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EXCLUSIVE Billy Gilman: „Ich bin bereits für alles, was kommt“

„Ich bin bereit für alles, was kommt“ Noch bevor Billy Gilman ein Teenager war, räumte er Musikpreise ab und sang für US-Präsidenten. Der Song „One Voice“ wurde zum Superhit. Dann: Stimmbruch, Zukunftsangst, Outing auf YouTube! In Enough spricht der heute 27-Jährige exklusiv über seine große Liebe, das Comeback nach eigenen Regeln und Liza Minnellis Hochzeit

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Billy, du bist in einem Dorf mit rund 1500 Einwohnern aufgewachsen. Mit fünf schriebst du „Now starring: Billy Gilman“ auf die frostige Scheibe einer Supermarkt-Gefriertruhe. Woher kam dieser Traum von einer Gesangskarriere? Ehrlich gesagt, das weiß ich selbst nicht. Wir leben bis heute auf einer 24 Hektar großen Pferdefarm. Meine Mutter ritt früher Turniere, mein Vater arbeitete im Handwerksbetrieb seiner Schwiegereltern und mein Bruder will auf die Polizeischule gehen. Eine Show-Familie sind wir also defi nitiv nicht. Trotzdem kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht gesungen hätte. Schon mit 18 Monaten habe ich in meinem Hochstuhl die Titelmelodie von der Fernsehshow „Jeopardy“ mitkrakeelt. Wobei sich meine Karriere im Nachhinein geplanter anhört als sie war. Es kam einfach eines zum anderen: Ich ging zur Schule und wurde in den Chor aufgenommen, bekam dort einige Solopartien, dann ganze Songs. Mit sieben trat ich erstmals öffentlich auf, mit neun entdeckte mich der Musiker Ray Benson, und die Medien wurden allmählich aufmerksam. In Hope Valley, Rhode Island, wo ich herkomme, hat das alles niemanden überrascht. Am wenigsten mich. Musik begleitet mein ganzes Leben und hat mir sehr viele Türen geöffnet. Einen Plan B hatte ich nie.

Wie wichtig war der Glaube in deiner Kindheit – und wie siehst du das heute?

Die Religion war immer präsent. Vor dem Essen zu beten und jeden Sonntag zur Kirche zu gehen, das waren einfach Aktivitäten, die man mit der Familie zusammen unternommen hat. Natürlich habe ich auch beim Krippenspiel mitgewirkt. Mein Bruder und ich wurden nach einer einfachen Regel erzogen: Du darfst nichts mit böser Absicht tun, musst andere respektieren, bescheiden bleiben und sollst andere nicht bewerten. Es gibt nämlich nur einen Richter. Jetzt würde ich sagen: Ja, ich glaube an Gott, bin aber ganz offen, was religiöse Institutionen betrifft.

Wann hast du gemerkt, dass du schwul bist? Das ist total faszinierend für mich: Meinem Unterbewusstsein war das vermutlich schon jahrelang klar, aber ich war so mit der Musik beschäftigt, dass ich mir nie Zeit genommen habe, die Signale zu deuten. Ich stand entweder im Studio hinter einem Mikrofon oder auf einer Bühne, gab Interviews, saß im Tourbus … Nicht falsch verstehen: Mir fehlte nichts, denn daheim blieb ich für Familie und Freunde weiterhin bloß Billy. Ganz gleich, wie viele Millionen Platten ich verkauft hatte. Und im Showbusiness lebte ich meine Liebe zur Musik, zum Singen voll aus. Nur blieb mir nie Zeit, mich meinen tiefsten Gefühlen, meinen in irgendeine entlegene Ecke verdrängten Gedanken zu stellen. Warum ich mir bei den wenigen Dates mit Mädchen beispielsweise immer vorkam, als sei ich auf einem anderen Planeten gelandet und würde eine fremde Spezies treffen. Warum nie mehr draus wurde, und warum ich mir eine Heirat mit einer

