ZWF Schwerpunkt Europäische Staatsanwaltschaft

Page 1

SCHWERPUNKT Die Europäische Staatsanwaltschaft Wurzeln und vorläufiges Ergebnis der Ausbildung Arbeitsweise unter Berücksichtigung der Ständigen Kammern Grenzen bei der Ausübung der Zuständigkeit Grenzüberschreitende Zusammenarbeit – Art 31 EUStA-VO Gerichtliche Kontrolle – neue Herausforderungen Einstellungsentscheidungen und Konsequenzen im Rechtsschutz Wirtschaftsstrafrecht Update zur Checkliste zu den Russland-Sanktionen Europastrafrecht Europäischer Haftbefehl und mögliche rechtsstaatliche Defizite Finanzstrafrecht Vollautomatisierte Strafentscheidungen im Finanzstrafrecht? Tagungsbericht zur 26. Finanzstrafrechtlichen Tagung Aus Sicht des Amts für Betrugsbekämpfung Beurteilung der subjektiven Tatseite bei Auslandseinkünften (II) 8. Jahrgang / November 2022 / Nr. 6
Rainer Brandl | Severin Glaser | Robert Kert | Roman Leitner Michael Rohregger | Norbert Schrottmeyer | Mario Schmieder | Norbert Wess

1

Die Europäische Staatsanwaltschaft –Meilenstein für die Strafverfolgung in Europa

Liebe Leserinnen und Leser, am 1. Juni 2021 hat die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) ihre operative Arbeit aufgenommen. Was vor 20 Jahren noch surreal klang, ist damit Realität geworden: eine europäische Behörde übernahm eine zentrale Aufgabe in der Verfolgung von Kriminalstraftaten. Ihre Gründung bedeutete einen Meilenstein in der Entwicklung der Europäischen Union und der grenzüberschreitenden Verfolgung von Straftaten innerhalb der Union. Zuständig ist die EUStA derzeit zwar „nur“ für den eingeschränkten Bereich der Verfolgung von Straftaten, die zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU stehen. Bereits der erste Tätigkeitsbericht hat aber gezeigt, dass der EUStA erhebliche Bedeutung zukommt: Es wurden von ihr in den ersten sieben Monaten 576 Ermittlungsverfahren eingeleitet, in denen der Schaden für den EU-Haushalt auf 5,4 Mrd € geschätzt wird.1 Monatlich kommen ungefähr 100 neue Fälle hinzu. Es wird damit sichtbar, welche zentrale Rolle die EUStA beim Schutz des EU-Budgets spielt. Aber in diesen Zahlen liegt nur ein Teil der Bedeutung der EUStA für das europäische Strafrecht: Sie könnte ein entscheidender Motor für die weitere Entwicklung des Europäischen Strafrechts und einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung in Europa sein.

Mit der Einrichtung der EUStA geht einher, dass in den nationalen Strafprozessen neben den nationalen Staatsanwaltschaften eine neue (zusätzliche) supranationale Anklagebehörde auftritt, weil es kein europäisches Strafgericht gibt. Für die nationalen Strafrechtsordnungen bedeutet dies, dass eine Behörde in das nationale Strafverfahren eingreift, die nicht mit dem nationalen Strafrechtssystem gewachsen ist, sondern von außen eingreift. Auch wenn die im Mitgliedstaat tätig werdenden Vertreter der EUStA aus den jeweiligen Mitgliedstaaten kommen, vertreten sie doch eine von den nationalen Behörden völlig unabhängige, supranationale Strafverfolgungsbehörde. Eineinhalb Jahre nach der Aufnahme ihrer Tätigkeit und damit nach dem Sammeln der ersten praktischen Erfahrungen ist der EUStA das vorliegende Schwerpunktheft gewidmet. Es soll einen Einblick geben in die Struktur und Arbeitsweise der EUStA, die ersten Erfahrungen in der praktischen Arbeit und die rechtlichen Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit sowohl in der EUStA selbst als auch in den Mitgliedstaaten ergeben.

Organisatorisch weist die EUStA eine zentrale und eine dezentrale (nationale) Ebene auf:

Die zentrale Dienststelle mit Sitz in Luxemburg besteht – neben dem sonstigen Personal – aus der Europäischen Generalstaatsanwältin und ihren Stellvertretern, dem Verwaltungsdirektor, dem Kollegium, dem die Europäische Generalstaatsanwältin vorsitzt und dem je ein Europäischer Staatsanwalt pro Mitgliedstaat angehört, und den Ständigen Kammern, die sich aus zwei Europäischen Staatsanwälten und einem Vorsitzenden (Generalstaatsanwältin oder Europäischer Staatsanwalt) zusammensetzen. Auf der dezentralen Ebene sind die in den Mitgliedstaaten angesiedelten Delegierten Europäischen Staatsanwälte tätig, die Teil der EUStA sind und gleichzeitig die Verbindung zu den nationalen Strafverfolgungssystemen darstellen.

Die EUStA führt Ermittlungen und ergreift Strafverfolgungsmaßnahmen. Mangels europäischer Strafgerichte nimmt sie die Aufgaben der Staatsanwaltschaft vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten bis zum Ende des Verfahrens wahr. Bei den Ermittlungen richtet sich die EUStA primär nach der EUStA-VO2. Ist jedoch eine Frage in der Verordnung nicht geregelt, hat sich die EUStA nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats zu richten (Art 5 Abs 3 EUStA-VO). Die zuständigen nationalen Behörden haben die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen der EUStA zu fördern und aktiv zu unterstützen. Die EUStA ist dabei unabhängig von den Organen der EU und der Mitgliedstaaten und ihre Funktionsträger dürfen von keinen anderen europäischen oder nationalen Einrichtungen Weisungen einholen (Art 6 EUStA-VO).

Die rechtlichen Rahmenbedingungen der EUStA sind geprägt durch ein Zusammenspiel europäischer und nationaler Regelungen. Die EUStA-VO ist zwar in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar, eine Reihe von Bestimmungen richtet sich allerdings an die Mitgliedstaaten und erfordert Regelungen zur Durchführung der Verordnung. Die EUStA-VO selbst enthält nur wenige Verfahrensregelungen und verweist an nicht weniger als 86 Stellen auf das nationale Recht. Nationale Regelungen sind etwa im Zusammenhang mit der Zuständigkeit der EUStA, die sich (auch) nach den nationalen Strafbestimmungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU richtet, bei der Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen ebenso wie beim Rechtsschutz heranzuziehen.

Um die EUStA in das österreichische Prozessrechtssystem einzugliedern, war es daher

2 Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. 10. 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), ABl L 283 vom 31. 10. 2017, S 1.

Editorial 218 6/2022 ZWF
Europäische Staatsanwaltschaft, Jahresbericht 2021 (2022) 10.

notwendig, nationale Regelungen zu erlassen. Dies erfolgte durch das Strafrechtliche EU-Anpassungsgesetz 2021 (StrEU-AG 2021), mit dem ein Bundesgesetz zur Durchführung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA-DG) erlassen und andere Gesetze wie das RStDG und das FinStrG geändert wurden.3 Grundsätzlich hat die EUStA bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach den allgemeinen Vorschriften der StPO vorzugehen und bei den in Art 30 Abs 2 und 3 EUStA-VO genannten Ermittlungsmaßnahmen die Voraussetzungen und Bedingungen für die Anordnung und Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen und für Beweisaufnahmen zu beachten, sofern in der EUStA-VO und im EUStA-DG nichts anderes geregelt ist (§ 1 Abs 2 EUStA-DG). Für das FinStrG wird in §195 Abs 1 Satz 2 FinStrG festgelegt, dass bei Finanzvergehen, für deren Verfolgung die EUStA zuständig ist, die Bestimmungen der EUStA-VO sowie jene des EUStA-DG für das gerichtliche Finanzstrafverfahren gelten.

Dieses Zusammenspiel zwischen unmittelbar anwendbaren europäischen und nationalen Normen bringt Herausforderungen und Schwierigkeiten mit sich, die in der praktischen Arbeit der EUStA und der Gerichte bereits sichtbar geworden sind. Die Beiträge dieses Schwerpunkthefts sollen einen (ersten) Einblick in die Arbeit der EUStA und die rechtlichen Fragestellungen geben. Entsprechend den verschiedenen Ebenen der EUStA sind auch die Autor:innen Vertreter:innen sowohl der europäischen als auch der nationalen Ebene:

Frank Höpfel, der sich von Beginn an mit der Idee einer EUStA und deren Vereinbarkeit mit dem österreichischen Recht befasst hat, geht in seinem Beitrag auf die Wurzeln und die Bedeutung der EUStA für die EU ein. Österreichs Europäische Staatsanwältin Ingrid Maschl-Clausen erklärt die Struktur der EUStA und gibt Einblicke in deren Arbeitsweise mit einem besonderen Blick auf die Arbeit in den Kammern. Ausgehend von ihren Erfahrungen mit diesem Kammernsystem zieht sie einen Vergleich mit dem aktuellen Vorschlag für eine österreichische Bundesstaatsanwaltschaft.

3 BGBl I 2021/94; vgl näher dazu Kert, Die Europäische Staatsanwaltschaft – eine neue Playerin im Wirtschaftsund Finanzstrafrecht, in: Achatz/Brandl/Kert (Hrsg), FS Roman Leitner (2022) 377.

Claudia Angermaier, eine von zwei österreichischen Delegierten Europäischen Staatsanwält:innen, zeigt die Schwierigkeiten auf, die damit verbunden sind, dass sich die Zuständigkeit der EUStA nach der Umsetzungsgesetzgebung in den Mitgliedstaaten richtet. Das führt dazu, dass die EUStA in manchen Staaten für Straftaten zuständig ist, die in anderen Mitgliedstaaten in die Zuständigkeit der nationalen Staatsanwaltschaften fallen.

Bemerkenswert ist, dass das erste Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Bestimmungen der EUStA-VO von einem österreichischen Gericht (OLG Wien) kommt. Es betrifft die Auslegung der Bestimmungen über die gegenseitige Zusammenarbeit zwischen den an der EUStA teilnehmenden Mitgliedstaaten (Art31 EUStA-VO). Judith Herrnfeld, als Legistin im Justizministerium sowohl in die Verhandlungen der EUStA-VO als auch in die Ausarbeitung des EUStA-DG involviert, vergleicht in ihrem Beitrag das System des Art 31 EUStAVO mit jenem der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und zeigt die Schwierigkeiten des Art 31 EUStA-VO auf. Hans-Holger Herrnfeld, der als zuständiger Referatsleiter im deutschen Bundesministerium für Justiz führend an den Verhandlungen über die EUStA beteiligt war, behandelt den Rechtsschutz gegen Verfahrenshandlungen der EUStA, der primär den nationalen Gerichten übertragen ist, während dem EuGH nur im Rahmen von Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte eine Zuständigkeit zukommt. Damit liegt es primär an den nationalen Gerichten, die EUStA als eine europäische Behörde zu kontrollieren, wodurch die Gerichte zu funktionalen Unionsgerichten werden.

Mit einer speziellen Frage des Rechtsschutzes, nämlich dem gerichtlichen Rechtsschutz in Bezug auf die Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die EUStA, setzt sich Babek Oshidari, Hofrat des OGH und Kommentator der EUStA-VO, auseinander. Die Einstellung des Verfahrens ist eine von wenigen Materien, für die die EUStA-VO eine spezielle Regelung vorsieht; der Rechtsschutz gegen Einstellungsentscheidungen liegt – je nachdem, ob es um die Fehlanwendung nationalen oder europäischen Rechts geht – bei den nationalen Gerichten oder dem EuGH.

219 ZWF 6/2022 Editorial

Wurzeln und vorläufiges Ergebnis der Ausbildung einer Europäischen Staatsanwaltschaft

Als Ergebnis langer Vorarbeiten wurde 2017 die Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. 10. 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) verabschiedet.1 Dieser Schritt war für die Entwicklung des Europastrafrechts von nachgerade historischer Bedeutung. Zu Recht spricht daher Kert2 von einem „ganz wesentlichen Meilenstein in der strafrechtlichen Verfolgung von Betrugstaten, die gegen die finanziellen Interessen der EU gerichtet sind“.

1.Rückblick

Em. o. Univ.-Prof. Dr. Frank Höpfel war bis 2021 als Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Wien, als Strafverteidiger und von 2005 bis 2008 als Ad-litem-Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien tätig.

Um die Stellung der EUStA zu verorten, ist an die Wurzeln des Vorhabens zu deren Installierung zu erinnern. Eine wesentliche Grundlage für die Schaffung der EUStA bestand in den akademischen Arbeiten am im Kreis um Mireille Delmas-Marty (Paris) und John R. Spencer (Cambridge) entwickelten „Corpus Iuris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union“ 3 Dem Thema der Verträglichkeit des Corpus Iuris mit den nationalen Rechten widmete sich in der Folge die um John A.E. Vervaele (Utrecht) erweiterte Gruppe um Delmas-Marty. Zu ihrer mehrbändigen Studie4 konnten wir, wie dort angeführt, aus österreichischer Sicht beitragen. Intensiv befasste sich seit ihrer Gründung nach Österreichs EU-Beitritt im Jahr 1995 die Österreichische Vereinigung für Europäisches Strafrecht mit dem Thema. So bot 2002, als die Europäische Kommission das Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft5 vorgelegt hatte, ein vom Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) unterstützter Workshop Gelegenheit zur Erarbeitung eines kritischen Kommentars und von Schlussfolgerungen, die im Bulletin der verschiedenen Vereinigungen veröffentlicht wurden.6 In einer Reihe von Folgeveranstaltungen gaben Fritz Zeder (BMJ) und András Csúri (Wien) präzisen Einblick in das weitere Werden dieses prominenten europäischen Projekts, das schließlich in

1 ABl L 283 vom 31. 10. 2017, S 1.

2 Kert, Die Europäische Staatsanwaltschaft – eine neue Playerin im Wirtschafts- und Finanzstrafrecht, in: Achatz/Brandl/Kert (Hrsg), FS Roman Leitner (2022) 377 (378).

3 Delmas-Marty (Hrsg), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union (deutsche Übersetzung, 1998); vgl Kert in Achatz/Brandl/Kert, FS Leitner, 377 (378).

4 Höpfel/Kert, National Report of Austria, in DelmasMarty/Vervaele (Hrsg), The Implementation of the Corpus Juris in the Member States II (2000) 1.

5 KOM(2001)0715 endg.

6 Hauptmann/Höpfel/Kathrein, Stellungnahme der Österreichischen Vereinigung für Europäisches Strafrecht usw, AGON Nr 36 und 37/2002 (ohne Seiten).

der genannten VO des Rates vom 12. 10. 2017 gipfelte.7

2.Der Nationalratsbeschluss vom 20.Mai 2021

Die EUStA-VO ist zwar unmittelbar anwendbar, weil sich jedoch einzelne Bestimmungen an die Mitgliedstaaten richten, war es notwendig, Durchführungsbestimmungen in den Mitgliedstaaten zu schaffen. In Österreich hat zu diesem Zweck der Nationalrat am 20. Mai 2021 in einer durchaus kontroversiellen Sitzung das Strafrechtliche EU-Anpassungsgesetz 20218 beschlossen, mit dessen Art 1 das Europäische Staatsanwaltschafts-Durchführungsgesetz (EUStA-DG) kundgemacht wurde. Ein Blick in die Stenografischen Protokolle9 zeigt vor allem: Die überwiegende Meinung bejaht die Berechtigung, die Behörde in ihrer unabhängigen, allein den Kammern der Europäischen Staatsanwaltschaft unterworfenen Stellung dieser Behörde einschließlich der im Inland auftretenden Delegierten Staatsanwält:innen – die damit jeglicher Kontrolle durch das heimische Parlament entzogen sind – als unproblematisch anzuerkennen. Zu Recht wird gerade dieser Gesichtspunkt als wesentliches Momentum auch für den weiteren Verlauf der anhaltenden Diskussion über die Zukunft der österreichischen Staatsanwaltschaften im Allgemeinen angesehen.10

Der Schutz der finanziellen Interessen der Union – dieses grundlegenden Rechtsguts, das überhaupt erst das Funktionieren der Union erlaubt – erschien bislang, also durch seine Ausformung im materiellen Strafrecht11 und durch

7 Zur Entstehungsgeschichte vgl Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht10 (2022) § 10 Rz 21 ff.

8 StrEU-AG 2021, BGBl I 2021/94.

9 StenProt 107. Sitzung NR 27. GP, 43 ff.

10 Herausgegriffen seien hier bloß die Wortmeldungen der Abgeordneten Mag. Prammer und der BMJ Dr. Zadić, LL.M., StenProt 107. Sitzung NR 27. GP, 44 f bzw 48 f. Vgl dazu den Beitrag von Maschl-Clausen, Die Europäische Staatsanwaltschaft, in diesem Heft (S222).

11 Siehe insbesondere §§ 168f, 168g StGB idF Art 6 StrEUAG, BGBl I 2021/94, sowie die Strafdrohungen des FinStrG idF Art 5 StrEU-AG; vgl dazu eingehend den Beitrag von Angermaier, Grenzen bei der Ausübung der Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft, in diesem Heft (S228).

220 6/2022 ZWF
Schwerpunkt Wurzeln und vorläufiges Ergebnis der Ausbildung der EUStA
Schwerpunkt

Wurzeln und vorläufiges Ergebnis der Ausbildung der EUStA

die Einrichtung von OLAF auf der europäischen Ebene, noch nicht ausreichend gewährleistet.12 Vielmehr war es angezeigt, diesen Schutz mit dem neuen Instrument der EUStA abzusichern. Diese Dimension drückt dem Europastrafrecht ein besonderes Siegel auf, zu dessen Einordnung die vorliegende Skizze beitragen will.

Es lässt sogleich an andere Anklagebüros auf internationaler Ebene denken, ohne dass die EUStA wie diese in ein supra- oder internationales Gericht integriert oder einem solchen beigeordnet wäre. Durch die Entwicklung des modernen Völkerstrafrechts ist der deutsche Ausdruck „Staatsanwaltschaft“ seinem überkommenen Sinn13 zweifellos entwachsen. Er schließt nun auch Anklageorgane mit ein, die auf internationaler Ebene agieren und nicht bloß einen Staat vertreten.14

3.Wahrung der Fairness durch die Garantien von Unabhängigkeit und Objektivität

Ob der vielberufene Grundsatz der Waffengleichheit im Strafverfahren gewahrt ist, wird heute im Wesentlichen daran gemessen, ob das Verfahren insgesamt als fair iSd Art 6 EMRK zu beurteilen ist.15 Bei Handlungen eines Organs der EU kann freilich nicht ohne Weiteres die Konvention herangezogen werden, ist doch der beabsichtigte Beitritt der Union (Art 6 Abs2 des 14. ZP zur EMRK) seit dem negativen Gutachten des EuGH aus dem Jahr 201416 aufgehalten. Kraft der europarechtlichen Stellung der EUStA gilt aber der im Kern gleichwertige Art 47 GRC.

Mit der Errichtung der EUStA ist die typische Distanz eines Mitgliedstaats gegenüber der Union und ihren Interessen nicht bloß überbrückt. Der Apparat, mit dem die EUStA ausgestattet ist, könnte auf eine Überkompensierung der möglichen Ablenkung inländischer Strafverfolgungsorgane durch das Tagesgeschäft hinauslaufen. Wird das Gleichgewicht der eingesetzten „Waffen“ nun zu einem irgendwie bedenklichen Grad zulasten der Be-

12 Vgl nur die Präambel der VO, ErwGr 3.

13 Vgl die titelgebende gesetzliche Floskel des Sammelbands von Kohl/Reiter-Zatloukal (Hrsg), „... das Interesse des Staates zu wahren“ (2018).

14 Dazu Höpfel, Zu Stellung und Funktion des Anklägers bei den internationalen Strafgerichten, in Kohl/ReiterZatloukal (Hrsg), „... das Interesse des Staates zu wahren“ (2018) 337. In Verkennung dieser Abstraktion berief sich der Abgeordnete Mag. Stefan in der entscheidenden NR-Sitzung (vgl StenProt 107. Sitzung NR 27.GP, 43 f) auf das tradierte Wort „Staatsanwalt“, um sich gegen die Errichtung einer EUStA zu stemmen. Denn die zur Debatte stehende Beschlussfassung über die RV des StrEU-AG 2021 bedeute nichts anderes als einen Schritt zur Auflösung des Nationalstaats! Diese Sicht der Dinge (ähnlich die dunklen Andeutungen des Abgeordneten Mag. Ragger [StenProt 107. Sitzung NR 27.GP, 91]) wird aber der Komplexität des Europarechts nicht gerecht.

15 Grabenwarter/Pabel, EMRK7 (2021) § 24 Rz 66 ff.

16 EuGH (Plenum), Gutachten nach Art 218 Abs 11 AEUV vom 18. 12. 2014.

schuldigtenrechte eingeschränkt sein? In der oben (Pkt 1.) erwähnten Stellungnahme der Österreichischen Vereinigung für Europäisches Strafrecht zum Grünbuch wurde diese Befürchtung nicht geteilt, insbesondere wurde im Hinblick auf Ermittlungsmaßnahmen, mit denen ein Grundrechtseingriff verbunden ist, kein ernsthaftes Bedenken gesehen.17 Bei innerstaatlichen Fällen scheint in der Tat eine solche Befürchtung nicht am Platz. Einzige Auffälligkeit, die die Gewichte entscheidend verschieben könnte: der Wegfall des Rechtsschutzbeauftragten (§ 13 EUStA-DG). Was allerdings mit Blick auf die zahlreichen transnationalen Fälle – den Kernbereich der Tätigkeit der EUStA – zu Recht besonders problematisiert wird, ist freilich die kaum begrenzte Möglichkeit der Einbeziehung von Ermittlungsergebnissen aus anderen Mitgliedstaaten und eine Zersplitterung des Rechtsschutzes und damit der Verteidigungsrechte, da die EUStA-VO keine einheitlichen Regelungen trifft, sondern diesbezüglich auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verweist.18 Diese Diskussion ist noch nicht abgeschlossen.

Die wiederholte Betonung der Rechtsstaatlichkeit und des Fairnessgebots in der Präambel der Verordnung19 stellt für die Ausübung der Anklägerrolle durch die EUStA samt den Delegierten Staatsanwält:innen eine Vorgabe dar, die nicht leicht zu übergehen ist. Dennoch erscheint gerade aus diesem Blickwinkel das Fehlen von Regelungen über Verfahrensgarantien in der EUStA-VO selbst als ein Defizit auf Seiten des europäischen Gesetzgebers.20

4.Ausblick

Die vorsichtige Formulierung des Titels dieses Beitrags, der von einem „... vorläufige[n] Ergebnis der Ausbildung einer Europäischen Staatsanwaltschaft“ spricht, lässt offen, wohin die Entwicklung gehen wird. Der prozessuale Ansatz, der in der Errichtung der EUStA besteht, lässt vorerst unberührt, wie weit sich das materielle Strafrecht der Mitgliedstaaten harmonisieren lässt. Die dazu bisher vorliegenden Rechtsakte –wie etwa zum Schutz unbarer Zahlungsmittel oder zur Geldwäsche – erfassen das vorerst Machbare. Der strafrechtliche Zugang im Bereich der finanziellen Interessen der Union al-

17 AGON Nr 37/2002, zu Frage 14.

18 Vgl etwa Wahl, The European Public Prosecutor’s Office and the fragmentation of defence rights, in Ligeti/ Antunes/Giuffrida (Hrsg), The European Public Proscutor’s Office at Launch (2020) 85; Esser, § 11 Beschuldigtenrechte, in H.-H. Herrnfeld/Esser (Hrsg), Handbuch Europäische Staatsanwaltschaft (2022) Rz 98 ff.

19 Vgl insbesondere ErwGr 65, 80 und 84 EUStA-VO.

20 Siehe dazu zB Bachmaier Winter, Cross-Border Investigations Under the EPPO Proceedings and the Quest for Balance, in Bachmaier Winter (Hrsg), The European Public Prosecutor’s Office (2018) 117 (132 ff); Illuminati, Protection of Fundamental Rights of the Suspect or Accused in Transnational Proceedings Under the EPPO, in Bachmaier Winter, European Public Prosecutor’s Office, 179.

221 ZWF 6/2022
Schwerpunkt

lein zeigt aber – hier verweist der Verfasser wieder auf Claudia Angermaiers Analyse in diesem Heft –, wie durchaus intrikat die Verbindungen zwischen den Rechtsordnungen auf nationaler Ebene wie zu den supranationalen Regelungen der gegenständlichen Verordnung sein können.

Den gordischen Knoten mit der Schaffung eines begrenzten Stocks an supranational ausgestalteten Strafdelikten zu lösen, stößt nicht bloß auf jene Schwierigkeiten, die sich in den USA mit der Konzeption des „Federalizing Crimes“ ergeben haben. Die erheblichen Unterschiede im Allgemeinen Teil samt den verschiedenen Sanktionensystemen treten hinzu.

Die Idee von Federal Crimes, die ursprünglich am verfassungsrechtlichen Begriff „interstate commerce“ festgemacht war und daher durchaus vergleichbar am grenzüberschreitenden Charakter bestimmter Handlungen anknüpfte, hat diesen Gesichtspunkt schon lange hinter sich gelassen, ist aber andererseits ständig mit dem Vorwurf eines Ausuferns konfrontiert.

Jedenfalls spricht die Errichtung der EUStA (auch ohne ein supranationales Gericht) dafür, diese Einrichtung behutsam iSd Art 86 Abs 4 AEUV weiterzuentwickeln. Neben vorhandenen Initiativen, die EUStA für Terrorismus oder für Verstöße gegen die Russland-Sanktionen zu-

Die Europäische Staatsanwaltschaft

ständig zu machen, ist mE namentlich an den Klimaschutz und damit die Option zu denken, zur Rettung des Planeten beizutragen.

