Bauereignis Schule - Leseprobe

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www.bauereignis.de Projekt Gestaltete Lernumgebung, Nürtingen Grundschule 2007 – 2010 Nürtingen Grundschule Montessori-orientierte und offene Ganztags-Grundschule Mariannenplatz 28 10997 Berlin Friedrichshain-Kreuzberg Herausgeber/Kontakt: Dipl. Ing. Arch. Katharina Sütterlin Dipl. Ing. Innenarch. Susanne Wagner Sütterlin Wagner GbR Legiendamm 14 10179 Berlin info@bauereignis.de www.bauereignis.de Gestaltung Broschüre: Dorothee Guther Druck: Druckerei Hermann Schlesener KG, Berlin Gedruckt auf Recyclingpapier © 2011 Sütterlin Wagner Berlin Alle Rechte vorbehalten Stand: Berlin, Mai 2011 Bildnachweis: Titel: Zeichnung Finn Ben; Foto Gottfried Knodt Weitere Fotos von Ralph Brugger, Johan Carlsen, Cornelia Ditsch, Adriaan Klein, Gottfried Knodt, Katharina Sütterlin, Susanne Wagner

Fördersumme Programm Soziale Stadt: 475.684 € Bauherr: Land Berlin vertreten durch Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg Abt. Bauen, Wohnen und Immobilienservice Baumanagement Projektentwicklung, Architektur, Prozessmoderation: Katharina Sütterlin, Susanne Wagner Sütterlin Wagner GbR mit Mathilde Gaudin, Susanne Heiß, Arno Schlömer Statik: StudioC Nicole S. Zahner Brandschutz: TPG®
 Technische Prüfgesellschaft
Lehmann mbH Andreas Flock Akustik: Akustikbüro Rahe-Kraft GmbH Tobias Kirchner Ausbau und handwerkliche Betreuung der SchülerInnen und StudentInnen: Knodt Klein Kuschel GbR Ausstellungsgestaltung und -bau Gottfried Knodt, Adriaan Klein, Camillo Kuschel Berlin

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Kooperationen: Beuth Hochschule für Technik Berlin Fachbereich Architektur, Labor für Bauerhaltung Universität der Künste Berlin, Fakultät Gestaltung, Institut für Produktund Prozessgestaltung, Prof. Inge Sommer Trias, gemeinnützige Gesellschaft für Arbeit, Gesundheit und Soziales mbH Berlin


Katharina S端tterlin, Susanne Wagner Projektentwicklung, Architektur, Prozessmoderation

Bauereignis Schule

Projekt Gestaltete Lernumgebung N端rtingen Grundschule Berlin-Kreuzberg 2007-2010


Inhaltsverzeichnis 5 Geleit Dr. Franz Schulz Bezirksbürgermeister Berlin, Friedrichshain-Kreuzberg

1 Gestaltete Lernumgebung – Bauereignis Schule 6 Planen, sägen, nutzen Katharina Sütterlin, Susanne Wagner 8 Lebensort Schule neu erfunden Markus Schega, Schulleiter 11 Partizipation und Bildung als städtebauliche Aufgaben Dr. phil. Nikolai Roskamm, Stadtforscher

2 Das erste Bauereignis Klassenzimmer 12 Workshop Kinderfreundliche Schule mit ArchitekturstudentInnen der Beuth-Hochschule für Technik, Berlin Sütterlin Wagner 12 Mit meinem Klassenraum ging´s los. Marianne Schmitz, Klassenlehrerin

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Die Nürtingen-Grundschüler bauen weiter

16 Vervielfältigen, variieren und verfeinern Sütterlin Wagner 18 Eine Woche Bauunterricht Gottfried Knodt, begleitender Handwerker 20 Was habe ich gebaut? Asia, Schülerin 23 Ich war dabei. Anne Harmsen, Mutter 23 Was habe ich gebaut? Babakaan, Schüler 23 Erinnerungen an die Bauwoche Aylina, Schülerin 24 Die Wirkung der Bauwoche auf meine Klasse Ella Leithold, Klassenlehrerin 24 Raumumbau Malou, Schülerin 24 Klassenumbau 4,5,6 e Samuel, Schüler