Frau nicht so recht vorstellen konnte. Erst so mit Anfang, Mitte 20 dachte ich mehr und mehr darüber nach und kam schließlich auf die für mich einzig logische Antwort: Ich bin schwul. Diese Spätzündung war auch ein Segen, denn so musste ich mich nie verstecken oder quälen, dazu war ich viel zu busy. Vor zweieinhalb Jahren lernte ich dann bei einer Studio-Session einen Sänger kennen, dem ich anschließend auf Instagram folgte. Unter seinen Freunden dort wiederum sah ich einen Typen, bei dessen Anblick mir fast das Herz stehen blieb. Dem musst du wenigstens einmal persönlich „Hallo“ sagen, flüsterte mir eine drängende innere Stimme zu. Und jetzt sind dieser Mann namens Chris und ich schon mehr als zwei Jahre zusammen. Manchmal stehen plötzlich die Sterne günstig, und du siehst deinen Pfad im Leben ganz klar vor dir.

Gab es in deinem Leben früher homosexuelle Vorbilder? Bestimmt waren bei uns in Hope Valley oder der umgebenden Stadt Richmond noch andere Jungs und Mädchen schwul oder lesbisch. Bekannt war nichts. Ich wusste damals nur, dass der Patensohn meiner Mutter mit einem Mann zusammenlebte. Eine Hürde ist dieses Bekenntnis zu sich selbst und vielleicht einem Partner ja noch heute, vor allem in kleineren Gemeinden, wo jeder jeden zu kennen glaubt. Auch ich war nervös, als ich es 2014 meinen Eltern sagte. Nicht so sehr wegen meiner Mutter, die aus einem ganz besonderen Holz und ein sehr liebevoller, mitfühlender Mensch ist. Bei meinem Vater, der recht konservative Wertvorstellungen hat und auch auf die Jagd geht, wurde mir schon mulmiger. Zu Unrecht, sein Herz hat am Schluss triumphiert. Deshalb wollte ich nach meinem Coming-out auch eine Stimme für andere sein. So wie im Jahr 2000, als ich für den Song „There’s a Hero“ ein Musikvideo mit Patienten des St. Jude’s Children’s Research Hospital drehte, um auf ihren Kampf gegen den Krebs hinzuweisen. Wenn heute andere Menschen aus meinem öffentlichen Leben ein wenig Mut schöpfen können, fände ich das toll.

Nimm uns mit in die Nacht vom 19. auf den 20. November 2014, den Tag also, an dem du dein Coming-out-Video ins Netz stelltest. Hast du überhaupt geschlafen?

Billy the (Wunder-)Kid: Über 6 Millionen CDs und Downloads verkaufte Billy Gilman bis heute. Der größte Bestseller: die Grammy-nominierte Single „One Voice“

Was war die größte Angst vor deinem Schritt? Natürlich habe ich überlegt, ob nach dem Outing meine Karriere im Country-Business vorbei sein könnte. Schließlich hatte mir meine langjährige Managerin und Freundin Angela Bacari erzählt, wie viele Nachfragen es in den Monaten und Jahren zuvor rund um meine Sexualität gegeben hatte, wie viele Gerüchte. Da ich meine Gefühlswelt noch nicht so recht durchschaut hatte, hätte ich zwischen geplatzten Auftritten oder Deals und meinem Liebesleben nie eine Parallele gezogen. Ich zweifelte eher an meinem Talent, am richtigen Timing. Wenn die Unsicherheit manchen Leuten unserer Branche also ausgereicht hatte, mich nicht zu buchen, wie würden sie auf mein Geständnis reagieren? Doch immer, wenn ich in solche negativen Gedankenspiralen geriet, erinnerte ich mich an eine Wahrheit, die heute im Social-Media-Zeitalter mehr gilt denn je: Ohne Fans bist du nichts, selbst mit grandiosen Plattenverträgen. Und zu loyalen Unterstützern sollte man besser ehrlich sein. Gerade als Sänger. Wir geben so viel von uns auf der Bühne, legen Emotionen in jede Silbe eines Songs, da merkt das Publikum früher oder später, wenn alles nur Show ist. Am Ende waren alle meine Sorgen völlig unbegründet: Meine treuen Fans zollten mir Respekt und neue Zielgruppen habe ich gleich mit erobert.