Mit dem Einbau der EUStA in die heimische Gerichtsbarkeit ist sicherlich etwas in Bewegung geraten. Eine Frage, die den Verfasser dieser Zeilen schon wiederholt bewegt hat, führt ins Grundsätzliche: Ob vielleicht im Gefolge der praktischen Umsetzung des Projekts EUStA ein besseres Verständnis dafür entstehen wird, dass heute eine Richterin, ein Staatsanwalt von vornherein nicht allein dem heimischen Berufsstand angehört, sondern zugleich – ohne großes E geschrieben (!) – eine europäische Richterin, ein europäischer Staatsanwalt ist?

Auf den Punkt gebracht

Die EUStA hat 2021 ihre Tätigkeit begonnen. Diese markante Neuerung für den Schutz der finanziellen Grundlagen der Europäischen Union wird von ihrer Entstehungsgeschichte aus und im Licht ihrer möglichen Zukunft betrachtet. Zu dieser zählt auch die Weiterentwicklung der Staatsanwaltschaft in Österreich.

Struktur und Grundzüge des Verfahrens sowie der Arbeitsweise unter besonderer Berücksichtigung der Ständigen Kammern

Ingrid Maschl-Clausen

Dieser Beitrag beleuchtet die Struktur und die Grundzüge des Verfahrens sowie der Arbeitsweise der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) unter besonderer Berücksichtigung der Ständigen Kammern und zieht einen Vergleich mit dem aktuellen Vorschlag für eine österreichische Generalstaatsanwaltschaft.

1.Allgemeines

Mag. Ingrid MaschlClausen ist Europäische Staatsanwältin bei der Europäischen Staatsanwaltschaft in Luxemburg.

Die EUStA – eingerichtet mit Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. 10. 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft1 (EUStA-VO) hat mit 1. 6. 2021 ihre operative Arbeit aufgenommen. Anders als Eurojust,2 dessen Zuständigkeit auf die Koordinierung von Strafverfahren beschränkt ist, die weiterhin von nationalen Strafverfolgungsbehörden (meist Staatsanwaltschaften) geführt

1 ABl L 283 vom 31. 10. 2017, S 1.

2 Verordnung (EU) 2018/1727 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. 11. 2018 betreffend die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust), ABl L 295 vom 21.11. 2018, S 138.

werden, führt die EUStA als „richtige“ supranationale Staatsanwaltschaft die Strafverfahren selbst. Im Vergleich zu Eurojust ist die materielle Zuständigkeit der EUStA allerdings auf Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union (sogenannte PIFTaten3) und damit zusammenhängende Taten beschränkt.

Allein im ersten operativen Tätigkeitsjahr hat die EUStA knapp 950 solcher Ermittlungsverfahren geführt sowie mehr als 4.000 Anzeigen erhalten und verarbeitet. Im gleichen Zeitraum wurden Vermögenswerte in Höhe von

3 Dabei handelt es sich um die Abkürzung der französischen Bezeichnung „protection des intérêsts financiers de l’Union“

Schwerpunkt Arbeitsweise der EUStA 222 6/2022 ZWF
Schwerpunkt

zirka 260 Mio € von der EUStA sichergestellt oder auf ihren Antrag hin gerichtlich beschlagnahmt.4 Das entspricht etwa fünfmal der Höhe des Budgets der EUStA für das Jahr 2022.5

Die EUStA ist eine Einrichtung der Europäischen Union (Art 3 Abs 1 EUStA-VO), doch kommt ihr Unabhängigkeit von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie von den Mitgliedstaaten der Union zu (Art6 Abs 1 EUStA-VO). Sie wurde im Weg der verstärkten Zusammenarbeit6 eingerichtet, an der (derzeit) 22 der insgesamt 27 EU-Mitgliedstaaten, darunter Österreich, teilnehmen.7 Dänemark, Irland, Polen, Schweden und Ungarn nehmen daran bislang nicht teil. Ein Beitritt Schwedens im Laufe des Jahres 2023 scheint wahrscheinlich. In den teilnehmenden Mitgliedstaaten kann die EUStA unmittelbar tätig werden – Ermittlungen führen, Anklagen erheben und vertreten –, während sie im Verhältnis zu den nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten auf die Instrumente der gegenseitigen Anerkennung, insbesondere die Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. 4. 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen,8 sowie – soweit (noch) anwendbar – der Rechtshilfe innerhalb der EU9 zurückgreifen muss.

Obwohl die EUStA-VO unmittelbar anwendbar ist, bedurfte es einer innerstaatlichen Umsetzung, weil sich einige Bestimmungen aus der EUStA-VO an die Mitgliedstaaten richten.10 Der österreichische Gesetzgeber hat diese Umsetzung mit dem Strafrechtlichen EU-Anpassungsgesetz 202111 vorgenommen.

4 Vgl EUStA, 1 year of EPPO operations: larger and faster EU fraud investigations (Juni 2022) abrufbar unter https://www.eppo.europa.eu/en/news/1-year-eppooperations-larger-and-faster-eu-fraud-investigations (Zugriff am 10. 11. 2022).

5 Vgl EUStA, Amending Budget No 3 for year 2022, Entscheidung des Kollegiums 039/2022 vom 15. 9. 2022, abrufbar unter https://www.eppo.europa.eu/sites/ default/files/2022-09/2022.039_Decision_amending_ budget_2022_n%C2%B03.pdf (Zugriff am 10. 11. 2022).

6 Vgl ErwGr 8 EUStA-VO und Art 86 Abs 1 UAbs 3 AEUV iVm Art 20 Abs 2 EUV und Art 329 Abs 1 AEUV.

7 Teilnehmende Mitgliedstaaten (in alphabetischer Reihenfolge): Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Zypern.

8 ABl L 130 vom 1. 5. 2014, S 1.

9 Vor allem das Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl C 197 vom 12. 7. 2000, S 3, und dessen Protokoll, ABl C 326 vom 21. 11. 2001, S 1.

10 Vgl Pkt 1.2. des Einführungserlasses zum StrEU-AG 2021.

11 Bundesgesetz, mit dem ein Bundesgesetz zur Durchführung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStADG) erlassen und mit dem das Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetz, das Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, das Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz, das Finanzstrafgesetz und das Strafgesetzbuch geändert werden (StrEU-AG 2021), BGBl I 2021/94.

2.Struktur

Die EUStA ist als hybride Behörde mit zwei Ebenen konzipiert: Einer Zentrale in Luxemburg und einer dezentralen Ebene mit Niederlassungen in Form der Delegierten Europäischen Staatsanwälte (DEStA) in jedem der (derzeit) 22 teilnehmenden Mitgliedstaaten (Art 8 Abs 2 bis 4 EUStA-VO). Beide Ebenen formen eine einheitliche Behörde (Art 8 Abs 1 EUStA-VO), die innerhalb ihres Wirkungsbereichs – als unteilbare Behörde über Staatsgrenzen hinweg – von einem vereinfachten Mechanismus bei grenzüberschreitenden Maßnahmen profitieren soll (Art31 EUStA-VO).

2.1.Zentrale

Ebene – Akteure

Die zentrale Ebene am Sitz der Behörde in Luxemburg besteht aus folgenden Akteuren: der Europäischen Generalstaatsanwältin und ihren (beiden) Stellvertretern, den (derzeit 22) Europäischen Staatsanwälten – einer pro teilnehmendem Mitgliedstaat (ErwGr 28 EUStA-VO) –, dem Kollegium (bestehend aus der Europäischen Generalstaatsanwältin und den Europäischen Staatsanwälten), den Ständigen Kammern und dem Verwaltungsdirektor (Art 8 Abs 3 EUStA-VO) mit dem ihm unterstehenden „Personal der EUStA“ (Art 2 Abs 4 EUStA-VO).12

2.1.1.Europäische Generalstaatsanwältin

Die EUStA-VO verwendet den Begriff „Europäischer Generalstaatsanwalt“. Da mit der aus Rumänien stammenden Laura Codruta Kövesi eine Frau zur ersten Europäischen Generalstaatsanwältin bestellt wurde, wird hier im Folgenden von der „Europäischen Generalstaatsanwältin“ gesprochen. Die Europäische Generalstaatsanwältin leitet die EUStA und deren Tätigkeit, und sie organisiert deren Arbeit. Zudem vertritt sie die EUStA nach außen gegenüber den Organen der Union und der Mitgliedstaaten (Art 11 Abs 1 und 3 Satz 1 EUStA-VO). Sie wird von zwei Stellvertretern unterstützt, die sie bei Verhinderung vertreten. Die beiden Stellvertreter werden vom Kollegium aus dem Kreis der Europäischen Staatsanwälte ernannt. Sie behalten ihren Status und ihre Aufgaben als Europäische Staatsanwälte bei (Art 15 Abs 1 EUStA-VO).

Anders als den Leitern der monokratisch organisierten österreichischen Staatsanwaltschaften kommt der Europäischen Generalstaatsanwältin nur eingeschränkte Entscheidungsbefugnis für die EUStA zu (Art 11 Abs 1 EUStA-VO).13

12 Art 2 Z 4 EUStA-VO definiert das „Personal der EUStA“ als das Personal auf zentraler Ebene, das das Kollegium, die Ständigen Kammern, den Europäischen Generalstaatsanwalt, die Europäischen Staatsanwälte, die Delegierten Europäischen Staatsanwälte und den Verwaltungsdirektor bei ihren laufenden Tätigkeiten zur Erfüllung der Aufgaben der EUStA unterstützt.

13 Vgl H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Esser (Hrsg), Handbuch Europäische Staatsanwaltschaft (2022) § 4 Rz 18; Burchard in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, European Public Prosecutor’s Office – Article by Article Commentary (2021) Art 11 Rz 2.

223 ZWF 6/2022
Schwerpunkt Arbeitsweise der EUStA

Vor allem kann sie – anders als dies § 2 Abs 2 StAG für die Leiter der österreichischen Staatsanwaltschaften (und §§ 29 ff StAG im Verhältnis von Justizminister, Oberstaatsanwaltschaft und Staatsanwaltschaft) vorsieht – keine Weisungen für die Fallbehandlung in Einzelstrafsachen geben, weder den Ständigen Kammern noch den einzelnen Europäischen Staatsanwälten oder den Delegierten Europäischen Staatsanwälten (DEStA). Letzte „Instanz“ im internen Entscheidungsprozess der EUStA in Einzelstrafsachen sind die Ständigen Kammern (siehe dazu Pkt 3.)

2.1.2.Europäische Staatsanwälte und Kollegium

Den Europäischen Staatsanwälten obliegen drei unterschiedliche Aufgabenbereiche:

1.Sie führen – im Auftrag der zuständigen Ständigen Kammer – die Aufsicht über jene Verfahren, die die DEStA in ihrem jeweiligen (Herkunfts-)Mitgliedstaat führen. Im Rahmen dieser (Fach-)Aufsicht, die jener eines staatsanwaltschaftlichen Gruppenleiters oder einer Oberstaatsanwaltschaft ähnelt, sind sie weisungsbefugt (Art 12 Abs 1, ErwGr 28 Satz2 und ErwGr 34 EUStA-VO).

2.Sie bilden gemeinsam mit der Europäischen Generalstaatsanwältin das Kollegium (Art 9 Abs 1 Satz 1 EUStA-VO), das für die allgemeine Aufsicht über die Tätigkeiten der EUStA zuständig ist. Das Kollegium entscheidet vor allem über strategische Fragen und allgemeine Angelegenheiten, die sich aus Einzelfällen ergeben, insbesondere mit Blick auf die Kohärenz, Effizienz und Einheitlichkeit in der Strafverfolgung(spolitik) der EUStA. In der Praxis sind das ungeklärte oder unterschiedlich beantwortete Rechtsfragen, die sich in Einzelfällen stellen, und wichtige administrative Entscheidungen.14 Demgegenüber trifft das Kollegium keine operativen Entscheidungen in Einzelfällen (Art 9 Abs 2 Satz 2 EUStA-VO).

3.Die Europäischen Staatsanwälte wirken als Mitglieder in den Ständigen Kammern an der Entscheidungsfindung in Einzelstrafsachen der EUStA mit (siehe dazu Pkt 3.).

Die Europäischen Staatsanwälte sind vom Rat der EU für eine Amtsdauer von sechs Jahren bestellt, wobei eine Verlängerung des Mandats am Ende der Amtszeit um höchstens drei Jahre durch Beschluss des Rates zulässig ist. Eine Wiederbestellung ist demgegenüber nicht möglich (Art 16 Abs 3 EUStA-VO). Alle drei Jahre sind die Stellen von einem Drittel der Europäischen

14 Ua die Ernennung und Entlassung der Delegierten Europäischen Staatsanwälte (Art 17 Abs 1 und 3 EUStAVO), die Ernennung des Verwaltungsdirektors (Art 18 Abs 2 EUStA-VO), die Annahme des jährlichen Haushaltsplans der EUStA und der Rechnungsabschlüsse (Art 90 Abs 1 EUStA-VO) sowie sogar die Entscheidung über die Arbeitssprache der EUStA (Art 107 Abs2 EUStA-VO).

Staatsanwälte neu zu besetzen. Damit soll die Kontinuität der Arbeit des Kollegiums und, obgleich in der EUStA-VO nicht ausdrücklich erwähnt, wohl auch der Ständigen Kammern gewährleistet werden (Art 16 Abs 4 Satz 1 und ErwGr 42 EUStA-VO). Um bei gleicher Mandatslänge von sechs Jahren für alle Europäischen Staatsanwälte zu einer solchen Rotation zu gelangen, musste der Rat Übergangsvorschriften für die Ernennung der Europäischen Staatsanwälte für die erste Amtszeit festlegen (Art 16 Abs 4 Satz 2 EUStA-VO).15

Diese Übergangsvorschriften finden sich im Durchführungsbeschluss (EU) 2019/598.16 Demnach war durch Losentscheid eine Gruppe von acht teilnehmenden Mitgliedstaaten zu ermitteln, deren Europäische Staatsanwälte für eine Amtszeit von nur drei (statt sechs) Jahren bestellt werden sollten. Die Gruppe der Mitgliedstaaten mit den „dreijährigen“ Europäischen Staatsanwälten umfasst (in alphabetischer Reihenfolge): Griechenland, Italien, Litauen, Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien und Zypern.17 Dem Ansinnen, das „geographische Spektrum der Mitgliedstaaten“ bei der Neubesetzung der Stellen eines Drittels der Europäischen Staatsanwälte während ihrer ersten Amtszeit zu berücksichtigen (ErwGr 42 letzter Satz EUStA-VO), wurde damit mE nicht Genüge getan – nahezu alle Europäischen Staatsanwälte aus südeuropäischen Mitgliedstaaten (ausgenommen Malta) wechseln nach den ersten drei Jahren.

Um in weiterer Folge zu einem Austausch von einem Drittel der Europäischen Staatsanwälte alle drei Jahre zu gelangen, muss der Rat das Mandat der Hälfte der übrigen Europäischen Staatsanwälte, also jener mit einer (regulären) sechsjährigen Amtsdauer, um drei Jahre verlängern. Somit wird aus der Kann-Bestimmung des Art 16 Abs 3 letzter Satz EUStA-VO eine Muss-Bestimmung, um den zeitgleichen Wechsel von mehr als einem Drittel der Europäischen Staatsanwälte zu verhindern.

Die EUStA-VO enthält keine Bestimmung darüber, wer jene Europäischen Staatsanwälte auswählt, deren Amtsdauer verlängert werden soll, oder nach welchen Kriterien diese ausgewählt werden sollen. Wollte man ein Vorschlagsrecht oder eine Auswahlmöglichkeit durch die Europäische Kommission oder den Rat annehmen, so stünde ein solches Vorschlags- oder Auswahlrecht im Spannungsverhältnis zur Unabhängigkeit der EUStA von den

15 Vgl H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 4 Rz 19.

16 Durchführungsbeschluss (EU) 2019/598 des Rates vom 9. 4. 2019 über die Übergangsvorschriften für die Ernennung der Europäischen Staatsanwälte für die erste Amtszeit und während der ersten Amtszeit gemäß Artikel 16 Absatz 4 der Verordnung (EU) 2017/1939, ABl L 103 vom 12. 4. 2019, S 29.

17 ErwGr 11 Durchführungsbeschluss (EU) 2020/1117 des Rates vom 27. 7. 2020 zur Ernennung der Europäischen Staatsanwälte der Europäischen Staatsanwaltschaft, ABl L 244 vom 29. 7. 2020, S 18.

Schwerpunkt Arbeitsweise der EUStA 224 6/2022 ZWF

Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU (Art 6 Abs 1 EUStA-VO). Sollte ein solches Vorschlagsrecht den einzelnen teilnehmenden Mitgliedstaaten zukommen, könnte dadurch erst recht der Anschein erweckt werden, dass einzelne Europäische Staatsanwälte in „politiknahen Strafverfahren“ nicht unabhängig, sondern mit Rücksicht auf eine mögliche Verlängerung „rücksichtsvoll“ gegenüber den zum Vorschlag berechtigten politischen Akteuren agieren (müssen). In jedem Fall steht eine für den Rat de facto verpflichtende Verlängerung des Mandats einzelner (wohl acht) Europäischer Staatsanwälte, bei dem die Auswahl dieser acht Europäischen Staatsanwälte nicht der EUStA selbst obliegt, im Spannungsverhältnis zum Unabhängigkeitsgebot der EUStA und der Europäischen Staatsanwälte. Die aktuelle Rechtslage scheint freilich keine Rechtsgrundlage für einen Auswahlmechanismus zu bieten, der von äußeren Akteuren unabhängig ist. Insofern ist fraglich, ob die derzeitige Fassung des Art 16 der EUStA-VO uneingeschränkt geeignet ist, die Unabhängigkeit der EUStA durch institutionelle Garantien zu gewährleisten (ErwGr 16 EUStA-VO).

Zudem scheint der Unionsgesetzgeber einem Rechenfehler aufgesessen zu sein. Bei genauer Betrachtung führt die Regelung dazu, dass die (acht) „Nachfolger“ der Europäischen Staatsanwälte mit der kurzen dreijährigen Amtszeit zeitgleich mit jenen (acht) Europäischen Staatsanwälten ausscheiden, deren sechsjährige Amtszeit um drei Jahre verlängert werden muss, damit die Rotation ins Laufen kommt. Somit ist nach neun Jahren ein gleichzeitiges Mandatsende von zwei Drittel der Europäischen Staatsanwälte vorprogrammiert. Gerade ein solcher „brain drain“ war vom Unionsgesetzgeber nicht gewollt und stünde mE in Widerspruch zu Art 16 Abs 4 Satz 1 und ErwGr 42 EUStA-VO.

Abhilfe kann wohl nur der Unionsgesetzgeber im Wege einer Änderung des zwar gut gemeinten, aber praktisch verunglückten Art 16 EUStA-VO schaffen. Im Hinblick auf den zu erwartenden Beitritt Schwedens im Jahr 2023 wäre diese dringend geboten.

2.2.Dezentrale Ebene – Delegierte Europäische Staatsanwälte

Die dezentrale Ebene besteht aus den DEStA, die in jedem der teilnehmenden Mitgliedstaaten für die EUStA tätig sind (Art 8 Abs 4 EUStAVO). Jeder teilnehmende Mitgliedstaat muss über zumindest zwei DEStA verfügen (Art 13 Abs 2 EUStA-VO). Die Anzahl der DEStA pro Mitgliedstaat orientiert sich an den (zu erwartenden) Fallzahlen. Sie unterliegt der Vereinbarung zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten (in Österreich: BMJ) und der Europäischen Generalstaatsanwältin (Art 13 Abs 2 EUStA-VO). Während für Österreich

(derzeit) die Mindestanzahl von zwei DEStA bestellt ist, ist die Zahl der DEStA in vielen anderen Mitgliedstaaten höher.18

Die DEStA handeln in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat für die EUStA mit den gleichen Befugnissen wie nationale Staatsanwälte in Bezug auf Ermittlungen, Strafverfolgungsmaßnahmen sowie Anklageerhebung und -vertretung (Art 13 Abs 1, 31 Abs 1 und ErwGr 30 EUStA-VO). Den DEStA in Österreich kommt bundesweite Zuständigkeit zu (§ 4 Abs 1 EUStA-DG), vergleichbar jener der WKStA nach § 20a Abs 1 StPO. Darüber hinaus vertreten die DEStA die EUStA im Rechtsmittelverfahren (Art 419 und ErwGr 31 EUStA-VO). In den Ermittlungen bedienen sie sich der nationalen Ermittlungsbehörden (in Österreich: Polizei und Finanzstrafbehörden).

Anders als beim Status der Europäischen Generalstaatsanwältin und der Europäischen Staatsanwälte, die (vollwertige) EU-Bedienstete auf Zeit sind (Art 96 Abs 1 UAbs 2 EUStA-VO), konnte sich der Unionsgesetzgeber bei jenem der DEStA bedauerlicherweise zu keiner klaren Lösung durchringen. Stattdessen wurden die DEStA als „Sonderberater“ (Art 96 Abs 6 EUStAVO) mit der Folge eingestuft, dass sie ein EUGehalt (in einer vom Kollegium festzulegenden Höhe) erhalten, die Sozialversicherungsbeiträge (für Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung) aber vom jeweiligen Mitgliedstaat zu tragen sind. Zudem unterliegen sie auch dem jeweils in ihrem Mitgliedstaat geltenden Urlaubsregime. Entsprechend hat der österreichische Gesetzgeber mit dem StrEU-AG 2021 klargestellt, dass die DEStA für die Dauer ihrer Bestellung als nationale Staatsanwälte gegen Entfall ihrer Bezüge beurlaubt (karenziert) sind, wobei der Anspruch auf Erholungsurlaub unberührt bleibt (§ 204 Abs 1 Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetz [RStDG]). Mit § 204 Abs 2 RStDG wurde die innerstaatliche Grundlage für die weitere Entrichtung der Sozialversicherungs- und der Pensionsbeiträge für die DEStA durch die Republik Österreich trotz deren Karenzierung geschaffen.

Der Status als Sonderberater dürfte wohl der Notwendigkeit geschuldet gewesen sein, dass die DEStA weiterhin über ihre (heimatlichen) staatsanwaltschaftlichen Befugnisse verfügen und somit zwar Angehörige der Staatsanwaltschaft oder Richterschaft ihres Herkunftsmitgliedstaats bleiben, aber gleichzeitig ausschließlich im Auftrag und Namen der EUStA handeln sollen (Art 17 Abs 2, ErwGr 32 und 33 EUStAVO). Dennoch mutet es für eine einheitliche Behörde einigermaßen seltsam an, 22 unterschiedliche Sozialversicherungs- und Urlaubsregime berücksichtigen zu müssen. Der Unionsgesetz-

18 ZB sind für Italien derzeit 16, für Rumänien 10 DEStA bestellt.

19

Arg „bis das Verfahren endgültig abgeschlossen ist“

225 ZWF 6/2022
Schwerpunkt Arbeitsweise der EUStA

geber wäre aufgerufen, eine klare Regelung mit Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge durch die EU und einem einheitlichen Urlaubsregime für alle DEStA zu treffen, sodass diese als Mitarbeiter der gleichen (einheitlichen) Behörde von ihrem Arbeitsgeber EUStA auch gleich behandelt werden können.

3.Grundzüge des Verfahrens und der Arbeitsweise der EUStA und Tätigkeit der Ständigen Kammern Während die DEStA auf dezentraler Ebene die Strafverfahren führen, überwachen und leiten die Ständigen Kammern diese Strafverfahren (Art 10 Abs 2, ErwGr 30 EUStA-VO). Die „wichtigsten“ Entscheidungen am Ende des Ermittlungsverfahrens – wie die Erhebung der Anklage, die Einstellung des Verfahrens, die Anwendung eines vereinfachten Strafverfolgungsverfahrens (darunter versteht die EUStA-VO diversionelle Maßnahmen) oder die Verweisung eines Falls an die nationalen Behörden – treffen die Ständigen Kammern auf zentraler Ebene (Art 10 Abs 3 EUStA-VO),20 im Regelfall auf der Grundlage von Entscheidungsentwürfen der verfahrensführenden („betrauten“) DEStA (Art10 Abs 3, ErwGr 36 und 78 EUStA-VO).21 Stimmen die Ständigen Kammern diesen Vorschlägen nicht zu, erteilen sie schriftliche Weisungen, die zum Verfahrensakt zu nehmen sind (Art 10 Abs 4, 5 und 8 UAbs 2 EUStA-VO). In jedem einzelnen von der Europäischen Staatsanwaltschaft bearbeiteten Fall hat eine der Ständigen Kammern zu entscheiden – mindestens einmal, in den meisten Fällen wesentlich häufiger.

Damit die Ständigen Kammern ihre Leitungsbefugnis ausüben können, kommunizieren sie (schriftlich) mit den DEStA über ein elektronisches Fallbearbeitungssystem (nachfolgend: CMS22). Dieses CMS enthält ua eine elektronische Kopie des (vom DEStA geführten) Verfahrensakts (Art 45 Abs 3 EUStA-VO) in englischer Sprache (Art 2 Abs 4 EUStA-GO23), die die Arbeitssprache der EUStA ist.24

20 Auch wenn ein DEStA von der Einleitung oder Übernahme (Evokation) eines Verfahrens abzusehen beabsichtigt, liegt die Entscheidung darüber bei der Ständigen Kammer (Art 10 Abs 4 lit a und b EUStA-VO).