26 Der Klassenumbau Akeyo und Lula, Schülerinnen 27 Unsere Klasse sieht jetzt viel schöner aus. Simon, Schüler

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Klassenzimmer Ergebnisse

28 Wir haben jetzt mehr Platz. Mandy Schmidt und Maria Linkemeyer, Sonderpädagoginnen 28 Gibt es jetzt Streit um die Sitzordnung? Was bedeutet ein Bauereignis an Arbeitsaufwand für die Klassenlehrerin? Babette Schewe, Klassenlehrerin 28 Wie nutzt Ihr die Hängematte? Umfrage unter Schüler/innen Sütterlin Wagner 31 Übernahme eines durch Vorgänger gestalteten Raumes Heike Roehl, Klassenlehrerin 31 Der neue Klassenraum der 1, 2, 3 d Nicole van gen Hassend, Klassenlehrerin 32 Lernumgebung und Schulklima Boris Gukelberger, Leiter Schulstation 33 Wie nutzen wir die Galerie? SchülerInnen

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41 Flurschule, die Nutzung der Flure Maria Linkemeyer, Sonderpädagogin 41 Ich bin stolz Hauswartin an der Nürtingen Grundschule zu sein. Interview mit Frau Schmidt, Hauswartin

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34 Sitzen, wie geht das? Marita Haller, Bewegungstherapeutin 35 Bewegtes Lernen bedeutet auch weniger Unfälle Annette Kuhlig, Unfallkasse Berlin

Die Flure als Lernräume und Fluchtweg

36 Workshops Flurschule I und Flurschule II mit Design- und ArchitekturstudentInnen, Universität der Künste Berlin Sütterlin Wagner

Hörsamkeit statt Lärmstress

42 Raumakustik in Schulen Tobias Kirchner, Akustiker

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Räume mit besonderen Aufgaben

44 Schülerbücherei Uli Pollack, Bibliotheksleiter 44 Musik- und Tanzraum 45 Warum ich mein Büro liebe und wie es sich nützlich macht. Markus Schega, Schulleiter 45 Die Kinder fühlen sich wohl. Interview mit Gabi Höder, Sekretärin

9 Bewegt statt starr und zappelig

34 Körperliche Abwechslung Sütterlin Wagner

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40 Keine Angst vor Brandschutz Warum Brandschutz auch Spass machen kann Andreas Flock, Brandschutzsachverständiger

20 Jahre Schulentwicklung

46 D ie Nürtingen Grundschule auf dem Weg zum Gestalteten Lernraum Karl-Heinz Reus, Sonderpädagoge 48 Zitate


1 Gestaltete Lernumgebung – Bauereignis Schule

Planen, Sägen, Nutzen oder das geht doch auch anders! Bevor unsere Kinder in die Nürtingen Grundschule eingeschult wurden, waren wir beide bereits im Bereich soziokultureller Projekte tätig. Susanne entwickelte „kulturen-küchen“, Katharina konzipierte und realisierte in der Reinhardswald Grundschule Berlin auf dem Schulhof gemeinsam mit den SchülerInnen einen „Sinnesgarten“. Als wir dann Schulkindmütter wurden hatten wir das starke Bedürfnis, die Lernumgebung unserer Kinder sinnlicher, multifunktionaler und „leiser“ zu gestalten, eben besser zum Leben passend, das hier stattfinden will. In der Arbeitsgruppe Raumgestaltung lernten wir uns kennen. Was im Rahmen von Elternengagement begann wurde schnell zur beruflichen Leidenschaft. Unsere kleinen und großen „Baufrauen und -herren“ von der Ideenfindung bis zum Ergebnis voll zu integrieren, machte uns dabei die größte Freude. Auch die Baustelle haben wir als Lernumgebung aufgefasst. Eine Baustelle im eigenen Klassenraum ist eine großartige Gelegenheit, gemeinsam etwas Echtes auf die Beine zu stellen. Bei diesem folgenreichen und konstruktiven Ereignis kann die eigene Handlungsfähigkeit ganz konkret erlebt werden. In den Bauwochen hätten wir am liebsten nur zugesehen. Es gab viele glückliche Momente, in denen wir beobachten konnten, wie Kinder mit ungeteilter Aufmerksamkeit mit ihrer Tätigkeit im Fluss waren. Kinder die fragen: „Darf ich noch weiterarbeiten?“ nicht, „Wann ist endlich Pause?“.