„Manchmal stehen plötzlich die Sterne günstig, und du

siehst deinen Pfad im Leben ganz klar vor dir“

Ich habe kein Auge zugemacht. Das Video war seit einer Woche fertig, lag auf meinem Computer-Desktop, ich wusste jedoch nicht, was ich damit anfangen sollte. Einerseits wollte ich die Wahrheit mit meinen Fans teilen, froh darüber, dass wir als Künstler heute direkt mit ihnen kommunizieren können. Früher, zu Beginn meiner Karriere, war das ja nur über zeitlich begrenzte Chats auf AOL oder MSN möglich. Die Fans wollen heute einfach mehr als ein Album oder alle paar Jahre eine Tournee. Sie wollen Teil deines Lebens sein. Doch diesen Mut aufzubringen, mich mit einem Clip von fünf Minuten und 30 Sekunden der ganzen Welt zu stellen, dafür brauchte ich einige Tage. Keine verkaufte Titelgeschichte in einem Klatschblatt, kein TV-Spezial, nur ich, eine Videokamera und die Magie des Internets. Ganz „nackt“. Lustiger Zufall: Mein Country-Kollege Ty Herndon veröffentlichte ebenfalls ein Outing-Video, nur ein paar Stunden vor mir. Ganz ungeplant, mein Ehrenwort. Das war schon verrückt!

Dein Song „Say You Will“ erzählt von den Höhen und Tiefen der Liebe und dem Zusammenhalt eines Paares. Hast du so einen Partner gefunden? Absolut! Was mir an Chris sofort gefi el, war sein unumstößlicher Familiensinn. Ich fi nde, es sagt viel über einen Menschen aus, wie er mit seiner Familie umgeht. Außerdem sind ihm mein Showbiz-Erfolg und Rampenlicht völlig egal. Wenn eine berufliche Chance bei mir wie eine Luftblase zerplatzt, wie das in unserer schnellen, flüchtigen Branche leicht mal passiert, und ich an die Decke gehe oder enttäuscht bin, beruhigt er mich: „Hey, alles halb so wild. Selbst wenn du irgendwann eine Eisbude in Florida aufmachen willst – oder musst – bleibe ich an deiner Seite.“ Egal ob Penthouse oder Strandhütte, er steht wie ein Fels in der Brandung und ist sich unserer Liebe sicher. Punkt. Chris weiß, wer er ist und was er will, kennt seine Ziele und Wünsche. Er arbeitet in der IT-Branche, und obwohl ich nicht alles verstehe, was er da macht, bewundere ich ihn für seine Karriere. Und für seine Geduld mit mir, denn bei Sängern liegen die Emotionen oft dicht unter der Haut, wir sind ganz schön intensive Persönlichkeiten, mit denen man klarkommen

muss. Ich bin extrem kritisch und ständig am Zweifeln. Ich meine, welcher Zwölfjährige weint sich schon nachts in den Schlaf, weil nicht sein Lieblingssong, sondern ein anderer vom Album als Single ausgekoppelt wird? Aus diesem Drama wurde übrigens mein größter Hit: „One Voice“. Wie bei jeder Beziehung, die etwas wert ist, haben auch wir den einen oder anderen Kampf ausgefochten. Doch unser Vertrauen wächst Tag für Tag, was für alle Menschen wichtig ist, besonders aber für jemanden, der prominent ist. Denn mit der Bekanntheit wächst eben auch die Gefahr für Betrug, Neid und Verrat. Nie kannst du sicher sein, ob jemand an dir oder seinen 15 minutes of fame interessiert ist. Ich bin dieses Wagnis trotzdem eingegangen und wurde dafür reich belohnt!

Vor deinem Coming-out hast du eine andere echte Krise gemeistert: den Stimmbruch. Du durftest lange Zeit nicht mehr singen, warst aus den Charts und Medien verschwunden. Wie hast du dich für dein Comeback motiviert?