21 H.-H. Herrnfeld spricht von einer weitgehenden Konzentration der Zuständigkeiten für die Abschlussentscheidungen auf die Zentrale der EUStA und eine damit einhergehende Einschränkung der Entscheidungsbefugnisse des verfahrensführenden DEStA; H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Esser , HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 4 Rz 28.

22 CMS ist die Abkürzung der englischen Bezeichnung „Case Management System“

23 EUStA, Internal Rules of Procedure (Juni 2022) abrufbar unter https://www.eppo.europa.eu/sites/default/ files/2022-09/2020.003-2022.026_IRP_Consolidated _version.pdf (Zugriff am 10. 11. 2022).

24 EUStA, Beschluss des Kollegiums 2/2020 (September 2020) abrufbar unter https://www.eppo.europa.eu/ sites/default/files/2020-12/2020.002%20EPPO%20 Language%20decision%20-%20final.pdf (Zugriff am 10. 11. 2022).

Das Kollegium hat mit Beschluss 015/2020 15 Ständige Kammern eingerichtet.25 Die Fälle werden nach dem Zufallsprinzip einer der Ständigen Kammern zugewiesen (Art4 Beschluss 015/2020). Jede Ständige Kammer besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Europäischen Staatsanwälten als ständige Mitglieder (Art 10 Abs 1 EUStA-VO).26 Darüber hinaus nimmt der aufsichtsführende Europäische Staatsanwalt –also der Europäische Staatsanwalt aus dem Mitgliedstaat, in dem das Verfahren geführt wird –an den Beratungen und Entscheidungen der Ständigen Kammer teil (Art 10 Abs 9 EUStAVO). Die Ständigen Kammern entscheiden mit einfacher Mehrheit, bei Stimmengleichheit ist die Stimme des Vorsitzenden maßgeblich (Art10 Abs 6 EUStA-VO). Wenn eine Ständige Kammer dies für zweckmäßig erachtet, kann sie andere Personen als ihre Mitglieder, zB den fallführenden DEStA, zu ihren Sitzungen einladen.27

Die EUStA-VO enthält eine Reihe von verfahrensrechtlichen Bestimmungen, die unmittelbar anwendbar sind. Diese verdrängen nationales Verfahrensrecht. Soweit die EUStA-VO keine Regelungen enthält, gilt nationales Recht, und zwar das Recht des Mitgliedstaats des verfahrensführenden („betrauten“) DEStA (Art 5 Abs 3 EUStA-VO). Ist ein Verfahren durch einen österreichischen DEStA zu führen, ergibt sich daraus die subsidiäre Anwendbarkeit der StPO, des FinStrG, des JGG und des VbVG.28

Das „eigene“ nationale (materielle und formelle) Recht ist nicht nur von den DEStA aus diesem Mitgliedstaat sowie vom aufsichtsführenden Europäischen Staatsanwalt, sondern letztlich auch von der Ständigen Kammer anzuwenden.29

Im Schrifttum wurden der komplexe Aufbau der EUStA und deren komplexe interne Zustän-

25 Abrufbar unter https://www.eppo.europa.eu/sites/default/ files/2022-09/2020.015%20-%202021.085%20Consolida ted%20version%20Decision%20on%20the%20Perma nent%20Chambers.pdf (Zugriff am 10. 11. 2022).

26

In zwölf (der 15) Ständigen Kammern führen Europäische Staatsanwälte den Vorsitz und in (nur) je einer die Europäische Generalstaatsanwältin und ihre beiden Stellvertreter (Beschluss des Kollegiums 026/ 2022).

27 Art 8 Abs 1 Beschluss des Kollegiums 15/2020. In der Praxis erfolgt eine Teilnahme von DEStA an Sitzungen von Ständigen Kammern im Einzelfall per Videokonferenz.

28 Nicht anwendbar sind die §§ 190 bis 192 StPO und § 18 VbVG (§ 14 Abs 1 EUStA-DG), weil diese nicht im Einklang mit den Gründen für die Verfahrenseinstellung (Art 39 EUStA-VO) und dem Ausschluss von Opportunitätserwägungen bei der Verfolgungs- oder Einstellungsentscheidung (ErwGr 81 EUStA-VO) stünden; vgl ErlRV zu BGBl I 2021/94.

29 Dies ist aus Art 10 Abs 5 und ErwGr 28 letzter Satz EUStA-VO abzuleiten, wonach der aufsichtsführende Europäische Staatsanwalt die Vereinbarkeit der Weisungen der Kammer mit dem nationalen Recht prüfen soll. Vgl auch H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 4 Rz 30.

Schwerpunkt Arbeitsweise der EUStA 226 6/2022 ZWF

digkeitsverteilung mehrfach kritisiert.30 Dem ist entgegen zu halten, dass die Ständigen Kammern mit ihren Mitgliedern aus verschiedenen Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Rechtstraditionen das wahre supranationale Element in den Verfahren der Europäischen Staatsanwaltschaft sind.31 Anderenfalls würde sich ein von der EUStA durch die DEStA (weitgehend) nach nationalem Recht geführtes Verfahren kaum von einem Verfahren einer nationalen Staatsanwaltschaft unterscheiden. Das Kammermodell garantiert zudem die Unabhängigkeit der EUStA – eine Einflussnahme auf Entscheidungen in Einzelstrafverfahren von externen oder internen Personen im Weg der Behördenleitung ist nicht möglich.

4.Exkurs: Die Ständigen Kammern als Modell für eine österreichische „Generalstaatsanwaltschaft“

Die Bundesministerin für Justiz hat im ersten Halbjahr 2021 eine Arbeitsgruppe hochrangiger Expert:innen aus Praxis und Wissenschaft einsetzt. Diese sollte ein Modell für eine mögliche unabhängige Weisungsspitze für die österreichischen Staatsanwaltschaften ausarbeiten, um die Anscheinsproblematik einer (möglichen) justiz-externen inhaltlichen Einflussnahme auf Einzelstrafsachen dauerhaft zu beseitigen (Arbeitsgruppe zur Schaffung einer unabhängigen und weisungsfreien Bundesstaatsanwaltschaft).32

Die Arbeitsgruppe hat im September 2022 ihren Endbericht vorgelegt33 und sich mehrheitlich auf die Bezeichnung „Generalstaatsanwaltschaft“ für eine solche unabhängige Weisungsspitze anstatt „Bundesstaatsanwaltschaft“ verständigt (Pkt D.1.2. des Endberichts). Folglich wird auch hier der Terminus Generalstaatsanwaltschaft verwendet.

Mehrheitlich hat die Arbeitsgruppe den Ausbau der Generalprokuratur zur Generalstaatsanwaltschaft unter der Leitung eines Ge-

30

Vgl H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 4 Rz 16.

31 Vgl auch H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 4 Rz 28 f, der von einem „als notwendig erachteten Kern der Funktionsweise und einer breitere n europäischen Basis“ für die Entscheidungskompetenzen spricht.

32 Vgl Vortrag an den Ministerrat 49/10 vom 24. 2. 2021 und Pkt D.1.1. des Endberichts der Arbeitsgruppe (FN33).

33 Abrufbar unter www.bmj.gv.at/themen/Fokusthemen/ Generalstaatsanwaltschaft. html (Zugriff am 10. 11. 2022).

neralstaatsanwalts oder einer Generalstaatsanwältin befürwortet. Die Generalstaatsanwaltschaft soll organisatorisch in zwei Abteilungen strukturell und inhaltlich voneinander abgegrenzt aufgeteilt werden. Einerseits sollen die derzeit in den Aufgabenbereich der Generalprokuratur fallenden Agenden weiterhin – in monokratischer Struktur – unter der Leitung des Generalstaatsanwalts oder der Generalstaatsanwältin ausgeübt werden. Demgegenüber soll in Weisungsangelegenheiten in Einzelstrafsachen die Entscheidungsfindung innerhalb der Generalstaatsanwaltschaft in unabhängigen Senaten, bestehend aus jeweils drei Generalanwält:innen, und ohne Weisungskompetenz der Leitung erfolgen (Pkt D.3.1.a. des Endberichts). Wie der Endbericht ausführt, hat diesbezüglich die Europäische Staatsanwaltschaft als Modell gedient (Pkt D.3.1.a.). Zwar weicht der Vorschlag der Arbeitsgruppe von der Mitgliederanzahl in den Ständigen Kammern der EUStA ab – vier Mitglieder in den Ständigen Kammern der EUStA gegenüber drei Senatsmitgliedern im Vorschlag für die Bundestaatsanwaltschaft. Dennoch übernimmt er das Grundkonzept der unabhängigen Entscheidungsfindung der Ständigen Kammern ohne Weisungsmöglichkeit der Behördenleitung von der EUStA für die Generalstaatsanwaltschaft.

Der Endbericht der Arbeitsgruppe ist zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Beitrags Gegenstand der politischen Willensbildung innerhalb der österreichischen Bundesregierung.

Auf den Punkt gebracht

Angesichts des bewältigten Arbeitsanfalls (siehe Pkt 1.) ist die Arbeit der EUStA im ersten Jahr ihrer operativen Tätigkeit als Erfolgsbilanz zu werten. Somit darf die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das Kammermodell als Weisungsspitze den Praxistest bestanden hat.

Dessen ungeachtet wäre der Unionsgesetzgeber aufgerufen, die unter Pkt 2.1.2. und 2.2. aufgezeigten Defizite in Bezug auf den Status der DEStA und der Amtszeit der Europäischen Staatsanwälte möglichst rasch zu beseitigen, um „seine“ unabhängige Staatsanwaltschaft zu stärken.

227 ZWF 6/2022
Schwerpunkt Arbeitsweise der EUStA

Grenzen bei der Ausübung der Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft

Dr. Claudia Angermaier ist Österreichs Delegierte Europäische Staatsanwältin.

Dieser Beitrag skizziert den maßgeblichen rechtlichen Rahmen für die Ausübung der Zuständigkeit durch die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) und zeigt die Problematiken auf, die sich in der Praxis aufgrund des Zusammenspiels der relevanten unionsrechtlichen und nationalen Bestimmungen ergeben.1

1.Allgemeines

Die EUStA wurde zur effektiven Verfolgung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten Straftaten errichtet.2 Sie ist das institutionelle Gegenstück zur sogenannten PIF-Richtlinie,3 in der diese Straftaten definiert sind. Seit 1. 6. 2021 ist sie operativ tätig. Trotz ihres unionsrechtlichen Überbaus mit der aus dem nationalen System entkoppelten internen Weisungskette agiert die EUStA grundsätzlich als nationale Staatsanwaltschaft.4 Das Strafverfahren, das von der EUStA geführt wird, richtet sich – mit Ausnahme einiger verfahrensrechtlicher Besonderheiten – im Wesentlichen nach der nationalen Strafprozessordnung,5 in der sie das Verfahren führt. Mangels direkt anwendbarer Strafbestimmungen auf unionsrechtlicher Ebene, kann die EUStA ebenso nur nationale Strafbestimmungen anwenden. Trotz grundsätzlicher Verfolgungsverpflichtung und prioritärer Zuständigkeit gegenüber nationalen Staatsanwaltschaften sind der EUStA gewisse rechtliche Grenzen in der Ausübung ihrer Zuständigkeit gesetzt. Ob in einem konkreten Fall diese Zuständigkeitsschranken zur Anwendung gelangen, wird wiederum durch die Ausgestaltung der relevanten Strafbestimmungen im jeweiligen Mitgliedstaat bestimmt.

2.Zuständigkeit

2.1.Sachliche Zuständigkeit

Die sachliche Zuständigkeit der EUStA ist in Art22 EUStA-VO abschließend6 geregelt. Diese Bestimmung enthält keinen Straftatenkatalog,

1 Dieser Beitrag gibt die persönliche Auffassung der Autorin wieder und nicht jene der Europäischen Staatsanwaltschaft.

2 Rechtsgrundlage ist die Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. 10. 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), ABl L 283 vom 31. 10. 2017, S 1, in Kraft seit 20. 11. 2017.

3 Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. 7. 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug, ABl L 198 vom 28. 7. 2017, S29, in Kraft seit 17. 8 2017.

4 Art 4 EUStA-VO; vgl auch § 4 EUStA-DG, in Kraft seit 29. 5. 2021.

5 Art 5 Abs 3 EUStA-VO; § 1 Abs 2 EUStA-DG.

6 Vgl ErlRV zu BGBl I 2021/94, 6; Oshidari in Höpfel/ Ratz, WK StGB2, Art 22 EUStA-VO Rz 1.

sondern verweist wiederum auf andere EURechtsakte und deren Umsetzung im jeweiligen nationalen Recht.

2.1.1.Kernzuständigkeit

für sogenannte PIF-Straftaten

Die Kernzuständigkeit der EUStA ist in Art 22 Abs 1 EUStA-VO festgelegt, und zwar als Verweis auf die in der PIF-Richtlinie enthaltenen Straftatbestände. Diese Richtlinie wurde vor der EUStA-VO verabschiedet und dient der Angleichung der materiellrechtlichen Strafbestimmungen der EU-Mitgliedstaaten, um die Grundlagen für eine effektive Verfolgung von gegen die finanziellen Interessen der EU gerichtete Straftaten zu legen. Der Begriff der „finanziellen Interessen der EU“ umfasst sämtliche Einnahmen, Ausgaben und Vermögenswerte, die vom Haushaltsplan der EU oder von den Haushaltsplänen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU oder in den von diesen direkt oder indirekt überwachten Haushaltsplänen erfasst, erworben oder geschuldet werden.7 Die von den EU-Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzenden Straftatbestände – die sogenannten „PIFDelikte“ – sind in Art 3 und 4 PIF-Richtlinie angeführt. Auf diese Straftatbestände verweist Art22 Abs 1 EUStA-VO zur Definition der sachlichen Kernzuständigkeit der EUStA.

Gemäß Art 22 Abs 1 EUStA-VO iVm Art 3 und 4 PIF-Richtlinie ergibt sich daher kurz gefasst eine sachliche Zuständigkeit der EUStA für einnahmen-8 und ausgabenseitigen9 Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, missbräuchliche Verwendung durch unmittelbar oder mittelbar mit der Verwaltung von Mitteln oder Vermögenswerten betrauten öffentlichen Bediensteten zum Nachteil der

7 Art 2 Abs 1 PIF-Richtlinie; Art 2 Z 3 EUStA-VO.

8 Art 3 Abs 2 lit c und d PIF-Richtlinie, wobei in Bezug auf letzteres Delikt die EUStA nur zuständig ist, wenn dieses auf dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten begangen wurde und einen Gesamtschaden von mindestens zehn Millionen Euro umfasst. Gemäß Art2 Z1 PIF-Richtlinie ist als „Mitgliedstaat“ lediglich ein an den Beschluss der Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der EUStA „teilnehmender“ Mitgliedstaat zu verstehen. Nichtteilnehmende Mitgliedstaaten der EU sind derzeit Ungarn, Polen, Schweden, Dänemark und Irland.

9 Art 3 Abs 2 lit a und b PIF-Richtlinie.

Schwerpunkt Zuständigkeitsgrenzen der EUStA 228 6/2022 ZWF
Schwerpunkt

finanziellen Interessen der EU,10 Bestechung von und Bestechlichkeit durch öffentliche(n) Bedienstete(n) im Zusammenhang mit einer Diensthandlung oder Handlung bei der Ausübung des Dienstes zum Schaden oder potenziellen Schaden der finanziellen Interessen der EU11 und Geldwäsche12 bezogen auf Gegenstände, die aus eines der anderen PIF-Straftaten lukriert wurden.

Die PIF-Delikte bedürfen einer Umsetzung in das jeweilige nationale Recht, um zur Anwendung zu gelangen. Daher knüpft die sachliche Zuständigkeit der EUStA schlussendlich an die konkrete materiellrechtliche Umsetzung der PIF-Delikte in den einzelnen Mitgliedstaaten.

In Österreich sind die PIF-Delikte nach Ansicht des Gesetzgebers einerseits durch bereits bestehende Straftatbestände erfasst, sofern durch die Begehung der jeweiligen Straftaten ein Nachteil oder Schaden für die finanziellen Interessen der EU entstanden ist oder entstehen sollte,13 andererseits wurden einige Straftatbestände in der PIF-Richtlinie durch Einfügung der neuen Delikte des ausgabenseitigen Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU nach § 168f StGB und der missbräuchlichen Verwendung von Mitteln und Vermögenswerten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU nach § 168g StGB14 sowie des grenzüberschreitenden Umsatzsteuerbetrugs nach § 40 FinStrG15 in nationales Recht umgesetzt.

10 Art 4 Abs 3 PIF-Richtlinie.

11 Art 4 Abs 2 PIF-Richtlinie.

12 Art 4 Abs 1 PIF-Richtlinie.

13 Bestechung und Bestechlichkeit (Art 4 Abs 2 PIFRichtlinie) durch §§ 304, 305, 307 und 307a StGB; einnahmenseitiger Betrug in Bezug auf andere Einnahmen als aus Mehrwertsteuereigenmittel (Art 3 Abs 2 litc PIF-RL) durch § 35 allenfalls iVm §§ 37, 38a und 39 FinStrG und aus Geldwä sche (Art 4 Abs 1 PIFRichtlinie) durch § 165 StGB; vgl ErlRV zu BGBl I 2021/94, 5; Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 22 EUStA-VO Rz 7 ff. Die Frage bejahend, ob eine Zuständigkeit auch für von §§ 306 und 307a StGB erfasste Verhaltensweise gilt, Oshidari in Höpfel/Ratz , WK StGB2, Art22 EUStA-VO Rz 18.

14 Vormals als §§ 168c und 168d StGB nach BGBl I 2019/ 111, das am 28. 12. 2019 in Kraft getreten ist. Aus statistischen bzw technischen Gründen zur Vermeidung von Verwechselungen erhielten diese Bestimmungen mit BGBl I 2021/94, das am 28. 5. 2021 in Kraft getreten ist, ihre aktuellen Paragraphennummern; vgl ErlRV zu BGBl I 2021/94, 26. Es können jedoch auf PIF-Straftaten nach Art 3 Abs 2 lit a bzw b PIF-Richtlinie auch §§146 ff, 153a oder 168b StGB und auf PIFStraftaten nach Art 4 Abs 3 PIF-Richtlinie auch §§ 153 oder 302 StGB zur Anwendung gelangen; vgl ErlRV zu BGBl I 2021/94, 5, Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 22 EUStA-VO Rz 7 ff. Zum Verhältnis dieser Bestimmungen zueinander siehe Oshidari in Höpfel/ Ratz , WK StGB 2 , § 168f Rz 55f mwN sowie § 168g Rz27 und 29 mwN.

15 BGBl I 2019/62, das am 23. 7. 2019 in Kraft getreten ist. Hinzuweisen ist darauf, dass der für die Berechnung des Gesamtschadens von zehn Millionen Euro maßgebliche § 2 Abs 1 lit d FinStrG auch erst zu diesem Zeitpunkt in Kraft trat. In eingeschränktem Umfang können auf vor Inkrafttreten dieses Straftatbestands begangenen grenzüberschreitenden Umsatzsteuerbetrug §§33 und 39 FinStrG zur Anwendung gelangen.

2.1.2.Ausgeweitete Zuständigkeit

Die Kernzuständigkeit der EUStA für PIF-Straftaten wird durch Art 22 Abs 2 EUStA-VO auf die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, wenn der Schwerpunkt der strafbaren Aktivitäten auf die Begehung von den in der PIF-Richtlinie enthaltenen Straftaten liegt, und durch Art 22 Abs 3 EUStA-VO auf mit PIFStraftaten untrennbar verbundenen Straftaten16 ausgeweitet.

Zur Auslegung des Begriffs der „Straftaten im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“ verweist Art 22 Abs 2 EUStA-VO auf die Definition im Rahmenbeschluss 2008/841/JI des Rates, wobei wiederum deren konkrete Umsetzung in nationales Recht maßgeblich ist. In Österreich sind diese Vorgaben nach Ansicht des Gesetzgebers in § 278 StGB umgesetzt.17

Der Begriff der „untrennbar miteinander verbundenen Straftaten“ soll laut EUStA-VO anhand der Rechtsprechung zum Grundsatz des ne bis in idem ausgelegt werden, und zwar als Identität der Sachverhalte oder im Wesentlichen gleichartigen Sachverhalte, also als einer Reihe von Umständen, die räumlich und zeitlich untrennbar miteinander verbunden sind.18 Umfasst sind daher jedenfalls idealkonkurrierende strafbare Handlungen wie zB das betrügerische Erlangen einer Förderung, die aus einem mit EU-Mitteln und nationalen Mitteln finanzierten Förderungstopf ausbezahlt wird: Hinsichtlich letzteren Schadens ist der Tatbestand des § 146 StGB erfüllt, hinsichtlich des EU-Schadens §168f Abs 1 StGB.19

Dieser enge Begriff der „untrennbar miteinander verbundenen Straftaten“ wurde jedoch vom Unionsgesetzgeber auch auf sogenannte „akzessorische“ Straftaten erweitert. Das sind solche Straftaten, die mit dem Hauptziel begangen wurden, die PIF-Straftat zu ermöglichen, indem zB dadurch die für die Begehung der PIFStraftat nötigen materiellen oder rechtlichen Mittel dadurch besorgt werden.20

2.2.Zeitliche Zuständigkeit

Die zeitliche Zuständigkeit der EUStA erstreckt sich auf solche Straftaten, die nach dem Inkrafttreten der EUStA-VO, mithin nach dem 20. 11. 2017, begangen wurden.21 Aufgrund des Umstands, dass die für die Ausübung der Zuständigkeit der EUStA hinsichtlich gewisser PIFDelikte maßgeblichen Strafbestimmungen in Österreich teilweise erst zu einem späteren Zeit-

16 Davon explizit ausgenommen sind Straftaten in Bezug auf nationale Steuern; Art 22 Abs 4 EUStA-VO.

17 ErlRV zu BGBl I 2021/94, 5, Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 22 EUStA-VO Rz 21.

18 ErwGr 54 EUStA-VO.

19 Allenfalls auch §§ 146 ff StGB, siehe dazu Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 168f Rz 55 f mwN.

20 ErwGr 56 EUStA-VO; vgl dazu auch Oshidari in Höpfel/ Ratz, WK StGB2, Art 22 EUStA-VO Rz 24.

21 Art 120 Abs 2 EUStA-VO.

229 ZWF 6/2022
Schwerpunkt Zuständigkeitsgrenzen der EUStA

punkt, nämlich am 23. 7. 2019 bzw am 28. 12. 2019 in Kraft getreten sind,22 kann die EUStA –sofern keine anderen (bereits in Kraft stehenden) Strafbestimmungen23 zur Anwendung gelangen können – ihre Zuständigkeit nicht umfassend hinsichtlich dieser PIF-Delikte ausüben.

So ist zB § 40 FinStrG, der die Beteiligung an oder die Errichtung eines grenzüberschreitenden Umsatzsteuerbetrugssystems mit einem Gesamtschaden an Umsatzsteuer auf dem Gemeinschaftsgebiet von zehn Millionen Euro unter Strafe stellt, erst am 23. 7. 2019 in Kraft getreten. Ebenso ist die mit § 2 Abs 1 lit d FinStrG geschaffene Rechtsgrundlage für die Berücksichtigung eines Einnahmenausfalls an Umsatzsteuer in einem anderen EU-Mitgliedstaat erst an diesem Tag in Kraft getreten. Letztere Bestimmung ist jedoch wesentlich für die Berechnung des durch das Betrugssystem verursachten Gesamtschadens auf dem Gemeinschaftsgebiet und damit auch für die Begründung der Zuständigkeit der EUStA. Wenngleich zeitlich davor gesetzte Straftaten iSd Art 3 Abs 2 lit d PIFRichtlinie – zumindest insoweit sie durch falsche, unrichtige oder unvollständige Umsatzsteuererklärungen oder Unterlagen oder durch das Verschweigen einer umsatzsteuerrelevanten Information unter Verletzung einer gesetzlichen Pflicht begangen wurden24 – nach §§ 33 und 39 FinStrG in Österreich verfolgt werden können, kann der durch das Betrugssystem in einem anderen EU-Mitgliedstaat davor eingetretene Umsatzsteuerschaden nicht berücksichtigt werden, sodass eine Zuständigkeit der EUStA in Österreich für solche Straftaten, die vor dem 23. 7. 2019 begangen wurden, in der Praxis schwer begründbar ist.

2.3.Örtliche und personelle Zuständigkeit

Gemäß Art 23 lit a EUStA-VO ist die örtliche Zuständigkeit der EUStA gegeben, wenn die in Art 22 EUStA-VO genannten Straftaten ganz oder teilweise im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten25 begangen wurden. Fraglich ist, ob Ort der Tatbegehung nur der Ort der Tathandlung oder auch der Ort des dem Tatbild entsprechende Erfolgseintritts ist. Mangels Definition in der EUStA-VO wird auf die Definition des Begriffs in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen abzustellen sein. Nach § 67 Abs 2 StGB ist daher für die Beurteilung, ob eine Straftat in Österreich begangen wurde, sowohl der Ort der (geplanten) Tathandlung als

22 Siehe FN 13 und 14.

23 Siehe die Ausführungen in FN 13 f.

24

Die dritte in der PIF-Richtlinie enthaltene Tatbegehungsform der „Vorlage richtiger Mehrwertsteuer-Erklärungen zur betrügerischen Verschleierung einer nicht geleisteten Zahlung oder zur unrechtmäßigen Begründung von Ansprüchen auf Erstattung der Mehrwertsteuer“ ist nicht von §§ 33, 39 FinStrG erfasst.

auch der Ort des (geplanten) Erfolgseintritts maßgeblich.