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Inzwischen sind alle Räume und Flure umgestaltet. Unterschiedliche Möbel und Orte laden zum individuellen Arbeiten ein und! - die ganze Schule wurde akustisch ertüchtigt. Diese Anpassung an den pädagogischen Bedarf fand in einem intensiven partizipatorischen Prozess statt. Während der gemeinsamen Arbeit an der Gestaltung entstand kleinschrittig über vier Jahre hinweg eine lebendige Wechselbeziehung zwischen der Schulgemeinschaft und ihrer Architektur. 2007 starteten wir das Projekt mit einer mutigen Lehrerin und ihrem Klassenraum. Die Reaktionen in der Schulgemeinschaft waren geteilt. Bei den Erwachsenen war von Begeisterung bis Ablehnung alles

vorhanden. Die Kinder haben den neuen Raum sofort mit großer Selbstverständlichkeit besiedelt, das hat schließlich auch die SkeptikerInnen unter den Erwachsenen überzeugt. So konnten wir schließlich erfolgreich Mittel aus dem Programm Soziale Stadt akquirieren für den Umbau der ganzen Schule. Für das „große“ Bauprojekt stellten wir ein Profiteam zusammen: Externe Fachleute für Akustik, Brandschutz, Statik, Bewegungstherapie, Denkmal- und Unfallschutz haben unsere Planung abgesichert. Das Planungskonzept, mit klarer Prioritätensetzung auf Verbesserung der Gebrauchsfunktion, umfasst die Gestaltung aller Klassenräume, der Flure, der Fach- und


Sonderräume und die Optimierung der Akustik. Darauf basierend, wurde auf einem Studientag im Juli 2009, gefolgt von einer schulinternen Umzugswoche, ein neuer Raumnutzungsplan eingeführt. Weiter ging´s - mit einem Bauereignis für jede Klasse der Schule. Gemeinsam mit den Schulkindern, ihren LehrerInnen, Eltern und Profi-HandwerkerInnen gingen wir daran, die Klassenzimmer auszubauen. Wir sind beide erfahrene Hochschullehrerinnen. Susanne hat als künstlerische Mitarbeiterin von Prof. Inge Sommer an der Universität der Künste Berlin mit den StudentInnen am handlungsorientierten Design gearbeitet. Katharina hat als Lehrbeauftragte und Gastdozentin an der

Beuth Hochschule für Technik Berlin im Fachbereich Architektur Labor für Bauerhaltung u. a. in einem Wahlpflichtkurs Beteiligungsprojekte durchgeführt, einige davon in der Nürtingen Grundschule. Bei der Entwicklung der Flureinbauten konnten wir Studierenden der Fächer Design und Architektur der Universität der Künste in zwei Workshops Gelegenheit bieten, einen Designentwicklungsprozess von A bis Z zu durchlaufen und zu überprüfen, ob sich ihre Entwürfe in der Nutzung bewähren. Die Workshops mit den angehenden GestalterInnen und den Kindern waren für alle Beteiligten bereichernd. Einen wesentlichen Anteil am Gelingen des gesamten Projektes leistete die „Schule“ mit ihrer tollen Mitarbeit. Während der ganzen Bauzeit haben sich alle LehrerInnen sehr engagiert. Sie haben die Stundenpläne flexibel eingestellt und auf Zielfindungs-, Modellbau- und Bauphasen abgestimmt. Sie haben mit uns die Entwürfe diskutiert und sind an Wochenenden zu den Familienbautagen gekommen. Immer wieder wurden im laufenden Schulbetrieb Beobachtungen und neue Ideen ausgetauscht. Ans Herz gewachsen ist uns auch unsere Steuerungsgruppe mit den LehrerInnen, Eltern, ErzieherInnen und der Schulleitung. Diese war während der kompletten Entwicklungs- und Bauzeit eine verlässliche Informations-, Reflektions- und Organisationsschnittstelle.

