ENOUGH 02: LOVE

Page 54

MIND rumtuschelt. Christa, ich gebe dir nachher mal ein paar Vitamine, damit deine Erkältung nicht noch schlimmer wird.“ Ich: „Ich habe mir vorhin Tee geholt, wollte keine Lungenentzündung riskieren. Daher geht es mir schon ein bisschen besser.“ Jutta: „Gleich besorgen wir vom Markt noch Zitronen zum Ausquetschen … Rainer: „Mich überrascht nicht, was du jetzt hier wieder abziehst. Du kannst dich doch einfach mal bewegen.“ Jutta: „Ich habe so eine Wut, dass ich am liebsten ein Brett nähme, um es dir und Brigitte über den Kopf zu hauen. Dass ich das nicht tue, ist schon eine Bewegung.“ Rainer: „Ja, genau …“ Jutta: „Die Frage ist: Warum bewege ich mich nicht woandershin?“ Rainer: „Genau, du führst seit Jahrzehnten ein Leben mit deiner Schwester, zusammen essen und Schuhe schnüren und … dein Krebs signalisiert aber etwas anderes: dass es dir ernst ist, dass du etwas verändern willst, der Krebs ist also widervernünftig, oder?“ Jutta: „Das klingt so scheiße. Den Krebs hast du mir wirklich eingebrockt, das weiß ich ganz genau.“ Rainer: „Der Krebs ist aus deiner Hoffnung auf ein anderes Leben entstanden.“ Jutta: „Nein, weil du mich so entsetzlich verlassen hast. Und dich das auch nicht im Geringsten gekratzt hat, was du mir da angetan hast. Ich bin deshalb so böse, das ist einfach schrecklich.“ Ich: „Böse, böse, böse …“ Jutta: „Ich habe keinen Fatz Liebe in mir. Ich könnte euch auf den Mond schießen.“ Der alte Mann und Rainer scheinen um die Liebe desselben Meisters, die höchste Liebe, zu wissen. Die höchste? Sie schauen sich im Innenhof des Aschrams in die Augen und Tränen fließen. Auch ich muss weinen. Das Leben ist in einer eigenartigen Schwebe, so scheint mir, alles hinter der täglichen Gewalt ständig in liebender Bewegung auf etwas Eigentliches hin. So etwas wie ein Nichts? Meine Unsicherheit auf diesem mühsamen Weg ins Unbekannte ist also realer als die behauptete Sicherheit auf dem Trampelpfad, mit dem ich mich noch immer häufig identifiziere? Im Haldiram ist es wohl immer voll, hoher Umsatz, du isst in dieser Fastfood-Kette aus Plastikgeschirr, aber kein verkochtes altes Zeug. Besonders gut für empfindliche westliche Mägen. Abends fällt mein Mail-Account im Hotel aus und ich gerate in Panik. Keine Mails, weder raus noch rein. Verdammt. Was ist los? Mit meinem Netbook renne ich von Zimmer zu Zimmer, zuletzt zu den Jungs eine Etage tiefer. Vorerst ist keine Lösung in Sicht. Ausfallende Technik verursacht bei mir leicht einen depressiven Anfall: Ich kriege die verdammte Welt nicht hin, ich kriege mich nicht hin! Loser! Wie gehetzt versuche ich, das Gerät wieder zum Laufen zu kriegen und alles wird nur immer schlimmer. Schließlich gebe ich auf und tröste mich mit einem herrlichen Abendessen: Papaya, Orangen, getrocknete Aprikosen, Physalis, Cashews, Pistazien, Mango, Banane, grüne und blaue Rosinen, Mangostan, Granatapfel für alle. Wir schwelgen. Schreiben, Aufladen der Geräte, duschen, schlafen. Schnarchen irgendwann. Und Lüfte, wegen des späten Frucht-Diners. In der Altstadt: übereinandergeschichtete, nein, geklebte, dann in der Luft verankerte Bauteile, alte wie neue, die sich als Lehm, Marmor oder Beton miteinander anfreunden mussten, wie es den erfinderischen Maurern gerade passte. Ein paar Knäuel Kabel wurden irgendwie mehrfach und im Kreuzstich in die Richtung der Dächer geworfen, ich vermute, vom Monsun unterstützt, und dann hat so ein wilder Typ mit eng anliegendem schwarzen Turbanstrumpf und flackerndem Blick