Ferner kann gemäß Art 23 lit b EUStA-VO die EUStA auch Straftaten von Staatsbürgern der teilnehmenden Mitgliedstaaten verfolgen, die außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats begangen wurden, sofern die jeweiligen nationalen Bestimmungen eine inländische Gerichtsbarkeit für solche Taten vorsehen (aktives Personalitätsprinzip). Damit hängt die Zuständigkeit der EUStA für außerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten begangene Straftaten der jeweiligen Staatsbürger maßgeblich von den relevanten nationalen Bestimmungen ab. In Österreich ist anhand §§ 64 und 65 StGB26 (allenfalls iVm § 12 Abs 2 VbVG) bzw § 5 Abs 2 FinStrG zu prüfen, ob für eine von einem österreichischen Staatsbürger im Ausland begangene Straftat iSd Art 22 Abs 1 bis 3 EUStA-VO eine inländische Gerichtsbarkeit gegeben ist.

Ergänzend schafft Art 23 lit c EUStA-VO einen weiteren Anknüpfungspunkt für EUBeamte, unabhängig von deren Staatsbürgerschaft, die eine Straftat außerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats begangen haben. Voraussetzung ist auch in diesem Fall, dass ein Mitgliedstaat für solche Straftaten nach seinen nationalen Bestimmungen zuständig ist.

3.Rechtliche Grenzen der Ausübung der Zuständigkeit

Die EUStA hat hinsichtlich der in ihre Zuständigkeit fallenden Straftaten keine ausschließliche, sondern prioritäre Zuständigkeit. Das bedeutet, dass nationale Strafverfolgungsbehörden zur Verfolgung dieser Straftaten ebenfalls zuständig sind, sie jedoch der EUStA den Vortritt zu lassen haben.27 Die EUStA-VO enthält in Umsetzung dieses Grundsatzes eine – direkt anwendbare – Verpflichtung nationaler Behörden, der EUStA unverzüglich über Straftaten, die in ihre Zuständigkeit fallen könnten, zu berichten.28

Die EUStA darf jedoch nicht in allen Fällen, in denen sie sachlich, örtlich und zeitlich zuständig ist, ihre Zuständigkeit auch ausüben. Unter gewissen Voraussetzungen hat sie also den nationalen Strafverfolgungsbehörden den Vortritt zu lassen. Die in der EUStA-VO vorgesehenen Zuständigkeitsschranken sollen gewährleisten, dass die EUStA nur Straftaten von einer gewissen Schwere verfolgt und bei Sachverhalten mit eng miteinander verbundenen Straftaten oder einer Straftat mit mehreren Opfern nur dann tätig wird, wenn jene Straftaten zulasten der finanziellen Interessen der Union schwerer wiegen bzw der Schaden für die EU höher ist.

26 Siehe dazu im Detail Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 23 EUStA-VO Rz 4.

25

Als „Mitgliedstaaten“ sind nur die am Beschluss zur Errichtung der EUStA teilnehmenden Mitgliedstaaten zu verstehen. Siehe die Ausführungen in FN 7.

27 ErwGr 58 EUStA-VO.

28 Art 24 Abs 1 bis 3 EUStA-VO; siehe auch § 8 EUStADG.

Schwerpunkt Zuständigkeitsgrenzen der EUStA 230 6/2022 ZWF

3.1.Geringfügigkeitsschwelle

Art 25 Abs 2 EUStA-VO enthält eine Bagatellgrenze, die sich nach dem tatsächlich eingetretenen oder zu erwarteten Schaden für die EU richtet. Die Grundregel besagt, dass bei einem Schaden von unter 10.000 € die EUStA ihre Zuständigkeit nicht ausüben darf. Es bedarf also grundsätzlich zumindest eines Schadens von 10.000 € für die EU, damit die EUStA tätig werden kann.

Diese Grundregel enthält jedoch zwei Ausnahmen, unter denen die EUStA dennoch bei einem Schaden von unter 10.000 € ihre Zuständigkeit ausüben darf. Die erste Ausnahme ist, wenn der Fall Auswirkungen auf Unionsebene hat, die eine Ermittlung durch die EUStA erforderlich machen.29 Nach dem Verständnis des Unionsgesetzgebers sind darunter folgende Fallkonstellationen zu verstehen: Straftaten mit einer gewissen grenzüberschreitenden Dimension, Straftaten mit Beteiligung einer kriminellen Vereinigung oder solche Straftaten, deren besondere Art „eine ernste Gefahr für die finanziellen Interessen der Union oder für die Glaubwürdigkeit ihrer Organe und das Vertrauen ihrer Bürger darstellen könnte“. 30

Die zweite Ausnahme von der Grundregel richtet sich danach, ob der oder die möglichen Verdächtigen in den Kreis der Beamten oder sonstigen Bediensteten der EU oder eines Mitglieds der Organe der Union fallen könnten.31

3.2.Höchststrafenvergleich

Art 25 Abs 3 lit a EUStA-VO kommt dann zur Anwendung, wenn eine PIF-Straftat mit einer anderen Straftat iSd Art 22 Abs 3 EUStA-VO untrennbar verbunden ist. Die EUStA soll in diesem Fall ihre Zuständigkeit nur ausüben können, wenn der Schwerpunkt des Tatgeschehens bei der PIF-Straftat liegt. Die Beurteilung erfolgt anhand der für die jeweiligen Delikte vorgesehenen Höchststrafe: Ist die fallkonkret für die PIF-Straftat vorgesehene Höchststrafe gleich oder geringer als jene für die andere untrennbar damit verbundene Straftat, darf die EUStA ihre Zuständigkeit weder für die PIFStraftat noch für die andere Straftat ausüben. Die Ermittlungen hinsichtlich beider Straftaten sind den nationalen Strafverfolgungsbehörden zu überlassen.

Von dieser Regel ausgenommen sind jedoch solche Fälle, in denen die andere Straftat lediglich Mittel zur Begehung der PIF-Straftat ist. In solchen Fällen ist die andere Straftat trotz gleich oder höher angedrohter Höchststrafe als akzessorisch zur PIF-Straftat anzusehen. Davon ist insbesondere dann auszugehen, wenn die Straftat mit dem Hauptziel begangen wurde, die Begehung der PIF-Straftat zu ermöglichen, indem zB dadurch die für die Begehung der PIF-Straf-

29 Art 25 Abs 2 lit a EUStA-VO. 30 ErwGr 59 EUStA-VO. 31 Art 25 Abs 2 lit b EUStA-VO.

tat nötigen materiellen oder rechtlichen Mittel besorgt werden.32 In solchen Fallkonstellationen kann die EUStA trotz geringer oder gleicher Höchststrafdrohung hinsichtlich der PIF-Straftat die Verfolgung dieser als auch der untrennbar verbundene anderen Straftat übernehmen.

Der Begriff der „Straftat“ ist im Sinne des Begriffs „Straftatbestand“ zu verstehen.33 Ob daher diese Regel in einem bestimmten Fall zur Anwendung gelangt, hängt maßgeblich von der Umsetzung der PIF-Delikte in das nationale Recht ab. Das lässt sich am Beispiel des betrügerischen Herauslockens durch falsche Angaben einer aus EU-Mitteln und nationalen Mitteln finanzierten Förderung veranschaulichen. Das maßgebliche PIF-Delikt des ausgabenseitigen Betrugs zum Nachteil des EU-Haushalts nach Art 3 Abs 2 lit a PIF-Richtlinie erfüllt den Tatbestand des § 168f Abs1 StGB,34 während der Betrug zum Nachteil des österreichischen Staatshaushalts nach § 146 StGB strafbar ist. Unter der Annahme, dass die Förderung aus einem aus EU- und nationalen Mitteln gespeisten Förderungstopf bezahlt wird, tritt der Schaden für die EU und für Österreich durch die Ausbezahlung der Förderung ein. Die Ausbezahlung wird durch eine Tathandlung (Förderungsantrag mit falschen Angaben) erwirkt, weshalb die beiden Straftaten untrennbar miteinander verbunden sind. Die EUStA ist gemäß Art 22 Abs 1 EUStAVO für die Straftat des § 168f Abs 1 StGB und gemäß Art 22 Abs 3 EUStA-VO für die Straftat nach § 146 StGB grundsätzlich zuständig.

Sie hat in einem solchen Fall nach Art 25 Abs3 lit a EUStA-VO jedoch zu prüfen, ob sie ihre Zuständigkeit auch ausüben kann. Da die zu verhängende Höchststrafe von der Höhe des jeweiligen Schadens im Sinne des jeweiligen Beitrags zur Förderung abhängt, darf sie je nach Beitragshöhe ihre Zuständigkeit entweder ausüben oder nicht, wobei das Ergebnis nicht immer sachgerecht erscheint. So dürfte zB die EUStA bei einem EU-Beitrag von 150.000 € und einem nationalen Beitrag von 280.000 € ihre Zuständigkeit ausüben, weil fallkonkret die Höchststrafe für die PIF-Straftat nach § 168f Abs 4 Satz 1 StGB fünf Jahre, nach §147 Abs 2 StGB lediglich drei Jahre beträgt. Ab einem jeweiligen Förderungsbeitrag von mehr als 300.000 € ist die Höchststrafe bei beiden Straftaten mit zehn Jahren jedoch immer gleich und der EUStA nach dieser Regel nicht gestattet, diese Straftaten zu verfolgen. Dies auch dann nicht, wenn der EU-Beitrag den nationalen Beitrag um ein Vielfaches übersteigt, weil dies an der zu verhängenden Höchststrafe nichts ändert. Wäre zB der EU-Beitrag zur Förderung zwei Millionen Euro und der nationale Beitrag

32 ErwGr 56 EUStA-VO. 33 Vergleiche auch in der englischen Fassung „offence“, der französischen Fassung „infraction“ und der spanischen Fassung „delito“ 34 Allenfalls auch nach §§ 146 ff StGB, siehe dazu Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 168f Rz 55 f.

231 ZWF 6/2022
Schwerpunkt Zuständigkeitsgrenzen der EUStA

500.000 €, würden die Ermittlungen – trotz offensichtlich schwerwiegenden Folgen für das EU-Budget – nicht von der EUStA durchgeführt werden können, sondern wären allein die nationalen Strafverfolgungsbehörden zuständig.

In der vorliegenden Fallkonstellation würde auch die Ausnahmeregel nicht greifen, weil die Straftat nach § 146 StGB nicht als „Mittel zur Begehung“ der PIF-Straftat nach § 168f StGB angesehen werden kann.35 Es besteht auch nicht die Möglichkeit – wie bei Art 25 Abs 3 lit b EUStAVO –, die Zuständigkeit nach Einholung der Zustimmung durch die sonst zuständigen nationalen Staatsanwaltschaften auszuüben. Wären jedoch fallkonkret lediglich die §§ 146 ff StGB anwendbar,36 wäre nur eine Straftat iSd EUStAVO verwirklicht und käme Art 25 Abs 3 lit a leg cit gar nicht zur Anwendung: Die EUStA könnte die Straftat ungeachtet der Höhe der jeweiligen Förderungsbeiträge verfolgen.37

3.3.Schadensvergleich

Art 25 Abs 3 lit b EUStA-VO kommt nur eingeschränkt auf bestimmte PIF-Delikte zur Anwendung. Explizit ausgenommen sind der ausgabenseitige Betrug nach Art 3 Abs 2 lit a und b PIF-Richtlinie sowie der grenzüberschreitende Umsatzsteuerbetrug nach Art 3 Abs 2 lit d PIFRichtlinie. Bei den übrigen in ihre Zuständigkeit fallenden Delikte hat die EUStA zu prüfen, ob sie ihre Zuständigkeit nach dieser Bestimmung ausüben darf. Die Regel kommt nur dann zu tragen, wenn durch die PIF-Straftat (in ihrer nationalen Umsetzung) nicht nur der EU, sondern auch einem anderen Rechtssubjekt ein Schaden entstanden ist bzw entstanden wäre. In einem solchen Fall hat die EUStA einen Schadensvergleich vorzunehmen: Ist der durch die Straftat für die EU entstandene oder voraussichtliche Schaden gleich oder geringer als der Schaden für ein anderes Opfer, so darf sie ihre Zuständigkeit nicht auszuüben.

Da der Begriff „Straftat“ als „Straftatbestand“ zu verstehen ist, bestimmt letztendlich die Umsetzung der in Frage kommenden PIFDelikte ins nationale Recht, ob die EUStA einen

35 Diese Beurteilung könnte im Fall der (teilweisen) Erstattung von aus nationalen Geldern ausbezahlten Förderungen durch die EU je nach den konkreten Umständen des Falls anders ausfallen.

36 Fraglich, ob dies auch bei Annahme einer echten Konkurrenz zwischen §§ 146 und 168f StGB gilt; siehe dazu Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 168f Rz 55 f.

37 Sofern der Schaden für den EU-Haushalt zumindest 10.000 € beträgt. Die subsidiäre Anwendung des Art 25 Abs 3 lit b EUStA-VO ist hinsichtlich dieses PIF-Delikts ausdrücklich ausgeschlossen; siehe Pkt 3.3.

solchen Schadensvergleich vorzunehmen hat. In Österreich ist zB der einnahmenseitige Betrug nach Art 3 Abs 2 lit c PIF-Richtlinie unter § 35 FinStrG zu subsumieren. Als „Eingangsabgaben“ sind nicht nur – dem EU-Haushalt zufließenden – Zölle, sondern auch nationale Abgaben wie die Einfuhrumsatzsteuer oder Verbrauchsteuern zu verstehen. Daher entsteht bei der Begehung der Straftat des einnahmenseitigen Betrugs in seiner Umsetzung in nationales Recht nicht nur ein Schaden für die EU (hinterzogene oder nichtdeklarierter Zoll) sondern auch für Österreich (Einfuhrumsatzsteuer bzw Verbrauchsteuer). Sofern der Betrag an hinterzogenem oder nichtdeklariertem Zoll jenen an Einfuhrumsatzsteuer und allfälligen Verbrauchsteuern nicht übersteigt, darf die EUStA ihre Zuständigkeit nicht ausüben.

Gemäß Art 25 Abs 4 EUStA-VO kann die EUStA in einem solchen Fall dennoch ihre Zuständigkeit ausüben, wenn sie „besser in der Lage ist, die Ermittlungen durchzuführen oder Straftaten zu verfolgen“ und die sonst zuständigen nationalen Strafverfolgungsbehörden zustimmen.38 Für eine effizientere Verfolgung durch die EUStA sprechen ähnliche Umstände wie zB jene, die auch bei Vorliegen eines 10.000 € nicht übersteigenden Schadens für die EU eine Verfolgung durch die EUStA nahelegen.39

Auf den Punkt gebracht

Obwohl die EUStA als eine einheitliche Behörde agiert (Art 8 Abs 1 EUStA-VO) und eine effektive Verfolgung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU gewährleisten soll, kann sie ihre Zuständigkeit nicht in allen Mitgliedstaaten im gleichen Umfang ausüben. Die unterschiedliche inhaltliche Umsetzung der PIF-Straftaten in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen führt dazu, dass die in der EUStA-VO enthaltenen Zuständigkeitsschranken in der Praxis in manchen Mitgliedstaaten für gewisse Arten von Straftaten gar nicht zur Anwendung kommen, in anderen jedoch die Ausübung der Zuständigkeit durch die EUStA teilweise stark einschränken.

38 Gemäß § 6 EUStA-DG haben nationale Behörden grundsätzlich ihre Zustimmung zu erteilen.

39 ErwGr 60 EUStA-VO; vgl die Ausführungen unter Pkt3.1.

Schwerpunkt Zuständigkeitsgrenzen der EUStA 232 6/2022 ZWF

3

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Europäischen Staatsanwaltschaft

Art 31 EUStA-VO – eine Innovation?

Dieser Beitrag beleuchtet die Entstehungsgeschichte von Art 31 EUStA-VO sowie die unterschiedlichen Interpretationen und die praktische Anwendung der Bestimmung durch die Europäische Staatsanwaltschaft anknüpfend an das dazu eingebrachte Vorabentscheidungsersuchen des OLG Wien.1

1.Das Vorabentscheidungsersuchen des OLG Wien

Das erste Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung von Bestimmungen der Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA;2 idF EUStA-VO) ließ nicht lange auf sich warten: Rund zehn Monate nach Beginn der operativen Tätigkeit der EUStA3 legte das OLG Wien dem EuGH drei Fragen zur Auslegung von Art 31 EUStA-VO, der die grenzüberschreitende Zusammenarbeit innerhalb der an der EUStA teilnehmenden Mitgliedstaaten regelt, zur Vorabentscheidung vor.

Dem Vorabentscheidungsersuchen liegt ein Ermittlungsverfahren der EUStA zugrunde, das in Deutschland eingeleitet und geführt wird. Im Rahmen dessen waren Hausdurchsuchungen erforderlich, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Slowakei durchgeführt werden sollten. Die deutsche Delegierte Europäische Staatsanwältin4 (DEStA) erlangte einen gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss in Deutschland für die in Deutschland durchzuführenden Durchsuchungen. Für die gerichtliche Bewilligung der in Österreich durchzuführenden Hausdurchsuchungen wies die (mit dem Ermittlungsverfahren) betraute DEStA gemäß Art 31 Abs 1 EUStA-VO der unterstützenden DEStA in Österreich die Durchsuchungsmaßnahme zu.

Die unterstützende DEStA beantragte die nach österreichischem Recht erforderliche gerichtliche Bewilligung, die auch erteilt wurde. Die betroffenen Personen erhoben dagegen Beschwerde und machten im Wesentlichen gel-

1 Vorabentscheidungsersuchen des OLG Wien vom 25.4. 2022, G. K., B. O. D. GmbH, S. L., C-281/22, ABl C 318 vom 22. 8. 2022, S 23.

2 ABl L 283 vom 31. 10. 2017, S 1.

Der operative Beginn wurde mit 1. 6. 2021 festgelegt durch den Durchführungsbeschluss (EU) 2021/856 der Europäischen Kommission zur Festlegung des Zeitpunkts, zu dem die Europäische Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungs- und Strafverfolgungsaufgaben übernimmt, ABl L 188 vom 28. 5. 2021, S 100, berichtigt durch ABl L 190 vom 31. 5. 2021, S 101.

4 Soweit es sich nicht um Zitate handelt, wird im Beitrag das generische Femininum verwendet, mit dem alle Geschlechteridentitäten ausdrücklich mitgemeint sind.

tend, dass der Tatverdacht nicht gegeben bzw grob mangelhaft begründet sei, dass die Sicherstellungen zeitlich überschießend genehmigt worden seien und diese gegen Art 8 Abs 1 EMRK (Verletzung des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Klient) verstießen. Das OLG Wien legte dem EuGH sinngemäß folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:  Hat in diesem Fall eine vollinhaltliche Prüfung der Anordnung durch ein österreichisches Gericht stattzufinden (Tatverdacht, Verhältnismäßigkeit, Erforderlichkeit etc)? 

Ist bei der gerichtlichen Prüfung zu berücksichtigen, dass es in Deutschland bereits eine gerichtliche Bewilligung gibt? 

Für den Fall, dass die erste Frage verneint und die zweite bejaht wird, in welchem Umfang ist die Maßnahme von einem österreichischen Gericht zu prüfen?

2.Die Bestimmung des Art 31 EUStA-VO

Es ist fraglich, wo in Art 31 EUStA-VO die Zweifel über die Auslegung zu verorten sind, die das OLG Wien zur Vorlage an den EuGH bewogen haben. Zunächst wird in Art 31 Abs 2 EUStA-VO angeordnet, dass für „die Begründung und Anordnung derartiger Maßnahmen […] das Recht des Mitgliedstaats des betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts maßgeblich“ ist. Aus dem Umstand, dass für die Anordnung der Maßnahme im gegenständlichen Fall deutsches Recht maßgeblich ist, könnte geschlossen werden, dass dies auch die Einholung einer gerichtlichen Bewilligung umfasst.

In diesem Zusammenhang ist allerdings Art31 Abs 3 EUStA-VO bzw ErwGr 72 beachtlich. Ersterer weist das Forum für eine gerichtliche Bewilligung grundsätzlich dem Mitgliedstaat zu, in dessen Hoheitsgebiet die Maßnahme zu vollstecken ist (UAbs 1 leg cit).5 Dies gilt dem Wortlaut nach sowohl für den Fall, dass in beiden Mitgliedstaaten eine gerichtliche Bewilligung für die Maßnahme erforderlich ist, als auch für den Fall, dass die gerichtliche Bewilli-

5 So auch Kuhl, The European Public Prosecutor’s Office –More Effective, Equivalent, and Independent Criminal Prosecution against Fraud? eucrim 2017, 135 (139).

Judith

ist Referentin in der Abteilung für strafrechtliche Nebengesetze und multilaterale Zusammenarbeit in Strafsachen im BMJ.

233 ZWF 6/2022 Schwerpunkt Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der EUStA
Schwerpunkt
Dr. Herrnfeld

gung nur im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA vorgesehen ist.6

Nur für den Fall, dass für die Maßnahme nach dem Recht der unterstützenden DEStA keine gerichtliche Bewilligung, aber eine solche nach dem Recht der betrauten DEStA erforderlich ist, ist im Mitgliedstaat der betrauten DEStA die gerichtliche Bewilligung einzuholen (UAbs 3 leg cit). ErwGr 72 erläutert dazu weiter: „Ist eine richterliche Genehmigung für die Maßnahme erforderlich, so ist eindeutig festzulegen, in welchem Mitgliedstaat die Genehmigung eingeholt werden sollte; es sollte indes auf jeden Fall nur eine Genehmigung geben.“7 Danach scheint es, dass der europäische Gesetzgeber für die EUStA ein vollkommen neuartiges, mit den bisherigen Instrumenten der gegenseitigen Anerkennung jedenfalls nicht vergleichbares System der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit schaffen wollte.8 Ein System, in dem es in jedem Fall nur eine gerichtliche Bewilligung geben soll.9

Im Vergleich dazu kann es bei der Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen10 durchaus zu Fällen kommen, in denen für die Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme sowohl im Anordnungsstaat als auch im Vollstreckungsstaat ein Gericht zu befassen ist. Art 2 lit c Z i leg cit definiert die Anordnungsbehörde zwar alternativ als „einen Richter, ein Gericht, einen Ermittlungsrichter oder einen Staatsanwalt, der/das in dem betreffenden Fall zuständig ist“. Aus der Judikatur des EuGH ergibt sich aber zweifelsfrei, dass für gewisse Maßnahmen im Anordnungsstaat zumindest eine gerichtliche Genehmigung vorliegen muss, wenn dies auch für rein innerstaatliche Fälle nach dem anwendbaren Verfahrensrecht vorgesehen ist.11 Für den Vollstreckungsstaat definiert lit d leg cit die Vollstre-

6 H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, European Public Prosecutor’s Office – Article by Article Commentary (2021) (idF Commentary) Art 31 Rz 21; Niedernhuber in H.-H. Herrnfeld/Esser (Hrsg), Handbuch Europäische Staa tsanwaltschaft (2022) § 7 Rz 137 ff; aA Beschluss des Kollegiums der EUStA 006/ 2022 vom 26. 1. 2022 über die Annahme von Leitlinien des Kollegiums der EUStA zur Anwendung von Art 31 der Verordnung (EU) 2017/1939 (idF Leitlinien der EUStA zu Art 31) Rn 8; eine anhand der EUStA-VO systematisierte Darstellung aller Kollegiumsbeschlüsse einschließlich der Leitlinien der EUStA ist unter www.eppo-lex.eu zu finden.

7 Hervorhebung durch die Autorin.

8 Siehe ausführlicher dazu Pkt 3.

9 Niedernhuber in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 7 Rz 133; aA Bachmaier Winter, Cross-Border Investigations Under the EPPO Proceedings and the Quest for Balance, in Bachmaier Winter (Hrsg), The European Public Prosecutor’s Office (2018) 117 (128), die argumentiert, dass sich bereits aus dem Wortlaut des Art 31 Abs 3 EUStA-VO ganz klar ergibt, dass für den Fall, dass die zugewiesene Maßnahme einer gerichtlichen Genehmigung im „Anordnungsstaat“ bedarf, die betraute DEStA diese einzuholen und der unterstützenden DEStA mit zu übermitteln hat.

10 ABl L 130 vom 1. 5. 2014, S 1.

11 EuGH 16. 12. 2021, Spetsializirana prokuratura, C-724/19, insb Rn 39 ff mHa EuGH 2. 3. 2021, Prokuratuur, C-746/ 18.

ckungsbehörde ebenso als „eine Behörde, die […] gemäß […] den in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen anzuwendenden Verfahren zuständig ist“. So wäre etwa für eine Telefonüberwachung in beiden Staaten ein Gericht zu befassen.

Was sagt die EUStA-VO nun zum Prüfmaßstab, wenn für die Maßnahme eine gerichtliche Bewilligung im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA einzuholen ist? Art 31 Abs 3 UAbs 1 EUStA-VO verweist dazu lediglich auf das nationale Recht. Es scheint daher naheliegend, dass das Gericht eine vollinhaltliche Prüfung der Maßnahme vorzunehmen hat.12 Auch aus der Judikatur des EuGH13 bzw den Vorgaben nationaler Verfassungen14 ist zu entnehmen, dass bei bestimmten Maßnahmen, Tatverdacht sowie Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu prüfen sind. Eine solche Prüfung erfordert auch umfangreiche Aktenkenntnis. Die grenzüberschreitende Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen wird jedoch durch Aktenübermittlungen und gegebenenfalls auch Übersetzungen erheblich erschwert und Verfahren werden dadurch ineffizient. Auch im Hinblick auf die personellen Ressourcen scheint ein derartiges Vorgehen ineffizient, weil für unterschiedliche Maßnahmen auch unterschiedliche Richterinnen befasst werden würden.