der Ideenreichtum, die Kritik- und Kompromissfähigkeit, der Elan beim Bauen, von all dem haben wir uns immer wieder anstecken lassen. Wir haben in diesen vier Jahren viel Zeit in der Schule verbracht. Schön für uns ist es zu erleben, wie die Kinder das neu Gebaute in Benutzung nehmen. Vor kurzem konnten wir zum Beispiel im neu gestalteten Flur zwei Mädchen beobachten, die mit den Worten „Juhu, das Podest ist frei“ dieses in Besitz nahmen und sich genüsslich mit ihren Arbeitsmaterialien dort ausbreiteten. Mit dieser Broschüre wollen wir einen Einblick geben warum, wie und was gebaut wurde. In einer Collage aus einzelnen Beiträgen erzählen am Projekt Beteiligte von ihren Erfahrungen. Zurückblickend erscheint es uns immer noch wie ein kleines Wunder, dass wir dieses Projekt mit allen finanziellen Hürden und formalen Spielregeln in dieser Konsequenz umsetzen konnten. Das war nur möglich, weil sich die VertreterInnen des Bezirkes auf diesen Planungsprozess mit offenem Ende eingelassen haben. Wir danken allen für das uns entgegen gebrachte Vertrauen und die Offenheit.

Viel Freude bei der Lektüre! Katharina Sütterlin und Susanne Wagner Projektentwicklung, Architektur, Prozessmoderation

Das für alle Mitwirkenden arbeitsintensive Projekt wurde nicht zuletzt von der positiven Energie der größten Nutzergruppe getragen, den SchülerInnen: die Offenheit,

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Lebensort Schule – neu erfunden Markus Schega Schulleiter „Gib mir mein Leben zurück“ singt Judith Holofernes in einer kleinen Collage aus Filmschnipseln, die Simon für eine Präsentation der Gestalteten Lernumgebung am Computer seiner Mutter zusammengestellt hat. Das Video zeigt in schnell geschnittenen Szenen Kinder, die bohren, sägen, Schrauben festziehen, gemeinsam Balken aufrichten, Hocker bauen, an Nähmaschinen Sitzkissen herstellen, Pläne zeichnen, messen und Modelle basteln. Sie bauen gemeinsam am Lebens- und Lernort Schule und nehmen diesen Raum für sich in Besitz.

und insbesondere GrundschulpädagogInnen mussten hier oft gegen das Gebäude und den Raum arbeiten: ein störender Nachhall ließ Flure und Klassenzimmern laut werden, die hohen Fensterbrüstungen sorgt dafür, dass kaum ein Kind herausschauen kann, die Türen sind zu schwer für Kinder und die Gänge waren ungemütlich. Der Schulraum wird gerne als „dritter Pädagoge“ bezeichnet, nach den Mitschülern und den Lehrkräften. Die Innenarchitektur verspricht bei Büroräumen eine Produktivitätssteigerung von bis zu 30 %. Wie das in Schulen ist, wissen wir noch nicht, aber unser dritter Pädagoge wurde in breit angelegten Beteiligungsverfahren an unsere Bedürfnisse angepasst. Die Räume empfangen die Kinder jetzt behutsam, beruhigen sie, machen Angebote, sortieren die Materialien und ordnen das Wissen. Die Werkzeuge für den Erwerb und das Training von Kompetenzen sind für alle sichtbar und gut zugänglich. Außerdem laden die Räume zum Entspannen ein – dem wichtigen Gegenpol zu angestrengter Arbeit. Wir sind dankbar für diese Erweiterung des Personals. Es wird nie krank, ist aber pflegebedürftig, es muss sauber gehalten, hin und wieder überarbeitet, überdacht und erneuert werden.

