, das vollgestopft ist mit medizinischen Utensilien und Medikamenten. Er zieht eine Spritze mit Entzündungshemmer auf und injiziert sie Primus.
Für Weibel ist die Arbeit mit Landwirten und Pferdehalterinnen ein Traumberuf. Er habe in seinen ersten Jahren als Tierarzt auch Kleintiere behandelt, erzählt er. Oft sei es für ihn schwierig gewesen, aus den Besitzern wichtige Informationen herauszukitzeln. «Bei Bauern ist das anders, hier arbeiten wir mit Tierhaltungsprofis zusammen.» Das bedeute auch, dass die Erwartungen an den Tierarzt gross seien. «Aber es ist schön, mit den Haltern auf Augenhöhe zu diskutieren.»




Trotzdem herrscht ein Mangel an Grosstierärzten. Ungefähr
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Neben Kühen, Schafen oder Lamas behandelt Daniel Weibel oft Pferde: Auf den Bildern in der Mitte muss ein Hengst kastriert werden. Rechts das Islandpferd mit Verdacht auf Herzpprobleme.
170 Studienplätze bieten die Vetsuisse-Fakultäten der Universitäten Zürich und Bern pro Jahr an. Viele Absolventinnen –85 Prozent sind Frauen – bevorzugen aber eine Anstellung in der Forschung, in Veterinärämtern oder bei Verbänden. Und von jenen, die die Praxis wählen, entscheiden sich die meisten für die Kleintiermedizin. Aus Mangel an Alternativen hat Weibel kürzlich einen jungen griechischen Tierarzt als Praktikanten eingestellt. «Jeweils am Morgen arbeitet er mit, nachmittags lernt er Deutsch», sagt er. Das Ziel sei es, ihn so zu fördern, dass er die hiesige Zulassung als Tierarzt bekomme.

Nach der Pferdekastration fährt Weibel zur letzten Station des Morgens, auf einen Milchkuhhof. Es ist ein Routinetermin. Bei einigen Bauern führt der Tierarzt alle zwei Wochen eine Bestandesbetreuung durch, bei der die Gesundheit der Herde vorbeugend kontrolliert wird. Der Bauer begrüsst Weibel mit einer Liste in der Hand. Fein säuberlich hat er darauf die wichtigsten Daten seiner Tiere notiert: Wann wurde welche Kuh stierig, gedeckt oder trockengestellt, also nicht mehr gemolken?

Freud und Leid des Doktors Wieder zieht sich der Tierarzt einen Handschuh über den Arm und langt in die erste Kuh. Sie heisst Gaya und sollte trächtig sein. Doch Weibel schüttelt den Kopf. «Sie hat es verloren», sagt er. Bei Odessa sieht es besser aus. Sie trägt einen ungefähr einmonatigen Embryo in sich. Wenn der Viehdoktor kommt, liegen Freud und Leid nahe beieinander. MM
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