Geht man allerdings davon aus, dass bereits im Mitgliedstaat der betrauten DEStA eine vollinhaltliche Prüfung durch ein Gericht stattgefunden hat, stellt sich durchaus die Frage, warum eine weitere vollinhaltliche Prüfung im Mitgliedstaat der assistierenden DEStA erfolgen sollte. Dies stünde jedenfalls in klarem Widerspruch mit ErwGr 72. In diesem Fall könnte der Verweis auf das nationale Recht daher auf eine formale Prüfung hindeuten, die etwa im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2014/41/EU vorgesehen ist. Im konkreten Fall wären daher §§ 55a und 55b EU-JZG anzuwenden, die Art 10 über den Rückgriff auf eine Ermittlungsmaßnahme anderer Art und Art 11 über die Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung umsetzen.

Man könnte daher zum Ergebnis kommen, dass ErwGr 72 nur eine substanzielle Prüfung durch ein Gericht meint und eine weitere, allerdings auf formale Aspekte der Maßnahmen eingeschränkte Kontrolle durch ein Gericht im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA nicht ausschließen wollte. Diese Ansicht könnte von Art 31 Abs 5 EUStA-VO gestützt werden, der

12 Niedernhuber in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 7 Rn 147 f.

13 EuGH 16. 12. 2021, Spetsializirana prokuratura, C-724/ 19, Rn 42; 2. 3. 2021, Prokuratuur , C-746/18, Rn 51 mwN.

14 ZB Art 13 Abs 2 dGG und in Österreich das Gesetz zum Schutz des Hausrechts betreffend Durchsuchungen, Art 10a Staatsgrundgesetz betreffend das Fernmeldegeheimnis.

Schwerpunkt Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der EUStA 234 6/2022 ZWF

das Verhältnis zwischen betrauter und unterstützender DEStA regelt. Dort sind einige Umstände vorgesehen, bei deren Vorliegen die unterstützende DEStA die die Aufsicht führende Europäische Staatsanwältin zu informieren und sich mit der betrauten DEStA zu beraten hat, „um die Angelegenheit in beiderseitigem Einvernehmen zu regeln“. Die Punkte c15 und d16 des Abs 5 leg cit erinnern dabei an Art 10 Abs 1 lit a und b sowie Abs 3 und an Art 11 Abs 1 lit h der Richtlinie 2014/41/EU. Dem Wesen der Maßnahmen der gegenseitigen Anerkennung liegt zugrunde, dass grundsätzlich nur im Anordnungsstaat die Bedingungen für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung zu prüfen sind und diese nur dort Gegenstand eines Rechtsmittels sein können.17 Aufgrund dieser Parallelitäten mit der Richtlinie 2014/41/EU könnte argumentiert werden, dass der Gesetzgeber dieselbe Arbeitsteilung zwischen betrauter und unterstützender DEStA anstrebte, wie sie die Richtlinie 2014/41/EU auch für Anordnungs- und Vollstreckungsbehörde vorsieht.

Wird diese Auslegung gedanklich weiterverfolgt, könnte man der Ansicht sein, dass die EUStA-VO auch für die Gerichte in den Mitgliedstaaten der betrauten und unterstützenden DEStA dieselbe Arbeitsteilung impliziert. Wenn der Prüfmaßstab der unterstützenden DEStA nur die in Abs 5 leg cit aufgezählten Umstände umfasst, dann kann ein nachprüfendes Rechtsmittel, dass sich gegen eine Entscheidung der unterstützenden DEStA richtet, mit der die Durchführung der zugewiesenen Maßnahme angeordnet wird, schwer einen weiteren Prüfmaßstab für das Gericht umfassen, als die EUStA-VO für die Entscheidung durch die unterstützende DEStA vorsieht. Für den Fall, dass eine Maßnahme daher nur nach dem Recht der betrauten DEStA oder aber im Fall, dass die Maßnahme weder nach dem Recht der betrauten noch der unterstützenden DEStA einer gerichtlichen Genehmigung bedarf, kann man zweifelsfrei zu diesem Ergebnis kommen.

Wenn allerdings für die Maßnahme nach dem Recht der unterstützenden DEStA eine gerichtliche Genehmigung vorgesehen ist, stellt sich neuerlich die Frage, wie eine ausschließlich formale Prüfung durch das Gericht im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA mit dem Wortlaut von Art 31 EUStA-VO vereinbar sein kann. Folgt man der Ansicht, dass die Arbeits-

15

„sich mit einer alternativen, weniger eingreifenden Maßnahme dieselben Ergebnisse wie mit der zugewiesenen Maßnahme erreichen ließen.“

16 „die zugewiesene Maßnahme nach dem Recht seines Mitgliedstaats nicht existiert oder in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stünde.“

17 Art 6 Abs 1 und 14 Abs 2 Richtlinie 2014/41/EU; nach Art 6 Abs 3 leg cit kann die Vollstreckungsbehörde zwar Rückfragen an die Anordnungsbehörde zum Vorliegen der Voraussetzungen für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung stellen, allerdings bleibt es im Ermessen der Anordnungsbehörde, diese zurückzuziehen oder nicht.

teilung zwischen betrauter und unterstützender DEStA nach Abs 5 leg cit auch auf die Arbeitsteilung bei der gerichtlichen Vorabkontrolle von Ermittlungsmaßnahmen durchschlägt, stellt sich doch die Frage, welchen Sinn die in Abs 3 leg cit vorgesehene Zuweisung des Forums für die (einzige) gerichtliche Prüfung haben soll.18 Darüber hinaus wird im Zusammenhang mit dem Prüfmaßstab des Gerichts im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA auf das Recht der unterstützenden DEStA verwiesen und nicht etwa auf Abs 5 leg cit.

3.Rückblick

3.1.Abkehr vom System der gegenseitigen Anerkennung

Zum weiteren Verständnis von Art 31 EUStAVO soll auch der Verhandlungsprozess dargestellt werden. Der Vorschlag der Europäische Kommission19 sah nur rudimentäre Bestimmungen für grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen innerhalb der EUStA vor.20 Einschlägig waren Art 18 Abs 2 und 3 des Vorschlags. Demnach haben die DEStA in enger Abstimmung21 vorzugehen und es kann die Europäische Generalstaatsanwältin entscheiden, dass gemeinsame Ermittlungsgruppen zu bilden sind. Bereits Art 26 Abs 4 des Vorschlags sah im Hinblick auf gerichtliche Bewilligungen von Maßnahmen vor, dass Ermittlungsmaßnahmen dort von einem Gericht zu bewilligen sind, wo die Maßnahmen durchgeführt werden sollen.22 Art 31 EUStA-VO idgF wurde daher im Wesentlichen im Rahmen der Verhandlungen des Rats ausgestaltet. Dessen Abs 3 UAbs 1 folgt aber insoweit dem schon im Kommissionsvorschlag angelegten Konzept einer gerichtlichen Vorabkontrolle im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA.

Im Zuge dieser Verhandlungen war ein Vorschlag23 eingebracht worden, der stattdessen im Wesentlichen auf dem System der gegenseitigen Anerkennung aufbaute. Demnach hätte die be-

18 In diesem Sinn H.-H. Herrnfeld, The Draft Regulation on the Establishment of the European Public Prosecutor’s Office – Issues of Balance between the Prosecution and the Defence, in Brière/Weyembergh (Hrsg), The Needed Balances in EU Criminal Law (2018) 383 (404).

19 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft vom 17.7. 2013, COM(2013)534 final.

20 H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 31 Rz 2.

21 Dieser Grundsatz wurde auch in Art 31 Abs 1 Satz 1 EUStA-VO im Rahmen der Verhandlungen übernommen.

22 Kritisch dazu Zeder, Der Vorschlag zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft: Große – kleine –keine Lösung? JSt 2013, 173 (177), der bereits vor den mit Übersetzungsaufwand usw verbundenen Ineffizienzen dieser Regelung und dem Zurückbleiben hinter den Errungenschaften der Instrumente der gegenseitigen Anerkennung warnte; vgl auch Weyembergh, Towards a European Public Prosecutor’s Office (EPPO) – Study (2016) 31; H.-H. Herrnfeld in Brière/Weyembergh , Balances, 383 (405); Niedernhuber in H.-H. Herrnfeld/ Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, §7 Rz 148.

23 Ratsdok DS 1237/2015.

235 ZWF 6/2022 Schwerpunkt Grenzüberschreitende
Zusammenarbeit in der EUStA

traute DEStA die erforderliche Anordnung getroffen und gegebenenfalls eine gerichtliche Bewilligung dafür entsprechend dem anwendbaren nationalen Recht ihres Mitgliedstaats eingeholt. Die unterstützende DEStA hätte die Maßnahmen anerkennen müssen, soweit der Anerkennung nicht bestimmte Gründe entgegenstehen; weiters wäre im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA auch eine gerichtliche Anerkennungsentscheidung einzuholen, wenn dies für die Maßnahme vorgesehen wäre. Um den Erfordernissen der EUStA als einheitliche Behörde gerecht zu werden, sah der Vorschlag schließlich vor, die Ablehnungsmöglichkeiten, die in Art 11 der Richtlinie 2014/41/EU vorgesehen sind, und auch den in Art 10 leg cit vorgesehenen Rückgriff auf eine Ermittlungsmaßnahme anderer Art wesentlich einzuschränken.

Die Mehrheit der Mitgliedstaaten im Rat war allerdings der Ansicht, dass die Anwendung des Systems der gegenseitigen Anerkennung im Widerspruch zur Natur der EUStA als einheitliche Behörde stünde: Die betraute DEStA sollte nicht eine gerichtliche Bewilligung für eine Ermittlungsmaßnahme bei einem Gericht in ihrem Mitgliedstaat beantragen müssen, die danach im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA anerkannt werden müsste. Vor diesem Hintergrund betont ErwGr 72, dass es nur eine gerichtliche Genehmigung geben sollte.24

Nach Ansicht der Mehrheit im Rat sollte die gerichtliche Bewilligung für eine Maßnahme daher grundsätzlich im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA eingeholt werden. Nur wenn für die Maßnahmen dort keine gerichtliche Bewilligung vorgesehen, eine solche nach dem Recht der betrauten DEStA aber erforderlich ist, sollte sie in deren Mitgliedstaat eingeholt werden. Mit dieser Ausnahme sollte sichergestellt werden, dass die erlangten Beweise im Verfahren, das im Mitgliedstaat der betrauten DEStA geführt wird, auch tatsächlich verwendet bzw verwertet werden dürfen. Verfahrensrechtliche Garantien des auf das Ermittlungsverfahren anwendbaren nationalen Rechts sollten erhalten bleiben. Andernfalls bestünde zB die Gefahr, dass richterliche Vorbehalte für bestimmte Maßnahmen, die gegebenenfalls vom anwendbaren nationalen Verfassungsrecht vorgesehen sind, gänzlich unberücksichtigt blieben.25

Im Hinblick auf den Prüfumfang, der nach der Verordnung vom Gericht im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA wahrzunehmen sein sollte, wurden im Gefolge der Verhandlungen auch Bestrebungen verworfen, diesen näher

24

H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 31 Rz 5, Weyembergh, Study, 31.

25 H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard , Commentary, Art 31 Rz 25; H.-H. Herrnfeld in Brière/Weyembergh, Balances 383 (402 und 406); Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 31 EUStA-VO Rz 3; vgl auch ErlRV 808 BlgNR 27. GP, 10.

zu determinieren bzw gegenüber einer vollinhaltlichen Prüfung einzuschränken.26

3.2.Ausnahmsweise Anwendung von Maßnahmen der gegenseitigen Anerkennung

Ausnahmsweise können die Maßnahmen der gegenseitigen Anerkennung angewendet werden, wenn die von der betrauten DEStA „zugewiesene Maßnahme in einem rein innerstaatlichen Fall nicht, wohl aber in einem grenzüberschreitenden Fall nach Maßgabe von Rechtsinstrumenten über gegenseitige Anerkennung oder grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ existiert.27

Diese Ausnahme dient ausschließlich dem Schluss allfälliger Lücken, zB für eine Vernehmung, die grenzüberschreitend im Wege einer Video- oder Telefonkonferenz durchgeführt werden soll, oder eine Überstellung einer inhaftierten Person usw (Art 22 bis 25 der Richtlinie 2014/41/EU).28

4.Die praktische Anwendung von Art31 EUStA-VO

In der Anwendungspraxis geht die EUStA als Grundidee für Art 31 EUStA-VO vom System der gegenseitigen Anerkennung aus und zieht den Schluss, dass die praktische Anwendung von Art 31 leg cit gegenüber den Maßnahmen der gegenseitigen Anerkennung nicht schwerfälliger, bürokratischer und langwieriger sein kann.29 Dementsprechend soll auch die unterstützende DEStA dem Gericht ihres Mitgliedstaats „grundsätzlich nicht mehr oder andere begleitende Beweismittel oder Unterlagen vorlegen müssen als dies ein nationaler Staatsanwalt derzeit täte, wenn er zB eine Europäische Ermittlungsanordnung vollstreckt“. 30 Dies deckt sich insofern mit der EUStA-VO, als Art 31 Abs 2 leg cit anordnet, dass für die Begründung und die Anordnung der Maßnahme das Recht der betrauten DEStA anzuwenden ist.

ErwGr 72 soll nach Ansicht der EUStA deswegen nicht anwendbar sein, weil er im Hinblick auf den Rechtsschutz eine „bedenkliche Rechtsschutzlücke“ eröffnet: Zwei gerichtliche Bewilligungen können nämlich nur dann möglich sein, wenn die Maßnahme sowohl nach dem Recht der betrauten als auch nach der unterstützenden DEStA gerichtlich zu bewilligen ist. Nur eine einzige gerichtliche Bewilligung einzuholen, würde, für den Fall, dass es sich um ein Gericht im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA handelt, dazu führen, dass überhaupt

26 Vgl Weyembergh, Study, 32, die sich kritisch dazu äußert, dass der Prüfumfang des Gerichts im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA mangels Klärung in der EUStA-VO unklar bleibt.

27 Art 31 Abs 6 EUStA-VO.

28 H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 31 Rz 34.

29 Leitlinien der EUStA zu Art 31, Rz 2.

30 Leitlinien der EUStA zu Art 31, Rz 7.

Schwerpunkt Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der EUStA 236 6/2022 ZWF

keine substanzielle gerichtliche Genehmigung stattfindet, weil nach der Logik der EUStA in diesem Mitgliedstaat nur formale Erwägungen zu prüfen sind.31

In der Praxis hat daher die betraute DEStA die in Art 31 Abs 2 EUStA-VO vorgesehene Zuweisung samt Gerichtsbeschluss, soweit dieser für die Maßnahme erforderlich ist, an die unterstützende DEStA samt Übersetzung zu übermitteln. Alle Beteiligten sollen Zugang zu diesen Unterlagen haben.32 Weitere Vorgehensweisen im Hinblick auf die Einholung einer allenfalls auch nach dem Recht des unterstützenden DEStA erforderlichen gerichtlichen Genehmigung für die Maßnahme ergeben sich nicht aus den Leitlinien der EUStA.

Die EUStA wendet die dargestellten Grundsätze nicht nur auf Ermittlungsmaßnahmen an, die der Beweiserhebung dienen, sondern auch auf Maßnahmen zur Sicherung von Vermögenswerten zum Zweck der späteren Einziehung.33

5.Rechtsschutz

Wie bereits dargelegt,34 ergeben sich aus Art 31 EUStA-VO keine Regelungen zum gerichtlichen Rechtsschutz gegen Handlungen der EUStA im Fall grenzüberschreitender Ermittlungen. Es gilt daher grundsätzlich Art 42 Abs 1 EUStA-VO, wonach für die nachprüfende Kontrolle von Verfahrenshandlungen (oder -unterlassungen) die nationalen Gerichte „im Einklang mit den Anforderungen und Verfahren des nationalen Rechts“ zuständig sind. Nach hM sind gerichtlich bewilligte Ermittlungsmaßnahmen grundsätzlich nicht vom Begriff der „Verfahrenshandlungen der EUStA“ umfasst.35

Die EUStA schließt aus dem Fehlen von Vorschriften über den Rechtsschutz demgegenüber, dass es sich um eine (planwidrige) Lücke handelt, die es unter Heranziehung der Grundsätze des Unionsrechts zu schließen gilt: Rechtsschutz, der zu einer substanziellen Kontrolle der Maßnahme führe, könne daher nur im Mitgliedstaat der betrauten DEStA gewährt werden.36 Diese Auslegung begegnet allerdings Problemen, wenn das nationale Recht keine Rechtsbehelfe vorsieht.37 Die Ergreifung von Rechtsbehelfen in unmittelbarer Anwendung von

31 Leitlinien der EUStA zu Art 31, Rz 8 f.

32 Leitlinien der EUStA zu Art 31, Rz 15 UAbs 2.

33 Leitlinien der EUStA zu Art 31, Rz 24 ff.

34

Siehe dazu auch den Beitrag von H.-H. Herrnfeld, Die gerichtliche Kontrolle der Europäischen Staatsanwaltschaft, in diesem Heft (S238ff); weiters EUStA Leitlinien zu Art 31, Rz 20.

Unionsrecht muss in diesem Fall scheitern, weil insbesondere Verfahren, Zuständigkeiten uvm einer Umsetzung im nationalen Recht bedürfen.

Das Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren wird auch Auswirkungen auf den Rechtsschutz haben. Je nach Interpretation von Art 31 Abs 3 EUStA-VO ergeben sich nämlich unterschiedliche Konsequenzen für den Rechtsschutz. Soll im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA nur eine formale Kontrolle durchgeführt werden, richtet sich auch der Prüfumfang im Rechtsmittelverfahren danach. Ist das Gericht im Mitgliedstaat der unterstützenden DEStA aber gehalten, eine vollinhaltliche Kontrolle der Ermittlungsmaßnahme durchzuführen, kann es sogar dazu kommen, dass die Maßnahme durch das Rechtsmittelgericht sowohl in diesem Mitgliedstaat als auch im Mitgliedstaat der betrauten DEStA in vollem Umfang geprüft wird. Nach österreichischer Rechtsordnung wäre die Zuweisung einer Ermittlungsmaßnahme an eine DEStA in einem anderen Mitgliedstaat nach § 106 StPO mittels Einspruchs wegen Rechtsverletzung bekämpfbar. Das Gericht hätte gemäß Art 31 Abs 2 EUStA-VO „die Begründung und Anordnung derartiger Maßnahmen“ nach nationalem Recht zu überprüfen. In gleicher Weise kann das Recht der unterstützenden DEStA ein Rechtsmittel gegen Bewilligung oder Beschluss des Gerichts vorsehen.

Das Vorabentscheidungsersuchen des OLG Wien erfolgte angesichts der Auffassungsunterschiede zu Art 31 EUStA-VO vollkommen zu Recht und ist sehr zu begrüßen. Die Entscheidung des EuGH bleibt vorerst abzuwarten. Es ist jedoch bereits jetzt festzustellen, dass diese praktische Auswirkungen auf die zukünftige Anwendung des Art 31 EUStA-VO haben wird. Je nach Ergebnis des Vorabentscheidungsverfahrens könnte auch der europäische Gesetzgeber gefragt sein, weitere Klarheit zu schaffen, um eine reibungslose grenzüberschreitende Zusammenarbeit innerhalb der EUStA zu ermöglichen.

35

Vgl den Beitrag von H.-H. Herrnfeld in diesem Heft mwN (S238ff); Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 66 ff.

36 Leitlinien der EUStA zu Art 31, Rz 20 und 22.

37 EuGH 24. 10. 2019, Gavanozov, C-324/17, Rn 14; 11.11. 2021, Gavanozov II, C-852/19, Rn 24 ff.

Die reibungslose Zusammenarbeit innerhalb der EUStA wäre wohl auch Voraussetzung für eine mögliche Erweiterung des Aufgabenbereichs der EUStA auf andere Bereiche der Verbrechensbekämpfung (Terrorismus, Sanktionsverstöße oder Umweltkriminalität).

237 ZWF 6/2022 Schwerpunkt Grenzüberschreitende
Zusammenarbeit in der EUStA
Auf den Punkt gebracht

Die gerichtliche Kontrolle der Europäischen Staatsanwaltschaft

Neue Herausforderungen für die mitgliedstaatlichen Gerichte als funktionale Unionsgerichte

Hans-Holger Herrnfeld

Die Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft1 weist wesentliche Aufgaben des Rechtsschutzes den Gerichten der Mitgliedstaaten zu. Dieser Beitrag analysiert die einschlägigen Bestimmungen der EUStA-VO und erläutert das Verhältnis zwischen den durch die EUStA-VO den nationalen Gerichten übertragenen Aufgaben und den danach verbliebenen Zuständigkeiten des EuGH.

1.Allgemeines

Dr. Hans-Holger Herrnfeld ist Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichthof a.D. und war bis zu seiner Pensionierung als Referatsleiter im dBMJ in Berlin tätig.

Mit der Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) wurde den Gerichten der Mitgliedstaaten eine neue, wichtige Aufgabe zugewiesen: Gemäß Art 42 Abs 1 EUStA-VO ist die gerichtliche Kontrolle der Verfahrenshandlungen der EUStA, also einer Einrichtung der Union, jetzt primär Aufgabe der zuständigen nationalen Gerichte. Wie im Folgenden näher zu zeigen sein wird, sind die mitgliedstaatlichen Gerichte insoweit umfassend als Eingangsgerichte tätig. Dagegen bleibt es bei der Zuständigkeit des EuGH, auf Vorabentscheidungsersuchen des nationalen Gerichts gegebenenfalls über die Gültigkeit einer Verfahrenshandlung der EUStA zu entscheiden, soweit sich diese Frage unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts stellt (siehe Pkt 3.3.1.).

Die Tätigkeit nationaler Gerichte als funktionale Unionsgerichte2 ist im Grundsatz nicht neu. Der EuGH hat diese Funktion schon verschiedentlich hervorgehoben, wenn er darauf hinwies, die gerichtliche Kontrolle der Wahrung der Rechtsordnung der Union, „wie sich aus Art19 Abs 1 EUV ergibt“, werde „durch den Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten gewährleistet“ 3 Die Zuständigkeitsabgrenzung knüpft dabei grundsätzlich an die formale Qualifikation des Hoheitsträgers an, der den streitbefangenen Rechtsakt erlassen hat.4 Im Bereich des sogenannten direkten Vollzugs (wenn Unionsrecht durch Organe, Einrichtungen oder

1 ABl L 283 vom 31. 10. 2017, S 1.

2 Voßkuhle/Schemmel in Leible/Terhechte, Enzyklopädie Europarecht (EnzEuR) III 2 (2021) § 6 Rz 3; Streinz/ Huber , EUV/AEUV 3 (2018) Art 19 Rr 49 ff; Nehl in Jaeger/Stöger, EUV/AEU, Art 19 Rz 31 Stand Juni 2020.

3 Siehe etwa: EuGH 3. 10. 2013, Inuit ua, C-583/11 P, Rn90; 27. 2. 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses , C-64/16, Rn 32 f; EuGH , Gutachten 01/09 (Patentgerichtsbarkeit) vom 8. 3. 2011, Rz 66 ff und 80 („ordentliche Unionsgerichte“).

4 Schwarze/Wunderlich in Schwarze, EU-Kommentar4 (2019) Art 19 EUV Rz 45; vgl dazu auch Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 19. 12. 2018 in den verbundenen Rechtssachen Rimšēvičs, C-202/18, und EZB, C-238/18, Rn 54 f.

sonstige Stellen der Union vollzogen wird) können betroffene Personen unter den in Art 263 Abs 4 AEUV festgelegten Voraussetzungen vor den Unionsgerichten Klage gegen eine Handlung des Organs oder der Einrichtung oder sonstiger Stellen erheben. Im Bereich des sogenannten indirekten Vollzugs (also des Vollzugs von Unionsrecht durch Behörden der Mitgliedstaaten) kann die Unionsrechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns der nationalen Behörde oder die Ungültigkeit des diesem zugrunde liegenden Unionsrechtsakts hingegen nur vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden; das nationale Gericht ist dann gegebenenfalls verpflichtet, eine Frage der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art 267 AEUV dem EuGH vorzulegen.

Diese – auch als Trennungsprinzip titulierte5 Aufgabenteilung zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten wird in Art 42 Abs 1 EUStA-VO durchbrochen: Demnach unterliegen „Verfahrenshandlungen der EUStA mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten […] im Einklang mit den Anforderungen und Verfahren des nationalen Rechts der Kontrolle durch die zuständigen nationalen Gerichte“. Diese Regelung soll zugleich die primärrechtlich vorgesehene Zuständigkeit des EuGH nach Art 263 Abs 4 iVm Abs 1 und 2 AEUV für Nichtigkeitsklagen natürlicher oder juristischer Personen gegen Handlungen der EUStA ausschließen. Gleiches gilt für Untätigkeitsklagen nach Art 265 AEUV (siehe Art 42 Abs 1 Satz 2 EUStA-VO).

Die Aufgabe der mitgliedstaatlichen Justiz, gerichtliche Kontrolle über eine Einrichtung der Union auszuüben, stellt diese vor neue Herausforderungen. Die in Art 42 EUStA-VO getroffene Regelung bringt aber auch die Gefahr von Rechtsschutzdefiziten mit sich. Im Folgenden werden Hintergrund und Entwicklung dieser

5 Dazu Pascher, Mitgliedstaatliches Recht vor den Unionsgerichten – EU-Prozessrecht zwischen Trennungsund Ausschließlichkeitsprinzip, GVRZ 2022, 5.