Die Schulchronik zeigt eine strengere Pädagogik in unserem schönen Schulgebäude, das Blankenstein 1876 errichten ließ: „..zu zweit zwanglos im Kreise“ gehend sollten die Zöglinge damals ihre Pause auf dem Hof verbringen. Die Schönheit des Schulgebäudes mit seiner rot-gelben Terrakottafassade, den hohen Fenstern und der Plastik über dem Eingangsportal wird oft bewundert. Aber PädagogInnen 8

Schulen sollen lernende Organisationen sein, Systeme in ständiger Bewegung und Entwicklung. Der Umgestaltungsprozess hat uns das Verhältnis von Körper, Raum und Lernen erforschen lassen, bewegtes Sitzen geübt und Möblierungen und ihren Gebrauch optimiert. Lehrkräfte haben beispielsweise über Monate ihre Nutzung der sechs Quadratmeter Tafel beobachtet, die

zur Grundausstattung von Klassenräumen gehört. Angepasst an die Bedürfnisse der Nutzer ist schließlich bei vielen Lehrkräften ein Quadratmeter Tafel geblieben – nicht mehr frontal angeordnet, sondern an der Seite des Klassenraums. Viel Platz benötigt hingegen der Montessoriteppich in der Raummitte, der als dreidimensionale Tafel dient und die Regale haben an den Wänden jetzt mehr Platz. Darf man Tafeln aus Schulräumen überhaupt entfernen, diese Altare des Lernens?1 Ein wenig hat uns diese Frage beschäftigt. Formt man einen Raum durch die Entfernung der Tafel so, dass sich dauerhaft Unterricht verändert? Eine offenere, die Individualität fördernde und herausfordernde Kultur wird in den Klassenräumen und im Personalraum auch durch das Angebot der Sitzmöbel sichtbar. Es ist vielfältig und reicht vom Schaukelstuhl über die Hängematte bis zum Einbeinhocker und Sitzkissen. In der Gestalteten Lernumgebung ging es um das Bauen von Ideen und Konzepten, die Überprüfung unserer Visionen vom Lernen und die Rückeroberung des Schulraums für die dort arbeitenden und lebenden Menschen. Die Schule wurde zu einer lernenden, sich selbst modellierenden Organisation, die sich, getragen von gemeinsam diskutierten Leitbildern in der angemessenen und wohltuenden Langsamkeit entwickeln durfte. Insofern passt „Gib mir mein Leben zurück“ ganz gut. Danke!

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Vergl. Ulrike Kegler, Ab heute lernen wir anders