Singen ist einfach alles, was ich kenne, was ich kann und machen möchte. Doch manchmal muss man das lassen, was man am meisten liebt, um sich nicht selbst zu schaden. So war es bei mir, als ich eines Abends im Tourbus, nach 110 Konzerten nonstop, ein Kratzen im Hals spürte. Erst dachte ich, das ist bloß eine leichte Erkältung oder Überanstrengung. Doch Angela bestand darauf, dass ich mich in einer Klinik durchchecken lasse. Die Ärzte rieten mir wegen des einsetzenden Stimmbruchs dringend, nicht mehr professionell zu singen. Ich könnte mir sonst mein wichtigstes Werkzeug auf ewig ruinieren. Ein schwarzer Tag. Ich musste meine Band und die Crew entlassen, den Bus einmotten. Nach ein paar Wochen stürzte ich mich in die Charity-Arbeit für die Muscular Dystrophy Association. Über die Jahre sammelte ich mit Komiklegende Jerry Lewis über zwei Millionen Dollar für die Erforschung dieser Muskelschwäche-Erkrankung. Gleichzeitig machte ich eine Stimmtherapie. Meine Stimme wurde tiefergelegt und durch behutsames Training wieder aufgebaut. Sie ist heute voller, runder und hat mehr Power als je zuvor. Ein paar Mal fuhr ich inkognito nach Nashville zu Songwriter-Kursen und Jamsessions. Ich wollte nicht mehr nur Country singen, trat in kleinen Clubs auf, um Ausflüge in andere Genres zu machen. Kurz: Ich fi ng ein Stück weit ganz von vorn an. Ich fühle mich bereit für alles, was kommt. Ich schreibe neue Songs, kriege viele Anfragen aus den USA und Europa und trete bei Pride-Events auf, was neu für mich ist.

Über einen Auftritt möchten wir mehr wissen, und zwar den bei der Hochzeit von Liza Minnelli mit David Gest im Jahr 2002. Eine Ehe, die rasch geschieden wurde.

[Lacht] Oh ja, Liza und ich haben einiges zusammen erlebt … Was für eine tolle, liebevolle Frau. Wir trafen uns bei einer Fernsehsendung zur Wiedervereinigung der Jackson Five zum ersten Mal. Wo ich um ein Haar nicht hingegangen wäre, denn

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als eines Morgens um 6 Uhr Michael Jackson bei uns daheim anrief, glaubte ich an einen Witz und legte auf. Glücklicherweise rief er erneut an – und diesmal glaubte ich ihm. Bei der Aufzeichnung, ich sang seinen Hit „Ben“, hatte Liza die Garderobe neben mir. Sie hörte mich Stimmübungen machen, verschiedene Aufwärmtechniken und Tonleitern, dazu Luftbefeuchter, spezielle Tees … Ich bin so besessen von diesen Ritualen wie Céline Dion, mit der ich schon öfter Tipps ausgetauscht habe. Liza war beeindruckt und verpflichtete eine Zeit lang meine Stimmtrainerin, also sahen wir uns oft. Und so landete ich schließlich als Gast und Sänger bei ihrer Hochzeit mit David Gest in New York. Es war bizarr: Michael Jackson war Trauzeuge, David Hasselhoff fi el sturztrunken auf der Toilette zu Boden – und mittendrin ich. Gerade mal 14 Jahre. Einige Wochen später saß ich wieder bei Liza im Apartment, und sie fragte mich: „Billy, was habe ich bloß getan?“

Du hast mal gesagt: „Ich war eine öffentliche Persönlichkeit, ehe ich eine richtige Person war.“ Wie würdest du dich 2016 beschreiben? In ihrer Biografi e, die ich verschlungen habe, schreibt Barbra Streisand, wie lange sie brauchte, um sich ganz zu fühlen. So weit bin ich noch nicht, aber doch meinem Kern viel näher. Früher habe ich alles getan, was man von mir verlangte. Jetzt will ich die Richtung bestimmen und bin bereit, für Dinge zu kämpfen, auf volles Risiko zu gehen. Interview: Siems Luckwaldt

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