Schwerpunkt Gerichtliche Kontrolle der EUStA 238 6/2022 ZWF
Schwerpunkt

Regelung kurz dargestellt (Pkt II.) und einige Einzelfragen vertieft (Pkt III.). Der EuGH hatte bislang noch keine Gelegenheit, sich zu den in Art 42 EUStA-VO getroffenen Regelungen zu äußern. Das abschließend versuchte Fazit (Auf den Punkt gebracht) steht daher unter dem Vorbehalt künftiger und besserer Erkenntnis.

Dieser Beitrag beschränkt sich auf die Regelungen in Art 42 EUStA-VO zur gerichtlichen Kontrolle der EUStA durch die Gerichte der Mitgliedstaaten (Abs 1) und die Aufgaben des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV (Abs 2). Obwohl auch Einstellungsentscheidungen der EUStA nach Art 39 EUStA-VO zu den „Verfahrenshandlungen“ zählen, sind diese, sofern die Einstellungsentscheidung von einer natürlichen oder juristischen Person (Art 263 Abs 4 AEUV) „unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts“ angefochten wird, von der Anwendung der Regelung in Art 42 Abs 1 EUStA-VO ausgenommen und ist die gerichtliche Kontrolle beim EuGH verblieben.6 Weitere Zuständigkeiten des EuGH ergeben sich aus Art 42 EUStA-VO in Bezug auf Schadensersatzklagen (Abs 4), Streitigkeiten im Zusammenhang mit Schiedsklauseln (Abs 5), Personalentscheidungen (Abs 6), die Entlassung von Mitgliedern des Kollegiums der EUStA (Abs 7) und den Datenschutz, den Zugang zu öffentlichen Dokumenten und „sonstigen administrativen Entscheidungen“ (Abs 8).

2.Hintergrund und Entwicklung der Norm – Rechtsgrundlage Bereits der Kommissionsvorschlag einer Verordnung zur Errichtung der EUStA7 sah vor, dass die gerichtliche Kontrolle „verfahrensrechtlicher Maßnahmen“ der EUStA von den Gerichten der Mitgliedstaaten ausgeübt werden sollte. Die diesbezügliche Vorschrift des Kommissionsvorschlags arbeitete dazu mit einer gesetzlichen Fiktion, indem sie schlicht und einfach bestimmte: Bei der „Annahme verfahrensrechtlicher Maßnahmen in Wahrnehmung ihrer Aufgaben gilt die Europäische Staatsanwaltschaft zum Zwecke der gerichtlichen Kontrolle als einzelstaatliche Behörde“ (Art 36 Abs 1 des Vorschlags). Daraus sollte folgen, dass die Handlungen der EUStA „für die Zwecke der gerichtlichen Kontrolle nicht als Handlungen einer Einrichtung der Union angesehen werden, so dass keine unmittelbare Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union nach den Artikeln 263, 265 und 268 AEUV gegeben ist“ 8

6 Siehe dazu näher den Beitrag von Oshidari, Einstellungsentscheidungen der Europäischen Staatsanwaltschaft und gerichtlicher Rechtsschutz in Bezug auf die Einstellung des Verfahrens, in diesem Heft (S246ff).

7 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft vom 17.7. 2013, COM(2013)534 final.

8 Siehe ErwGr 37 des Vorschlags.

Bei den Verhandlungen in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe fand die Idee, die gerichtliche Kontrolle der EUStA solle durch Gerichte der Mitgliedstaaten ausgeübt werden, grundsätzlich überwiegend Zustimmung; allgemeine Bedenken bestanden jedoch gegen den Vorschlag, insoweit mit einer bloßen gesetzlichen Fiktion zu arbeiten. Auch waren die Meinungen unter den Mitgliedstaaten geteilt, ob diese Zuständigkeit der nationalen Gerichte für alle Verfahrenshandlungen der EUStA gelten oder ob nicht bei bestimmten Entscheidungen die Zuständigkeit doch beim EuGH verbleiben sollte.9 Deutliche Kritik an der Regelung des Art 36 des Vorschlags wurde bereits in einer ersten Stellungnahme des Europäischen Parlaments geäußert, das vorschlug, die Regelung des Art 36 leg cit auf Verfahrenshandlungen der EUStA im Hauptverfahren zu beschränken, während es im Übrigen bei der Zuständigkeit des EuGH bleiben solle.10 Auch in der Literatur gab es kritische Stimmen zur von der Kommission vorgeschlagenen Regelung über den Rechtsschutz.11 Ergebnis langwieriger Verhandlungen im Rat ist der heutige Art 42 EUStA-VO, der die gerichtliche Kontrolle von „Verfahrenshandlungen der EUStA“ (zum Begriff siehe Pkt 3.1.2.) primär den nationalen Gerichten zuweist. Von einem ursprünglich in der Ratsarbeitsgruppe diskutierten längeren Katalog möglicher Ausnahmen ist lediglich die Anfechtung von Einstellungsentscheidungen der EUStA (Art 39 EUStA-VO) verblieben.12

Berechtigterweise wurde die Frage aufgeworfen, ob es rechtlich möglich sei, im Wege eines Sekundärrechtsakts (EUStA-VO) eine primärrechtlich dem EuGH zugewiesene Kompetenz auf einem bestimmten Teilgebiet zu beschränken und die Rechtskontrolle stattdessen den mitgliedstaatlichen Gerichten zuzuweisen.13 Rat und Kommission waren der Auffassung, dass dies möglich sei, und im Ergebnis hat auch das Europäische Parlament dem Verordnungsentwurf zugestimmt. Möglicher primärrechtlicher Anknüpfungspunkt für die Regelung in Art42 Abs 1 EUStA-VO ist Art 86 Abs 3 AEUV, der vorsieht, dass die Verordnung über die Errichtung der EUStA auch „Regeln für […] die gerichtliche Kontrolle der von der Europäischen Staatsanwaltschaft bei der Erfüllung ihrer Aufgaben vorgenommenen Prozesshandlungen“ festlegen solle. Diese können, so lässt sich argumentieren, auch Abweichungen von den Zuständig-

9 Zur Entstehungsgeschichte siehe näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, European Public Prosecutor’s Office – Article by Article Commentary (2021) (idF Commentary) Art 42 Rz 3.

10 P7_TA(2014)0234.

11 Siehe Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser (Hrsg), Handbuch Europäische Staatsanwaltschaft (2022) § 12 Rz 17 f mwN.

12 Siehe dazu näher den Beitrag von Oshidari in diesem Heft (S246ff).

13 Dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rz 7.

239 ZWF 6/2022
Schwerpunkt Gerichtliche Kontrolle der EUStA

keiten des EuGH nach Art 263 und 265 AEUV vorsehen. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass Art 263 Abs 5 AEUV ausdrücklich gestatte, in „Rechtsakten zur Gründung von Einrichtungen […] besondere Bedingungen und Einzelheiten für die Erhebung von Klagen von natürlichen oder juristischen Personen gegen Handlungen dieser Einrichtungen“ vorzusehen. Voraussichtlich wird letztlich der EuGH einmal zu entscheiden haben, ob die Regelung des Art 42 Abs 1 EUStA-VO mit den primärrechtlichen Zuständigkeitsbestimmungen der Art 263 bzw 265 AEUV vereinbar ist.

Aus fachlicher Sicht gibt es jedenfalls gute Argumente dafür, dass die in Art 42 Abs 1 EUStA-VO getroffene Zuständigkeitszuweisung sinnvoll ist: Die EUStA ist zweifelsohne eine unabhängige Einrichtung der Europäischen Union. Die Delegierten Europäischen Staatsanwälte, die die Ermittlungen in den Mitgliedstaaten führen, sollen aber zugleich Angehörige der Justiz ihres Heimatlandes („aktive Mitglieder“, Art 17 Abs 2 EUStA-VO) bleiben und von den Mitgliedstaaten „vollständig in die nationalen Strafverfolgungsbehörden eingebunden werden“ (Art 96 Abs 6 Satz 3 EUStA-VO). Dadurch hat die EUStA – trotz ihrer Unabhängigkeit (Art 6 EUStA-VO) – einen gewissen hybriden Charakter. Hinzu kommt, dass die EUStA-VO zwar eine Vielzahl von Regelungen über die Einleitung, die Durchführung und den Abschluss von Ermittlungsverfahren enthält (Art 26 bis 41 EUStA-VO), tatsächlich aber das jeweilige nationale Strafverfahrensrecht in ganz erheblichem Umfang anzuwenden ist (Art 5 Abs3 EUStA-VO sowie zahlreiche spezifische Verweise auf das „nationale Recht“ in den Bestimmungen der Art 26 bis 41 EUStA-VO).

Vor allem aber sind es ohnehin die Gerichte der Mitgliedstaaten, deren Aufgabe es ist, die nach Maßgabe des nationalen Rechts vorgesehene präventive Rechtskontrolle im Zuge der Anordnung eingriffsintensiver Ermittlungsmaßnahmen auszuüben (Art 30 Abs 5 Satz 2 und Art 31 Abs 3 EUStA-VO); insoweit wäre mangels anwendbarer Verfahrensbestimmungen des Primärrechts eine Ausübung dieser Funktionen durch den EuGH nach gegenwärtigem Stand auch gar nicht möglich. Ob durch eine sekundärrechtliche Regelung dem EuGH –oder einem neu zu errichtenden Fachgericht (Art 257 AEUV) – diesbezügliche Zuständigkeiten eingeräumt werden könnten, die in den Art258ff AEUV nicht vorgesehen sind, ist eher zweifelhaft.14 Und schließlich: Auch die Tatsache, dass Verfahren der EUStA letztlich bei den

14 Dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rz 5, 8; anders jedoch Böse , Ein Europäischer Ermittlungsrichter –Perspektiven des präventiven Rechtsschutzes bei Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, Rechtswissenschaft 2012, 172 (184, 189); siehe auch Gärditz in Böse, EnzEuR XI2, § 25 Rz 64; Esser in H.-H. Herrnfeld/ Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 12.

Gerichten der Mitgliedstaaten zur Anklage kommen (so ausdrücklich Art 86 Abs 2 Satz 2 AEUV), war schon aus Sicht der Kommission ein wesentlicher Grund dafür, im Verordnungsvorschlag auch die gerichtliche Kontrolle im Ermittlungsverfahren den Gerichten der Mitgliedstaaten zu überantworten.15

3.Die Regelungen im Einzelnen 3.1.Zuständigkeit der nationalen Gerichte bei Verfahrenshandlungen der EUStA 3.1.1.Zuständigkeit der nationalen Gerichte –keine Zuständigkeit des EuGH

Die Vorschrift enthält zunächst eine Zuständigkeitszuweisung („unterliegen […] der Kontrolle der nationalen Gerichte“). Wie bereits dargelegt, soll diese Vorschrift zugleich bewirken, dass die Zuständigkeiten des Gerichtshofs für Nichtigkeitsklagen (Art 263 AEUV) und Untätigkeitsklagen (Art 265 AEUV) nicht greifen. Das soll allerdings nur für Klagen von natürlichen und juristischen Personen gelten: Wie sich nämlich aus ErwGr 89 EUStA-VO ergibt, bestand jedenfalls im Rat Einvernehmen darüber, dass die Klagebefugnisse der Mitgliedstaaten und Organe nach Art 263 Abs 2 bzw 265 Abs 1 AEUV (sogenannte „privilegierte Klagebefugte“) sowie die Klagebefugnisse nach Art 258 und 259 AEUV nicht durch die Regelungen des Art 42 Abs 1 EUStA-VO eingeschränkt werden sollen („berührt nicht die Möglichkeit“). Das dürfte wiederum nicht bedeuten, dass etwa die Kommission oder andere privilegierte Klageberechtigte iSd Art 263 Abs 2 bzw Art 265 Abs 1 AEUV, sofern sie in einem EUStA-Verfahren etwa als Geschädigte die Stellung eines Verfahrensbeteiligten haben, davon ausgeschlossen wären, gemäß Art 42 Abs 1 EUStA-VO ihre nach nationalem Verfahrensrecht zustehenden Befugnisse auszuüben.16

3.1.2.Der Begriff der „Verfahrenshandlungen“ Art 42 Abs 1 EUStA-VO findet Anwendung bei „Verfahrenshandlungen“ der EUStA (Satz 1 leg cit) und bei unterlassenen Verfahrenshandlungen, zu deren Erlass die EUStA nach der Verordnung verpflichtet wäre (Satz 2 leg cit). Die EUStA-VO definiert den Begriff der „Verfahrenshandlungen“ nicht. Sie unterscheidet diese jedoch von „administrativen Entscheidungen“, für die nicht Art 42 Abs 1 EUStA-VO, sondern dessen Abs 8 gilt. Aus ErwGr 89 ergibt sich, dass es sich bei „verwaltungsrechtlichen Entscheidungen“17 um solche handelt, die die EUStA „nicht in Ausübung ihrer Aufgaben der Ermittlung, Verfolgung oder Anklageerhebung getroffen hat“

15 Siehe ErwGr 37 des Vorschlags; entsprechend auch ErwGr 87 EUStA-VO.

16 Dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rz 11 und 18.

17 In der englischen Sprachfassung, die Verhandlungsgrundlage war, wird an beiden Stellen der Begriff „administrative decisions“ verwendet.

Schwerpunkt Gerichtliche Kontrolle der EUStA 240 6/2022 ZWF

Der Begriff „Verfahrenshandlungen“ („procedural acts“) dürfte jedenfalls als autonomer Begriff des Unionsrechts (und nicht nach Maßgabe nationalen Verfahrensrechts) auszulegen sein und meint nicht nur Ermittlungsmaßnahmen iSd Art 30 und 31 EUStA-VO, sondern auch sonstige Entscheidungen und Handlungen der EUStA, die diese im Rahmen eines Strafverfahrens trifft.18

3.1.3.Gilt

nur für Verfahrenshandlungen der EUStA

In der Praxis relevant werden könnte die Frage, wie „eng“ die Formulierung „Verfahrenshandlung der EUStA“ auszulegen ist. Zweck der Regelung in Art 42 Abs 1 EUStA-VO ist ja, dass die Verfahrenshandlungen der EUStA der Kontrolle durch die Gerichte der Mitgliedstaaten unterworfen werden, obwohl die EUStA eine Einrichtung der Union ist und mithin, wenn es den Art42 Abs 1 EUStA-VO nicht gäbe, der EuGH nach Art263 AEUV zuständig wäre. Findet Art42 Abs1 EUStA-VO dann aber überhaupt Anwendung, wenn der Betroffene zB die richterliche Anordnung einer Telefonüberwachung gerichtlich überprüfen lassen will? Auch wenn die gerichtliche Anordnung auf Antrag des zuständigen Delegierten Europäischen Staatsanwalts erfolgt, so ist die Anordnung eben eine richterliche Maßnahme und keine „Verfahrenshandlung“ der EUStA.19 Anders wäre der Fall zu beurteilen, wenn der Betroffene nicht die Rechtmäßigkeit der gerichtlichen Anordnung überprüfen lassen will, sondern etwa die Entscheidung des Delegierten Staatsanwalts, diese durchführen zu lassen, obwohl dies nach Auffassung des Betroffenen aufgrund zwischenzeitlich geänderter Sach- oder Rechtslage nicht mehr zulässig war.

Für den Rechtsschutz gegen die gerichtliche Anordnung ist nach allgemeinen Grundsätzen (siehe Pkt I.) nicht der EuGH, sondern sind die nationalen Gerichte zuständig.20 Deren Zuständigkeit wird also nicht erst durch Art 42 Abs 1 EUStA-VO begründet. Zwar sind dann „so oder so“ in beiden Fällen die nationalen Gerichte zuständig. Die Unterscheidung kann aber von Bedeutung für den innerstaatlichen Rechtsweg sein. Zudem kann dies im Einzelfall Auswirkungen auf die Frage haben, ob das nationale Gericht, dem die Beschwerde vorliegt, gehalten ist, vor einer abschließenden Entscheidung den EuGH zu befassen: Gemäß Art 42

18 Dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rz 15; für konkrete Beispiele siehe dort Rz 34 ff.

19 So auch die Begründung zum Gesetzentwurf der deutschen Bundesregierung, A.III. zu Art 42 EUStA-VO, Bundestag-Drucksache (BT-Drs) 47/20, 35; Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 67.

20 So auch zu Art 263 AEUV; Schwarze/Voet van Vormizeele in Schwarze, EU-Kommentar4 (2019) Art 263 AEUV Rn76.

Abs2 lit a EUStA-VO entscheidet der EuGH im Verfahren nach Art 267 AEUV über die „Gültigkeit einer Verfahrenshandlung der EUStA“, sofern sich die Frage der Gültigkeit „unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts“ stellt (siehe dazu Pkt 3.3.1.).

3.1.4.Verfahrenshandlungen mit Rechtswirkung gegenüber Dritten Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art42 Abs 1 EUStA-VO ist, dass es sich um eine Verfahrenshandlung (der EUStA) „mit Rechtswirkung gegenüber Dritten“ handelt. Die Formulierung dieser Voraussetzung entspricht jener in Art 263 Abs 1 AEUV. Diese Formulierung wurde gewählt, weil Art 42 Abs 1 EUStA-VO den nationalen Gerichten ja gerade die Zuständigkeit zuweisen soll, die andernfalls nach Art263 bzw Art 265 AEUV dem EuGH zukommt. Wie der EuGH zu Art 263 AEUV (bzw deren Vorgängerbestimmungen) ausgeführt hat, kann die Vorschrift Anwendung finden für „alle Maßnahmen, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen, welche die Interessen des Klägers durch Eingriff in seine Rechtsstellung beeinträchtigen“ 21 Damit gilt Art 42 Abs 1 EUStAVO – entsprechend Art 263 Abs 1 AEUV – nicht für bloß vorbereitende Akte, denen solche Rechtswirkungen (noch) nicht zukommen.22 Allerdings soll diese Regelung in Art 42 Abs 1 EUStA-VO – wie sich aus ErwGr 87 ergibt –nicht bedeuten, dass das nationale Gericht gehindert wäre, nach Maßgabe des nationalen Verfahrensrechts Rechtsschutz auch dann zu gewähren, wenn in Anwendung der vom EuGH zu Art 263 AEUV entwickelten Maßstäbe davon auszugehen wäre, dass die diesbezügliche Voraussetzung (Rechtswirkung gegenüber Dritten) nicht erfüllt ist.23

Auch soweit Art 42 Abs 1 EUStA-VO den Begriff „gegenüber Dritten“ verwendet, orientiert sich die Regelung an dem Wortlaut des Art263 Abs 1 AEUV. In ErwGr 87 Abs 2 wird dazu ausgeführt: „[D]iese Kategorie umfasst den Verdächtigen, das Opfer und andere betroffene Personen, deren Rechte durch solche Verfahrenshandlungen beeinträchtigt werden könnten.“ Wie bereits dargelegt (Pkt 3.1.1.), dürften „Dritte“ im Sinne dieser Regelung gegebenenfalls auch die Kommission oder andere in Art263 AEUV als privilegierte Kläger behandelte Organe sowie auch die Mitgliedstaaten sein, auch wenn die Regelung des Art 42 Abs 1 EUStA-VO nicht deren Klagebefugnis nach Art263 Abs 1 AEUV ausschließen soll.

21

EuGH 11. 11. 1981, IBM, C-60/81, Rn 9. 22 EuGH 11. 11. 1981, IBM, C-60/81, Rn 10; dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rz 17. 23 Dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rz 20; Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 39.

241 ZWF 6/2022
Schwerpunkt Gerichtliche Kontrolle der EUStA

3.1.5.Gilt nicht für die präventive gerichtliche Kontrolle

Die Regelung des Art 42 Abs 1 EUStA-VO gilt –entsprechend Art 263 bzw 265 AEUV – nur für die gerichtliche Kontrolle auf Antrag, Beschwerde, Klage eines Betroffenen, also für die nachträgliche Überprüfung der Rechtsmäßigkeit einer angeordneten bzw vorgenommenen Verfahrenshandlung der EUStA. Auch für eine –nach Maßgabe des nationalen Verfahrensrechts –notwendige vorherige gerichtliche Anordnung einer Ermittlungsmaßnahme oder die gerichtliche Genehmigung einer staatsanwaltlich angeordneten Maßnahme sind zwar die Gerichte der Mitgliedstaaten zuständig. Das gilt sowohl bei rein innerstaatlichen Fällen (Art 30 Abs5 EUStAVO: „Verfahren […] richten sich nach dem geltenden nationalen Recht“) als auch im Fall der grenzüberschreitenden Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen (Art 31 Abs 3 EUStA-VO: „richterliche Genehmigung“). Diese Zuständigkeit nehmen die mitgliedstaatlichen Gerichte aber allein nach Maßgabe des nationalen Verfahrensrechts wahr, an dessen Beachtung auch die EUStA gebunden ist; sie wird ihnen nicht erst durch Art 42 Abs1 EUStA-VO übertragen.

3.1.6.Rechtsschutz bei unterlassenen Verfahrenshandlungen

Gemäß Art 42 Abs 1 EUStA-VO sind die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht nur für den Rechtsschutz gegenüber Verfahrenshandlungen der EUStA (Satz 1) zuständig, sondern auch für die gerichtliche Kontrolle für den Fall, dass „es die EUStA unterlässt, eine Verfahrenshandlung mit Rechtswirkung gegenüber Dritten vorzunehmen, obwohl sie nach dieser Verordnung dazu rechtlich verpflichtet ist“ (Satz 2). Damit wird dem EuGH auch die Zuständigkeit für Untätigkeitsklagen von natürlichen und juristischen Personen (Art 265 Abs 3 AEUV) entzogen und den nationalen Gerichten übertragen.

In Bezug auf die Maßgabe, diese Zuständigkeit finde Anwendung für Verfahrenshandlungen mit Rechtswirkung gegenüber Dritten, dürfte auch hier grundsätzlich das Gleiche gelten wie beim Rechtsschutz gegenüber Verfahrenshandlungen der EUStA (Pkt 3.1.4.). Die Regelung in Art 42 Abs 1 Satz 2 EUStA-VO setzt darüber hinaus grundsätzlich voraus, dass geltend gemacht wird, die EUStA sei „nach dieser Verordnung dazu rechtlich verpflichtet“. Insoweit weicht der Wortlaut der Regelung hier von jenem in Art 265 Abs 3 AEUV ab: Demnach ist eine Untätigkeitsklage nur damit begründbar, dass das betreffende Organ (oder die Einrichtung oder Stelle der Union) es unterlassen hat, den begehrten Rechtsakt an den Kläger zu richten. Der EuGH hat allerdings betont, dass Art265 Abs 3 und 263 Abs 4 AEUV „denselben Rechtsbehelf regeln“ und es daher auch Art 265 Abs 3 AEUV dem Einzelnen erlaubt, Klage zu erheben, auch wenn der unterlassene Rechtsakt nicht an den Kläger (sondern einen Dritten) zu

richten wäre, dessen Unterlassen ihn aber „unmittelbar und individuell betrifft“ 24

Wie auch in Bezug auf Art 42 Abs 1 Satz 1 EUStA-VO soll gemäß ErwGr 87 Abs 3 Satz 2 die Regelung in Satz 2 leg cit nicht die Befugnis mitgliedstaatlicher Gerichte berühren, nach Maßgabe des nationalen Verfahrensrechts Rechtsschutz auch „in Bezug auf andere Fälle von Untätigkeit“ zu gewähren. Folgt man dem Wortlaut dieser Erwägungen, so soll dies offenbar nicht nur in Bezug auf unterlassene Verfahrenshandlungen, die keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten, gelten, sondern auch in Bezug auf Verfahrenshandlungen, zu deren Erlass die EUStA nicht nach Maßgabe der Verordnung verpflichtet ist.

3.2.Ausübung der Zuständigkeit gemäß den Anforderungen und Verfahren des nationalen Rechts

3.2.1.Maßgeblichkeit des jeweils geltenden nationalen Verfahrensrechts

Die mitgliedstaatlichen Gerichte sollen gemäß Art 42 Abs 1 EUStA-VO die ihnen übertragenen Aufgaben „im Einklang mit den Anforderungen und Verfahren des nationalen Rechts“ ausüben. Das bedeutet zunächst, dass die Vorschrift insoweit auf das jeweils anwendbare nationale Verfahrensrecht verweist. Die Bestimmung des Art42 Abs 1 EUStA-VO ist für sich genommen keine ausreichende Rechtsgrundlage, um Verfahrenshandlungen der EUStA vor den nationalen Gerichten anzugreifen. Das heißt, das nationale Recht ist grundsätzlich maßgeblich für die Frage, ob eine Beschwerde oder Klage gegen die betreffende Verfahrenshandlung der EUStA ebenso wie etwa in Bezug auf den Kreis der Klagebefugten sowie die zu beachtenden Fristen und Verfahrensmodalitäten möglich ist.

Das insoweit anwendbare nationale Verfahrensrecht ist dabei grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats, dessen Delegierter Europäischer Staatsanwalt (DEStA) mit den Ermittlungen betraut ist (Art 5 Abs 3 EUStA-VO). Gegenwärtig noch nicht abschließend geklärt ist, ob dies auch im Fall von nach Art 31 EUStA-VO angeordneten grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen gilt. Abs 3 UAbs 1 leg cit sieht ja vor, dass in diesem Fall eine nach dem Recht des unterstützenden DEStA erforderliche richterliche Genehmigung von diesem „nach dem Recht seines Mitgliedstaats einzuholen ist“

Wie die einzelnen Bestimmungen des Art 31 EUStA-VO auszulegen sind, ist Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens des OLG Wien, über das der EuGH gegenwärtig noch nicht entschieden hat.25 Art 31 Abs 3 EUStA-VO

24

25

EuGH 26. 11. 1996, T. Port GmbH & Co. KG, C-68/95, Rn 59.