Partizipation und Bildung als städtebauliche Aufgaben Dr. phil. Nikolai Roskamm Stadtplaner und Stadtforscher an der TU Berlin, hat zwei Kinder an der NürtingenGrundschule Das Projekt „Gestaltete Lernumgebung“ ist mit Mitteln des Programms Soziale Stadt ermöglicht worden und damit Teil der von Bund und Ländern finanzierten Städtebauförderung. Was mit Städtebauförderung angestrebt und erreicht werden soll, ist nicht ein festgelegtes und unveränderbares Ziel, sondern wird in verschiedenen fachlichen und politischen Debatten permanent neu ausgehandelt. In den letzten Jahren sind dabei immer wieder zwei wichtige Themen in den Vordergrund gestellt worden: Partizipation und Bildung. Das hier vorgestellte Projekt an der Nürtingen Grundschule ist für beide Themen beispielgebend. Städtebauliche Maßnahmen sinnvoll mit dem Thema Bildung zu verbinden, ist keine einfache Aufgabe, mit räumlichen Eingriffen eine gute Pädagogik zu befördern, ein anspruchsvolles Ziel. An der Nürtingen Grundschule wurde es geschafft, sich diesem Ziel anzunähern. Eine schönere Schule, eine angenehmere Atmosphäre, eine Gestaltung, die dem pädagogischen Konzept unterstützend zur Seite steht, all das bewirkt noch nicht automatisch eine bessere Bildung. Es trägt jedoch dazu bei, dass die Bedingungen für eine bessere Bildung geschaffen werden, dass SchülerInnen und LehrerInnen sich gerne an Ihrer Schule aufhalten, dass Möglichkeiten möglich gemacht werden. Und das – auch das ist für das Projekt „Gestaltete Lernumgebung“ von großer Wichtigkeit – nicht

innerhalb eines elitären Rahmens einer Muster- oder Privatschule, sondern mitten in einem lebendigen, vielfältigen und sehr heterogenen Quartier, in einer Kiezschule, die für alle offen ist.

und andere Meinungen gelten zu lassen, Ziele immer wieder neu auszuhandeln und letztlich nichts weniger als die große Leistung, auf eigene Entscheidungsmacht zu verzichten.

Das Thema Partizipation ist eng verbunden mit dem Thema Bildung. Durch die von Beginn an in den Mittelpunkt gestellte Beteiligung der Schüler/innen, Lehrer/ innen und Eltern am gesamten Planungsund Bauprozess ist es gelungen, den Begriff Partizipation mit realem Inhalt zu füllen. Partizipation bedeutete hier von Anfang an nicht nur Information, sondern Mitbestimmung und Mitwirkung: bei sämtlichen Planungen, bei der Entwicklung der konkreten Ideen und nicht zuletzt bei der Ausführung. Die Aufgabe der Architektinnen wird durch eine solche ernst genommene Partizipation verändert: Es geht nicht mehr so sehr um den eigenen großen Wurf, um ein aus sich selbst heraus wirkungsmächtiges Design, sondern um eine Architektur als Prozess, und zwar um einen Prozess, der sorgsamer Steuerung bedarf. Denn ein Projekt wie die „Gestaltete Lernumgebung“ findet nicht im luftleeren Raume statt: Da gilt es Bauvorschriften zu beachten, den Finanzrahmen einzuhalten, den Bauablauf zu koordinieren, Beteiligung zu organisieren sowie Regeln transparent zu machen und durchzusetzten. Dass von den beiden Initiatorinnen diese komplexen Aufgaben behutsam in die bestehenden schulischen Strukturen und Abläufe integriert worden sind, zeigt dabei richtungsweisend, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, damit Partizipation erfolgreich sein kann. Und das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ernst genommene Partizipation bedeutet, sich auf unterschiedliche Perspektiven einzulassen, Widerspruch

Schließlich entfalten die beiden Themen Bildung und Partizipation erst zusammengenommen ihre volle Wirkung: Partizipation als Bildung, Bildung als Partizipation. Und auf dieser Wirkung beruht der Erfolg des Projektes „Gestaltete Lernumgebung“. Die Schüler/innen und Lehrer/innen haben sich selbst eine schönere Schule geschaffen und dabei gelernt, was ein gemeinsames Projekt ist und auch, was eine prozessorientierte Architektur sein kann. Und alle, die lernen wollen, wie gelungene Städtebauförderung aussieht, sollten sich das Projekt an der Nürtingen-Grundschule ganz genau anschauen.

