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«Solche Szenen habe ich noch nie gesehen»
Raphaël Niederhauser ist freiwilliger Retter beim Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe.
Der Migros-Mitarbeiter war vor Kurzem in der Türkei, wo er elf Erdbebenopfer – darunter zwei Babys – aus den Trümmern holen konnte.
Text: Pierre Wuthrich
Sie sind nur wenige Stunden nach dem heftigen Erdbeben in der Türkei angekommen. Wie war die Situation vor Ort? Wir waren in Antakya, wo sich das Epizentrum befand. Wir alle waren vom Ausmass der Katastrophe überrascht: Alles ist zerstört, und die wenigen Gebäude, die noch stehen, sind unbewohnbar. Dies war mein dritter Einsatz als Retter, aber solche Szenen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Die Menschen schlafen in Autos und zünden auf der Strasse Feuer an – die Nächte sind mit bis zu minus acht Grad sehr kalt.

Wie sah Ihre Arbeit konkret aus?
Wir Schweizer waren das erste Helferteam vor Ort. Wir begannen damit, verschiedene Zonen zu definieren, in denen wir unsere Ausrüstung lagern und von denen aus wir unsere Suche nach Überlebenden starten konnten. Da es sehr schnell gehen musste, arbeiteten wir gleichzeitig mit Hunden, Kameras und Sonden, um die Überlebenden aufzuspüren. Wir baten die Familien, die am Zonenrand warteten, keinen Lärm zu machen. Sofort wich ein enormes Stimmengewirr einer beeindruckenden Totenstille. Sobald wir eine Spur von Leben entdeckten, begannen wir, Stollen zu graben. Es dauerte jedes Mal mehrere Stunden, um einen Menschen zu retten.




Wie erlebten Sie diese Momente der Rettung?
Das sind wunderbare Momente, für die wir jahrelang trainiert haben. In einer Woche in der Türkei konnten wir elf Menschen retten, darunter zwei Babys, die vielleicht vier oder fünf Monate alt waren. Die Euphorie hält jedoch nie lange an: Sobald man sich umdreht, sieht man die nächste Aufgabe.
Und nicht alle können gerettet werden …
Unter den Trümmern sieht man viele schreckliche Dinge. Ein sehr trauriger Moment war, als ich eine Person entdeckte, mit der ich sprechen konnte. Ich gab ihr auch Wasser, wusste aber sofort, dass es unmöglich sein würde, sie da rauszuholen. Ihr Bein war unter einer Steinplatte völlig zerquetscht. Wir versuchten noch, es zu amputieren, aber sie starb. Es war dann auch unsere Aufgabe, mit einem Dolmetscher zu den
Angehörigen zu gehen und ihnen die Nachricht zu überbringen.
Verfolgen diese Szenen Sie bis nach Hause?
Einige Bilder werden mir für immer in Erinnerung bleiben. Ich denke jedoch, dass wir so schnell wie möglich und so gut wie möglich gearbeitet haben. Vor Ort hatten wir psychologische Hilfe, und hier in der Schweiz spreche ich mit meiner Freundin und meinen Verwandten darüber. Das hilft mir sehr. Solche Katastrophen lassen mich auch meine eigenen Probleme relativieren und ermöglichen es mir paradoxerweise, in meinem Leben besser voranzukommen.
Hatten Sie vor Ort Angst? Während unserer Rettungswoche haben wir Hunderte von Nachbeben gespürt. Die anwesenden Ingenieure zeigten uns, welche Häuser zu instabil waren und wo wir nicht eingreifen konnten. Aber in den anderen Häusern, wo man auf dem Bauch in einem Behelfsstollen mit einem Durchmesser von 30 bis 40 Zentimetern liegt, denkt man jeden Moment an das Risiko, das man eingeht. Wenn es wieder ein Erdbeben der Stärke 5,5 gäbe, was natürlich niemand vorhersehen kann, wären unsere Überlebenschancen sehr gering.

Sie arbeiten bei der Migros und mussten Ihre Arbeit sofort abbrechen. Ist das kein Problem? Bei meiner Anstellung wurde meine Tätigkeit als Retter angesprochen, und die Migros Neuenburg-Freiburg hatte keine Einwände. Ein Kollege konnte mich kurzfristig ersetzen, da ich nach dem Aufruf des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe innerhalb einer Stunde abgereist bin. Meine Ausrüstung ist immer bereit. Ich habe nur geduscht und mich rasiert –zwei Dinge, die man vor Ort kaum machen kann. MM
Links: Vor Ort kommen auch Suchhunde zum Einsatz.
Unten: Bei der Sicherung eines Behelfsstollens begeben sich die Retter selbst in Lebensgefahr.
Zur Person
Raphaël Niederhauser ist seit 1999 freiwilliges Mitglied des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SKH). Zusammen mit 87 weiteren Schweizer Rettungskräften reiste er kürzlich in die Türkei, um Überlebende der Erdbeben vom 6. Februar zu finden. Wenn er nicht im Einsatz ist, arbeitet der 47-Jährige als Wartungstechniker bei der Migros Neuenburg-Freiburg. Niederhauser stammt aus La Neuveville BE und lebt mit seiner Partnerin in Ins BE