Vorabentscheidungsersuchen des OLG Wien vom 25.4. 2022, G. K., B. O. D. GmbH, S. L., C-281/22, ABl C 318 vom 22. 8. 2022, S 23; siehe dazu näher den Beitrag von J. Herrnfeld, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Europäischen Staatsanwaltschaft, in diesem Heft (S233ff).

Schwerpunkt Gerichtliche Kontrolle der EUStA 242 6/2022 ZWF

betrifft aber nur die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer staatsanwaltlich angeordneten Maßnahme. In Bezug auf die gerichtliche Kontrolle iSd Art 42 Abs 1 EUStA-VO, also den nachträglichen Rechtsschutz auf Antrag, Beschwerde, Klage eines Betroffenen, enthält die EUStA-VO keine gesonderten Regelungen, sodass bislang nicht abschließend geklärt ist, ob Rechtsschutz grundsätzlich nur im Mitgliedstaat des mit den Ermittlungen betrauten DEStA zu gewähren ist oder gegebenenfalls – nur oder auch – im Mitgliedstaat des unterstützenden DEStA. Auch eine der Regelung in Art 14 Abs 2 Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung26 entsprechende Beschränkung des Prüfungsgegenstands einer möglichen Klage im Mitgliedstaat des unterstützenden DEStA enthält die EUStA-VO jedenfalls nicht.

3.2.2.Pflicht der Mitgliedstaaten, für einen angemessenen Rechtsschutz Sorge zu tragen

Während Art 42 Abs 1 EUStA-VO die Zuständigkeiten des EuGH nach Art 263 und 265 AEUV in Bezug auf Klagen von privaten und juristischen Personen ausschließen soll (siehe PktI.), ist deren Klagebefugnis von den Gerichten der Mitgliedstaaten also grundsätzlich von den Vorgaben des betreffenden nationalen Verfahrensrechts abhängig. Die Praxis wird zeigen, ob es insoweit aus unionsrechtlicher Sicht zu Rechtsschutzdefiziten in einzelnen Mitgliedstaaten kommen wird. Im Zuge der Verhandlungen über die EUStA-VO war erörtert worden, ob dem EuGH nicht ein subsidiärer Rechtsschutz nach Maßgabe von Art 263 bzw 265 AEUV einzuräumen wäre. Von einer solchen Regelung wurde jedoch Abstand genommen, dies vor dem Hintergrund der Ausführungen des EuGH im Fall Unión de Pequeños Agricultores, wonach kein Raum für eine solche subsidiäre Klagebefugnis besteht, denn sie würde es „in jedem Einzelfall erforderlich machen, dass der Gemeinschaftsrichter das nationale Verfahrensrecht prüft und auslegt, was seine Zuständigkeit im Rahmen der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Gemeinschaftshandlungen überschreiten würde“. 27

Art 42 Abs 1 EUStA-VO wird aber auch mit Blick auf Art 47 GRC dahingehend auszulegen sein, dass er es nicht einfach den Mitgliedstaaten überlässt, ob und in welchen Fällen die Betroffenen Rechtsschutz gegen Verfahrenshandlungen der EUStA vor den nationalen Gerichten suchen können. Die Erwägungsgründe enthalten jedenfalls Hinweise darauf, dass der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten in die Pflicht nehmen

26 Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. 4. 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in St rafsachen, ABl L 130 vom 1.5. 2014, S 1; Art 14 Abs 2 leg cit lautet: „Die sachlichen Gründe für den Erlass der EEA können nur durch Klage im Anordnungsstaat angefochten werden.“

27 EuGH 25. 7. 2002, Unión de Pequeños Agricultores, C-50/00, Rn 43.

wollte, dafür Sorge zu tragen, dass ihre nationalen Gerichte hier als funktionale Unionsgerichte effektiven Rechtsschutz gewähren.28

Dieser sollte zumindest (siehe ErwGr 87 Abs3 Satz 2; dazu schon Pkt 2.1.4. und 6.) dann gewährt werden, wenn die betreffende Person nach Art 263 bzw 265 AEUV Rechtsschutz beim EuGH erhalten könnte, wenn dessen Zuständigkeit nicht durch die Regelung des Art 42 Abs 1 EUStA-VO ausgeschlossen worden wäre.29 In einem Punkt wird dies in den Erwägungsgründen noch konkretisiert, wenn es dort heißt: „Verfahrenshandlungen, die die Wahl des Mitgliedstaats betreffen, dessen Gerichte für die Entscheidung über die Anklage zuständig sein sollen […] haben Rechtswirkung gegenüber Dritten und sollten daher der gerichtlichen Kontrolle durch die einzelstaatlichen Gerichte spätestens im Hauptverfahren unterliegen.“30 Diesen Auftrag haben jedenfalls die Gesetzgeber in Deutschland (Ergänzung von § 16 dStPO um einen neuen Abs 2) und in Österreich (§ 15 Abs2 EUStA-DG) zum Anlass genommen, diesbezügliche gesetzliche Regelungen zu treffen.31

3.3.Zuständigkeit des EuGH nach Art 267 AEUV

Während es also primär Aufgabe der Gerichte der Mitgliedstaaten sein soll, die gerichtliche Kontrolle in Bezug auf Verfahrenshandlungen der EUStA auszuüben, führt Art 42 EUStA-VO zugleich eine Reihe von dem EuGH verbliebenen Zuständigkeiten auf.

3.3.1.Entscheidung über die (Un-)Gültigkeit einer Verfahrenshandlung der EUStA Aufgabe der nach Art 42 Abs 1 EUStA-VO zuständigen nationalen Gerichte ist es, die Rechtmäßigkeit von Verfahrenshandlungen der EUStA (bzw von deren Unterlassung) am Maßstab des Unionsrechts (einschließlich der EUStA-VO) und des nach Maßgabe von Art 5 Abs 3 EUStA-VO anwendbaren nationalen Rechts zu prüfen. Sie sollen jedoch nicht befugt sein, ihrerseits die „Ungültigkeit“ einer Verfahrenshandlung der EUStA festzustellen, soweit sich diese „unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts“ ergibt (Art 42 Abs 2 lit a EUStAVO). Haben sie im Ergebnis der unionsrechtlichen Prüfung Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verfahrenshandlung, sind sie daher gehalten, diese Frage dem EuGH vorzulegen, der allein befugt ist, im Wege der Vorabentscheidung nach Art 267 AEUV über die (Un-)Gül-

28 ErwGr 88 Abs 1 EUStA-VO; siehe auch ErwGr 87 Abs 2 und 3. 29 Dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rz 31 ff; Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 50.

30 ErwGr 87 Abs 2 Satz 3 EUStA-VO.

31 Dazu näher Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 80 ff.

243 ZWF 6/2022
Schwerpunkt Gerichtliche Kontrolle der EUStA

tigkeit der Verfahrenshandlung zu entscheiden (ErwGr 88 Abs 2).

Die Regelung des Art 42 Abs 2 lit a EUStAVO ist vom Unionsgesetzgeber so getroffen worden, um der im Fall Foto-Frost begründeten ständigen Rechtsprechung des EuGH zu entsprechen, wonach die Befugnis zur Feststellung der Ungültigkeit der Handlung eines Unionsorgans, wenn sie vor einem nationalen Gericht geltend gemacht wird, dem Gerichtshof vorbehalten bleibt.32 Diese ständige Rechtsprechung des EuGH betraf in der Regel Fragen der Gültigkeit von Gesetzgebungsakten wie Verordnungen oder Richtlinien und wurde im Fall FotoFrost damit begründet, dass der EuGH die ausschließliche Zuständigkeit für die Nichtigerklärung solcher Rechtsakte im Verfahren nach Art263 AEUV habe; nichts anderes könne daher für die Zuständigkeit gelten, über die „Ungültigkeit“ eines solchen Rechtsakts zu entscheiden, wenn diese vor einem nationalen Gericht geltend gemacht wird.33 Vor diesem Hintergrund wäre es vielleicht nicht zwingend gewesen, die den Gerichten der Mitgliedstaaten durch Art 42 Abs 1 EUStA-VO übertragene Zuständigkeit dahingehend einzuschränken, dass sie nicht befugt sein sollen, ohne vorherige Befassung des EuGH die Rechtswidrigkeit und Ungültigkeit einer Verfahrenshandlung der EUStA festzustellen, soweit diese auf einem Verstoß gegen Unionsrecht beruht, und zwar selbst dann nicht, wenn es aus Sicht des Gerichts keinen Zweifel an der Auslegung der fraglichen Unionsvorschrift gibt.

Wie der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung betont hat, können die nationalen Gerichte „die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung prüfen und, wenn sie die Gründe, die von den Parteien vor ihnen für die Ungültigkeit vorgebracht werden, für nicht zutreffend halten, diese Gründe mit der Feststellung zurückweisen, daß die Handlung in vollem Umfang gültig ist“ 34 Art 267 AEUV eröffnet „den Parteien eines bei einem innerstaatlichen Gericht anhängigen Rechtsstreits keinen Rechtsbehelf“; daher „rechtfertigen vor dem nationalen Gericht erhobene Einwände gegen die Gültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts als solche noch nicht die Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage an den Gerichtshof“ 35 Sind nationale Gerichte „hingegen der Auffassung, dass einer oder mehrere der Gründe, die von den Parteien für die Ungültigkeit vorgebracht oder auch von Amts wegen geprüft worden sind, […] durchgreifen, müssen sie das Verfahren aussetzen und dem Gerichtshof ein Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit vorlegen“ 36

32

Art 42 Abs 2 lit a EUStA-VO enthält – im Vergleich zu Art 267 AEUV – die weitere Voraussetzung, dass sich die Frage der Gültigkeit „unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts“ stellt. Hintergrund für diese Hervorhebung ist, dass das nationale Gericht regelmäßig mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Verfahrenshandlung am Maßstab des anwendbaren nationalen Verfahrensrechts (Art 5 Abs 3 EUStA-VO) zu prüfen haben wird. Die Vorlagepflicht nach Art 42 Abs 2 lit a EUStA-VO soll aber nicht bestehen, wenn das nationale Gericht zum Ergebnis kommt, dass die Verfahrenshandlung der EUStA allein mit (anwendbarem) nationalem Recht unvereinbar ist, sondern nur dann, wenn es der Auffassung ist, dass ein Verstoß gegen Unionsrecht vorliegt.

Die weitere Einschränkung, die Frage der Gültigkeit müsse sich „unmittelbar“ auf der Grundlage des Unionsrechts stellen, soll bedeuten, dass nationale Gerichte „dem Gerichtshof keine Vorabentscheidungsfragen zur Gültigkeit von Verfahrenshandlungen der EUStA im Hinblick auf nationales Verfahrensrecht oder nationale Maßnahmen zur Umsetzung von Richtlinien vorlegen sollen, selbst wenn diese Verordnung auf diese Bezug nimmt“ (ErwGr 88 Abs3). Gemeint sein dürften damit insbesondere nationale Vorschriften zur Umsetzung der in Art 41 Abs 2 EUStA-VO in Bezug genommenen Richtlinien über Beschuldigtenrechte. Zwar können nationale Gerichte insoweit Vorabentscheidungsersuchen über die Auslegung einer Richtlinie stellen; über die Rechtmäßigkeit bzw Gültigkeit einer Verfahrenshandlung der EUStA am Maßstab des die Richtlinie umsetzenden nationalen Verfahrensrechts soll das nationale Gericht dann aber selbst entscheiden.37

3.3.2.Vorabentscheidung über die Auslegung oder Gültigkeit von Unionsrecht Eigentlich überflüssig ist die Regelung in Art 42 Abs 2 lit b EUStA-VO: Die dort angesprochene Zuständigkeit des EuGH für die „Auslegung und Gültigkeit der Bestimmungen des Unionsrechts einschließlich dieser Verordnung“ ergibt sich bereits aus Art 267 AEUV. Dabei enthält die Formulierung in Art 42 EUStA-VO allerdings eine kleine Ungenauigkeit: Die Zuständigkeit des EuGH, über die Gültigkeit von Bestimmungen des Unionsrechts zu entscheiden, bezieht sich natürlich nur auf das Sekundärrecht der Union und nicht auf das Primärrecht, also namentlich nicht auf die Unionsverträge (siehe Art 267 Abs1 lit a AEUV). Grund für die Aufnahme der Bestimmung in den Art 42 EUStA-VO war die Klarstellung, dass mit der Regelung in Abs 1 lita leg cit keine abschließende Regelung zur Vorabent-

33

EuGH 22. 10. 1987, Foto-Frost, C-314/85, Rn 20; dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/ Burchard, Commentary, Art 42 Rz 42 ff.

EuGH 22. 10. 1987, Foto-Frost, C-314/85, Rn 17.

34

35

36

EuGH 22. 10. 1987, Foto-Frost, C-314/85, Rn 14.

EuGH 10. 1. 2006, IATA und ELFAA, C-344/04, Rn 28.

EuGH 10. 1. 2006, IATA und ELFAA, C-344/04, Rn 30.

37 Dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rn 41; zu möglichen Abgrenzungsproblemen Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser , HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz103 f.

Schwerpunkt Gerichtliche Kontrolle der EUStA 244 6/2022 ZWF

scheidungszuständigkeit des EuGH getroffen wird. Man kann in lit b leg cit zudem einen weiteren Hinweis darauf sehen, dass sich die dort genannten Zuständigkeiten des EuGH eben nur auf die Auslegung bzw Entscheidung über die Gültigkeit von Unionsrecht beziehen, nicht aber auf diesbezügliche Entscheidungen über Vorschriften des nationalen Rechts, selbst wenn diese maßgeblich für die Prüfung der Rechtmäßigkeit von Verfahrenshandlungen der EUStA sind.38

Auch in Bezug auf die Bestimmung in Abs 2 lit c leg cit könnte sich die Frage der Erforderlichkeit stellen. Die dort angesprochene Zuständigkeit des EuGH, über die Auslegung der Art22 und 25 EUStA-VO zu entscheiden, ergibt sich ja bereits aus Art 267 AEUV bzw dessen Bekräftigung in Art 42 Abs 2 lit b EUStA-VO. Von Bedeutung ist hier jedoch die Formulierung „in Bezug auf etwaige Zuständigkeitskonflikte zwischen der EUStA und den zuständigen nationalen Behörden“. Hintergrund ist die Regelung in Art 25 Abs 6 EUStA-VO, wonach über einen solchen Zuständigkeitsstreit die Behörden des betroffenen Mitgliedstaats entscheiden sollen, „die für die Verteilung der Strafverfolgungszuständigkeiten auf nationaler Ebene zuständig sind“. Aus ErwGr 62 ergibt sich, das mit dem Begriff „Behörden“ die „Justizbehörden“ des Mitgliedstaats gemeint sind. Diese Zuständigkeit liegt in den Mitgliedstaaten wohl meist bei der Generalstaatsanwaltschaft.

Art 42 Abs 2 lit c dürfte zu entnehmen sein, dass in geeigneter Weise sichergestellt sein muss, dass gleichwohl letztlich der EuGH Gelegenheit erhalten kann, maßgeblich über die Auslegung der Bestimmungen in Art 22 und 25 EUStA-VO zu entscheiden.39 Vor diesem Hintergrund hat der deutsche Gesetzgeber eine Ergänzung des § 142b dGVG vorgenommen und in einem neuen Abs 6 bestimmt, dass in Deutschland der Generalbundesanwalt für die Entscheidungen nach Art 25 Abs 6 EUStA-VO zuständig ist und gegen seine Entscheidung Beschwerde beim Bundesgerichtshof erhoben werden kann. In Österreich entscheidet gemäß § 7 EUStA-DG der OGH über Zuständigkeitskonflikte nach Art 25 Abs 6 EUStA-VO. Wichtig zu beachten bei der Vorschrift des Art 42 Abs 2 lit c EUStA-VO ist jedoch, dass diese Regelung zwar nur für Zuständigkeitskonflikte zwischen der EUStA und den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gilt. Das ändert aber nichts daran, dass etwa auch der Beschuldigte oder der Geschädigte nach Maßgabe des nationalen Rechts die Möglichkeit haben kann, mit Blick auf Art22 oder 25 EUStA-VO Einwendungen gegen die Zuständigkeit durch die EUStA oder die nationale Behörde zu erheben. Auch insoweit würde dann der EuGH gegebenenfalls im Wege

38 Dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rz 50.

39 Dazu näher H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 42 Rz 54.

des Vorabentscheidungsverfahrens über die Auslegung dieser Bestimmungen zu entscheiden haben.

Für eine umfassende Bewertung der in Art 42 Abs 1 und 2 EUStA-VO getroffenen Regelungen ist es noch zu früh. Soweit ersichtlich, kommen die Gerichte der Mitgliedstaaten den ihnen zugewiesenen Aufgaben der gerichtlichen Kontrolle von Verfahrenshandlungen der EUStA nach. Für die Beschuldigten und andere Beteiligte dürfte die Zuweisung der Zuständigkeit an die nationalen Gerichte grundsätzlich Vorteile haben. Die Gerichte haben damit die Funktion eines One-StopShops. Hätte der Unionsgesetzgeber es bei den Zuständigkeiten des EuGH belassen, müssten Beschuldigte und gegebenenfalls andere Beteiligte je nach Rechtsfrage mal das nationale Gericht, in anderen Fällen wiederum das nach Art 256 AEUV zuständige Gericht der Union oder aber sogar beide befassen.

Im Zuge der Verhandlungen über die EUStA-VO wurde auch darauf hingewiesen, dass Verfahren vor dem Gericht einschließlich des sich gegebenenfalls anschließenden Rechtsmittels zum Gerichtshof (Art 256 Abs 2 AEUV) in der Regel deutlich längere Zeit in Anspruch nehmen würden als die sich aus dem Zusammenspiel von Art 42 Abs 1 und 2 EUStA-VO ergebende Zweistufigkeit von nationalem Gericht und dem mit einem Vorabentscheidungsersuchen zu befassenden EuGH, zumal hierfür gegebenenfalls das PPU-Verfahren zur Anwendung kommen kann (Art 23a EuGH-Satzung, Art 107 ff EuGH-VerfO).

Ob die Zuständigkeitsübertragung und die damit einhergehende Beschneidung der Zuständigkeiten des EuGH mit dem Unionsprimärrecht vereinbar ist, wird sicher zu gegebener Zeit der EuGH zu entscheiden haben. Zur Sicherung eines angemessenen Rechtsschutzniveaus ist es jedenfalls unerlässlich, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten ihren neuen Aufgaben als funktionale Unionsgerichte in befriedigendem Maße nachkommen. Dazu mögen in manchen Mitgliedstaaten noch ergänzende gesetzgeberische Regelungen notwendig werden. Auf die Einhaltung diesbezüglicher rechtsstaatlicher Standards in allen Mitgliedstaaten zu achten, ist jedenfalls auch eine dem EuGH verbliebene Aufgabe.

245 ZWF 6/2022
Schwerpunkt Gerichtliche Kontrolle der EUStA ▶ Auf den Punkt gebracht

Einstellungsentscheidungen der Europäischen Staatsanwaltschaft und gerichtlicher Rechtsschutz in Bezug auf die Einstellung des Verfahrens

Die unmittelbar in den teilnehmenden Mitgliedstaaten anwendbare (Art 288 Abs 2 AEUV) EUStA-VO1 enthält nur wenige Vorschriften in Bezug auf die Strafverfolgungstätigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA). Soweit in dieser nichts anderes geregelt ist, gilt nationales Recht (Art 5 Abs 3 EUStA-VO). Damit sind für ein von der EUStA in Österreich geführtes Ermittlungsverfahren im Wesentlichen die inländischen Vorschriften über das Strafverfahren maßgeblich. Von diesem Prinzip gibt es nur wenige Ausnahmen; eine davon ist die Einstellungsentscheidung.2 Für diesen Verfahrensschritt enthält Art 39 Abs 1 lit a bis g EUStA-VO eine detaillierte Aufzählung von Einstellungsgründen. Dementsprechend sieht das nationale Durchführungsgesetz zur EUStA-VO (EUStA-DG) die Nichtanwendbarkeit der in §§ 190 bis 192 StPO und in § 18 VbVG angeführten Einstellungsgründe vor (§14 Abs 1 EUStA-DG). Die unionsrechtliche Regelung der Einstellungsvoraussetzungen führt zu Auslegungsschwierigkeiten. Zugleich ergeben sich Konsequenzen im Bereich des Rechtsschutzes. Diesen Fragen wird in diesem Beitrag nachgegangen.

1.Allgemeines

Die Gründe für die genannte Lösung leuchten ein. Vorrangig soll auf diese Weise eine behördeneinheitliche Vorgehensweise innerhalb der EUStA erreicht werden. Eine solche wäre kaum zu bewerkstelligen, wenn auf das jeweilige nationales Recht der Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden müsste. Denn dieses ist stark unterschiedlich ausgeprägt, vor allem wenn es um Opportunitätserwägungen geht.3 Zugleich lässt sich auch ein mögliches „forum-shopping“ vermeiden. Denn es wäre sonst immerhin denkbar, dass ein (einzustellendes) Ermittlungsverfahren just in jenem Mitgliedstaat geführt oder diesem übertragen wird,4 in dem – je nach Anklägerinteresse – mehr oder weniger attraktive Einstellungsmöglichkeiten existieren bzw keine (oder weniger) Rechtsschutzmöglichkeiten vorhanden sind.5 Im Übrigen soll der Unionsbehörde die möglicherweise schwierige Prüfung erspart werden, welche Rechtsordnung für die Verfahrensbeendigung maßgeblich ist.6

1 Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) vom 12. 10. 2017, ABl L 283 vom 31. 10. 2017, S 1.

2 Vgl aber etwa auch die Forumswahl nach Art 36 Abs 1 und 3 EUStA-VO.

3 Wasmeier/Killmann in von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht7 (2015) Art 86 AEUV Rz 110; vgl etwa den von weitgehenden Opportunitätserwägungen getragenen Art 167 nlStPO, wonach eine Strafverfolgung aus „Gründen öffentlichen Interesses“ unterbleiben kann.

4 Zur Übertragung von Zuständigkeiten siehe Art 34 EUStA-VO.

5 Brodowski in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, European Public Prosecutor’s Office – Article by Article Commentary (2021) (idF Commentary) Art 39 Rz17.

6 Vgl Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 39 EUStAVO Rz 1.

2.Die Einstellung des Verfahrens und deren Voraussetzungen

2.1.Einstellungsgründe

2.1.1.Die Einstellungsgründe im Einzelnen Vorweg ist festzuhalten, dass Art 39 EUStA-VO nur jene Verfahrenssituationen erfasst, in denen eine weitere Strafverfolgung dauerhaft („nicht mehr“) möglich ist. Somit steht das Unionsrecht einer vorübergehenden Verfahrensbeendigung, wie vor allem einer Abbrechung des Ermittlungsverfahrens nach § 197 StPO, nicht entgegen. Konsequent dazu schließt § 14 Abs 1 EUStA-DG die Anwendbarkeit dieser Norm nicht aus.

Art 39 Abs 1 EUStA-VO enthält in lit a bis g sieben Einstellungsgründe. Demnach ist das Verfahren einzustellen, wenn die Strafverfolgung aufgrund des Rechts des Mitgliedstaats des betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts (DEStA) aus einem der folgenden Gründe nicht mehr möglich ist: a.Tod des Verdächtigen oder Beschuldigten oder Auflösung einer verdächtigen oder beschuldigten juristischen Person; b.Schuldunfähigkeit des Verdächtigen oder Beschuldigten; c.dem Verdächtigen oder Beschuldigten gewährte Amnestie; d.dem Verdächtigen oder Beschuldigten gewährte Immunität, sofern diese nicht aufgehoben ist; e.Ablauf der nationalen gesetzlichen Verjährungsfrist für die Strafverfolgung; f.ein Verfahren gegen den Verdächtigen oder Beschuldigten wegen derselben Tat wurde bereits rechtskräftig abgeschlossen; g.es fehlen sachdienliche Beweise.

Wie Art 39 Abs 1 letzter Halbsatz EUStA-VO deutlich macht, spielt das Recht des jeweils rele-

Schwerpunkt Einstellungsentscheidungen der EUStA 246 6/2022 ZWF
Schwerpunkt
HR Hon.-Prof. Dr. Babek Oshidari ist Hofrat des OGH und Honorarprofessor an der Paris-LodronUniversität Salzburg.

vanten Mitgliedstaats eine maßgebende Rolle. Dies spiegelt sich auch in den einzelnen Einstellungsgründen wider. So verweist etwa lit e leg cit ausdrücklich auf die nationalen Verjährungsfristen. Aber auch die Frage, ob eine Person schuldunfähig ist (lit a leg cit), lässt sich nur auf Basis der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsnormen beantworten. Diese Verschränkung hat vor allem Auswirkungen auf den Rechtsschutz (siehe dazu Pkt 3.).

Die Aufzählung in Art 39 lit a bis g EUStAVO ist relativ kasuistisch.7 Sie beinhaltet verschiedene Verfahrenssituationen, die nach nationalem Recht eine Einstellungsentscheidung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen iSd § 190 Z 1 oder 2 StPO8 nach sich ziehen würden oder für die gar keine Sachentscheidung vorzunehmen wäre („Tod des Beschuldigten“).9 Eine solche Regelungstechnik ist – im Hinblick auf den sich im gegebenen Kontext stets vollziehenden Wertewandel und der damit verbundenen rechtlichen Dynamik10 – schon vom Ansatz her wenig vorteilhaft.11 Sie führt vorliegend auch zur Frage nach der Reichweite des Art 39 EUStAVO. Denn seinem Wortlaut nach hat eine Einstellung nicht schon allein wegen der Unmöglichkeit der Strafverfolgung nach dem Recht des Mitgliedstaats zu erfolgen (Abs 1 leg cit); es sind vielmehr auch die einzelnen Einstellungsgründe (lit a bis g leg cit) maßgeblich.