die Kabelenden mit seinen spitzen Zähnen zusammengebissen. Pfuitt! Und schon hatten sie Strom, diese Wahnsinnigen, die hier in den Irgendwie-Häusern wohnen. Wir verschwinden in eine enge, etwa drei Meter breite Seitengasse, weg vom Boulevard mit seinen Müllhaufen. Ich habe den Abfall um Chandni Chowk genau gesehen: Dal- und Gemüsereste, deren sich nicht einmal eine heilige Kuh oder ein räudiger Hund erbarmt hatte, zwischen verkohlten Gummireifenstücken und zertretenen Gebetsblumen, verrosteten Eisenteilen und verklebtem Zeitungspapier. Die Gasse durch den alten Basar ist so schmal, dass wir hintereinanderlaufen müssen. Moped-Artisten und Handkarren, übervoll mit Granatäpfeln, Blumenketten und jeder Sorte Bananen. Goldschmuck neben Elektroschrott. Es duftet nach Weihrauch, Zimt, Seife, verbranntem Plastikmüll und schweren Lilien, Kerosin und Rosenwasser. Blass lehnt sich Brigitte in einen Hauseingang, hält sich den Schal vor die Nase. Duft oder Gestank, das ist die Frage. Atemlos drängelt es hinter und vor uns. Ich springe zur Seite, stürze fast, erwische ein Stück Mauer, halte mich fest. Überhaupt: Immerzu hupt oder klingelt auf indischen Straßen irgendein Gefährt. Unaufhörlich, nervig ohne Ende, aber offenbar zu aller Menschen Vergnügen. Aus der alten Körper-Matrix führt der Weg zunehmend in etwas Ungewisses, ein unendlicher, fließender Übergang. Der Styx als Wasser des Grauens und der Schönheit. Jutta stolpert fast über eine sterbende Ratte, die Menschen starren uns unverwandt an, selten scheinen in diesen verwackelten alten Mauern Europäer aufzutauchen. Brigitte schaut gepanikt, sie könnte kotzen, sagt sie und will nur noch raus aus dieser Hölle. Sie ist blass und verzieht gequält ihr Gesicht. Hier sei es schmutzig und hässlich. Jutta wirkt eher munter, fotografiert, beobachtet. Auch mir geht es gut, ich find’s wunderschön, aufregend, lebendig, ich fühle mich richtiger, irgendwie entfesselt auf dieser Nachtmeerfahrt, gleichzeitig fröhlich schwebend, obwohl mir die Beine langsam sehr weh tun. Ich streichle noch hastig das zarte Maul einer weißen (heiligen) Kuh am Straßenrand und schon stehe ich gerade mal auf den Zehen zwischen hin- und herschwankenden Menschen in einer vollgestopften U-Bahn, gebe beim Umsteigen jeden Halt auf und mich dieser treibenden Masse hin, mit ihnen zuversichtlich schubsend, quetschend, um beim nächsten Halt, meine verlorenen Leute suchend, an die rettende Oberfläche des unterstädtischen Molochs zu hetzen. Endlich oben frische Luft schnappen, wenn auch versetzt mit scharfem Smog. Ihr könnt euch vorstellen, wie wunderbar beruhigend mir nach solchen körpernahen Ausflügen mein weiches Bett erscheint. Vorher aber noch: lauwarmes Duschen, frische Früchte usw. Jutta: „Nicht mein Krebs – dass du schlafen kannst, ist unser Hauptthema.“ Brigitte: „Das ist auch wichtig!“ Jutta: „Aber dass ich vor Schmerzen keinen Schlaf kriege, kratzt keine Sau. Guck nicht rum, sondern besorg mir mal ein Bügeleisen. Dafür bist du mit, um mich zu unterstützen. Bisher geht es nur darum, dass du gepflegt wirst. Aber ich bin die Kranke und ich habe dich mitgenommen, weil ich jemanden brauche, der mich auffängt.“ Brigitte: „Der dir ein Bügeleisen besorgt.“ Jutta: „Es ist hier alles furchtbar und schön und schrecklich zugleich. Rainer hat Durchfall, und Gisela meldet sich am Smartphone aus Kalifornien: Aha, dann steckt ihr euch vermutlich an.“ Jutta: „Nee, überhaupt nicht.“ Brigitte: „Wir essen ja keine Krümel von einem indischen Boden vor ei-

54


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.