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Die Wirkung der Bauwoche auf meine Klasse Ella Leithold Klassenlehrerin 4,5,6 e Als eine der ersten Klassen der NürtingenSchule startete die Klasse 4,5,6 e im November 2008 mit dem Projekt „Bauereignis Klassenzimmer“. Die Projektwoche mit dem abschließenden Bauwochenende hat das Klassenklima deutlich positiv beeinflusst und das scheinbar ganz nebenbei: Wichtige gestalterische Entscheidungen gemeinsam abstimmen, die Erfahrung machen, dass jeder mit seinem Können und Wissen wichtig ist und dass das Meiste nur Hand in Hand funktionieren kann, um das gemeinsame Ziel zu erreichen: Ein umgestaltetes neues Klassenzimmer. Als Lehrerin hat es mich sehr gefreut zu sehen, welche verborgenen Fähigkeiten und handwerkliches Geschick in vielen Kindern schlummerten. Auch nach der

Raumumbau Malou Schülerin 4,5,6 e

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eigentlichen Projektwoche ging es weiter mit wichtigen Entscheidungen im Sinne des sozialen Lernens: Welchen Beitrag kann jeder Einzelne für Sauberkeit und Ordnung im neuen Raum leisten? Alle Kinder wollen in regelmäßigen Abständen auf dem Podest sitzen. Welches Rotationssystem ist da gerecht? Unser Klassenraum ist jetzt ein sehr funktionaler, schöner Lernort mit vielen Nischen zum Lernen und Entspannen und mit verschiedenen Funktionsecken. Durch die Anordnung der Arbeitsplätze auf zwei Ebenen können wir in der freien Mitte immer zügig einen Kinderkreis bilden. Das war sowohl den Kindern als auch mir besonders wichtig. Insgesamt ist das Lernen und Leben in der Klasse um Einiges ruhiger und geordneter geworden. Von den neuen Schülergenerationen wurde der Raum sehr gut angenommen. Nur ein wenig traurig waren viele Kinder darüber, nicht selbst Hand angelegt haben zu können.


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Spätestens beim Sitzen auf den Tennisbällen wird es mitunter schmerzhaft bewusst, da gibt es auch etwas an meinem Körper worauf ich sitze - zwei harte Knochen rechts und links am Po – die Sitzhöcker.

Bewegtes Lernen bedeutet auch weniger Unfälle

Die Neugier der Kinder am Experimentieren lässt nach. Wir sehen uns den Rumpf eines Skelettes an. Nun ist die Aufmerksamkeit auch der Kinder geweckt, die sich am Probieren weniger beteiligten. Mit Begeisterung werden die Sitzhöcker betastet, viele Fragen kommen zur Anatomie und Physiologie unseres Körpers, auch fern vom Sitzen.

Seit 2008 verfolge ich als Vertreterin der Unfallkasse Berlin interessiert den Projektverlauf an der Nürtingen Grundschule. Am Anfang waren es vor allem die baulichen Aspekte, die mich interessierten, denn in den Unfallverhütungsvorschriften gibt es einige Maße, die z. B. beim Bau von Hochebenen beachtet werden müssen. Die sehr solide Bauweise, die abgerundeten Kanten und die überlegte Raumaufteilung verdeutlichten, dass auch an die Sicherheit der Kinder gedacht wurde. Wobei nicht alle geforderten baulichen Maßnahmen umgesetzt wurden. Diese nicht einzufordern verlangte von Seiten der Unfallkasse Berlin, dass man sich mit dem Sinn und Zweck der Hochebenen und Podeste auseinandersetzt, denn anders als auf einem Spielplatz sollen diese Elemente eben nicht bespielt werden, sondern dienen als Aufenthalts- und Lernbereich für Kinder. Damit sind sie nicht zum Toben gedacht, sondern eher als Rückzugsmöglichkeit. Somit kann man hier „mit einem anderen Maß messen“.