2.1.2.Erschöpfende Aufzählung?

Laut den Materialien zur EUStA-VO (ErwGr 81) handelt es sich bei den Einstellungsgründen nach Art 39 Abs 1 lit a bis g EUStA-VO um eine „erschöpfende“ Aufzählung. Damit stellt sich die Frage, wie die EUStA in Konstellationen vorzugehen hat, für die Art 39 EUStA-VO zwar keinen Einstellungsgrund ausdrücklich erwähnt, die aber dennoch mit Blick auf die nationale Rechtsordnung nicht verfolgbar sind. In der Literatur werden hierfür vor allem die – in lit a bis g leg cit nicht ausdrücklich genannten – Fälle der Strafunmündigkeit oder die unzulässige, dem Staat zuzurechnende Tatprovokation12 genannt. Nach Ansicht mancher Autoren sei insoweit eine analoge Anwendung des Art 39 Abs 1 EUStA-VO anzudenken.13 Zuweilen wird – vor dem Hintergrund des Art 5 Abs 3 EUStA-VO14 – die subsi-

7 Vgl die Kritik bei Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser (Hrsg), Handbuch Europäische Staatsanwaltschaft (2022) § 11 Rz 95: „in sich dogmatisch wenig homogene Gründe“

8 Vgl dazu Nordmeyer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 190 Rz12ff.

9 RIS-Justiz RS0097073; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens (2017) Rz 1.98.

10 Vgl etwa die Abkehr von der „Strafzumessungslösung“ hin zu einem Beweisverbot bei unzulässiger Tatprovokation aufgrund der Entscheidung des EGMR vom 23. 10. 2014, Furcht gg Deutschland, Bsw 54648/09, NL 2014, 406.

11 Vgl Krammer, Juristische Methodenlehre6 (2019) 85.

12 Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 11 Rz 97.

13 Gut in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 9 Rz 75; Brodowski in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 39 Rz 11.

14 Demnach gilt nationales Recht, soweit eine Frage in der EUStA-VO nicht geregelt ist.

diäre Anwendung nationalen Rechts überlegt.15 All diesen Vorschlägen liegt der berechtigte Ansatz zugrunde, dass es rechtsstaatlich nicht verträglich ist, der EUStA eine weitere Strafverfolgungstätigkeit bzw sogar die Erhebung einer Anklage aufzubürden, die nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats keinesfalls zu einer Verurteilung führen kann.

Die angesprochenen Fallkonstellationen eignen sich freilich nur bedingt für die weitere Diskussion. Denn eine Art 6 EMRK verletzende Tatprovokation führt nach Ansicht des EGMR16 zum Ausschluss des solcherart rechtswidrig erlangten Beweismaterials,17 womit der Einstellungsgrund des Art 39 Abs 1 lit g EUStA-VO („Fehlen sachdienlicher Beweise“) ohne Weiteres vorliegt. Die Verfahrensbeendigung gegen einen Strafunmündigen kann wiederum auf Art 39 Abs 1 lit b EUStA-VO (Schuldunfähigkeit) gestützt werden. Hier soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass die jeweiligen Sprachfassungen der EUStA-VO nicht völlig kohärent zu sein scheinen. Nach der für die Zentralbehörde in Luxemburg maßgeblichen englischen Version18 ist von „insanity“ die Rede, womit eher die Zurechnungsunfähigkeit aufgrund geistiger Abnormität angesprochen zu sein scheint.19

Abgesehen davon gibt es aber eine Reihe weiterer Konstellationen, die in Art 39 Abs 1 EUStA-VO nicht explizit genannt, aber nach nationalem Recht (und wohl in den meisten anderen teilnehmenden Mitgliedstaaten) keine weitere Strafverfolgung erlauben. In Betracht kommen etwa rechtliche Gründe, wie Verfolgungshindernisse (zB Spezialitätsgrundsatz),20 die fehlende Tatbestandsmäßigkeit (zB bloße Verwaltungsübertretung) oder das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrunds. Für Österreich speziell ist noch die Ausübung tätiger Reue (§167 StGB) zu nennen. Würde Art 39 Abs 1 EUStA-VO in solchen Fällen nicht greifen, stünde der EUStA in einem österreichischen Verfahren überhaupt keine Einstellungsmöglichkeit zur Verfügung. Denn nach § 14 Abs 1 EUStA-DG sind die in §§ 190 bis 192 StPO und in § 18 VbVG angeführten Einstellungsgründe auf Einstellungsentscheidungen der EUStA

15 Sandru et al, European Public Prosecutor’s Office (2022) 239; van Zijl, Sepot en het Europees Openbaar Ministerie, Nederlands Juristenblad 2022, 2162. Ebenso für die Fälle der Tatprovokation noch Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 39 EUStA-VO Rz 1. Die dort vertretene Auffassung wird aber nicht mehr aufrechterhalten (vgl dazu im folgenden Haupttext).

16 Vgl insoweit ErwGr 80, wonach die EUStA-VO (auch) die in der EMRK anerkannten Grundrechte achtet.

17 Vgl EGMR 23. 10. 2014, Furcht gg Deutschland, Bsw 54648/09, NL 2014, 406: „all evidence obtained as a result of police incitement must be excluded“

18 Die interne Arbeitssprache der EUStA ist Englisch; siehe Art 2 Abs 1 und 4 GO iVm Art 1 der Kollegiumsentscheidung 002/2020 vom 30. 9. 2020.

19 Schuldunfähigkeit würde im Englischen wohl eher als „incapacity of guilt“ bezeichnet werden; vgl auch die die französische Version, in der von „démence“ (Wahnsinn) die Rede ist.

20 Siehe auch Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 11 Rz 97.

247 ZWF 6/2022
Schwerpunkt

nicht anzuwenden. Es wäre unerträglich, würde die EUStA-VO die EUStA in solchen Fällen zur Erhebung von Anklagen21 verpflichten, die im Einspruchsweg vom OLG sofort beseitigt würden (§ 215 Abs 2 iVm § 212 Z 1 StPO).

Vor diesem Hintergrund ist zu überlegen, Art39 Abs 1 lit g EUStA-VO als eine Generalbzw Auffangklausel autonom nach Unionsrecht dahin auszulegen, dass dieser Einstellungsgrund –abseits von den explizit hervorgehobenen Einstellungsgründen nach lit a bis f leg cit – sämtliche übrigen Fälle erfasst, in denen die Strafverfolgung aufgrund des Rechts des Mitgliedstaats des betrauten DEStA nicht mehr möglich ist.22 Solcherart fehlt es eben auch dann an „sachdienlichen Beweisen“ für eine weitere Strafverfolgung, wenn etwa das Ermittlungsverfahren keine ausreichende Tatsachengrundlage in Bezug auf das Vorliegen sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen einer strafbaren Handlung erbracht hätte oder Rechtfertigungsgründe, Verfahrenshindernisse und dergleichen zutage getreten sind. Eine solche Auslegung würde vor allem dem tragenden Grundprinzip des Art 39 Abs 1 letzter Halbsatz EUStA-VO („weitere Strafverfolgung im relevanten Mitgliedstaat nicht möglich“) Rechnung tragen und sich auch mit ErwGr 81 („erschöpfende Aufzählung“) ohne Weiteres vertragen. Freilich stellt sich dabei die Frage, wofür es dann der übrigen Einstellungsgründe der lit a bis f des Art 39 Abs 1 EUStA-VO bedurft hat. Es soll aber insoweit nicht übersehen werden, dass der – im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit von einzelnen Mitgliedstaaten (Art 86 Abs 1 AEUV) errichteten23 – EUStA-VO auch ein gewisser Kompromisscharakter innewohnt. Dieser lässt sich wiederum mit den zum Teil sehr unterschiedlichen Rechtstraditionen der teilnehmenden Mitgliedstaaten erklären. Letztlich wird es aber dem EuGH obliegen, die Reichweite des Art39 Abs 1 EUStA-VO zu klären.24

2.2.Verfahren

Zuständig für die Fassung eines Einstellungsbeschlusses sind die (ständigen) Kammern (Art 39 Abs 1 EUStA-VO). Ein solcher Beschluss kann allerdings nur auf Grundlage eines – gemäß Art35 Abs 1 EUStA-VO verfassten – Berichts des DEStA erfolgen. Dieser muss nicht unbedingt einen Einstellungsvorschlag enthalten. Denn Art 35 EUStA-VO nennt auch weitere mögliche Beendigungsarten, nämlich die Strafverfolgung vor einem nationalen Gericht, die Verweisung des Verfahrens an nationale Strafverfolgungsbehörden (Art 34 EUStA-VO) oder

21 Gemäß § 15 Abs 1 EUStA-DG muss die EUStA in jedem Fall eine Anklage beim Schöffengericht einbringen.

22 Ähnlich auch die in diese Richtung weisenden Überlegungen bei Brodowski in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 39 Rz 35 f: „Beweislage, die den Tatvorwurf nicht stützt“; vgl auch Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 11 Rz 96.

23 Ausführlich dazu H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/ Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 2 Rz 14 ff.

24 So auch Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 11 Rz 96.

ein vereinfachtes Strafverfolgungsverfahren (Art 40 EUStA-VO). Hat allerdings der DEStA beabsichtigt, Anklage zu erheben, ist es der Kammer verwehrt, darauf mit (sofortiger) Verfahrenseinstellung zu reagieren (Art 36 Abs 1 letzter Satz EUStA-VO). Diese seltsame Regelung geht auf den Vorschlag mancher Mitgliedstaaten zurück, in denen die Autonomie der Staatsanwaltschaft stark ausgeprägt ist.25 Insoweit bleibt es aber der Kammer unbenommen, den DEStA im Weisungsweg auf die ihr als gegeben erscheinenden Gründe für eine Einstellung hinzuweisen und solcherart auf einen Einstellungsvorschlag hinzuwirken.26

In gewissen Fällen ist der Einstellung ein Konsultationsmechanismus mit der von den Mitgliedstaaten gemäß Art 25 Abs 6 EUStA-VO benannten Behörde vorgeschaltet (Art 39 Abs 3 EUStA-VO). Dieser kommt dann zum Zug, wenn das (einzustellende) Ermittlungsverfahren auch spezielle inländische Strafverfolgungsinteressen berührt. Die EUStA-VO bezieht sich insoweit auf die sogenannten „untrennbar verbundenen Straftaten“27 und auf den ausgabenseitigen Betrug iSd Art 3 lit a und b PIF-Richtlinie,28 soweit der Schaden für die finanziellen Interessen der Union jenen der Opfer nicht übersteigt. § 14 Abs 3 EUStA-DG hat aus (an sich verständlichen) systematischen Gründen die Generalprokuratur als Konsultationsbehörde vorgesehen, die aber wiederum nicht die von der EUStA-VO ins Auge gefasste (idente) Behörde ist, die auch über Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen nationalen Staatsanwaltschaften und der EUStA entscheiden soll.29 Diese hat sich gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die EUStA auszusprechen, wenn der Sachverhalt unter Berücksichtigung des § 108 Abs 1 Z 2 StPO noch nicht ausreichend geklärt ist, eine Verurteilung aufgrund ausreichend geklärten Sachverhalts naheliegt oder kein Grund für die Einstellung des Verfahrens oder den Rücktritt von der Verfolgung vorliegt (§ 14 Abs3 EUStA-DG). Wird die Zustimmung zur Einstellung nicht erteilt, wird das Verfahren gegebenenfalls in Anwendung von Art 34 Abs 6 bis 8 EUStA-VO von der Kammer an die zuständige nationale Behörde verwiesen. Zuständige

25 H.-H. Herrnfeld in H.-H. Herrnfeld/Brodowski/Burchard, Commentary, Art 36 Rz 11.

26 Näher dazu Gut in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 9 Rz 53.

27 Darunter sind im Wesentlichen strafbare Handlungen zu verstehen, die mit jenen, für die die EUStA zuständig ist, ideal oder real konkurrieren; näher dazu Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 22 EUStA-VO Rz 22 ff.

28 Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. 7. 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug, ABl L 198 vom 28. 7. 2017, S29; näher zu diesem Begriff und dessen rechtlicher Einordnung in Österreich Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 22 EUStA-VO Rz 7 f.

29 Insoweit wurde nämlich – systemfremd – der OGH zur Bereinigung staatsanwaltschaftlicher Kompetenzkonflikte vorgesehen; vgl Oshidari in Höpfel/Ratz , WK StGB2, Art 25 EUStA-VO Rz 11.

Schwerpunkt Einstellungsentscheidungen der EUStA 248 6/2022 ZWF

Einstellungsentscheidungen

Behörde wäre in diesem Fall die in §§ 20a, 25 f StPO vorgesehene Staatsanwaltschaft. Kommt es zu einem Einstellungsbeschluss durch die Kammer, verfolgt der DEStA gemäß Art 35 Abs 1 letzter Halbsatz EUStA-VO „die Angelegenheit entsprechend weiter“. Dieser30 nimmt die Benachrichtigungen iSd Art 39 Abs 4 EUStA-VO vor.31 Er hat insoweit auch die Verständigungen nach § 194 StPO vorzunehmen, wobei insoweit das Opfer auch zu informieren ist, unter welchen Voraussetzungen eine Nichtigkeitsklage nach Art 263 Abs 4 AEUV beim EuGH (zu dessen Rolle als Rechtsschutzinstanz siehe Pkt 3.1.2.) eingebracht werden kann (§ 14 Abs 2 EUStA-DG).

3.Rechtsschutz

3.1.Rechtsschutz gegen Einstellungsentscheidungen

3.1.1.Grundlagen

Wie oben erwähnt, nimmt Art 39 EUStA-VO stark auf die nationalen Rechtsordnungen Bezug, was vor allem Auswirkungen auf den Rechtsschutz hat. Grundsätzlich weist Art 42 Abs 1 EUStA-VO die gerichtliche Kontrolle von „Verfahrenshandlungen der EUStA“ primär den nationalen Gerichten zu.32 Solcherart wären auch Einstellungsentscheidungen der EUStA erfasst. Allerdings sieht Art 42 Abs 3 EUStA-VO als Ausnahme davon vor, dass die Beschlüsse der EUStA über die Einstellung eines Verfahrens, sofern diese unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts angefochten werden, im Einklang mit Art 263 Abs 4 AEUV der Kontrolle durch den EuGH unterliegen. Aufgrund dieser Einschränkung des Art 42 Abs 3 EUStA-VO kommen als Rechtsschutzinstanzen sowohl der EuGH als auch nationale Gerichte in Frage.

3.1.2.EuGH

Anfechtungsgegenstand der Nichtigkeitsklage (Art 263 AEUV) beim EuGH sind gemäß Art 42 Abs 3 EUStA-VO „Beschlüsse“ der EUStA über die Einstellung eines Verfahrens. Das sind die ausdrücklich als solche bezeichneten Entscheidungen der Kammer gemäß Art 39 Abs 1 EUStAVO,33 auch wenn sie vom jeweiligen DEStA noch effektuiert werden müssen.

Der EuGH kommt zum Zug, wenn der Einstellungsbeschluss unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts angefochten wird. Somit hängt die Zuständigkeit des Unionsgerichts davon ab, ob nach dem Vorbringen des Klägers ein Verstoß gegen Unionsrecht vorliegt. Art42 Abs3 EUStA-VO fordert weiters einen „unmit-

30

Vgl Art 56 Abs 7 EUStA-GO.

31 Näher zu den Verständigungen iSd Art 39 Abs 4 EUStA-VO Gut in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, 9 Rz 91 ff.

32 Siehe dazu den Beitrag von H.-H. Herrnfeld, Die gerichtliche Kontrolle der Europäischen Staatsanwaltschaft, in diesem Heft (S238ff).

33 Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 123.

telbaren“ Zusammenhang mit dem Unionsrecht. Dieser liegt nicht vor, soweit Art39 EUStA-VO auf nationales Recht Bezug nimmt.34 Damit ist eine Klageführung beim EuGH ausgeschlossen, wenn etwa eine Fehlanwendung nationaler Verjährungsvorschriften (Art 39 Abs 1 lite EUStAVO) behauptet wird.

Der EuGH wäre zB dann zuständig, wenn sich – im Rahmen der Klagegründe des Art 263 Abs 2 AEUV35 – Streitfragen zur oben (Pkt 2.1.2.) angesprochenen Frage in Bezug auf die Reichweite des Art 39 Abs 1 EUStA-VO ergeben würden. Gleichsam könnte etwa eine Rechtsverletzung oder ein Ermessensmissbrauch im Zusammenhang mit der Bewertung von Beweisen als „sachdienlich“ im Sinn der vorgenannten Bestimmung behauptet werden.36 Ist die Klage berechtigt, wird der Einstellungsbeschluss der EUStA (ex tunc) für nichtig erklärt (Art 264 Abs1 AEUV). Das Verfahren ist damit weiter bei der EUStA anhängig und von dieser fortzuführen.37

Im angesprochenen Segment kommt das nationale Rechtsschutzregime (§§ 195 f StPO) nicht zum Tragen, was sich schon aus dem Anwendungsvorrang der EUStA-VO (Art 5 Abs 3 letzter Satz)38 im Zusammenhang damit ergibt, dass Art42 Abs 3 EUStA-VO ausdrücklich eine von Abs 1 leg cit (Kontrolle durch nationale Gerichte) abweichende Regelung trifft.39 Daran ändert auch nichts, dass § 14 Abs 2 letzter Satz EUStA-DG auf den ersten Blick keine Einschränkungen vorsieht und pauschal die sinngemäße Anwendung der Regelungen über den Fortführungsantrag anordnet.40 Die Gesetzesmaterialien lassen aber erkennen, dass §§ 195 f StPO nicht greifen sollen, soweit gemäß Art 42 Abs 3 EUStA-VO der Rechtsweg zum EuGH eröffnet ist.41 An die österreichischen Gerichte gestellte Fortführungsanträge, die sich auf Fehlanwendungen der EUStA-VO selbst berufen, wären daher zurückzuweisen (§ 196 Abs2 Satz 1 StPO).

3.1.3.Nationale Gerichte

Die österreichischen Gerichte fungieren weiterhin in einem erheblichen und wohl im praktisch relevanten Umfang als Rechtsschutzinstitutionen gegenüber Einstellungsbeschlüssen der EUStA. Immer dann, wenn Verletzungen des nationalen

34 Vgl auch ErwGr 88 Abs 3 zu Art 42 Abs 2 lit a EUStAVO: Insoweit ist auch eine Kontrolle von sonstigen Verfahrenshandlungen der EUStA durch den EuGH ausgeschlossen.

35 Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 126 f.

36 Vgl Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 42 EUStAVO Rz 12.

37 Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 128.

38 Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 11 Rz 3; Oshidari , Die Europäische Staatsanwaltschaft, JSt 2018, 193; Glaser/Kert, Die Europäische Staatsanwaltschaft kommt, ZWF 2018, 59.

39 Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 42 EUStA-VO Rz 12.

40 Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 42 EUStA-VO Rz 12.

41 ErlRV zu BGBl I 2021/94, 11; vgl auch die diesbezüglich klare Regelung des § 3 Abs 5 Satz 1 dEUStA-G.

249 ZWF 6/2022
Schwerpunkt

Rechts bei der Einstellungsentscheidung (§ 195 Abs 1 Z 1 StPO) oder die Fortführungsgründe der Z 2 oder 3 leg cit behauptet werden, sind gemäß §14 Abs 2 letzter Satz EUStA-DG die Regeln über den Fortführungsantrag (§§ 195 f StPO) sinngemäß anzuwenden. Aufgrund der Unabhängigkeit der EUStA steht aber dem Rechtsschutzbeauftragen ein Recht auf Einbringung eines Antrags auf Fortführung des Ermittlungsverfahrens in keinem Fall zu (§13 Abs 2 EUStA-DG).

3.1.4.Fazit

Aus dem Vorgesagten ergibt sich, dass der Rechtsschutz gegen Einstellungsentscheidungen der EUStA zwischen dem EuGH und den österreichischen Gerichten geteilt ist. Die Zuständigkeit hängt davon ab, ob Verletzungen der EUStAVO oder des nationalen Rechts angesprochen werden. Will der Rechtsschutzwerber beide Fehler behaupten, muss er sowohl Klage gemäß Art263 AEUV erheben und parallel dazu einen Fortführungsantrag gemäß §§195f StPO stellen.

3.2.Rechtsschutz gegen das Unterbleiben von Einstellungen

Gemäß Art 42 Abs 1 Satz 2 EUStA-VO sind die nationalen Gerichte auch für den Fall zuständig, dass „es die EUStA unterlässt, eine Verfahrenshandlung mit Rechtswirkung gegenüber Dritten vorzunehmen, obwohl sie nach dieser Verordnung dazu rechtlich verpflichtet ist“. Damit wird dem EuGH auch die Zuständigkeit für Untätigkeitsklagen von natürlichen und juristischen Personen (Art 265 Abs 3 AEUV) entzogen und den nationalen Gerichten übertragen.42 Angesprochen ist zwar explizit nur eine sich aus der EUStA-VO selbst ergebende Verpflichtung. Im gegebenen Zusammenhang käme etwa der Fall in Betracht, dass der DEStA die Ermittlungen gemäß Art 35 Abs 1 EUStA-VO für abgeschlossen erachtet, ohne dass die Kammer einen darauf bezogenen Einstellungsbeschluss (Art 39 Abs 1 EUStA-VO) gefasst hätte. Da aber selbst Verletzungen der EUStA-VO der Kognitionsbefugnis der mitgliedstaatlichen Gerichte überantwortet werden,43 ist es insoweit nicht zweifelhaft, dass für sämtliche Unterlassungen in Bezug auf die Einstellung des Verfahrens der nationale Rechtsweg beschritten werden kann (vgl auch Art 5 Abs 3 EUStA-VO).44

Folgerichtig enthält daher das EUStA-DG keine diesbezüglichen Beschränkungen, womit vor allem der Einstellungsantrag nach § 108 StPO und die Überprüfung der Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens nach § 108a StPO in Frage kommen.45 Will aber die EUStA als Reaktion auf einen Einstellungsantrag das Ermittlungsverfahren selbst einstellen, geht sie – in

42 Siehe den Beitrag H.-H. Herrnfeld, in diesem Heft (S238ff).

43 Vgl auch Art 42 Abs 1 EUStA-VO: „im Einklang mit den Anforderungen und Verfahren des nationalen Rechts“

44 So auch Esser in H.-H. Herrnfeld/Esser, HB Europäische Staatsanwaltschaft, § 12 Rz 34.

45 ErlRV zu BGBl I 2021/94, 11; Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 42 EUStA-VO Rz 3.

Abweichung von § 108 Abs 2 StPO – jedoch nicht nach §§ 190 bis 192 StPO vor; sie hat vielmehr Art 39 EUStA-VO anzuwenden.46

3.3.Exkurs: Rechtsschutz gegen Verfahrensverzögerungen

Einen besonderen Rechtsschutz gegen Verfahrensverzögerungen sieht die EUStA-VO nicht vor. Somit kommt nationales Recht zum Zug. Nach der StPO sind jedoch die Möglichkeiten begrenzt, gegen schleppende staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen. Gewisse Abhilfe kann aber immerhin der Einstellungsantrag schaffen (108 StPO); außerdem kommt die (amtswegige) Überprüfung der Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens (§ 108a StPO) zum Tragen. Abgesehen davon ermöglicht § 22 Abs 4 EUStA-DG in sinngemäßer Anwendung des § 37 StAG eine Aufsichtsbeschwerde gegen den DEStA; diese richtet sich an den für die Republik Österreich ernannten EUStA. Solcherart kann etwa Befangenheit des DEStA geltend gemacht werden. In Bezug auf die in der Zentralstelle tätigen EUStA besteht eine solche Möglichkeit hingegen nicht. Insoweit steht auch der Weg zu einem österreichischen Gericht mittels Einspruchs wegen Rechtsverletzung (§ 106 StPO) nicht offen.47

Auf den Punkt gebracht

Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die EUStA ist in der EUStAVO abschließend geregelt und strikt am Legalitätsprinzip orientiert. Die nationalen Regelungen über Verfahrenseinstellungen finden insoweit keine Anwendung. Da aber die EUStA-VO hinsichtlich der Verfolgbarkeit von Straftaten auch das nationale Recht in den Blick nimmt, ergeben sich Konsequenzen für den Rechtsschutz gegen die Einstellungsentscheidungen der EUStA. Werden diese unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts angefochten, entscheidet darüber der EuGH im Verfahren über die Nichtigkeitsklage nach Art 263 Abs 4 AEUV. Wird die Fehlanwendung nationalen Rechts behauptet, kommen die Regeln über den Fortführungsantrag (§§ 195 f StPO) zum Zug. Gegen das Unterbleiben von Einstellungsentscheidungen stehen der Antrag auf Einstellung (§ 108 StPO) und die Überprüfung der Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens (§ 108a StPO) offen.

46 ErlRV zu BGBl I 2021/94, 11.

47 Vgl zum Ganzen Oshidari in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Art 42 EUStA-VO Rz 5; RIS-Justiz RS0127031, OLG Linz RL0000211; zweifelnd in Bezug auf die Unionsrechtskonformität der EUStA-VO aufgrund des Fehlens jeglicher Rechtsmittelmöglichkeit wegen Befangenheit von Galen/Furtwängler in Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 4. Hauptteil2 (2020) Rz 1002.

Schwerpunkt Einstellungsentscheidungen der EUStA 250 6/2022 ZWF

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.