Und anschaulich am Modell wird, wenn wir sitzen, also oben bleiben wollen, müssen unsere Muskeln Arbeit verrichten, gibt es eine ständige Balance mit der Schwerkraft, braucht es die Beine und Füße als Stütze am Boden. Der harte Untergrund ist sehr hilfreich, um mich über den Sitzhöckern aufrichten zu können. Der gibt mir eine Grenze, einen Widerstand, den ich unterstützend nutzen kann. Fläze ich, oder sitze gemütlich, rutsche ich von den Sitzhöckern weg nach hinten und lande auf dem Steißbein, was nicht zum Sitzen vorgesehen ist. Die Wirbelsäule ist krumm gebogen, der Kopf nach vorn gehalten, was eine große Arbeit für Hals- und Nackenmuskulatur bedeutet. Dieses kleine Erlebnis braucht Übung und Wiederholung, um zur Erfahrung zu werden.

Annette Kuhlig Unfallkasse Berlin, Abteilung Prävention

Wenn Kinder nun im Unterricht nicht immer still sitzen müssen, wenn sie nicht wie wild auf den Pausenhof rennen, sondern schon der Unterricht bewegt abläuft und der Umgang miteinander besonnener ist, reduzieren sich dann die Unfälle insgesamt? Diese Frage können wir für die Nürtingen Grundschule eindeutig mit „ja“ beantworten. Das Unfallgeschehen, die sogenannte Tausend-Schüler-Quote (TSQ) liegt weit unter dem Durchschnitt aller Berliner Grundschulen. So verzeichneten wir Berlin weit im Schuljahr 2009/2010 an Grundschulen auf 1000 Schüler 152 Unfälle, im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg lag die TSQ sogar bei 155. An der Nürtingen-Grundschule wurden uns nur 44 Unfälle gemeldet. Dies bedeutet eine TSQ von 107. Dies bestätigt unserer bereits gewonnen Erkenntnisse und untermauert die Wichtigkeit solcher Maßnahmen auch aus Sicht der Unfallprävention.

Für uns stand zudem auch die Frage, wirkt sich solch bewegtes Lernen auf das Bewegungsverhalten der Kinder aus? Passieren an dieser Schule mehr oder weniger Unfälle als an den „normalen“ Grundschulen? Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass das Klima an einer Schule sehr großen Einfluss auf das Unfallgeschehen hat. Wir wissen auch, dass an Grundschulen vor allem in der Pause sehr viele Unfälle passieren.

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„Das alles haben wir gebaut!“ „Ich sitze am liebsten auf dem Podest auf einem Hocker.“ „Ich sitze am liebsten am kleinen Tisch auf einem Kissen.“ „Hallo, ich mag das Stehpult.“ „Am liebsten sitze ich auf dem Wackelstuhl.“ SchülerInnen

„Wow.“ Schülerin, die die zweite Hälfte der Bauwoche krank war, beim Einzug in die neue Klasse

„Am meisten hat mich erstaunt, dass der Altersunterschied zwischen den Kindern und uns keine Rolle spielte.“ „Mir hat es gefallen mit den Kindern zusammen zu arbeiten und deren Ideenpool kennen zu lernen. Dies ist ein lohnenswerter Weg, um als Gestalter selbst eine neue Perspektive zu erlangen.“ „Es ist toll im Studium zu einem realen nutzbaren und vorzeigbaren Ergebnis zu gelangen.“ StudentInnen

„Der ..., der immer so unruhig ist, nimmt sich jetzt ein Klemmbrett, klettert auf den Hochstuhl, wickelt sich in den Vorhang ein und arbeitet.“ „Endlich passiert mal was, nach 30 Jahren.“ „Ich gehe jetzt noch lieber in die Schule.“ LehrerInnen

„viele Ideen und Anregungen“ „sehr empfehlenswert für alle Pädagogen“ „sehr anregendes Seminar wegen Synergie Pädagogik/ Architektur“ TeilnehmerInnen eines Weiterbildungsseminars

„Ihr baut genau das was die Kinder mit besonderem Förderbedarf brauchen.“ Studentin/Sonderpädagogik

„Schulbau neu denken.“ Akustiker

„Es zeigt, dass man was machen kann.“ Kommunikationswissenschaftlerin

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